Wilhelmine Heimburg
Trotzige Herzen
Wilhelmine Heimburg

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Änne May ging folgenden Tages zur gewohnten Stunde mit Tante spazieren. Die kleine lebhafte, in heimlichem Mitleid fast vergehende Frau schlug den Weg nach der Stadt ein, in dem unbestimmten Gefühl, daß es dem Mädchen lieb sein würde, den Schloßpark heute zu vermeiden. Aber Änne fragte: »Warum denn?« Und so wanderten sie in dem prächtigen Garten umher, in welchem alles von der Poesie des Herbstes verklärt war. Purpurrote Weinranken schlangen sich um weiße Marmorleiber, gold- und rotgefärbte Boskette, gelichtete Bäume schienen zu trauern um ihr Sommergewand, bunte Blätter lagen unter ihnen auf feuchtem Rasen oder schwammen auf dem stillen Wasser des Bassins. Änne war sehr schweigsam, und einzig daran erkannte ihre Begleiterin den Gemütszustand des Mädchens, das, als ob es sich von selbst verstände, bis zur Schloßterrasse emporstieg.

»Dort oben wird's zugig sein, Goldköpfchen«, meinte ängstlich die Tante.

»Aber die Aussicht ist desto schöner«, wandte Änne ein, »der Sturm der vergangenen Nacht hat die Luft klargemacht.«

Oben angelangt, stützte sich die stark asthmatische Frau, nach Atem ringend, auf das Geländer und zog ihr Tuch höher an den Hals hinauf. Änne ging langsam um das Bassin herum zum Pavillon hinüber, in dem gestern noch Heinz Kerkow so lustig geschafft hatte, und lugte durch die Scheiben. Nach ein paar Minuten kam sie zurück, ein bitteres Lächeln um den Mund. »Nun können wir weitergehen, Tante«, sagte sie.

»Was war denn in dem Pavillon?« fragte die Angeredete.

»Ein Tüncher, der die Wände überstreicht, so dick, daß man 34 schon nicht mehr erkennt, wie sie ausgesehen haben«, antwortete Änne. »Nicht wahr«, fuhr sie fort, »es wäre nett, wenn man es auch so machen könnte mit seinem Herzen. Wenn man alles, was da drin gemalt und geschrieben steht, einfach frisch übertünchen könnte – wer das verstände – oh! –«

»Welch ein Unsinn, Änne!« murmelte die alte Dame.

»Aber, verlaß dich darauf, Tante, ich lasse auch anstreichen hier innen. Es wäre noch schöner, wenn man etwas mit sich herumschleppen müßte, das man nicht will, nicht brauchen kann, das weh tut wie ein Dorn, den man sich eingerissen hat!« –

Sie sprach immer im Weiterschreiten, mit zurückgewandtem Kopf und wunderlich flackernden Augen. Dann waren sie unten im Park auf dem breiten Fahrwege angekommen, der in den Wald führt. Hinter ihnen erscholl Pferdegetrappel und das leise Rollen einer Equipage auf Gummirädern. Änne wandte ruhig den Kopf dem vorüberfahrenden Wagen zu. Es war eine Hofequipage. Im Fond saßen Frau von Gruber und Toni von Ribbeneck, auf dem Rücksitz Heinz von Kerkow, in Zivil und ganz reisemäßig angezogen mit Umhängetasche, Plaidrolle und einem Handköfferchen neben sich. Er sah nach der entgegengesetzten Seite hinüber, wo ein zahmes Reh stand.

Toni, in einem blauen Tuchkostüm, einen blauen Filzhut auf dem farblosen Haar, nickte gönnerhaft freundlich Änne zu. Sie hatte heute Farbe und sah, wie Tante Emilie innerlich zugestand, ordentlich menschlich aus. Änne grüßte zurück und schritt mit undurchdringlichem Gesicht weiter.

»Hör, Kindchen«, meinte die alte Dame, »wenn's dir nichts ausmacht, so geh allein ein Stückchen weiter. Ich besuch' derweil Fräulein Stübken. Kannst mich abholen nachher.«

Fräulein Stübken war das ältliche Fräulein, das dem Oberförster Günther seit dem Tode der Frau den Haushalt führte, eine Person, die als wandelndes Wochenblatt von Breitenfels galt, besonders für die Rubrik »Hofnachrichten«.

Änne nickte. Es freute sie, allein zu sein. Sie fühlte deutlich, daß in ihr etwas Totes war, von dem eine erschauernde Kälte ausging, daß sie aber alles aufbieten müßte, um dieses Gestorbene vor anderen geheimzuhalten, diese armselige, gewaltsam erstickte Liebe zu Heinz Kerkow. Das Blut schoß ihr sinnverwirrend in den Kopf, als sie daran dachte, daß er ihre heiße Neigung erraten haben müßte. Sie hielt es für dringend notwendig, ihn in diesem Glauben wankend zu machen, ihm einen schlagenden Beweis zu liefern, daß sie nichts weiter zu ihm gezogen habe als die harmloseste Jugendfreundschaft, und darum – –

35 Sie wußte, durch welches Mittel sie ihm beweisen könnte, daß sie ihn niemals geliebt habe, aber das war nicht leicht, und dennoch das einzige für diesen Fall – genau so brutal wie der Tüncherpinsel, der im Pavillon ihr Bild auslöschte! Wunderbar eigentlich, daß es geschah! Vielleicht hatte Toni Ribbeneck sich erkannt und geschmollt über ihre Nebenrolle? Nun, ihr Wunsch war ihm jetzt Befehl, je eher, je besser – weg damit! Änne wollte es auch so machen, sie wollte das Bild in ihrem Herzen übermalen lassen, nicht mit einer glatten weißen Fläche wie droben, nein, mit dem Bilde eines andern!

Sie verfolgte in tiefen Gedanken einen schmalen Waldpfad, der neben der Chaussee durch dickes Buchen- und Haselgestrüpp hinlief. Es war schon leichte Dämmerung, die Sonne ging heute nicht strahlend unter, sie hatte sich hinter eine finstere Wolkenwand verborgen und schien gewillt, die Erde früher als sonst im Dunkeln zu lassen. Aus der Ferne hallte ein Schuß durch den Wald, dann ein Schrei hoch in der Luft und der dumpfe Laut eines fallenden Körpers.

Änne blieb stehen und schaute vorwärts. Jemand kam ihr entgegen. Da war er, an den sie eben gedacht hatte.

»Guten Abend, Herr Oberförster!« erwiderte sie ein paar Sekunden später den Gruß eines großen breitschultrigen Mannes, der in graugrüner Joppe, die Büchse über der Schulter, vor ihr stehengeblieben war. An seinem Büchsensack hing ein erlegter großer Raubvogel, ein Bussard. Der Weidmann hatte ein ernstes, durch Wind und Wetter gebräuntes Gesicht, von dichtem Vollbart umrahmt, in welchem schon hier und da weiße Fäden schimmerten, eine gerade Nase und hellblaue Augen, die sichtlich erfreut Änne betrachteten. Vornehm sah er gewiß nicht aus, aber recht stattlich und frisch. Er verleugnete den Sohn des Holzhauers Günther durchaus nicht in seiner Erscheinung. Aber er war ein einfacher zutraulicher Charakter wie alle solche, die mit und in der Natur gelebt haben und noch leben. In seinem Berufe war er entschieden unschätzbar, wie der Umstand bezeugte, daß der Herzog ihn aus eigener Entschließung vom einfachen Förster in die Oberförsterstelle einrücken ließ, zum Ärger der jungen Herren, die auf der Akademie ausgebildet waren.

»Das ist ja eine unverhoffte Freude, Fräulein Änne!« begann er, »wollen Sie heim? Dann können wir zusammengehen – das heißt«, setzte er zögernd hinzu, »wenn's Ihnen recht ist!«

Sie nickte und ging ziemlich dicht neben ihm, denn der Pfad war schmal, und er hielt die Buchenzweige zurück, daß sie ihr nicht in das blasse Gesichtchen schlugen. Änne wußte, wie 36 dieser Mann seit langer Zeit an sie dachte mit treuesten und redlichsten Absichten, aber sie war ihm stets ausgewichen. Sie hatte sich das Glück anders erträumt als an seiner Seite, als die Stiefmutter seiner Kinder – sie wollte ein ganzes, volles Glück.

Heute fragte sie plötzlich nach seinen Kindern. Ihre Stimme zitterte zwar ein wenig und sie sah zur Seite. Aber wenn sie auch nicht den freudigen Schrecken gewahrte, der über des Mannes Züge glitt – an der bebenden weichen Stimme, mit der er antwortete, mußte sie erkennen, wie tief ihn diese Frage bewegte. Ein Diplomat war er nicht, er brachte nichts weiter heraus als: »Oh, ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Änne, es geht ihnen gut, so gut es Kindern gehen kann, die die Mutter entbehren.«

Das war sein altes Lied, aber es machte das Mädchen jetzt nicht erbeben, es war ihr auch nicht peinlich wie sonst – sie ging direkt auf ein bestimmtes Ziel los. Wie schwer ihr das werden müsse, was hinter diesem Ziele lag, daran wollte sie jetzt nicht denken.

»Ich habe sie lange nicht gesehen, die Kleinen«, bemerkte sie, »sonst kamen sie mitunter herüber zu uns, aber –«

»Oh, Fräulein Änne, ich dachte, es wäre Ihnen unangenehm«, stotterte er, verwirrt von ihrem ganz veränderten Wesen.

