Wilhelmine Heimburg
Trotzige Herzen
Wilhelmine Heimburg

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Hedwig saß in ihrer ungeheizten Stube, die neben dem Schlafzimmer der Kinder lag. Sie war nicht viel besser als ein Dienerzimmer, mit den schadhaften, billigen Tapeten, in Blau und Grau gemustert, dem winzigen Kleiderschrank, der wurmstichigen Kommode und der eisernen Bettstelle, in der rot- und weißbezogene Kissen sich breiteten. Sie sah das alles nicht, sie dachte nur daran, daß der Mensch, den sie allein liebte auf der Welt, ihr Bruder, aus sicherem Hafen wieder hinaustreiben sollte auf das Meer des Lebens, existenzlos und unfrei. Ja, wenn er als ungebundener junger Mann wieder hinaustriebe, dann wäre ihr nicht bange, aber der Ballast der mittellosen, verwöhnten Frau, mußte der die Fahrt nicht hemmen?

Sie begann mechanisch ihre Sachen auszupacken, dann zögerte sie – wenn nun Heinz nicht hier bleibt in Breitenfels? Doch gleich darauf hob sie mit einer entschiedenen Bewegung den Kopf in den Nacken und errötete. Sie dachte an die mutterlosen Kinder daneben, an den Mann mit den müden, bekümmerten Augen, dem sie sich freiwillig als Stütze angeboten hatte, und hastig hing sie die Kleider in den Schrank, legte die Wäsche in die Kommode, stellte die Photographien der Mutter und Schwester darauf und kleidete sich um. Eben war sie im Begriff, das Fenster zu öffnen, damit die reine herbe Luft in den dunstigen Raum dringe, da klang ihr aus dem kalten Hauch, der hereinwehte, ein tiefer, feierlicher Ton entgegen, dem ein zweiter, noch tieferer folgte – die Glocke der Schloßkirche begann zu läuten und verkündete der Stadt und 137 dem Lande, daß die alte Herzogin eingeschlafen sei, um nie wieder zu erwachen.

Das blasse Mädchen lehnte den Kopf an das Fensterkreuz und faltete die Hände, und unter den tiefen feierlichen Klängen ward es still in ihrem Herzen, als seien diese Töne ein Wiegenlied. So müde und abgehetzt vom Leben war sie, daß ihr dies Totengeläute zum Trost wurde. – »Einmal kommt Ruhe, einmal schläft man!« sagte sie halblaut. Schlafen dünkte sie das Wünschenswerteste nach dem grauen sonnenlosen Tag, der das Leben für sie gewesen war. An ein Weiterleben mochte sie nicht mehr glauben. Sie, die doch sonst so religiös war, so innig beten konnte, hatte jetzt nur den einen Wunsch: Lasse mich einschlafen, um nie wieder zu erwachen, auch droben nicht! Meine Seele kann sich doch nicht freuen, sie hat's nie gelernt hier unten.

»Schlafen!« sagte sie noch einmal.

Eine ganze Stunde lang läuteten die Glocken, und unter ihren Klängen suchte sie ihr Lager auf und schlief ein.


Sechs Tage später saß Hedwig Kerkow in der Wohnstube der Oberförsterei. Das kleinste Mädchen saß neben ihr auf der Fensterbank, wo es mit seinem Püppchen beschäftigt war, dem es ein schwarzes Läppchen umwickelte, denn es sollte nachher Begräbnis gespielt werden.

Hedwig war nicht viel zur Ruhe gekommen. Sie hatte sich mit aller Kraft an die übernommene Aufgabe gemacht, und da gab es viel zu schaffen. An Karoline vollzog sie ihre erste Wunderkur. Aus dem Mädchen, das unter Fräulein Stübkens Leitung respektlos und eingebildet geworden war, entwickelte sich im Handumdrehen eine bescheidene, folgsame Person. Das ganze Haus war einer gründlichen Reinigung unterworfen worden, vor allen Fenstern hingen neue Gardinen, die der Oberförster gern bewilligt hatte, als Hedwig auf die nicht mehr zu verbergenden Schäden der alten aufmerksam machte. Hedwig hatte selbst die Auswahl treffen dürfen, und anstatt der bläulichweißen, steifgestärkten Dinger hingen jetzt zwar billige, aber doch nette, gelblich getönte Spitzenvorhänge an den Fenstern und gaben den Zimmern ein bedeutend besseres Aussehen. Der Tisch war mittags gefällig gedeckt. Sämtliches angebrochene Service hatte Hedwig erbarmungslos kassiert, Servietten waren vollzählig vorhanden – Fräulein Stübken hatte es damit nicht so genau genommen – und Karoline trug mit weißer 138 sauberer Schürze und gesittetem Benehmen die Suppe auf.

Die Kinder prangten in hellen Schürzen. Keine Tür wurde mehr knallend zugeworfen, selbst die Herren Hunde betrugen sich besser und nahmen ihr Fressen in einem Winkel des Flurs mit demselben Appetit ein wie früher in der Wohnstube, wo es nach ihrem Diner keineswegs sehr anmutig zu riechen pflegte.

Das feine Wesen der neuen Hausdame schuf wie von selbst eine Atmosphäre der Traulichkeit.

Nur des Oberförsters Zimmer blieb unberührt. Der einsame Mann saß da drüben nach wie vor mit seinem gekränkten Herzen, seiner Bitterkeit, in blaue Tabakswolken gehüllt und kam, wie er gesagt hatte, nur zu den Mahlzeiten herüber, und auch das bis jetzt selten genug, denn mehreremal hatte er in irgendeinem Försterhause auf seinen Berufswegen gespeist und kehrte erst heim, wenn der Abend graute.

Hedwig bekümmerte sich darum nicht, bemerkte es nicht einmal. Die wenige Zeit, die ihr blieb, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, gehörte dem Bruder. Gesehen hatte sie ihn noch nicht, sie wußte nur aus ein paar flüchtigen Zeilen, die er ihr sandte, daß er mit seiner Frau sofort zurückgekehrt sei und jetzt überviel zu tun habe, um die Beisetzungsfeierlichkeiten zu ordnen. Eine Unmasse fremder Gäste werde erwartet, die halbe Residenz nehme teil.

Heute nun, um zwei Uhr, sollte die Überführung der Leiche in die Gruft zu Holmsrode, einer alten Breitenfelsschen Besitzung, stattfinden. – Der Gemahl der verstorbenen Herzogin ruhte dort, es war sein Lieblingsplatz im Leben gewesen, und die Gattin sollte seiner Bestimmung gemäß neben ihm schlafen dereinst. Der Weg nach Holmsrode war mit ein paar raschen Pferden in einer Stunde zu machen. Im Schritt mit dem Leichenkondukt aber brauchte man drei Stunden, und dazu war es ein Januartag im funkelnden Schneegewand bei zwölf Grad Kälte!

Der ganze Platz stand voller Menschen, der Weg vom Schloß herab, der Totenweg, war mit Fahnenmasten, die man in Krepp gehüllt hatte, und von denen halbmast schwarze Wimpel wehten, eingefaßt, und auf dem festgestampften Schnee lagen Tannenzweige wie ein dichter, grüner Teppich. Zu beiden Seiten des Trauerweges hatten Soldaten Spalier gebildet, hinter ihnen schob und drängte sich die Menge.

Mitten durch dieses Gewirr wand sich ein Schlitten, zwei verschleierte und vermummte Damen saßen darin. Ein paar große Reisekörbe waren hinten auf den Kufen befestigt. Das junge Mädchen, dessen ovales, feines Gesicht nur ein dünner 139 Schleier schützte, sah weder rechts noch links, mit gesenktem Kopf fuhr sie durch die Menge.

»Das ist Fräulein May, die reist heut nach Dresden, will Sängerin werden«, bemerkte Karoline wichtig, die am andern Fenster mit den beiden ältesten Kindern stand.