»Aber, warum denn, Herr Oberförster? Wirklich, ich habe Kinder gern, und die Ihrigen – ich habe mich doch schon mit ihnen geschleppt, als ich noch ein Backfisch war. Und damals, als wir in unserem Hause Christinchen verpflegten, damals, als – –«

»Als meine Frau starb«, vollendete er. »Ja, ja, Fräulein Änne, und sehen Sie, das kann ich Ihnen und Ihrer Mutter nie vergessen, solche Guttat an einem Halbverzweifelten – das kettet mit starken Banden der Dankbarkeit an die, die sie uns erwiesen haben. Da, am Totenbette meiner Auguste, da hab' ich's erfahren, was es bedeutet – gute Freunde und getreue Nachbarn! Wie Ihre liebe Mutter da so still und selbstverständlich zu mir trat und sagte: ›Die Kinder nehm' ich mit, Günther‹, – und Sie, Änne, Sie hatten so ein blasses Gesichtl und so große Augen. Der Tod war Ihnen so unfaßlich, so grauenhaft, Sie waren ja noch so jung, aber Sie nahmen doch die Älteste, die auch kaum laufen konnte, auf den Arm – und – ja, Änne – und – –«

Er blieb stehen, in seinem Gesicht zuckte es wie von großer innerer Bewegung. »Sehen Sie, Änne – wenn Sie mir nur erlauben wollten, weiterzureden«, bat er, »aber ich habe Angst, es geht wie neulich, als ich – und Sie laufen fort – – 37 Herrgott, ja, ich will schweigen, Änne, 's ist ja solche schreckliche Unbescheidenheit von mir, und – ich hab's ja auch gemerkt, daß ein anderer da ist, den Sie – –«

Sie hatte wirklich einen Augenblick einen hastigen Schritt nach vorwärts getan, so, als wollte sie sich, wie ein Reh vor dem Jäger, in den Wald flüchten. Aber als er von einem »andern« sprach, wandte sie sich jäh um. »Nein!« stieß sie hervor, »ich – ich höre ja – –«

Es war jetzt fast dunkel auf dem schmalen Wege, kaum noch zu unterscheiden die Konturen der Gestalten, und so still, so furchtbar einsam! Der große Mann war stehengeblieben, sie vor ihm mit gesenktem Kopf, als erwartete sie den Todesstreich. Sie hörte eine Zeitlang nur sein rasches, tiefes Atmen.

»Änne«, stieß er endlich hervor, wie einen mühsam unterdrückten Schrei, »Änne, ich dürfte? Sie wollten mich hören? Ich darf Ihnen erzählen von der Hoffnung, die sich ganz unmerklich an Ihre Barmherzigkeit damals knüpfte? Erzählen, wie sie im Laufe der Zeit stärker und stärker wuchs, wie mein ganzes Leben bloß noch der einzige Wunsch ist, daß Sie, Änne, daß Sie mir und meinen Kindern die Verlorene ersetzen möchten?«

Seine Sprache, anfangs hastig, war wie erstickt von emporquellenden Tränen. »Änne«, fragte er nochmals und faßte ihre Hände, »Änne, sagen Sie doch nur – es ist ja gar nicht möglich – ich bin ein ungebildeter Mensch – – erst gestern abend, als Sie droben im Schloß am Flügel standen und so schön gesungen haben, da sagte ich mir: ›Nein, nein, das ist ja Torheit, die ist viel zu schön, viel zu gut für dich alten plumpen Kerl!‹ Änne, ich nehm's nicht übel, aber sprechen Sie doch ein einziges Wort – könnten Sie denn – wäre es möglich?«

»Ja!« klang es zu ihm herüber. Aber als er sie ungestüm an sich reißen wollte, schrie sie leicht auf und wich so entsetzt zurück, daß er ihre Hand freiließ.

»Ja?« wiederholte er, »aber – weshalb dann –?« Und seine Rechte strich über die Stirn, von der er den Hut nahm.

Sie hatte sich gefaßt. »Ja!« sagte sie noch einmal, »aber ich bitte Sie – ich bin so – – ach seien Sie nicht böse, lassen Sie uns ruhig nach Hause gehen. Ich werde nachher mit Vater reden, und morgen –«

»Bis morgen?« wiederholte er staunend, ungewiß.

»Morgen!« sagte sie mit einer Stimme, die trostlos klang. »Jetzt nicht – man wird mich suchen. Meine Tante wartet auf mich bei Fräulein Stübken in Ihrem Hause.«

Nun schritten sie hintereinander. Der Weg senkte sich steil 38 hinab und der Oberförster öffnete vorangehend das Gatter, das den Wildpark vom Lustgarten scheidet. Sie blieb wartend stehen. Als sie hindurchgeschlüpft war, reichte sie ihm die Hand. »Morgen«, sagte sie noch einmal.

Aber nun kam es über ihn wie ein Sturm. Er hielt sie plötzlich in den Armen und küßte sie heiß und leidenschaftlich, und sie litt es wie betäubt ein paar Augenblicke, dann stieß sie ihn zurück, einen empörten Ausruf auf den Lippen. Und als er fragte, halb lachend und halb ernsthaft: »Glaubst du denn, ich hätte dir ›Gute Nacht!‹ sagen können wie jeden andern Tag? Mädel, hast du denn keine Ahnung, wie einem zumute ist, der dich liebt, und den du so lange hast schmachten und zappeln lassen?«

Da brach sie in Tränen aus und lief wie gejagt durch die dunkle Allee, und hinter ihr scholl ein tiefes, glückliches Lachen.

»Morgen!« rief er, »morgen!«

Änne wünschte nichts sehnlicher, als unbemerkt von der Mutter ihre Stube zu gewinnen, um sich zu fassen. Aber es gelang ihr nicht.

Die Frau Rätin, die eine kleine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Manne gehabt hatte, saß mit hochrotem Kopf in der Küche beim Quittenschälen. Der Zorn über die verlorene Schlacht gegen den Eheherrn fand einen willkommenen Ableiter in Ännes langem Ausbleiben. »Sie soll nur kommen! Es ist zu toll, die eine Stunde des erlaubten Spazierengehens auf zwei auszudehnen. Alles muß man allein besorgen, keinerlei Hilfe hat man von dem großen Mädchen! Wozu ist sie denn da? Um der Mutter zu helfen doch selbstverständlich – statt dessen wird gebummelt mit Tante Emilie, die eigens für den Zweck erschaffen zu sein scheint, die mütterliche Erziehung über den Haufen zu werfen!«

Frau Rätin erhob sich, legte das Messer in die Schüssel mit den zerschnittenen Quittenstückchen und riß die Tür nach dem Flur sperrangelweit auf, um die Ausbleiberin ja nicht zu übersehen. Sie zündete noch zum Überfluß die kleine Öllampe neben der Haustür an, was sonst nur bei festlichen Gelegenheiten geschah. Kaum hatte sie wieder Platz genommen, als die Schelle ging und Änne auf die Schwelle trat.

Wie eine Rakete schoß die gestrenge Mama aus der Küche. »Na, da sind wir ja!« rief sie. »Es ist alles mögliche, daß du schon kommst! Nun bitte, mein Fräulein, bemühe dich hierher und hilf! Ich muß mich zu Tode plagen und andere Leute bummeln!«

Änne wäre an jedem anderen Tage der kleinen scheltenden 39 und im innersten Herzen so guten Mutter um den Hals gefallen, hätte sie ausgelacht und allerlei Possen getrieben – heute, in ihrer furchtbaren Erregung, fühlte sie, wie ihr das heiße Blut zu Kopfe stieg, und zum erstenmal gab sie eine trotzige Antwort: »Du redest mit mir, als sei ich die Karoline, Mama! Ich werde doch wohl das Recht haben, ein Viertelstündchen längerzubleiben, wenn das Wetter so schön ist!« Damit holte sie ein Messer aus dem Kasten und begann mit zitternden Fingern bei der Arbeit zu helfen. Frau Rätin aber war es, als habe die Posaune des Jüngsten Gerichts geblasen – das war noch nicht dagewesen!

»Hör mal«, keuchte sie, »weißt du auch, daß du – daß du den Respekt vergißt gegen deine Mutter? Nicht eine Minute länger hast du zu bleiben, als wir es dir erlauben! Weiß Gott, heute muß die Verrücktheit in der Luft liegen (sie dachte an den Herrn Rat), aber ich will euch Räson beibringen, und vor allem dir, die – du – –«

Der Ärger erstickte ihre Worte. Sie hatte ja keine Ahnung, die erzürnte Frau, wie schwer verwundet das junge Herz da vor ihr war, daß es vor allem der zartesten Pflege, der größten Schonung bedurfte. Eine solche Seelenkennerin war diese Frau nicht, die nie einen Herzenskonflikt durchzumachen gehabt hatte und ganz behaglich zu erzählen pflegte, sie habe ihre erste Liebe geheiratet und auch sonst nichts Schweres erlebt als ein wenig kleine Alltagsnot.

Sie erstarrte daher fast, als das schöne Gesicht Ännes sich trotzig emporhob und die zuckenden Lippen die bitteren Worte sprachen: »Nun, du wirst nächstens keinen Ärger mehr über mich haben, Mama, ich gehe ja bald aus dem Hause.«

»Was sind das für Redensarten?« rief die ergrimmte Frau, »was soll das bedeuten? Auf der Stelle komm mit zum Vater, daß er dir klarmacht, wie du dich mir gegenüber zu betragen hast, du undankbares Kind du!«

Änne legte das Messer hin. »Das bedeutet, daß morgen« – sie machte eine Bewegung nach der Seite, wo des Oberförsters Haus lag – »der Günther kommen wird. Er will mich heiraten.« Mit diesen Worten ging die arme kleine Änne stolz wie eine Königin aus der Küche und hinauf in ihre Stube.