Hedwig sah dem Mädchen nach, bis der Schlitten um die Ecke bog. Also das war sie, die es verschmäht hatte, in diesem Hause Herrin zu sein, in das als Dienerin einzutreten ihr als Glück erschien. Ach, das junge Geschöpf wußte wohl nicht, was es getan hatte! Es sollte nur erst versuchen, was es heißt, als Frau sich durch die Welt zu schlagen! Eines Tags würde sie bereuen, bitter bereuen, oder aber sie war ein vollwertiges Talent, vielleicht zur wirklichen Künstlerin berufen – dann – ja dann –

In die Massen draußen kam plötzlich Bewegung. Die Glocken begannen zu läuten, im Schloßtor trat die Wache unters Gewehr. Eine Abteilung des in der Residenz garnisonierenden Jägerbataillons schritt voran, dann folgten die herzoglichen Forstbeamten, dahinter der von acht Pferden gezogene Leichenwagen, dessen schwarze, mit silbernen Fürstenkronen verzierte Samtdecke von acht herzoglichen Förstern getragen wurde. Hinter diesem schritt der Herzog neben seinem Sohne, dem sechzehnjährigen Thronfolger. In langer Reihe folgte das vornehme Trauergeleit. Am Fuße des steilen Schloßberges stockte der Zug; der Herzog und die Herren vom Hofe, sowie die Herzogin und ihre Damen bestiegen die bereitstehenden Wagen, die sich dem Zuge anschlossen.

Hedwig Kerkow glaubte, in einer der vorderen Equipagen ihre Schwägerin, in einer anderen ihren Bruder erkannt zu haben.

»Jesus, meine Zuversicht« spielte die Musik. Der Kondukt setzte sich in Bewegung in der Richtung nach dem Gebirge, dessen Wälder das stille Schloß bargen, in dessen Begräbnisstätte die Tote ruhen sollte.

Breitenfels war aus der Reihe der bewohnten Schlösser gestrichen, es begann seinen Schlaf, wie so viele herrliche Burgen aus alter Zeit. In kurzer Frist würden in den Gemächern der Herzogin die Vorhänge vor den Fenstern heruntergelassen sein und ein paar Diener, sowie der alte Kastellan da droben gleich Gespenstern umherschleichen. Höchstens im Herbst, zur Jagdzeit, würden auf ein paar Wochen wieder helle Fenster in die Dunkelheit hinausgrüßen.

Hedwig seufzte tief, als der letzte Wagen ihren Augen entschwand. Wenn sie doch erst wüßte, was nun aus Heinz werden würde! –

140 Es war am Abend. Sie saß allein in der Wohnstube, die Kinder schliefen bereits, der Hausherr befand sich in seinem Zimmer, da klingelte es draußen, und gleich darauf kam Karoline und brachte ihr ein Briefchen – von Heinz: »Wenn es Dir möglich ist, komme auf eine halbe Stunde zu mir. Der Diener wartet, er kann Dich gleich heraufbegleiten.«

Sie holte den Mantel, band einen Spitzenschal um den Kopf, trug Karoline auf, falls der Herr Oberförster nach ihr fragen sollte, zu sagen, sie sei zu ihrem Bruder gegangen, und schritt, begleitet von dem Diener, aus dem Hause.

»Der Herr Hofmarschall wohnt noch in seinen alten Zimmern«, sagte der Mann. Im Schlosse angelangt, dankte ihm Hedwig und stieg die Treppe empor in das erste Stockwerk. Dort blieb sie stehen und sah sich unwillkürlich um. Der breite Gang, der zu den Gemächern der Verstorbenen führte, war nur durch eine einzige Lampe erleuchtet. Zypressenzweige und weiße Blüten lagen auf dem schwarzen Teppich und die Tuberosen dufteten fast betäubend. Unheimlich still war es. Die Dienerschaft mochte in ihren Speiseräumen sitzen oder daheim sein, sofern sie nicht im Schlosse wohnte; sie war ja außer Tätigkeit. Die auswärtigen Fürstlichkeiten und sonstigen hohen Gäste sowie die herzogliche Familie hatten sich in dem von dem regierenden Herzog bewohnten Teil des Schlosses versammelt – hier herrschte Schweigen und Verlassenheit.

Hedwig Kerkow stieg weiter empor. Im zweiten Stock begegnete ihr die Jungfer der Frau von Gruber, sie trug ein Teeservice in das von der alten Hofdame bewohnte Zimmer. Tante wird angegriffen sein und nimmt den Tee im Bett, dachte Hede. Im dritten Stock angelangt, fand sie ohne weiteres die bekannte Tür und klopfte an; eine Frauenstimme rief: »Herein!«

Mit enttäuschter Miene trat Hedwig ein, sie hatte gehofft, den Bruder allein zu finden. Die Lampe auf dem großen Schreibtisch brannte zwar, aber sie genügte doch nicht, das große Zimmer völlig zu erhellen. Heinz schritt der Schwester entgegen. »Guten Tag, Hede, es ist lieb, daß du kommst«, sagte er. »Toni, hier ist Hedwig.«

Aus einem der riesigen Fauteuils kam ein Laut, der wohl so viel wie »Guten Tag« bedeuten sollte, und das Gesicht der jungen Frau, doppelt blaß unter der schneeigen Krepphaube über dem tiefschwarzen Kleide, wandte sich ihr zu.

Hedwig ging zu ihr hinüber. »Es tut mir leid, Toni, daß eure schöne Reise so traurig unterbrochen wurde.«

Toni zuckte unmerklich mit den Schultern, senkte den Kopf 141 und schwieg. »Ich bin schrecklich abgespannt« klagte sie nach einem Weilchen.

»Das ist doch kein Wunder, diese ewig lange Fahrt heute, dort das Stehen in der kalten Kapelle, die Rückfahrt – du solltest dich ruhig in deinem Zimmer auf die Chaiselongue legen, Toni«, sagte er freundlich.

Sie erhob sich. »Ich störe euch wohl?« fragte sie statt der Antwort. Ihr Gesicht war noch um eine Schattierung bleicher.

»Durchaus nicht«, antwortete er ruhig und ohne auf die Unart einzugehen. »Ich meinte es einfach gut mit dir. Was ich mit Hede zu sprechen habe, kannst du wahrhaftig hören. Also«, begann er, nachdem Hedwig sich gesetzt und er eine Zigarre angebrannt hatte, deren Rauch er, gegen seinen Schreibtisch gelehnt, mit absichtlich zur Schau getragener Gemütsruhe vor sich hinblies, daß die Schwester, der sein Wesen so genau vertraut war, schon daraus seine große innere Erregung erkannte, »also, Hede, wie geht's dir denn nun dort unten?«

»Gut«, antwortete sie, »ich habe viel zu tun, und ich bin so glücklich, wenn ich zum Schloß hinaufsehe und denke, da oben ist Heinz. Wenn ich mit einem Tuche winke, würdest du es sehen können.«

»Wie rührend!« sagte Toni spöttisch.

»Na, Hede, ich will dir ganz offen bekennen«, sprach er weiter, »ich würde ganz froh sein, wenn ich dieses Winken nicht sehen könnte, falls du mal in einer romantischen Stimmung ein Tüchlein zu schwenken beliebtest – aber es wird wohl so kommen, wir bleiben Nachbarn. Ich wollte nämlich lebensgern wieder den bunten Rock anziehen – – begreifst du, Kind?«

»Vollkommen, Heinz! Ich habe sogar bestimmt geglaubt, daß du das tun wirst, und habe mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, hier allein zu bleiben. Ich kann doch nicht so mir nichts dir nichts meine Verpflichtung lösen.«

»Natürlich nicht«, schaltete Toni ein, »ich denke mir, du rechnest auf ein recht dauerndes Engagement.«

Hedwig sah befremdet zu der Schwägerin hinüber. Das hatte so wunderbar geklungen, aber sie verstand nicht, was Toni meinte.

»Toni ist manchmal prophetisch«, scherzte er, »hoffen wir, daß sie recht behält, Kind. Denn, siehst du, auch wir werden recht lange hierbleiben, vermutlich bis an unser Ende, das bei meinem Leben in dieser herrlichen Luft und dem bescheidentlichen, gegen alle Aufregungen gefeiten Dasein erst in 142 nebelgrauen Zeiten eintreten dürfte. Wie du mich hier siehst, bin ich der herzogliche Schloßhauptmann, und die dort die Frau Schloßhauptmann von Breitenfels, mit freier Wohnung und einem Gehalt, das uns vor allem Übermut und Luxus trefflich schützt, und einer Pension, mit Hilfe deren meine Frau standesgemäße Toilette tragen wird. Was sagst du nun, Hede?«

Das Mädchen starrte den Redenden entsetzt an. »Heinz, das kannst du nicht! Das darfst du nicht!« stieß sie hervor. »Werde doch wieder Soldat, du darfst dich hier nicht lebendig begraben lassen!«

»Ich verbitte mir, daß du Heinz so aufhetzst«, rief Toni, »ich begreife nicht, was du willst! Wir haben nette Wohnung, haben den alten angenehmen Verkehr und stehen hier immer an der Spitze. Das Verzweifelttun von Heinz finde ich einfach unpassend.«

»Ich bin ja kreuzfidel«, lachte er, »finde es wundervoll! Ich denke, bei mir bildet sich in dieser Stille, in diesem absoluten Nichtstun noch ein Talent aus – zum Naturforscher oder zum Nimrod oder Maler, oder aber ich erfinde einen neuen Likör, werde weltberühmt wie Gilka und nebenbei ein eifriger Liebhaber dieses Erzeugnisses. Ach Gott, ich sage euch, wer weiß, wie weit ich's noch mal bringe! Übrigens ist's doch nett, daß ich den Titel ›Schloßhauptmann‹ bekam, von Rechts wegen müßte ich doch Oberkastellan heißen – was?«

Er warf mit einer heftigen Bewegung die halb ausgerauchte Zigarre in den Kamin und suchte nach einer andern im Etui.

»Warum kannst du nicht wieder eintreten, Heinz?« brachte Hedwig mit zitternden Lippen hervor.

»Na, Schatz, du hast doch gewiß mal was gehört vom ›Kommißvermögen‹, nicht wahr? Siehst du, das fehlt uns eben. Ein paar Tage lang schwebten wir sozusagen in der Luft, es war ungemütlich – Toni, was? Ich sage dir, Kind, ich bin umhergelaufen wie ein Löwe im Käfig – was nun werden? Nichts haben, nichts sein! Und dann so eine arme kleine Frau dazu, deren Vorhandensein unsereinem das Experimentieren verbietet, so etwa nach Transvaal zu gehen, nach Indien oder Melbourne, um Diamanten, Goldklumpen und Gott weiß was zu finden! Gelt, Toni, es fing schlecht an mit uns?«

Er war vor ihr stehengeblieben und sah wirklich mitleidig auf das kleine blasse Geschöpf herab, das mit verdrießlichem Gesichtsausdruck den Kopf zur Seite wandte.

»Und der Herzog? Um Gottes willen, Heinz, bitte doch den Herzog!« flehte Hedwig.

»Der Herzog hat mir ja die Stellung hier geschaffen, Kind, 143 extra für mich geschaffen, denn bis dato gab's noch keinen Schloßhauptmann von Breitenfels in der Weltgeschichte!«

»Aber du gehst hier ja zugrunde«, jammerte die Schwester, »es ist ja ein Posten für einen Invaliden, aber nicht für dich – für dich!«

Toni erhob sich. »Es wird am besten sein, daß ich gehe«, sagte sie, »denn schön ist's nicht, mit anhören zu müssen, daß du zugrunde gehen wirst, weil – na ja, weil du mich geheiratet hast, denn sonst – sag's doch ehrlich – sonst wandertet ihr beide aus, um das Glück zu suchen, um unerhörte Taten zu vollbringen! Vorläufig bin ich nun aber leider noch auf der Welt –« Das Weitere erstickte in Weinen, sie hatte das Tuch gegen das Gesicht gepreßt und stürzte hinaus. Krachend fiel die Tür hinter ihr zu.

»Entschuldige einen Augenblick«, bat er mit völlig verändertem Gesichtsausdruck, »ich bin gleich wieder bei dir«, er folgte seiner Frau mit raschen Schritten. Nach einer Viertelstunde kam er zurück und setzte sich schweigend Hedwig gegenüber. Er sah hochrot und ärgerlich aus. »Na«, sagte er endlich, »über Ansichten ist nicht zu streiten. Die beiden Damen preisen uns glücklich, finden meine Stellung ideal, und Tante Gruber sagt, sie halte es mit dem Sprichwort ›Lieber auf einem Dorfe der erste als in Rom der zweite‹. – Also, Hede, spielen wir Schloßhauptmann! Übrigens ist's schon spät, Kind, komm, ich werde dich hinunterbringen.«

Sie erhob sich stumm, und stumm schritten sie draußen nebeneinander hin, die Geschwister. Kein Mensch begegnete ihnen, Totenstille ringsum. Über dem Schloß stand jetzt der Vollmond und umspann es mit fahlem, bläulichem Licht. Wie ein Stück Vergangenheit lag es da, so schattenhaft, so dem Leben entrückt, und die Trauerfahne flatterte drüber wie ein düsteres Wahrzeichen. – – Und dort sollte er leben, der junge Mann mit seinem begeisterten Herzen für alles, was groß, schön, gewaltig ist in der Welt, der nützen will, streben will, etwas vollbracht haben will am Schluß seines Lebens, und der verdammt ist, all diese köstliche Jugend in einem tatenlosen, greisenhaften Dasein ersticken zu müssen!

»Weinst du?« fragte er plötzlich und legte den Arm um ihre Schulter, »weine doch nicht, Hede!«

Aber da hielt sie sich nicht länger, die Tränen drängten sich gewaltsam aus den Augen. »Ach, Heinz« schluchzte sie, »warum mußt du denn so unglücklich sein! Wenn wir nicht gewesen wären, wir armen, unseligen Mädchen – warum gibt Gott es nur zu, daß arme Mädchen geboren werden, warum 144 schlägt man sie nicht gleich tot, da sie doch nur leben, um sich und andere unglücklich zu machen!«

»Na, sei so gut«, sagte er mühsam scherzend, »das wäre eine neue Beleuchtung der Frauenfrage. Reden wir von was anderem. Nur das eine noch, du närrisches Mädel, du hast mich doch lieb – wie?«

»Ach, Heinz, Heinz, du bist ja der einzige auf der Welt –«

»Na, siehst du! Und ebenso lieb hab' ich dich! Und nun wollen wir zusammenhalten, alte Hede – den Kopf hoch, trotz alledem und immer!« Er schüttelte ihr die Hand, als sie vor der Haustür angekommen waren, lange und herzlich, seine Augen schimmerten feucht. »Na, und über das Winken reden wir noch«, sprach er weiter. »Tante Christiane wird sich wohl, wenn die Langeweile sie mürbe gemacht hat, auch noch mit deiner Stellung aussöhnen. Gute Nacht, Kind!«

Er drehte sich rasch um und schritt zurück. »Wie elastisch er den steilen Berg hinaufgeht«, dachte sie und wischte die Tränen aus den Augen, »und der soll nun immer hier sein, bis er ein müder, verbitterter Mensch geworden ist!« Und im herben Schmerz preßte sie die Handflächen gegeneinander, und solange sie den liebsten Menschen, den sie auf der Welt hatte, noch sehen konnte, blieb sie da stehen in der kalten Winternacht. – –

Wie seit Jahren lag sie auch an diesem Abend noch bis tief in die Nacht hinein wach und grübelte, aber das Schicksal des Bruders ließ sich nicht wenden. Überall, wo sie einen Ausweg wähnte, fand sie die festgefügten, starren Mauern seiner traurigen Verhältnisse.