Frau Rätin saß da mit offenem Munde. Freude darüber, daß ihr Lieblingswunsch sich erfüllen sollte, Reue über ihren Zorn, Verwunderung über des allzeit freundlichen Kindes schroffes Wesen wirbelten ihr im Kopfe. Sie wußte kaum, was sie tat. Die Quittenschalen in ihrer Schürze rollten, als sie aufstand, zur Erde. Sie achtete nicht darauf, sie lief über 40 den Hausflur und fiel wie eine Bombe bei ihrem lesenden Mann ins Zimmer. »May, May, ich bitte dich, so hör doch nur, die Änne – –«

Der Herr Rat, dem ebenfalls der eheliche Zwist noch in den Gliedern lag, schrie ein »Zum Donnerwetter, was gibt's denn schon wieder?« Er wurde aber nach der hervorgestammelten Erklärung ebenso still wie ein eben noch schreiendes Sechswochenkind, das die Flasche im Munde fühlt.

»Wirklich, Alte – wahrhaftig? Herrgott, das wäre ein Glück! Und sie will? Sie ist doch ein prächtiges, verständiges Mädel, die Änne! Wo steckt sie denn? Sag doch, sie soll herkommen, sie soll erzählen, wie's geschehen ist!« Er lief durch die Stube und schrie in den Hausflur hinaus: »Änne, Ännchen, komm herunter, Kind, in mein Zimmer!«

Aber niemand antwortete, und Frau Rätin sprach von erregten Nerven, von Erschütterung, und man wolle sie in Ruhe lassen. Nach einer halben Stunde werde sie hinaufgehen und die »kleine Braut« – ihr ganzes Gesicht verklärte sich dabei – herunterholen.

In diesem Augenblick kam Tante Emilie nach Haus und wurde von dem freudestrahlenden Elternpaare in die Stube gezogen.

»Wer hat nun recht, Emilie?« sagte triumphierend der Rat und schlug der Erstaunten auf die Schulter.

»Was ist denn geschehen?«

»Denk doch, die Änne«, fiel die Rätin ein;»du hast zwar immer den Kopf geschüttelt, wenn ich sagte, sie nimmt den Günther doch noch – und nun –«

»Änne – den Günther? Nein, das glaube ich nicht, ist nicht möglich!« erklärte ganz blaß die alte Dame.

Der Rat lachte. »Eben hat sie es ihrer Mutter anvertraut.«

»Da steht mir der Verstand still«, erklärte Tante Emilie.

»Na, weißt du, Schwester, mir ging's auch beinahe so, und doch ist es Tatsache!«

Die Ungläubige aber verließ still das Zimmer und pochte oben an Ännes Stubentür. »Änne, mach auf, ich bin's!«

»Komm nur herein!« scholl es.

In dem winzigen Mädchenstübchen brannte die Stearinkerze im Messingleuchter auf der Kommode. Änne stand davor und hielt ein geleertes Kästchen in der Hand. Im Ofen knisterte etwas; verwelkte Blumen und dergleichen.

»Aber, trautstes Ännchen«, fragte die alte ehrliche Seele, »was machst du für Sachen? Das ist doch ein schlechter Spaß!«

»Du meinst – meine Verlobung?«

41 »Mit – Günther?«

»Ja freilich, so ist's doch!«

»Erbarmen, Goldkindchen! Das ist ja, um auf die Akazien zu klettern!« schrie sie außer sich, »du liebst ihn ja überhaupt gar nicht!«

»Oh!« sagte Änne, »das weißt du doch nicht, Tante!«

»Schrecklich ist's! Eine ganz verschrobene Marjell bist du – du wirst kreuzunglücklich!«

»Aber, Tante, das weißt du doch ebenfalls nicht! Ich heirate wie so manches Mädchen, weil nun einmal geheiratet werden muß. Ich bin doch auch nicht besser als die anderen! Und was für Ansprüche soll ich denn machen?«

»Ja, wenn ich dich nicht so genau kennte, Kindchen –«

»Du kennst mich eben gar nicht so genau, Tante. Paß auf, wie gern du noch hinüberkommst in die Kinderstube, in der mein Leben von nun an verfließen wird; so drei, die brauchen Pflege! Oh, ich werde so viel zu tun haben, daß ich mich gar nicht mehr zu besinnen brauche auf etwas« – sie machte eine Bewegung mit dem Arm – »das weit hinter mir liegt. Na, und nun gratuliere mir, Tante, und sage den Eltern, heute möchten sie mich nur allein lassen und – ich wäre glücklich, wenn sie eine rechte Freude an der Geschichte hätten. – Gute Nacht, Tantchen! Und wenn's Mama etwa gar das Herz abdrückt, so habe ich nichts dagegen, wenn sie herumschickt, den künftigen Schwiegersohn zum Punsch zu bitten. Nur ich, ich möchte allein sein heute.«

»Ich werde mich hüten, das zu bestellen«, erklärte Tante Emilie, »ich will vielmehr den lieben Gott bitten, daß er dir bis morgen deine klare Vernunft wieder schenkt, denn ehe du den Günther nimmst, eher –«

»Tantchen, verschwör dich nicht – daran ist nichts mehr zu ändern!« rief Änne noch durch den Türspalt. Dann schloß sie hinter der alten Frau, die langsam die Treppe hinunterging, die Tür ab, drehte den Schlüssel zweimal herum und setzte sich mit finsteren Augen und untergeschlagenen Armen auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Sie starrte zum Ofen hinüber, in dem die armseligen Reliquien ihres Liebestraumes verglimmten, verfolgte jedes Fünkchen mit trotzigem Herzeleid und kam sich vor wie eine Heldin.


42 Einige Tage später stand Heinz Kerkow an dem Bett, auf dem seine tote Mutter lag. In der Hand zerknüllte er noch den Brief, den er soeben erhalten und nur flüchtig gelesen hatte, als die Schwester ihn mit besorgter Miene in das Krankenzimmer gerufen hatte: »Heinz, komm doch, Mutter sieht plötzlich so verändert aus!«

Er war gerade zurechtgekommen, um noch einmal die zwei treuesten Augen der Welt auf sich gerichtet zu sehen, und die Hand zu erfassen, die bald so erstarrt in der seinen ruhen sollte. Nun lag die Schwester schluchzend auf den Knien vor dem Bett der Toten und er stand da und – fühlte nichts, gar nichts.

Ganz gedankenlos ballte er das Papier noch fester zusammen, eine Karte mit Goldschnitt, auf der zu lesen stand, daß Medizinalrat May und Frau sich die Ehre geben, die Verlobung ihrer Tochter Änne mit dem herzoglichen Oberförster Herrn Hermann Günther ergebenst anzuzeigen. – –

Was ging ihn das an? Er wandte sich plötzlich und verließ das Sterbezimmer, setzte sich in der Wohnstube auf das altmodische Kanapee und senkte die Stirn in die Hand. Die Schwester kam endlich zu ihm und erinnerte, daß er die Meldung des Todes der Mutter auf dem Standesamt persönlich zu erstatten habe, und es sei doch leider Gottes noch so mancherlei zu besorgen, das zu übernehmen sie ihn bitten müsse.

Er stand auf, zog die Uniform in die Taille und ging. Das zerknüllte Papier blieb auf dem Fußboden liegen. Hedwig von Kerkow hob es auf und glättete es mechanisch – eine Verlobungsanzeige, und unten in der Ecke von Mädchenhand zierlich gekritzelt: »Lieber Heinz! Sie sind mir zuvorgekommen. Ich wollte Sie überraschen, nun waren Sie doch eiliger als ich. Ich gratuliere Ihnen hiermit herzlichst und wünsche, daß Sie ebenso glücklich sind im Besitz Ihrer lieben Braut wie ich in dem meines Bräutigams. Mit schönem Gruß Ihre alte Freundin Änne.«

Hedwig Kerkow dachte ein Weilchen nach – sie hatte nie etwas von einem Wesen gehört, das Änne hieß. – Sie ließ das Papier achtlos liegen und griff zum Taschentuch, um die wieder aufquellenden Tränen zu trocknen.

Dann kam Heinz zurück, und die Geschwister saßen beisammen in der dämmerigen Stube. Hin und wieder redeten sie ein paar kurze Worte von der Verstorbenen und von der unglücklichen Schwester, und ob diese in ihrem Zustand wohl die Nachricht begreifen könne. Und wieder wurde es still. Endlich sagte Hedwig: »Gottlob Heinz, daß die Mutter deine Verlobung noch erfahren hat, es war der letzte Lichtstrahl für sie!«

Er nickte.

43 »Wird Toni zum Begräbnis kommen, Heinz?«

»Ich weiß nicht – ich hoffe es nicht.«

»Du hoffst es nicht?«

»Ich meine, ich glaube es nicht – sie ist noch im Dienst und –«

»Aber zum Begräbnis wird Durchlaucht sie doch ohne weiteres beurlauben?«

»Ja – aber ob sie noch rechtzeitig hier sein kann –«

»Hast du ihr denn nicht telegraphiert?«

»Nein!«

»Aber warum denn nicht?«

Er blieb die Antwort schuldig, und dann kam die Totenfrau.

Er konnte seine Braut hier nicht sehen, er wollte nicht – nur wenigstens hier nicht Komödie spielen, im Angesicht des Todes! Toni hatte übrigens gar nicht daran gedacht, zu kommen. Sie schickte einen Kranz aus Palmen, weißen Rosen und Frauenhaar, vermeldete, daß die Herzogin warmen Anteil nehme und daß Tante Gruber ihr erzählt habe, wie liebenswürdig und gut die Verstorbene gewesen und wie schade es sei, daß sie sie nicht noch kennengelernt habe. Dann ein Gruß an die Schwester.