Es weinten noch mehr Leute in dieser Nacht in Breitenfels: die Armen, die in der Herzogin ihre Wohltäterin verloren hatten, die regierende Herzogin, die in der verblichenen Stiefmutter ihres Gemahls eine Vertraute verlor, welche unermüdlich den lebenslustigen Sohn auf die Wege der Treue gewiesen, von denen er so gern abschwenkte; die alten treuen Diener und Dienerinnen der Verblichenen, die, auf knappe Pension gesetzt, im Alter das Einschränken lernen mußten; die Beamten, die stellenlos geworden waren. Frau Medizinalrat May saß auf ihrem Lager und wand die Hände ineinander, es war ja gar zu hart über ihr Haus gekommen! Die Hälfte Gehalt fortan, und die Forderungen der Herren Söhne größer denn je, ihres Hauses Sonnenschein, die Änne, in der Fremde! Anstatt des Hochzeitsfestes, des traulichen Verkehrs mit einer glücklich verheirateten jungen Tochter – spärliche Briefe, immerwährende verzehrende Angst und Sehnsucht!

145 Sie sah ihren Mann an, der neben ihr schlummerte. Er schien ihr sehr gealtert seit den letzten Wochen, und trotzdem hieß es für ihn: doppelt arbeiten, die Praxis ausdehnen, in Wind und Wetter über Land fahren, die Nächte von dem warmen Bett aus direkt in eisige Kälte und Sturm hinaus, seine Gesundheit preisgebend. Wo war all jene sonnige Behaglichkeit geblieben, die ihr bescheidenes Heim so schön gemacht hatte? – Fortgezogen mit der Änne, in das unbekannte weite Leben, das Frau Rat nur vom Hörensagen kannte, das sie grausen machte, wenn auch nur die Hälfte wahr von dem war, was man ihr davon erzählt hatte.

In ihrem Herzeleid drückte sie das tränennasse Gesicht in die Kissen und erstickte ein Schluchzen, damit ihr Mann nicht erwache; und ein heißes stummes Gebet stieg empor für ihre süße, trotzige, ach, so ferne Änne.


Ein Frühlingsabend fünf Jahre später! Die ganze Luft voll Syringen- und Jasminduft, das zitternde junge Laub der Bäume durchleuchtet vom Abendsonnenschein. Vom Turm der Schloßkirche hebt Geläute an, Pfingstgeläute, und unter seinen Klängen öffnen sich die Augen eines ungefähr vierjährigen Knaben, der auf einem Krankenfahrstuhl ruht, ganz weit und erschreckt. Ein blasses, abgezehrtes Kindergesicht, aus dem diese schönen glänzenden großen Augen blicken. Man hatte den Fahrstuhl auf die Terrasse des Schlosses geschoben, in den Schutz des kleinen Pavillons, den einst Heinz Kerkow mit Freskogemälden schmücken wollte. Das offenbar schwer leidende Kind war sorgsam mit Decken und Kissen gestützt und eingehüllt; ein geöffnetes Bilderbuch lag auf dem Tischchen zur Seite des kleinen Gefährts neben einem Glase Milch, das noch unberührt stand. Weiter zurück saß auf dem eisernen Gartenstuhl ein Herr vor der Staffelei und malte, oder hatte gemalt, denn die Hand, in der er die Palette hielt, lag auf seinem Knie. Der rechte Arm hing schlaff herunter; der Pinsel war zur Erde gefallen. Wie geblendet starrte der Mann hinein in den Zauber dieses Lenzabends.

Der Schloßhauptmann von Kerkow war noch ein junger Mann, aber die fünf Jahre, die er seines Amtes hier oben gewaltet hatte, mußten schwere, harte Jahre gewesen sein. Er war mager und schmal geworden. Auf der Stirn hatten sich ein paar tiefe Falten gebildet und die Augen blickten müde, so müde wie die eines Menschen, der nichts mehr hofft, der 146 abgeschlossen hat mit dem Leben und nur noch bemüht ist, es mit möglichst guter Haltung weiterzutragen.

»Papa!« rief das Kind ängstlich.

»Gleich, mein Junge!« rief er aufspringend, legte die Palette auf den Stuhl, stand im nächsten Augenblick schon an dem Lager und beugte sich mit besorgtem Ausdruck zu dem kleinen Kranken nieder.

Das Kind beruhigte sich sofort und blickte ihn freundlich an. »Läuten? – warum?« sagte es mühsam.

»Morgen ist Feiertag«, erklärte er, indem er seinen Stuhl herbeiholte, neben dem Kinde Platz nahm und das magere Händchen streichelte. »Morgen ist Pfingsten, Heini.«

»Da fährt Mama aus?«

Heinz Kerkow nickte seinem Sohne zu. Ein finsterer Zug verdrängte einen Augenblick seine Freundlichkeit. »Ja, mein Junge, sie wird wohl ausfahren.«

»Du auch?«

»Soll ich, Heini?«

Um den Kindermund zuckte es schmerzlich. »Nein, nein«, flehte er, »ich habe immer Angst, wenn ich so allein bin.«

»Ich bleibe bei dir, Schatz, weine nicht«, tröstete der Vater. »Wir erzählen uns schöne Geschichten und nachmittags fahre ich dich in den Park hinein – oder willst du zu Tante Hede?«

»Nein, bei dir bleiben – die Kinder sind so unartig.«

»Nicht unartig, Heini, sie sind wild und toben umher, und das sollst du, so Gott will, auch wieder lernen, kleiner Stift.«

Das Kind schüttelte den Kopf. »Ich lern 's nicht, Papa!«

»Oho! Woher weißt du das?«

»Mama hat's gesagt zu Tante Gruber – Papa.«

»Aber du närrisches Kind, du hast ganz falsch verstanden.«

»Nein – Mama hat gesagt: ›Er ist ein Krüppel und bleibt ein Krüppel, und alle die Quälerei und Quacksalberei nützt nichts‹ – hat sie gesagt.«

Über Heinz Kerkows Gesicht ging eine fahle Blässe. »Da hat Mama dich nicht gemeint, mein Herzblatt; du mußt nicht alles auf dich beziehen und nicht so achten auf das, was die Großen sprechen – hörst du?«

»Ich will mich aber nicht mehr quälen lassen mit der Maschine«, beharrte das Kind.

»Wenn du deinen Papa liebhast, Heini, dann läßt du dich noch ein bißchen quälen.«

Das Kind schwieg. Es lag etwas in seinem abgemagerten Antlitz, das weit über seine Jahre hinausging; ein Hauch bitterster Erkenntnis seines Zustandes. Heinz saß daneben und 147 kämpfte mit seinem großen Schmerz um dieses armselige Geschöpfchen, das sein Sohn war, mit dem Zorn über die Gefühllosigkeit der Frau, die dieses Kind zur Welt gebracht hatte, ein zartes, aber gesundes Kind, das durch die Schuld der Mutter zu dem geworden, was es jetzt war.