Heinz hatte gedacht, der Brief würde etwas darüber enthalten, daß Hedwig dereinst eine Zufluchtsstätte in seinem Hause finden sollte. Er hätte so gern dem armen Mädel diesen Hoffnungsstrahl für die Zukunft bei der Rückkehr vom Kirchhof in das öde verlassene Zimmer gebracht – aber nichts davon! Und das als Antwort auf den Brief, in dem er Hedwigs Lage geschildert hatte. – – –

»Was meinst du, Heinz«, fragte am Abend die Schwester, »kann ich es wagen, die Wohnung zu behalten bei meinen unsicheren Einnahmen? Wenn ich gesund bleibe und alle meine Schülerinnen behalte, so dürfte es vielleicht langen, um die lieben Räume nicht verlassen zu müssen. – Es würde mir so schrecklich schwer werden, hier hinauszugehen, Heinz«, fügte sie wie entschuldigend hinzu und sah ihn an mit den vom Weinen rotgeränderten bittenden Augen, als erwartete sie eine Aufmunterung von ihm.

»Freilich, Hede«, antwortete er, »auf alle Fälle und selbst, wenn dir eine Schülerin absagt und Krankheit dich hindert! Ängstige dich nur nicht, ich werde schon sorgen – auch für Ottilie – plage dich darum nicht –«

»Ach, Heinz, wenn ich dich nicht hätte!« Sie ging hinüber zu ihm, legte den Kopf an seine Wange und begann wieder leise zu schluchzen.

44 »Kind, du nimmst es zu schwer. Tausend Mädel haben noch weniger als du, nicht einmal ein Talent, wie es dir so nett weiter hilft – denk mal, wenn du nun nicht maltest, wenn du, wie Ottilie, unter fremden – –«

»Wir sind aber auch gar nicht erzogen, um dergleichen schwierige Lagen mir nichts dir nichts zu überwinden!« stieß sie hervor. »So herausgerissen aus dem glänzenden Leben, bei Papas Tode dann nichts haben, gar nichts! Ja freilich – ein Justizrat mit glänzender Praxis kann leben wie ein Fürst, und wenn er dann fort muß und hat nichts gespart – –«

»Hedwig, weine nicht! Wir haben kein Recht, dem Toten Vorwürfe zu machen, und, nebenbei, es hülfe ja auch nichts.«

»Ich will ja nichts mehr sagen, Heinz, nur leid tut es mir, daß Mama nicht noch dein Glück erleben konnte. – Hattet ihr schon von der Hochzeit gesprochen?«

»Ja!« antwortete er kurz.

»Und wann sollte – –?«

»Weihnachten.«

»Auch jetzt noch?«

»N – ja – ich glaube, Toni will es auf jeden Fall.«

»Ich finde es auch richtig, Heinz, und Mama würde es ebenfalls wünschen, daß die Trauer um sie nicht zwischen euch trete. Ihr lebt zudem recht still für euch in dem kleinen Breitenfels.«

»Wir werden zunächst reisen, nach Tonis Wunsch.«

»Ach!« Sie sah ihn an mit stiller Bewunderung. »Wie herrlich!« – Welch ein Glück hatte der Heinz! Oh, wer auch einmal an eine Reise hätte denken dürfen, gar eine Reise mit dem einzigen, den man liebt!

»Wohl nach Italien?« fragte sie leise.

»Ja, Kind, ich glaube nach Neapel.«

»Oh, Heinz, wie fallen Geschwisterlose doch verschieden! Ottilie – und du!« flüsterte sie. Sie weinte von neuem.

Er hatte nicht verstanden. »Und dann – ja dann, dann will ich arbeiten, um zu vergessen, daß ich –«

Er hielt inne. Wozu sollte er der armen gequälten Schwester anvertrauen, daß es ihn besser dünkte Bettelbrot zu essen, als von dem Gelde seiner Frau zu leben; Hede würde ihn nicht einmal verstehen. »Ich meine arbeiten, um die Kriegsakademie zu erreichen, das ist alles, was ich wünsche!«

Heinz bezahlte am andern Morgen in bar die Kosten des Begräbnisses, kleine Posten, die noch ausstanden, die erste Rate der Pension in der Irrenanstalt und übergab seiner vor Dankbarkeit ganz gerührten Schwester außerdem einen 45 Hundertmarkschein für die nächste Vierteljahrsmiete. Angesichts der ganz leeren Kasse seiner alten Mama hatte er an einen Geldverleiher seiner Garnison geschrieben und umgehend die geforderte Summe erhalten, rückzahlbar nach seiner Verheiratung. Er konnte doch schließlich der alten Frau kein Armenbegräbnis zuteil werden, konnte seine Schwester nicht dem Nichts gegenüber lassen! Er mußte borgen, es gab keinen Ausweg!

Dann traten sie noch einmal an das Grab der Verstorbenen und drückten sich feuchten Auges die Hand, und dann stand das arme Mädel allein auf dem Perron und sah dem Schnellzug nach, der ihren Heinz entführte – dem Glück entgegen, wie sie meinte. Eine Unmasse Grüße und ein winziges von ihr gemaltes Täßchen mit dem Kerkowschen Wappen hatte sie der unbekannten Schwägerin durch ihn gesandt.

Es war dunkel, als Heinz auf der Station ankam, von der aus er zu Wagen nach Breitenfels fahren mußte. Ein paar Schneeflocken taumelten in der Luft und schneidend kalt wehte der Wind von den Bergen herüber. Eine wunderliche Stimmung überkam ihn heute abend, als er nach dem Platz ging, wo der Wagen ihn erwartete. Er dachte beständig an ein rosiges Antlitz unter dichtem blonden Haar, das ihm lieb und vertraut entgegenlächeln würde bei der Heimkehr von dieser traurigen Reise, zu ihm sagen würde: »Heinz, mein armer Heinz!« – Nun hatte sich dieser Mund schon gewöhnt, »Hermann« zu sagen, hatte das Küssen gelernt von eines anderen Mannes Lippen, und seine Besitzerin hatte ihm kurz und bündig mitgeteilt, daß sie besagten Hermann schon lange im Herzen trage, daß mithin ihr ganzes holdes Wesen, die Tränen, die sie geweint, ihr Lächeln – nur Lüge und Verstellung gewesen waren von A bis Z. Er konnte sich also beruhigen ihretwegen! Nun ja, aber es tat ihm weh, weil er das reizende frische Geschöpf schier närrisch liebgehabt hatte – gehabt natürlich! Er sagte das letzte halblaut vor sich hin, indem er mechanisch nach dem Gefährt ausspähte. Dort stand zwar eins, aber es war ein Hofwagen, und er hatte doch einen simplen Einspänner bestellt bei dem einzigen Wagenverleiher in Breitenfels. Was in aller Welt mochte nur passiert sein?

Da kam der Diener, der am Schlag gewartet hatte, ihm entgegen und nahm ihm respektvoll grüßend die Handtasche ab. Er ließ es verdutzt geschehen – sollte Toni ihm entgegengefahren sein?

»Ist der Wagen für mich?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

»Ist – ist er leer – ich meine, ist jemand gekommen?«

46 »Frau Baronin von Gruber.«

Er war mit ein paar großen Sprüngen an dem Schlag, den er hastig öffnete. »Du, Tante?« rief er hinein. »Ja – was hat das zu bedeuten?«

»Steig nur ein, Heinz – eine Unterredung unter vier Augen, nichts weiter. Guten Abend, mein lieber Junge! Ich habe viel an dich gedacht. Armes Kerlchen – gottlob, daß du das Schwerste hinter dir hast!«

Der Bediente schloß die Tür des Coupés, sprang auf den Bock und der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Na, Tante, dann schieß los«, sagte er mit einem Anflug seines alten Humors, »was gibt's?«

»Du wirst dich wundern, Heinz«, klang die Stimme der Hofdame aus der Dunkelheit und ganz gepreßt zu ihm herüber. »Ich wollte dich vorbereiten, du hättest sonst eine allzu große Überraschung gehabt – es sind große Dinge im Werden –«

»Ist's um Toni?«

»Ja und nein – also kurz gesagt: Ihre Durchlaucht ist untröstlich, Toni hergeben zu sollen. Sie behauptet, Toni sei die einzige, die so deutlich und scharf akzentuiere beim Vorlesen, daß sie jedes Wort, trotz der vorgeschrittenen Taubheit, verstehen könne, und da – –« Die Sprecherin machte eine Pause.

»Da wünscht Hochdieselbe, die Verlobung rückgängig gemacht zu sehen?« fragte er und wunderte sich, daß es wie ein Aufatmen über ihn kam.

»I Gott bewahre! Wie kannst du nur bei der frommen gemütstiefen Fürstin einen solch sträflichen Egoismus voraussetzen? Nein, im Gegenteil, sie wünscht, daß ihr je eher je lieber heiratet, aber – daß ihr in ihrer Nähe, in Breitenfels bleibt.«

»Da ›wünscht‹ eben Ihre Durchlaucht etwas Unmögliches«, antwortete er trocken. »Oder – soll ich Kommandant von Breitenfels werden? Eine Charge, die ganz neu geschaffen werden müßte und – in Anbetracht des bedeutenden hier garnisonierenden Truppenteils – –«

»Laß doch den Spott, Heinz! Den Rock müßtest du natürlich ausziehen, siehst du, aber, bitte – keine Ironie! Uns fehlt schon seit langer Zeit der Hofmarschall, der laut Bestimmung der Hofhaltung Ihrer Durchlaucht zukommt. Auf dem Papier ist er auch stets geführt, nur daß Exzellenz die kleine unbedeutende Funktion neben seinem Kammerherrndienst noch übernommen hatte. Der gute Ellenberg ist nun aber so brüchig 47 geworden, daß man ihm das nicht länger zumuten kann, und so kam Ihre Durchlaucht auf die Idee –«

»Ihre Durchlaucht kam darauf?«

»Nun ja – das heißt, ich hatte vorher mit Toni darüber geredet.«

»Ach so!«

»Kurz und gut, Heinz, dein Glück wäre gemacht, wenn du zugreifen wolltest! Denke dir – den Titel Hofmarschall, eine Wohnung im Schloß, Equipage, alle Jahre soundso lange Urlaub. – Gott, das Gehalt ist ja so enorm nicht, aber immer noch besser als eine Leutnantsgage!«

»Und meine Braut ist natürlich entzückt von der Idee!«

»Das kannst du dir doch denken! Durchlaucht hat ihr versprochen, jedes Jahr ein paar Wochen in der Residenz zu verleben, ihr begleitet sie natürlich, ihr könnt dort ein allerliebstes Haus machen. Ich habe Toni zugesagt, dir die Sache praktisch zu unterbreiten, und sie hofft, daß du ihr diesen ersten Wunsch erfüllen werdest. Heinz, ich will dir gestehen, wir sind so entzückt von diesem Plane, daß –«

»Ich bin gar nicht davon entzückt«, unterbrach er sie schroff, »und denke nicht im entferntesten daran, meinen Dienst zu quittieren! Ich liebe meinen Beruf mit ehrlicher Begeisterung, und nur der Notwendigkeit gehorchend, würde ich ihn verlassen haben, das heißt – du verstehst mich – wenn mir die Mittel, weiter zu dienen, eines Tages gefehlt hätten. Es war ja nahe daran! Diese Notwendigkeit ist aber durch meine Verlobung mit Toni Ribbeneck geschwunden, ergo bleibe ich!«

»Du – du bleibst?« Diese Worte voll maßlosen Erstaunens trafen sein Ohr.

»Ich bleibe«, wiederholte er, »und wenn meine Braut mich liebt, was ich ja eigentlich kaum zu hoffen wage, so geht sie mit mir dorthin, wohin mich mein Beruf führt.«

»Aber du rasest gegen dich selbst, mein lieber Heinz!«

»Durchaus nicht! Ich brauche frische frohe Arbeit so notwendig wie die Luft, die ich atme. Ich passe den Teufel zu solchem Beruf. Ich bin ein Soldat und keine Hofschranze!«

»Herrgott – frische frohe Arbeit, sagst du! Die wirst du ausgiebig haben bei deinen Pirschgängen.«

»Die Befriedigung einer Passion ist keine Tätigkeit, wie man sie nötig hat für seine Gemütsruhe – ich möchte nicht leben ohne Pflichten«

»Die hast du doch in deiner Stellung!« rief sie gereizt. »Welch pedantische Auffassung, Heinz!«

»Die Pflichten eines Hofmarschalls in Breitenfels«, sagte 48 er leise, »ausgezeichnet, Tante. Und worin bestehen sie? Im Whistspielen, im Aufstellen der Gästelisten für eure illustren Teeabende und im Honneurmachen. Nimm's nicht übel, Tante, die Gräfin Arnstein sowohl wie die Frau Hofprediger gelangen auch, ohne daß ich ihnen meinen Arm am Eingang der fürstlichen Gemächer anbiete, zu dem Sessel der Durchlauchtigsten – eure Idee ist eine Kateridee!«

»Aber – wenn sich Toni darauf kapriziert, wenn sie –«

»Dann muß sie sich eben einen andern suchen, der mit ihr zugleich den Hofmarschall übernimmt«, unterbrach er brüsk und hatte ein riesig erleichtertes Gefühl in sich. Er mußte es darauf ankommen lassen: duckte er sich in dieser Angelegenheit, so war seine Autorität ihr gegenüber für alle Zeiten untergraben! Sie durfte doch nicht denken, weil sie ein paar Kröten besaß, daß der Mann, den sie sich damit gekauft hatte, ihr Spielzeug sei? Lieber – das Schlimmste!

»Und wenn Toni«, scholl es wieder aus der dunklen Ecke des Wagens, »wenn sie ihre Freiheit tatsächlich deiner Tyrannei und Engherzigkeit vorzieht, wie dann?«

»Liebe Tante, du scheinst überhört zu haben, was ich eben sagte.«

»Hast du das große Los gewonnen oder hinterließ deine Mutter unerwartet ein Vermögen?« stieß die Baronin zitternd hervor.

»Keins von beiden. Ich bin mir der jammervollen Lage meiner pekuniären Schwierigkeiten vollständig bewußt.«

»Nun, dann verstehe ich dich nicht!« Und sie setzte sich so ostentativ zurück, als wollte sie sagen: Mache was du willst, mit dir ist nicht zu reden!

»Es tut mir bitter leid, Tante Christiane.«

»Ich ersuche dich, wenigstens heute abend nicht mehr die Sache zu entscheiden; gehe in dein Zimmer, ohne Toni zu begrüßen, und ich werde versuchen, dich glaubhaft bei ihr zu entschuldigen. Sie erwartet dich in meinem Salon zum Tee, und du hast wahrscheinlich Kopfweh oder dergleichen – sie muß es gelten lassen.«

»Ich habe keine Kopfschmerzen und fürchte mich nicht vor Auseinandersetzungen – je eher, je besser!«

»Nun denn, meinetwegen!« Die Baronin wickelte sich nach diesen Worten in ihren Pelz und würdigte ihren Neffen keines Wortes weiter. Der Wagen kroch langsam bergan, dann huschte der Schein der ersten Petroleumlaterne der Residenz durch die Fenster des Coupés und Heinz schaute hinaus. Oben angelangt, setzten sich die Pferde wieder in Trab. Der junge 49 Offizier sah Licht schimmern durch die Läden des Mayschen Hauses. Beim Oberförster war alles dunkel – natürlich saß er bei der Braut!

Heinz biß sich auf die Lippen, daß es schmerzte. Der hätte ebensogut ein Kindermädchen heiraten können, weiter suchte er doch nichts. Und diese reizende, kluge, süße Änne vergräbt sich in solche Prosa! Und er, er sollte hier bleiben und das mit ansehen, wie der plumpe Gesell ihr den Staub von den Schmetterlingsflügeln streift und sie in eine häßliche Puppe zurückverwandelt, die dumpf hinleben muß in dem ewigen Einerlei seines mit Kindergeschrei erfüllten Hauses? Nie – nie!

Nun hielt der Wagen vor dem Eingang des Schlosses, und die Baronin verließ, von Heinz unterstützt, das Gefährt. Mit einem sehr kühlen Kopfnicken verabschiedete sie ihren Neffen im Treppenhause des zweiten Stockes, und er stieg die dritte Treppe empor, um sein Zimmer aufzusuchen, an dessen Schwelle ihn der Bursche empfing. Es war behaglich warm in dem riesenhaften, ziemlich schmucklosen Raum, und auf dem Tisch brodelte der kleine Alfenidkessel neben der Arrakflasche und dem Punschglas.

»Briefe gekommen?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

Er trat an den Tisch und betrachtete ein großes graues Kuvert, das in ungelenken Schriftzügen seine Adresse trug. Es hatte ihn, dem Vermerk nach, zuerst in seiner Garnison gesucht und war dann hierher nachgesendet worden. Aus Berlin? Was mochte das sein? – »Ich danke, Scholze«, sagte er dann, »ich gehe nachher noch zur Frau Baronin hinunter, mache den Waffenrock zurecht!« Dann warf er sich in einen der mit grün und weißgestreiftem Kattun bezogenen Fauteuils nahe der Lampe und erbrach das Schreiben.

»Gnädigster Herr Leutnant!« begann er mühsam zu entziffern. »Besinnen sich gnädigster Herr Leutnant noch auf die dicke Marie? Ich habe Ihnen doch so oft als kleinen Jung' die Butterstullen gemacht zum Schulfrühstück und auch Bratäpfels in Winterabends in die Kochmaschine und haben Sie doch immer viel auf mir gehalten dazumal. Auch was die liebe gnädige verstorbene Frau Mama ist, hat mir immer so gern gehabt bis zu ihrem Ende, was nun doch so rasch gekommen ist.

Gnädiger Herr Leutnant, wir sind, mein Mann und ich, tief betrübt und es ist gewiß keine Unbescheidenheit, wenn ich in die Trauertage mit eine kleine Frage hervortrete, es ist man, weil davon sehr viel abhängen tut für meinen Mann 50 und mir, und weil wir doch fünf Kinder haben und August, was der Älteste ist, Oktober in die Lehre kommen soll bei Schuster Finken in die Nollendorfer Straße, wo seine Kundschaft ist. – Nun geht unser Grünkeller mit Bier und Butter jawoll ganz gut, aber die Zinsen von die gnädige Frau Rätin können wir doch nicht gut entbehren, indem daß dieselbigen nun schon anderthalb Jahre nicht bezahlt sind. Ich habe nicht gewagt, gnädige Frau von Kerkow dran zu erinnern, weil ich weiß, daß sie ihre alte untertänigste Dienerin nicht vergißt, nu aberst jetzt, wo ihr der Tod so rasch genaht ist, möchte ich doch fragen, ob gnädige Frau vielleicht etwas hinterlassen hat über Rückzahlung der fünfzehnhundert Mark, was unser Gespartes ist, und die ausständigen Zinsen? Ich bitte Herrn Leutnant vielemal zu verzeihen, und die Briefe, worin gnädige Frau uns bat, sie das Geld zu borgen, lege ich mit bei in untertänigsten Vertrauen und der Bitte, wenn's möglich wäre und es Herrn Leutnant und dem gnädigen Fräulein keine Ungelegenheit macht, uns doch gütigst zurückzugeben, indem wir es doch sehr nötig haben.

Mit untertänigstem Gruß Ihre Dienerin

Marie Schulze geb. Artner.«

Ganz mechanisch nahm er den Brief seiner Mutter und entfaltete ihn:

»Liebe Marie!