Er ist ein Krüppel, er wird ein Krüppel bleiben! klang es in ihm. Ach Gott, so entsagungsreich, so arm sein Leben auch war in diesem verschollenen Winkel, er würde es mit Freuden weiterleben, wäre der Junge gesund neben ihm hergesprungen durch die hallenden öden Gänge des Schlosses, durch die einsamen Wege des Parkes – aber so, ach so! – –

Er war mit keinerlei Illusionen in diese Ehe gegangen, aber daß sie so öde werden würde, wie sie tatsächlich geworden war, das hatte er doch nicht gedacht. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine Frau zu bewegen, an irgend etwas teilzunehmen, das ihn interessierte, wie er sich ehrlich Mühe gab, ihrem Ideenkreise näherzutreten. Er fuhr Visiten mit ihr in der ganzen Umgegend. Er empfing ihre Gäste, die ihm unendlich gleichgültig waren und vor denen er sich schämte mit dem »Fünfuhrtee«, den Toni in Erwiderung von lukullischen Diners und Soupers zu veranstalten pflegte. Er war der Ansicht, nichts annehmen zu sollen, was man nicht erwidern könne – Toni stand auf einem erhabeneren Standpunkt. »Ich gehe nicht des Essens und Trinkens halber in die Gesellschaft«, pflegte sie zu sagen. Seine Gegenvorstellungen, daß es doch immerhin und unbeschadet dieser idealen Ansicht etwas unbescheiden sei, Leute drei Meilen und mehr über Land fahren zu lassen, um sie mit einer winzig kleinen Tasse Tee und einigem leichten Gebäck abzuspeisen, ließ sie nicht gelten. Mehr erlaubten eben ihre Mittel nicht! Und ohne Geselligkeit könnte sie nicht leben!

Trotzdem sah sich in Kerkows Haushalt alles ganz stattlich an. Der Diener und Kutscher servierten; sie standen, wie Pferd und Wagen, im herzoglichen Dienst und waren dem Schloßhauptmann zur Benutzung gestattet. Die Einrichtung der Zimmer, das Service erschienen elegant, das Silberzeug, ein Geschenk der verstorbenen Herzogin, ebenfalls, und so behauptete sich Toni wirklich ganz ansehnlich.

Heinz beschwichtigte auch das heulende Mädchen, die Jungfer und Köchin in eins vorstellte, wenn ihr die Gnädige in zorniger Aufwallung gekündigt hatte. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte alle vierzehn Tage gewechselt. Ach, und die Tage dehnten sich, als wären die Stunden mit Blei beschwert! Wenn er morgens seine paar Unterschriften vollzogen, mit 148 irgendeinem Handwerker geredet hatte, den er wegen irgendeiner Verbesserung oder Reparatur bestellt hatte, über die zu berichten ihm oblag; wenn der Obergärtner pro forma dagewesen war und Rechnung gelegt hatte über seine Wochensendungen an die herzogliche Küche und über den Verkauf aus den Treibhäusern; wenn der Bibliothekar ihn zum hundertstenmal gebeten hatte, bei Hoheit wegen Ankaufs dieses oder jenes Werkes vorstellig zu werden, ein Bemühen, das er längst aufgegeben hatte, weil der Herzog stets einfach ablehnte, dann war sein Tagewerk getan. Er hatte Muße, die Zeitung in einer Ruhe zu lesen, wie sie wenig Menschen vergönnt ist; im Winter oder an trüben regnerischen Tagen im Erker, im Sommer auf der Terrasse, die für das Publikum neuerdings abgesperrt worden war. Aber wenn er sich noch so sehr Zeit nahm, es blieb immer noch zuviel dieses kostbaren Artikels übrig. Was hatte er nicht alles getan, um sie rascher vergehen zu machen! Er hatte gemalt, alte Bilder kopiert aus den Sälen des Schlosses. Dann, als ihm das über geworden, da er ja doch nichts anderes war als ein halbwegs anständiger Dilettant, hatte er es mit der Blumen- und Obstbaumzucht versucht, hatte den Oberförster eine Zeitlang eifrig auf die Jagd begleitet, aber alles, ohne innere Befriedigung dabei zu finden.

Er wäre wohl auf diese Weise im Nichtstun verkommen, wenn sein Geist nicht durch einen Zufall aufgerüttelt worden wäre. Der Bibliothekar wurde an eine andere herzogliche Bibliothek versetzt und die Bücherei von Breitenfels der Obhut des Schloßhauptmanns anvertraut. Der nicht unbedeutende Schatz an Werken und Kupferstichen, den einst ein ernster, den Wissenschaften ergebener Fürst gesammelt hatte, sollte aber öffentlichen Zwecken nicht dienen, er sollte vorläufig in Breitenfels stehenbleiben, bis man ihn der Bibliothek in der Residenz einverleibte. Heinz von Kerkow hatte nur die Schlüssel von den Zimmern zu bewahren und zuzusehen, daß die Bücher und Folianten nicht vermoderten.

So mußte er öfter durch die stillen Räume wandern. Nun reizte ihn dieser und jener Band, der Titel dieses und jenes Buches. Er blätterte darin; er begann zu lesen. Geschichte und Kulturgeschichte, seine alten Lieblingsfächer, fesselten ihn von neuem, und er begann, ohne es zu merken, ernste Studien zu treiben, sich in den Geist vergangener Epochen zu versetzen.

Ging er jetzt auf die Jagd, schritt er allein durch die tiefen Wälder, rastete er für sich, nur von dem treuen Hunde begleitet, auf stillen, einsamen Höhen, das bunte Gewoge der herbstlich 149 gefärbten Wipfel der Waldbäume zu seinen Füßen, dann vergaß er die Gegenwart, seine öde Lage, dann lebte in seinem Geiste eine andere Welt auf. Da zogen geharnischte Ritter in den Streit, da ritten edle Kavaliere und schmucke Hofdamen zur lustigen Falkenjagd. Die lebhafte Phantasie des künstlerisch veranlagten Mannes ließ Gestalten, deren Leib längst vermodert war, wieder aufleben. Am lebendigsten aber traten diejenigen vor seine Seele, die in der Welt nicht das gewinnende Los gezogen hatten, sondern einst in den Tälern des Herzogtums, wie er heute, in unerfüllter Sehnsucht dahingewelkt waren, mit wundem Herzen und müden Gliedern an der Kette des Lebens sich dahingeschleppt hatten. In Breitenfels und den umliegenden Schlössern hatte sich ja im Laufe der Zeiten so mancher Roman abgespielt, und nicht bei jedem war der Ausgang ein erfreulicher gewesen. Nicht bloß von gebrochenen Lanzen, auch von gebrochenen Herzen wußten die alten Geschichtschreiber des Herzogtums zu berichten. Freilich, jene kalten Schreiber gingen über das große Liebesleid mit kurzen dürren Worten hinweg, Heinz blieb sinnend an solchen Sätzen hängen. Es war, als ob eine unsichtbare Hand die tiefsten Saiten seiner Seele berührte, er las zwischen den Zeilen, was der Chronist verschwiegen hatte, aus der Vergangenheit tönte ihm entgegen das alte Lied von der Liebe Leid und Klage.

Einmal schritt Heinz von Kerkow, die Büchse über die Schulter gehängt, wieder durch den stillen Wald. Rehe und Hirsche brauchten ihn nicht zu fürchten, denn der Jäger jagte den Bildern nach, die seine Phantasie ihm vorwob. Er setzte sich nieder im Schatten eines Baumes und schrieb in sein Notizbuch ein Gedicht, in dem er sein Innerstes enthüllte.

Es blieb nicht bei dem einen Gedicht. Heinz gefiel sich in diesen poetischen Klagen. Bald war ihm der Rahmen eines Gedichts zu eng. Er begann, Erzählungen zu schreiben, ergreifende Begebenheiten zu gestalten, aus den Schlössern und Burgen, aus den Bergen und Tälern, die er so genau kannte – halb Wahrheit, halb Dichtung war darin enthalten. Rascher als er dachte, wuchsen diese Skizzen zu einem Bändchen an, in dem er gern las und an dem er gern feilte; »Verklungenes Leid« nannte er das Buch, das ihm lieb und teuer geworden war.