In größter augenblicklicher Verlegenheit wende ich mich an Dich, treue Seele, und bitte Dich und Deinen Mann, mir fünfhundert Mark zu leihen zu fünf Prozent. Ich kann Dir nicht sagen – weshalb oder wozu, und verspreche, daß ich es pünktlich am nächsten ersten Januar wieder zurückzahle.

Immer Deine, Dir sehr zugetane

Bertha von Kerkow.«

Dann noch ein Brief. Jetzt sind es tausend Mark, die die Mutter haben will und die ihr die treue Seele gibt, das ehemalige Dienstmädchen, das sich bei harter Arbeit groschen- und sechserweise das Sümmchen zusammengespart hat – –. Mein Gott, das hatte er doch nicht gedacht! Stand es denn so furchtbar mit der alten Frau? Und wozu hatte sie denn –?

Er sah auf das Datum des letzten Briefes und eine jähe Blutwelle stieg ihm zu Kopf. Ja, das war vor drei Jahren gewesen, als er Schulden halber – recht törichte leichtsinnige Schulden, die einzigen, die er auf solche Weise gemacht hatte! 51 – sich an die Mutter wandte und sie bat, ihm jene mythenhaften fünfhundert Taler zu schicken, die ihm zur Konfirmation ein Pate geschenkt hatte, und die ihm immer als starker Trost im Hintergrund erschienen waren, wenn er einmal ein bißchen über die Stränge schlug. Na, schlimmsten Falles nehme ich die fünfhundert Taler von Onkel Heinrich, hatte er sich stets vorgeredet.

Ja, damals hatte er das Geld verlangt und auch bekommen, aber – es war längst nicht mehr dagewesen. In irgendeiner Not hatte es die Mutter wohl verbraucht für sich und die Schwestern. Arme Mutter – was mochte sie gelitten haben! Sie hatte geborgt, geborgt von der ehemaligen Köchin!

Ja, die muß alles wieder erhalten – freilich – sofort! Er würde an Wolf schreiben und noch mal borgen. Eine nette Summe, die da schon zusammengekommen ist – zahlbar nach der Heirat!! Er riß die Uniform auf und stürmte im Zimmer hin und her. Ein Zug von Ekel glitt über sein Gesicht. Was war aus ihm geworden! Einer, der Schulden macht auf das Geld seiner künftigen Frau, viel Schulden!

Ja freilich, er ist nicht der einzige, Hunderte gibt es, die tun's kaltblütig. Aber er, ach, er hatte doch noch Ideale gehabt!

Und dann will er noch heiraten und sich als den Gebieter aufspielen? Es darauf ankommen lassen, ob sie sich seinem Willen beugt oder nicht, er, der so mit Haut und Haar der Gnade ihres Geldbeutels verfallen ist? Lächerlich! Was soll er denn für ein Gesicht machen, wenn ihm nach der Hochzeit – etwa, wenn man von der Reise zurückkommt – die Schuldscheine präsentiert werden? Als sogenannter Hofmarschall – jeder alte abgelebte Hofschranze könnte den Posten ausfüllen – war er doch vielleicht imstande, aus eigener Kraft abzuzahlen, als Offizier nie! Er lachte bitter auf. Na, denn zu! Es ist ja ganz gleich, als was man seine Sklavenketten schleppt, als Soldat oder als Beamter, verpfuscht war das Leben doch einmal!

Er trat nach wenigen Minuten bei seiner Tante ein, mit hartem Gesichtsausdruck. Toni Ribbeneck saß in einem der tiefen Fauteuils am Kaminofen und sah ihm fragend und neugierig entgegen; Frau von Gruber erhob sich und verließ das Zimmer. Sie mochte nicht anhören, wie er die Rolle des Gebieters spielte, »der dumme Junge«, wie sie ihn innerlich wütend nannte. Sie erhaschte nur noch den Anblick einer wenig zuvorkommenden Begrüßung seitens der Braut, die, von Frau Gruber auf eine mögliche Enttäuschung hinsichtlich des 52 Hofmarschalls vorbereitet, die Miene einer tyrannisierten Frau aufgesetzt hatte.

Um so erstaunter war sie, als nach zehn Minuten die junge Dame in das Zimmer kam, in das sie sich zurückgezogen hatte, und ihr mit triumphierender Miene sagte: »Aber, liebste Frau von Gruber, was redeten Sie denn? Er ist ja ganz einverstanden, wie ein Lamm ist mein guter Heinz! Er hat sich wahrscheinlich nur gesträubt, weil Sie als Tante ihm die Sache plausibel machen wollten. Sobald ich die Rede darauf brachte, erklärte er, sich meinen Wünschen fügen zu wollen.«

»Wahrscheinlich!« stotterte die alte Dame ganz verblüfft. Und als sie gleich darauf vor ihm stand, der am Tisch saß und gedankenlos in einem Album blätterte, sagte sie nicht ohne Ärger: »Es freut mich, Heinz, daß du Tonis Wunsch erfüllst!«

»Es ist ja doch schließlich ganz egal«, antwortete er, den Deckel zuklappend. Und in dem Blick, mit dem er zu ihr aufsah, lag etwas so Trostloses, Müdes, daß sie erschrak.

»Du bist krank, Heinz. Das Unglück zu Hause hat dich angegriffen. Nicht wahr, Toni, wir entlassen ihn – du mußt dich ausruhen, Heinz!«

»Aber nein«, rief die junge Dame, »ich habe mich so gefreut auf heute abend! Wovon soll er denn müde sein? Nicht wahr, Heinz, du gehst noch nicht, wir plaudern noch? Bist du gar nicht neugierig, wo wir wohnen sollen? Hier im Schloß –«

»Ist das auch bereits bestimmt?« unterbrach er sie scharf.

»Ja, natürlich! Durchlaucht ist zu reizend, zu rührend, als ob sie eine Tochter verheiratete, so lieb! Hier über uns deine Zimmer gehören mit dazu, die Aussicht nach dem Platz und nach der Stadt!«

»Ach!« machte er, und dann kam ihm zu Sinn, wie es nun doch so komme, daß er die Oberförsterei täglich vor Augen haben müsse. Aber vielleicht gewöhnte er sich auch daran wie an alles andere Schwere, Trostlose. Und plötzlich fragte er wie aufatmend, daß doch noch ein Lichtstrahl bei der Sache für ihn sei: »Die Wohnung ist groß?«

»Denke dir – zehn Zimmer! Durchlaucht ist rührend«, wiederholte Toni.

»Dann wird ja wohl eines dabei sein, in dem meine Schwester wohnen kann. Sie muß eine Heimat bei uns haben.«

Toni antwortete nicht, aber Frau von Gruber, in welcher der Familiensinn stark entwickelt war, nickte ihm zu: »Das ist recht von dir, Heinz!«

»Aber wird Durchlaucht gestatten?«

»Durchlaucht wird gestatten«, sagte er laut und bestimmt. 53 »Wenn sie sich den Luxus eines verheirateten Hofmarschalls gönnt, so muß sie auch dessen verwaiste Schwester dulden. Übrigens, das lasse meine Sache sein, liebe Toni. Ich selbst werde mit Durchlaucht darüber sprechen. Von dir setze ich voraus, daß du so menschlich und edel denkst, um einem armen Mädchen, das lange die Sonne nicht gesehen hat, ein paar warme Strahlen zu gönnen.«

»Gewiß!« antwortete sie, aber ihre rosige Laune war verschwunden und man trennte sich ziemlich kühl.


Im Mayschen Hause herrschte gehobene Stimmung. Frau Rätin war einfach selig in ihrer Stellung als künftige Schwiegermutter und Großmama.

Das neue Paar hatte bei den Hofbeamten Brautvisite gemacht, auch bei den Bekannten im Städtchen. Die Besuche waren erwidert worden, und mittags von zwölf bis ein Uhr hatte ununterbrochen die Haustürklingel geschellt. Briefe von allen Ecken und Enden waren angelangt, und im Auftrage Ihrer Durchlaucht war eines Nachmittags Frau von Gruber erschienen, um die Glückwünsche der hohen Frau zu übermitteln nebst einem Strauß Orchideen aus den herzoglichen Gewächshäusern. Frau von Gruber war eine volle Viertelstunde lang geblieben und hatte sich sehr herzlich gezeigt, wie Frau Rätin allen versicherte, die es hören wollten.

Nach des Oberförsters Wunsch sollte die Hochzeit schon um Weihnachten stattfinden, spätestens Anfang Januar, und deshalb hatte Frau Rätin die Aussteuer für Änne ganz energisch in Angriff genommen. In der Eßstube rasselte heute bereits die Nähmaschine. Eine ältliche dicke Person mit großer runder Brille auf dem Stumpfnäschen saß zwischen Bergen weißer Leinwand, und Tante Emilie war zum Heften kommandiert. In der Küche stand Änne neben der Mutter, angetan mit einer großen, weißen Küchenschürze, und horchte mit ernsthaftem Gesicht auf die praktischen Lehren für ihren künftigen Hausfrauenberuf.

»Immer erst einen Probekloß kochen – verstehst du, Änne? Falls er auseinander fällt, kann man die Masse noch fester machen. – Unsinn, Kind, ein richtiger Kloß muß mit der Hand gedreht werden, tu doch nur nicht so zimperlich, was soll denn dein künftiges Dienstmädchen von dir denken?«

Änne erwiderte kein Wort, sondern folgte den Weisungen der Mutter mit dem nämlichen undurchdringlichen Gesicht, wie sie es schon seit dem Tage ihrer Verlobung zeigte.

54 »Und heute nachmittag müssen wir hinübergehen, Änne. Ich bekomme sonst keinen Schimmer von dem, was du an Tischwäsche und Handtüchern brauchst. Er sagt zwar, es ist noch genug da von der ersten Frau. Das mag ja auch sein, aber man muß doch selbst sehen. So um drei herum, habe ich sagen lassen an die Stübken, würden wir kommen. – Ein Glück ist's doch, Änne, daß du dich nur gleich so hineinsetzen kannst in die fertige Wirtschaft, denn, wo die Jungens so viel kosten – Vater hätte geradezu Geld borgen müssen für deine Ausstattung!«

Änne blieb stumm.

»Morgen mittag könnt ihr ja dann noch die letzten paar Brautvisiten machen. Hast du übrigens eine Ahnung, wann Günther heute heimkommt?«

»Ich habe ihn nicht gefragt, Mutter.«

»Ach, so was! Ich weiß gar nicht, wie du bist, Änne! – Aber Kind, wie ungeschickt du den Kochtopf anfaßt! Hast du dich verbrannt? Na, das ging noch mal so. Ja, was ich sagen wollte, Änne, ich habe die Kleinen zu Mittag herüber bitten lassen, sie essen so gern Klöße, und du mußt dich jetzt doch etwas mehr um sie kümmern, finde ich. Die Älteste ist doch eigentlich recht scheu dir gegenüber. Was mag das nur sein? Manchmal denke ich, das Kind hat so dumme Stiefmuttermärchen gelesen oder erzählen hören, meinst du nicht auch? Aber so – –«

Das Klingeln der Haustür unterbrach den Redestrom der geschäftigen Frau. »Herrgott, schon wieder Besuch? Aber ich wüßte gar nicht, wer da noch kommen sollte, sie waren ja schon alle hier!«

Sie nickte Änne Stillschweigen zu und schlich zur angelehnten Küchentür hinüber, um zu horchen, wer da sei. Eine Männerstimme fragte nach Frau Rätin und dem Fräulein. Das junge Dienstmädchen antwortete, daß die Damen zu Hause seien, die Herrschaften möchten nur eintreten in die »gute« Stube, sie wolle es gleich melden.

Änne stand plötzlich mit sonderbar kühlem, blassem Gesicht da. Frau Rätin kam eilig zurück zu ihrem brodelnden Kessel.

»Der Heinz Kerkow, Änne! An den habe ich gar nicht mehr gedacht! Geh nur immer hinein! Sobald es die Klöße erlauben, komme ich nach.«

Langsam band Änne die Küchenschürze ab, wusch sich die Hände und streifte die Ärmel ihres rotbraunen Wollkleides herunter. Als sie die Küche verließ, wo das Dienstmädchen ganz aufgeregt der Frau Rätin erzählte, daß sich die Braut 55 vom Herrn Leutnant aber fein gemacht habe, trug sie ihre alte freundliche Miene zur Schau, nur daß sie den Kopf ein bißchen stolz in den Nacken gebogen hatte.

»Er muß glauben, daß ich glücklich bin, daß ich nie an ihn gedacht habe – es gilt, Änne, es gilt, beiße die Zähne aufeinander!« sagte sie sich. Als sie die Hand auf den Drücker legte, kam sie einen Augenblick ein Grauen an vor dem Wiedersehen und ein Zweifel an ihrer Standhaftigkeit, aber das ging vorüber. Sie öffnete rasch und trat ein.

Heinz Kerkow hatte ebenfalls seine ganze Energie aufgeboten, um diesen Besuch endlich auszuführen. Erst hatte er ihn von Tag zu Tag aufgeschoben unter allerhand Vorwänden – es wurde ihm so unsagbar schwer, das Mädchen wiederzusehen, von dem er genau zu wissen meinte, daß es ihn liebte, trotz ihres Schreibens von Glück und Brautjubel. Dann hatte er sich gesagt, daß ein Verzögern die Qual nicht mindere, und hatte sich, seinem raschen Temperament entsprechend, entschlossen, sofort hinunterzugehen. Eigentlich wollte er ihr allein gratulieren, einen Besuch machen wie in alten Tagen, aber da war es Toni plötzlich eingefallen, daß sie der kleinen May auch gratulieren müsse und daß sie außerdem etwas mit dem Medizinalrat zu besprechen habe. Und so waren sie beide gekommen.

Änne erblickte beim Eintreten die Hofdame vor einem der Photographiealben, die auf der Plüschdecke des Sofatischs lagen. Heinz stand am Fenster und starrte nach dem Schlosse hinauf.

»Wie liebenswürdig, gnädiges Fräulein, Herr von Kerkow« sagte sie unbefangen und lächelte, wobei ein rosiger Hauch über ihr Gesicht flog. Und indem sie neben Toni auf dem Sofa Platz nahm und Heinz Kerkow den Sessel neben sich anwies, wandte sie das Gespräch auf den Verlust, den der junge Offizier durch den Tod seiner Mutter erlitten hatte. »Wie leid tut es mir, Herr von Kerkow – solch ein schwerer Schlag gerad in die glücklichste Zeit des Lebens! Sie müssen nämlich wissen, Fräulein von Ribbeneck, daß Ihr Herr Bräutigam und ich uns schon seit den Kinderjahren kennen, daß ich ein bißchen eingeweiht bin in seine Familiengeschichte und daher ermessen kann, was dieser Verlust für ihn bedeutet. Und Ihre Schwestern, Herr von Kerkow? Was wird denn nun aus Fräulein Hedwig? Sie kann doch nicht allein bleiben, sie ist noch viel zu jung dazu.«

»Sie sind sehr freundlich«, antwortete er mit einer Stimme, die fast heiser klang. »Meine älteste Schwester ist seit kurzem 56 schwer erkrankt, unheilbar, und Hedwig ist allein geblieben – bis auf weiteres.«

»Ganz allein?« rief Änne, »aber das ist ja traurig!«

»Ehrlich gestanden«, mischte sich Toni ein, »das kann ich nicht finden. Tausende von Mädchen leben in noch schwereren Verhältnissen allein.«

»Gewiß!« gab er zu, »sie stirbt nicht daran!« Aber es geschah mit einem so müden Ton, daß Änne erschrak. Sie hatte bis jetzt nicht gewagt, ihn anzusehen. Nun tat sie es. Er hielt den Helm auf dem Knie und zwischen seinen Brauen stand eine Falte, die Änne nicht kannte in diesem frischen, sonst so lachenden Antlitz. Er sah den Blick und raffte sich auf – weshalb sollte dieses ruhige freundliche Mädchen, das wie das verkörperte Glück aussah, erfahren, wie es um ihn stand? Ihrem Schreiben hatte er nicht geglaubt, ihrem Wesen mußte er glauben, sie war wie getaucht in lächelndes Glück und rosige Glut.

»Haben Sie schon gehört, Fräulein May, daß ich mich bei Ihrer Durchlaucht als Stütze der Hausfrau verdingt habe?« fragte er nun, sein Unbehagen über die künftige Stellung mit leichtem Spott verbergend.

Sie sah ihn verständnislos an. Toni zog ein Gesicht. Sie fand den Witz absolut nicht nach ihrem Geschmack.

»Sie sehen in mir«, fuhr er sich verbeugend fort, »den künftigen Hofmarschall Ihrer Durchlaucht der Frau Herzogin von Breitenfels. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt Haus-, Küchen-, Kellerverwalter sein, Gesellschaften arrangieren, auf die unsterblichen Schimmel ein Auge haben, sowie auf sämtliches Personal des Haushaltes, die Fleischer-, Bäcker- und sonstigen Rechnungen kontrollieren, Konzerte veranstalten, hohen Gästen entsprechend einen längeren Küchenzettel entwerfen, kurz – ein Mädchen für alles!«

Änne hatte ihm einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Einen Augenblick, einen einzigen, hatte sich ihr Gesicht verfärbt. Hier wollte er bleiben? Das hieße ja für sie ein immerwährender Schmerz, ewige Unruhe, unausgesetzte Qual! – »Wirklich?« fragte sie.

»Gewiß!« bestätigte Toni, »finden Sie es nicht reizend von Durchlaucht? Die Herzogin will mich nicht von sich lassen. Rührend ist sie! Dort droben, wo Heinz jetzt logiert, wird unsere Wohnung hergerichtet. – Nehmen Sie sich in acht, Fräulein May, wir können der künftigen Frau Oberförsterin mit dem Feldstecher die ganze Wohnung ausspähen«, fügte sie scherzend hinzu.

57 »Oh, das freut mich, daß Sie hierbleiben«, log Änne. Weiter kam sie nicht – es war so namenlos schmachvoll, dieses Komödienspiel! Zum Glück trudelte jetzt die freudestrahlende Frau Rätin ins Zimmer. Sie gehörte zu den kleinbürgerlichen Frauen, die überschwengliche Höflichkeitsphrasen für solche Gelegenheiten aufgespeichert haben, und so hörte man in den nächsten fünf Minuten nichts weiter als die Schlagwörter: Ehre – Glück – Freundlichkeit – zu gütig – reizend und so weiter.

»Wie schnell das gekommen ist«, fuhr sie fort, Ännes Platz neben der Hofdame einnehmend, »vor vierzehn Tagen hatte noch niemand eine Ahnung von einer Verlobung. Wissen Sie, gnädiges Fräulein, an dem Konzertabend, wo Änne das Lied sang von der Abendsonne – ja, damals dachte niemand an ein solches Ereignis, und am andern Tage gleich zwei! Überrascht waren wir, gnädiges Fräulein, ich sage Ihnen – überrascht über alle Begriffe!«

Änne stand wie auf Kohlen. »Mütter sind immer überrascht, selbst wenn sie ganz genau wissen, wie es um das Herz ihrer Tochter steht«, sagte sie gezwungen lachend.