Hede erfuhr nichts davon. Sie war mit ihren hauswirtschaftlichen Pflichten beschäftigt. Er wollte auch dem fleißigen Mädchen mit solchen Enthüllungen nicht kommen. Die praktische Hede arbeitete und er trieb brotlose Künste. Das sagte er sich 150 selbst. Und Toni? Toni hatte keinen Sinn für derartige Sachen. Hin und wieder hatte sie einen leichtgeschürzten französischen Roman aus der Bibliothek verlangt, und als der knappe Vorrat an solchen Büchern bald erschöpft war, kümmerte sie sich nicht mehr um die Bibliothek und nannte ihren Mann spöttisch einen Bücherwurm.

Inzwischen war der kleine Heini zur Welt gekommen. Die Geburt des Kindes machte Heinz glückselig. Er saß an der Wiege bei dem schlafenden Kleinen und schmiedete Pläne, wie er den Buben erziehen wollte, viel besser als er erzogen worden war, ohne Vorurteile – ein Mann sollte er werden, der überall, wo er einst zu stehen berufen sei, den Platz ausfüllte. Sein ganzes Leben und Streben wollte er ausnutzen für das Kind!

Aber vorläufig war das noch nicht so weit, um erzogen zu werden, es schlief gar so viel. Und nun kaufte sich Heinz auf Teilzahlung einen photographischen Apparat. Das war damals, als der kleine Bursche eben anfing, aufrecht zu sitzen und unverständliche Laute von sich zu geben. Heinz richtete sich in irgendeinem leeren Winkel eine Dunkelkammer ein und machte oft an einem Tage soundso viel Aufnahmen des Kindes, und immer des Kindes – mit nacktem Hals und bloßen Ärmchen; im weißen pelzverbrämten Mäntelchen; auf dem vorzeitig angeschafften Schaukelpferdchen von der Wärterin festgehalten; neben dem Leonberger, auf dem Schoß der Mutter und allein in einem Riesenfauteuil. Dann war es so köstlich, wie das Bürschchen wuchs, wie es die ersten Schrittchen tat, wie es »Papa!« sagte zum erstenmal. – In dieser Zeit war Heinz beinahe glücklich.

Und dann kam das Schreckliche! Der Apparat wurde in die Ecke gestellt, der kleine Krüppel konnte ja nicht photographiert werden. Dieser Tag war der entsetzlichste in Heinz Kerkows Leben gewesen. Der Tag, an dem das Kind verunglückte! Es konnte kein schlimmerer mehr kommen. –

Im vorigen Sommer, an einem furchtbar heißen Augustnachmittag war es gewesen, als Toni, trotz seines Abratens, nach Schloß Arnstein zur Gräfin Arnstein fuhr. Kutscher und Diener hatten mißmutige Gesichter gemacht, der Kutscher hatte sogar gewagt, von einem schweren Gewitter zu sprechen, das offenbar drohe. Aber Toni hatte gewollt. Diesmal redete sogar Tante Gruber ab – vergeblich. Toni, die sonst so leicht unter Temperaturextremen litt, schien heute, wo alle anderen Menschen unfähig waren, sich zu rühren, völlig normal und kam im hellen Sommerkleid, das trippelnde Kind an der Hand die Treppe herab, gerade als Heinz sich vergewissert hatte, 151 daß des heraufziehenden Unwetters wegen die Fenster allenthalben durch Läden geschützt seien.

»Du willst doch fahren, Toni?«

»Wie du siehst. Das Gewitter kommt erst heute abend, ich fühle es genau.«

»Aber der Junge bleibt hier«, hatte er gefordert.

»Nein, er kommt mit, er freut sich schon so – nicht wahr, Heini, Hotto fahren?«

»Du bleibst bei Papa, Heini!«

Ein furchtbares Gebrüll antwortete ihm, wie er es von dem Kinde noch nie gehört hatte. Die Jungfer bemerkte: »Das macht die Gewitterluft, er weinte schon immerzu heute, er weiß selbst nicht, was er will. Na, sei doch nur gut, sollst ja mit!« Und sie war, das Kind auf dem Arm, der Mutter gefolgt.

Heinz trat allein in sein Zimmer. Er hätte ja seine Gewalt geltend machen können, aber ihm graute vor den Szenen, bei denen sich Frau Toni wie wahnsinnig zu gebärden pflegte, ihn immer wieder anklagte als den schrecklichsten Pedanten, der allein schuld sei, daß ihre Jugend so verkümmerte. Hätte er sie geliebt, so würde er wohl Erziehungsversuche gemacht haben – so war es ihm einfach ekelhaft. Er vermied lieber in einer Art Feigheit, die Szenen hervorzurufen. Jeder Todesgefahr, jeder Unannehmlichkeit großen Stils, jeder schweren Sorge hätte er mutig ins Auge gesehen, dem Gekreische der halb unzurechnungsfähigen Frau wich er aus. Jeden Tag fast machte er sich Vorwürfe über diese Feigheit, und würde sie sich machen bis an sein Lebensende, das wußte er.

Ach, so deutlich erinnerte er sich noch an jede Kleinigkeit dieses Tages, der Unruhe, die ihn folterte, daß er von einem Fenster zum andern schritt, um nach dem heraufziehenden Wetter zu spähen. Dann, wie er hinunterging in der bleiernen Hitze, die von keinem Lufthauch belebt war, um die Schwester aufzusuchen! Er traf sie mit heftigem Kopfweh in ihrem eigenen Zimmer, das sie sich mit den Sachen aus der Heimat so reizend geschmückt hatte. Sie lag auf dem Sofa. Die Älteste hatte im Wohnzimmer Klavierunterricht und einzelne schrille Töne drangen bis hier herüber. Der Junge machte Schreibversuche auf der Schiefertafel in einer Ecke des Zimmers, die Jüngste spielte mit ihren Puppen.

»Welch eine Hitze, Heinz!« sagte Hede, »und dabei kommst du herunter? Du mußt den steilen Weg wieder hinauf, hast du's bedacht?«

»Ja, Hede! Laß mich nur ein Weilchen hier. Ich habe eine 152 furchtbare Unruhe. Toni ist mit dem Kleinen ausgefahren, und ich fürchte, sie kommt in das Wetter hinein bei der Rückfahrt.«

Hede antwortete nicht. Sie kannte ihre Schwägerin, sie kannte ihren Bruder und die ganze Trübsal ihrer Ehe.

»Tante«, rief die Kleine, von ihrem Spielzeug aufblickend, »hörst du, wie's im Himmel knurrt?«

Es war ein beständiges dumpfes Grollen in den Lüften, manchmal so, daß die Scheiben leise klirrten, und zugleich brach eine wunderliche gelbe Beleuchtung durch die Fenster.

»Ängstige dich nur nicht, Heinz, die alte Gräfin ist viel zu vernünftig. Sie läßt Toni nicht fort, bevor das Unwetter vorüber ist.«

»Ja, ja«, war seine zerstreute Antwort gewesen, während er ans Fenster trat und den Platz übersah, der in wunderlich gelber Beleuchtung dagelegen hatte. »Ich will übrigens doch lieber hinaufgehen, man weiß ja nicht, was passiert.« –

Er hatte ihr die Hand gedrückt und war gegangen. Draußen kam ihm alles verändert vor. Die Mauern des Schlosses standen grell weiß gegen den schwarzen Himmel, wie in phosphoreszierendes helles Licht getaucht; die Bäume dunkel und regungslos, nur ein leises Zittern war in den Wipfeln, als horchten sie angstvoll des kommenden Sturmes.