»Glauben Sie es nicht«, verteidigte Frau Rätin ihre Mutterwürde, »ganz allein hat sie die Geschichte mit sich ausgemacht, und steht dann da plötzlich vor einem: ›Mama, ich habe mich verlobt‹, basta! – Jawohl, du Trotzkopf!«

»Frau Rätin«, unterbrach die Hofdame gelangweilt, »ist der Herr Doktor zu sprechen?«

»Gewiß, er hat ja eben noch Sprechstunde«, erwiderte die lebhafte Frau und erhob sich sofort, um Fräulein von Ribbeneck den Vortritt vor einigen andern Patienten zu verschaffen. Nach kaum einer Minute streckte sie den Kopf zur Tür hinein. »Mein Mann läßt bitten, gnädiges Fräulein.« Toni flüsterte ein »Auf Wiedersehen« und verschwand.

Änne und Heinz standen sich allein gegenüber. Die Frau Rätin war vermutlich wieder in die Küche geflogen zu ihren Klößen. Eine lange Pause herrschte, keiner von ihnen fand ein Wort. Endlich sagte er mühsam scherzend – er hatte sich erhoben und war vor sie hingetreten: »Also, das ist Änne, die liebe lustige Änne als Braut?«

Sie ging darauf ein. »Und das ist Heinz von Kerkow als Bräutigam?«

»Ja!« sagte er kurz und nickte ihr ernsthaft zu. »Wie freue ich mich, Änne, daß Sie so glücklich sind«, sprach er dann herzlich.

»Sehr bin ich es, sehr!« versicherte sie eifrig.

58 »Und so ernsten Pflichten gegenüber – drei Stiefkinder? Arme kleine Änne!«

»Darauf freue ich mich gerade ganz unbändig«, rief sie fröhlich.

Er sah sie lange und forschend an, blieb aber stumm. Sie wurde ein wenig rot unter der Lüge, sprach dann aber hastig weiter: »Heinz – ach pardon! – Herr von Kerkow, ich muß Ihnen noch etwas sagen. Vorhin, als von Ihrer Schwester die Rede war, wurden Sie so traurig. Bitte, bitte, schreiben Sie ihr, daß wir sie mit offenen Armen aufnehmen wollen, ich kann für meine Eltern einstehen. Lassen Sie sie zu uns kommen, lassen Sie sie nicht so allein jetzt! Sehen Sie«, fuhr sie erregt fort, in den Fehler aller Leute fallend, die einen andern um jeden Preis etwas glauben machen wollen, den Fehler der Übertreibung, »sehen Sie, Heinz, wenn Ihre Braut sich ein wenig sperrt in dieser Angelegenheit, so kann man ihr das nicht verdenken – sie fürchtet eben den Dritten im Bunde, den Jemand, mit dem sie Ihr Herz ein wenig teilen müßte. Ich aber, Heinz, bin nicht Ihre Braut und infolgedessen auch nicht eifersüchtig, ich würde mich so unbeschreiblich freuen, die Schwester meines Jugendfreundes bei mir zu haben!«

Er sah ganz starr zu ihr hinüber. Was war denn das? Was sollte das heißen? Glaubte sie nötig zu haben, ihm mit klaren Worten zu sagen, daß sie ihn nie geliebt hatte? Mein Gott, davon mußte er wohl auch so überzeugt sein! »Ich danke Ihnen, Fräulein Änne, ich glaube auch alles, was Sie mir da sagen, glaube es gern«, antwortete er, »seien Sie versichert, jedes Wort tut mir wohl, befreit mich von Sorgen, die ich mir arroganterweise gemacht hatte! Was nun aber Hedwig anbetrifft, so muß ich leider für jetzt Ihre Freundlichkeit ablehnen. Ein solcher Trauergast würde in Ihr so frohes Haus nicht passen. – Später, wenn Sie als junge Frau Oberförsterin drüben wohnen, und Hedwig in unserem Hause ein Heim gefunden hat, dann nehmen Sie sich ihrer, bitte, ein wenig an – ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein!«

Sie hatte ihn recht verstanden, denn sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, also – er war doch in Sorgen um sie gewesen! Ob er jetzt sich überzeugt hat, daß sie ihn niemals geliebt hat? Weiter lügen, mehr lügen! stürmte es in ihr. Sie suchte nach einer Antwort und fand keine. Wie erlöst eilte sie gleich darauf der Tür zu, an der sich der Drücker bewegte, ohne daß sie aufging. Sie öffnete, und ihr fröhliches »Ei! ei! was kommt denn da?« ließ den jungen Offizier in seiner Wanderung durch das Zimmer einhalten.

59 Drei Kinder kamen über die Schwelle. Das jüngste, ein Mädel mit krauser blonder Lockenfülle, dick und pummelig wie der Apfel, den es in der Hand hielt, nahm Änne gleich auf den Arm und küßte es. Der Bub im Samtkittelchen mit Lederschurzfell, Papierhelm und hölzernem Säbel war die Miniaturausgabe des Oberförsters, derb, untersetzt, mit trotzigen blauen Kinderaugen, die verwundert von Änne zu Heinz schauten. Die älteste, ein mageres Kind von sieben Jahren mit spitzem altklugen Gesicht und straff zurückgekämmtem weißblonden Haar, hielt in jedem Arm eine Puppe. Sie machte einen Knicks vor dem fremden Herrn und sah ihn mit unverhohlener Neugier aus hellen wimperlosen Augen an.

Änne hatte sich mit ihrer Last auf den Fenstertritt gesetzt und barg ihr Gesicht in das krause Blondhaar des Kinderköpfchens. Der Junge stand ihr zugewandt und beobachtete sie stumm.

Heinz, den in diesem Augenblick der ganze große Schmerz seiner verlorenen Liebe überfiel, betrachtete eines der Bilder an der Wand. Er konnte sie nicht tändeln sehen mit dem Kinde dieses andern, er konnte sie überhaupt nicht mehr sehen, es ging über seine Kräfte. Mehr als ein bestimmtes Maß von Elend kann der Mensch nicht ertragen! Sie hatte ihn nie geliebt, nun gut, aber er liebte sie desto mehr. Wie sehr, das fühlte er in diesem Augenblick erst.

Und Änne spielte ihre Komödie weiter und hatte ein Gefühl dabei, als müßte irgend etwas in ihrem Herzen zerreißen, als müßte sie schreien: »Glaube mir, glaube mir! Du mußt mir glauben! Siehst du denn nicht, daß ich beinahe sterbe an den Lügen?«

Da klang auf einmal eine Kinderstimme durch das stille Zimmer, eine grollende freche Jungenstimme: »Warum küßt du denn heute Mariechen immerzu?«

Ännes Gesicht tauchte erschreckt empor. »Was meinst du damit, Hermänne«, fragte sie streng, »ich küsse das Mariechen doch alle Tage?«

»Das ist ja gar nicht wahr!« rief der Junge, »und wenn sie auf deinem Schoß sitzen will, setzt du sie immer wieder auf den Boden.«

»Du bist ein ganz ungezogenes Kind, Hermann! Agnes, bitte, nimm deinen Bruder und geh mit ihm hinaus!« rief sie.

Aber die ältere Schwester ließ ihren Bruder nicht ohne weiteres tadeln. »Ja«, sagte sie mit ihrer ganzen altklugen Wichtigkeit, »und einen Schmitz hast du ihm auch nicht an die Peitsche machen wollen, und Puppenkleider willst du auch 60 nicht nähen für meine Lucie, und Fräulein Stübken sagt auch, du verstellst dich bloß, du hättest uns gar nicht lieb, weil du nie mit uns spielst!«

Ännes Lachen machte den unartigen kleinen Mund verstummen. »Na, nun aber rasch hinaus!« rief sie, »geht zu Großmama in die Küche, ihr armen dummen Gören – faßt das Mariechen ordentlich an, damit es nicht hinfällt!«

»So!« Sie hatte die Kinder aus der Tür geschoben und lachte noch immer, sie wußte es selbst kaum. Ganz mechanisch setzte sie sich wieder auf den Fenstertritt und sah scheu zu Heinz hinüber, der dies kurze Zwischenspiel gar nicht bemerkt zu haben schien. Er stand noch immer vor dem Bilde, die Zähne aufeinander gebissen. »Kinder und Narren – –« sagte er still für sich.

Sie atmete auf. Nein, er hatte ihr armes blutendes Herz nicht gesehen, von dem die Kinder soeben erbarmungslos den Schleier gerissen hatten, den sie so sorglich darüber gebreitet hielt. »Ihre Braut bleibt recht lange beim Vater«, bemerkte sie möglichst ruhig.

Er wandte sich langsam zu ihr. Sie saß da, die Arme verschränkt, den Kopf, wie erschöpft, an die Spiegelkonsole gelehnt, die Schultern emporgezogen, als fröstelte es sie. Das Gesicht war blaß und wie verfallen.

»Es ist kalt in diesem Zimmer«, beantwortete sie seinen verdunkelten Blick, in dem der ganze grenzenlose Jammer um sie beide lag.

»Benachrichtigen Sie, bitte, meine Braut, ich sei vorausgegangen in den Marstall, Fräulein May« sagte er plötzlich. »Ich habe nämlich augenblicklich die Aufgabe, mich in meinen Beruf möglichst rasch einzuleben.«

Ehe sie sich noch erheben konnte, hatte er sich verbeugt und das Zimmer verlassen. Sie sah ihm nach, wie er über den Platz schritt, und dann blickte sie in der Stube umher, als habe sie sie nie vorher gesehen. Da ertönte von draußen ein gellendes Geschrei des kleinen Mariechen und die Stimme der Mutter: »Änne, bekümmere dich doch um die Kinder!«

Sie ging hinaus und hob das schluchzende Kind auf den Arm.



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