Heinz war anstatt direkt zum Schloß empor, die große Allee des Parkes entlang gegangen, durch die der Wagen zurückkehren mußte. Hart am Rande des Weihers hin zog sich diese herrliche Lindenallee. Es war fast dunkel darin gewesen und völlig einsam. Er hatte sich ganz mechanisch auf eine der Bänke gesetzt und wartete auf das Unglück, das da kommen müßte, wie er sich sagte. Er hatte es im Gefühl und schalt sich darum aus, aber die erregten Nerven kamen eigensinnig auf die Idee zurück, daß dem Kinde etwas zustoßen werde.

Und ehe er es gedacht, war das Wetter losgebrochen: ein rasender Orkan, der ihn gegen einen der hundertjährigen Stämme schleuderte, als wäre der große kräftige Mann ein Rohr; Wirbel von Staub, die ihm das Sehen unmöglich machten und das Atmen benahmen; ein Tosen, ein Heulen und Krachen in den Lüften, wie sich die Volksphantasie den Jüngsten Tag vorstellen mag, dann ein kurzer blendender Schein, ein gewaltiger Donner und Fluten von Regen.

Mit ausgebreiteten Armen hatte er die Linde umfaßt, wie betäubt, dann meinte er durch das Rauschen ein Stampfen und Trappeln zu hören, einen gellenden Hilferuf. Als er vorwärts getaumelt war, hatte er nicht weit von sich im Scheine eines neuen Blitzes ein gestürztes Pferd gesehen, ein zweites 153 sich hochaufbäumend, einen niedergebrochenen Wagen und etwas Weißes unter den Rädern, etwas Kleines, Weißes. Er war hinübergestürzt – er weiß heute noch nicht, wie er dieses Kleine, Weiße gefunden hatte in dem nachtschwarzen Wettergraus, wie er es an sein Herz gedrückt unter dem durchnäßten Rock, wie er vorwärts getaumelt war in dem strömenden Regen, ohne sich zu kümmern um das, was hinter ihm zurückblieb, um die nervösen, schrillen Angstrufe der Frauenstimme.

Sie lebte ja noch – das, was er hier hielt, war starr, war tot, mutwillig vernichtet.

Der Regen war an seinen Kleidern hinuntergeströmt, als er ohne Hut, mit stieren Augen und bleichem Gesicht in das Haus des alten Medizinalrats geschwankt war. Und er hatte ihm hingehalten, was er gerettet hatte, den kleinen weichen Kindeskörper, der schlaff und leblos in seinen Armen lag. – »Aus dem Wagen gestürzt, vermutlich überfahren – helfen Sie, retten Sie!«

Eine fürchterliche Viertelstunde verrann, bis das zarte Geschöpf ein Lebenszeichen von sich gab. Ungeachtet seiner durchnäßten Kleider war Heinz nicht von der Seite des alten Herrn gewichen und hatte jede Bemühung des Arztes mit zitterndem Herzen verfolgt. Dann war der Diener erschienen und hatte bestellt, Frau von Kerkow habe vor Schrecken Nervenzufälle bekommen und lasse bitten, daß der Herr Schloßhauptmann sofort mit Heini heraufkäme.

Heinz antwortete keine Silbe, der alte Herr aber fuhr den wartenden Diener an, die Gnädige solle sich ins Bett scheren und eine Tasse Tee trinken – ob sie den Heini je wiedersehe, das sei zweifelhaft!

Heinz hatte den Arm des alten Arztes gepackt. »Herr Medizinalrat –« stöhnte er.

»Fassen Sie sich, Herr von Kerkow!– Ich tue, was ich kann.«

Ein paar Stunden später hatte Heinz, in Begleitung des Arztes, das in wollene Decken gewickelte, leise wimmernde Kind den Schloßberg hinaufgetragen. Er selbst legte es in ein Bettchen, er selbst wachte bei ihm. Wie ein Rasender war er aufgefahren, als Toni sich hereinschlich, in einen weiten eleganten Schlafrock gehüllt, bereit, jeden Augenblick in ein exaltiertes Weinen auszubrechen. Mit eisernem Griff packte er sie am Arm und zerrte sie aus der Tür, die er hinter ihr abschloß. Er fühlte, er war brutal in diesem Augenblick, aber er konnte sie hier nicht sehen, angesichts des Jammers, den sie verschuldet hatte. –

154 Durch Wochen und Monate pflegte er das Kind, das ihn fast ausgesöhnt hätte mit dem Leben an der Seite dieser Frau – fast, wäre es gesund geblieben, es nur wieder geworden! Aber die völlige Genesung kam nicht, würde nie mehr kommen, und damit tat sich ein Abgrund auf zwischen den Gatten, über den keine Brücke führte. Toni hatte nach jenem Auftritt am Bette des Kindes keinen Versuch gemacht, sich irgendwie die Schuld beizumessen, hatte kein Wort des Bedauerns, der Anklage für sich gefunden. An Entschuldigungen für sich ließ sie es gegen ihre Bekannten nicht fehlen; Heinz gegenüber wagte sie das nicht. Wie Schatten glitten die beiden Menschen aneinander vorüber. Sie konnte das leidende, manchmal ungeduldige Kind kaum sehen. Als sie einmal im Zimmer ihres Mannes war, um über irgendeine Angelegenheit, die es unumgänglich notwendig machte, mit Heinz zu reden, trat sie hinter seinen Stuhl am Schreibtisch – neben ihm war kein Platz, da stand das Wägelchen mit dem Kinde. – Sie fragte kurz und bekam kurze Antwort, sie hätte gehen können, aber sie wollte noch etwas, nicht mehr und nicht weniger als das: ob Heinz sie auf einen Maskenball in Brendenburg, der nächsten preußischen Kreisstadt, begleiten werde, den die dortigen Kürassieroffiziere veranstalteten und auf den sie schlechterdings nicht allein gehen könne! Es wußte ihr viel daran liegen, denn sie bat um sein Mitkommen.

Er wandte sich um und sah sie empört an. »Ich bin angesichts dieses« – er deutete mit der Hand auf das Kind – »nicht imstande, auf Bälle zu gehen!«

»Mein Gott«, sagte sie eisig, »es ist ja ein großes Unglück, aber man kann doch deshalb nicht sein Leben lang Trübsal blasen.«

»So geh, wenn du diese Ansicht hast!«

»Ich kann nicht allein gehen, das weißt du. Du bist verpflichtet, mich zu begleiten.«

»Ich fühle mich verpflichtet, bei dem armen Geschöpf zu bleiben, das du in deinem Eigensinn zu einem schrecklichen Leben verdammt hast. Eine weitere Pflicht kenne ich vorläufig nicht!«

Der kleine Kranke mochte sich erschrecken vor den strengen Worten, er fing laut zu schreien an. Tonis heftige Erwiderung ging unter in diesen lauten Tönen. Da sprang sie mit funkelnden Augen neben das Kind und schrie ihm ein gellendes »Ruhig!« zu, indem sie auf das abgemagerte Händchen schlug.

In namenlosem Schreck verstummte das Kind. Die großen Augen wurden starr und verschwanden fast unter den Lidern. Das ganze Gesichtchen zuckte wie im Krampf. Aber gleich einem 155 gereizten Tiger sprang Heinz auf, erfaßte sie an der Schulter und rüttelte sie wie einen jungen Baum. »Du! Du!« stieß er hervor, »bist du denn ein Mensch, bist du denn ein Weib?« Dann ließ er sie los, daß sie schwankend und stumm auf den Teppich sank, warf sich vor dem Bettchen auf die Knie, ballte die Fäuste vor seiner Stirn und brach in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.

Am Abend erst löste sich der Krampfanfall bei dem Kleinen. Heinz Kerkow aber vergrub fortan die Sehnsucht nach dem Leben, nach Freiheit, nach all dem Schönen, Großen, das er einst vermißte, tief in seine Brust.

In dieser Leidenszeit konnte er nicht mehr arbeiten. Mehr und mehr sah er ein, daß sein Junge zeitlebens ein Krüppel bleiben würde. Er war für keinen ordentlichen Beruf mehr tauglich. Er brauchte nur einen Wärter und Pfleger. Dieser Gedanke trieb Heinz von seinem Schreibtisch, von der Arbeit an seinem neuen Werke fort an das Bettchen seines Kindes.

Dann, eines Tages, der trüb und regnerisch anhob, kam eine neue Prüfung. Es erschienen Leute mit Wagen und Kisten, um die Bücherei von Breitenfels nach der Residenz überzuführen. Heinz sah, wie die Bücher verpackt wurden, und es war ihm, als ob man vor seinen Augen liebe, gute Freunde einsargte. Er mußte alle Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen, um nicht zu weinen wie ein Knabe.

Als er einige Tage darauf durch die leeren Bibliotheksräume schritt, fühlte er, daß es auch in seinem Innern öde und leer geworden war. Halb Wahrheit, halb Dichtung waren seine ersten Schriften, auf geschichtlichen Studien waren sie gegründet. Ohne diese Quellenwerke, die man ihm weggenommen hatte, konnte er nicht weiter schaffen.

Warum auch mußte das Schicksal immer und immer ihn so hart treffen! In der Jugend hatte er auf seine Neigungen verzichten, seine erste wahre Liebe hatte er aus dem Herzen reißen müssen, um sich nutzlos für Mutter und Schwestern zu opfern! Das schien überwunden, in seinem Kinde wollte er aufleben – vergebens! Das Verhängnis verfolgte ihn – was sollte er weiter gegen diese finstere Macht ringen?

Er existierte nur noch für den kleinen krüppelhaften Jungen, der ihm alles war in diesem Dasein. Wenn der sterben sollte, dann – dann wollte er auch nicht weiter leben. Er nahm kaum noch teil an dem, was draußen passierte in der Welt. Öfter blieben die Zeitungen unberührt. Er ging nicht mehr, wie anfangs, nach dem Gasthof ins Klubzimmer – er saß bei Heini. Unermüdlich schnitzelte er Spielzeug zurecht für ihn, 156 erzählte ihm Geschichten, und neulich hatte er die Idee gefaßt, er wolle den kleinen Kranken malen inmitten der blühenden Büsche und junggrünen Blätter des Lenzes.

So lebte er dahin. Er wußte, daß seine Frau viel ausfuhr, er bekümmerte sich nicht darum. Er wußte, daß der Herzog im letzten Herbst gesagt hatte: »Der Kerkow ist total versimpelt. Die Frau tut mir leid, die hat sich herausgemacht, ist ganz nett geworden.« – Ja, der Herzog hatte recht. Er war versimpelt, und Toni war aufgeblüht, er sah es ja auch, aber es machte keinen Eindruck auf ihn.

»Er ist verrückt«, pflegte Frau Toni zur Tante Gruber zu sagen, »er ist ein Pedant! Mir könnt's wahrhaftig auch lieber sein, ich wäre damals nicht ausgefahren, aber nun's geschehen ist, kann ich's doch nicht ändern, und wollte ich mir die Haare einzeln ausreißen!« Und so dachte sie auch jetzt wieder, als sie in Begleitung einer der Arnsteinschen Komtessen in der spitzbogigen Pforte des Schloßhofes erschien, die auf die Terrasse führte. Die Komtesse hatte Besorgungen gemacht in der Stadt und war zu ihrer lieben Frau von Kerkow auf einen flüchtigen Besuch gekommen. Sie brachte einen kleinen chinesischen Drachen an langem Faden mit für Heini. Toni, in einem Kleide aus zartblauem Leinen mit seidenen Ärmeln derselben Farbe und breitem Spitzenkragen, war allerdings nicht zum Wiedererkennen gegen früher – wären nur die blassen, kalten Augen nicht gewesen. Als sie Heinz erblickte, wurden sie noch kälter und härter.

Die Komtesse war ein liebenswürdiges Geschöpf. Sie hatte Verständnis für das, was dieser Mann litt, der ihr einige Schritte entgegentrat. Sie nahm nach ein paar freundlichen Worten einen Stuhl ihm gegenüber und begann eine Plauderei. Sie war mit Papa in Berlin gewesen, hatte eine Parade gesehen und von dort war man nach Dresden gekommen, wo sie in Musik geschwelgt habe. »Und denken Sie sich, Herr von Kerkow, denke dir, liebe Toni – ihr erinnert euch gewiß noch der kleinen Änne May, der Tochter von unserem alten Medizinalrat? Na ja, die habe ich singen hören – großartig! Herrgott, die Dresdner waren ganz Mayverrückt! Natürlich interessierte es mich, das Nähere zu erfahren. Ich las am andern Morgen im Hotel das Adreßbuch nach, machte mich auf die Sohlen und besuchte sie. – Ich stieg vier Treppen hoch in ein niedliches Mansardenquartier, ein ganz junges Dienstmädchen öffnete, doch leider war Fräulein May nicht zu Hause. Eine alte weißhaarige Frau aber erschien und lud mich ein, näherzutreten, und wie sie hörte, ich sei eine 157 Landsmännin ihrer Nichte, flossen ihr Lippen und Augen über. So ein Glück – der Theaterintendant hatte sie vom Fleck weg für die Hofbühne haben wollen, aber sie will nur Konzertsängerin sein – denkt euch – solche Anerbietungen nach ihrem ersten öffentlichen Auftreten! Unmassen von Verpflichtungen ist die Änne eingegangen, bis nach Petersburg hinauf, und doch hat sie zwei große Konzerte abgesagt, weil sie drüben in Brendenburg singen will zum Sängerfest. Ich glaube«, schaltete die Komtesse ein, »es ist Ende des Monats. Die Eltern sollten sie doch auch mal hören, meinte die Tante, und die Lehrer vergötterten die Änne. So eine herrliche volle Stimme, ein solch eiserner Fleiß, solch wahrhaftes Streben aber auch! Na, kurz, ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ich schied ganz gerührt aus dem kleinen trauten Mansardenstübchen und dachte so bei mir, da hast du doch mal das Glück leibhaftig gesehen, ein Glück wie im Märchen – sie wachte auf und war berühmt!«

Heinz sah starr in die Ferne hinaus, die im leuchtenden Schimmer der untergehenden Sonne lag. »Wie im Märchen!« sagte er zu sich. »Glück zu, kleine Änne! Der eine so – die andere so!«

»Ich war vorhin in der Buchhandlung, um mir das Lied abzuholen, das ich neulich schon bestellte«, fuhr die Komtesse fort. »Änne May sang es im großen Konzert des Dresdner Gewerbehauses, aber der Mann kannte es nicht, hatte auch nichts erfahren können, im Druck sei es nicht erschienen. Kennen Sie es vielleicht zufällig, Herr von Kerkow? Ein paar Strophen sind mir noch gegenwärtig:

›O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain–‹«

Er lächelte trübe. »Ich kenne es«, sagte er leise.

»Auch das Gedicht war mir fremd. Von wem mag es sein?« forschte nun die Komtesse.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. Er hätte um die Welt nicht eingestanden, daß er der Dichter war.

Doch vor seinen Augen stand wieder das Bild eines in Glut getauchten Sommerabends: er hingelagert ins Heidekraut auf der Lichtung und sie daneben, in das Rot und Violett der Ferne schauend, die Arme um die Knie geschlungen, die reinste Andacht in dem jungen, schönen Antlitz. – »Da!« hatte er plötzlich gesagt und ihr ein rasch beschriebenes Blatt hingereicht, das er aus dem Notizbuch gerissen. Und sie hatte es gelesen. Er wußte nicht, war's die Sonne, die ihre Wangen 158 plötzlich so purpurn färbte, oder das rote, warme, verräterische Blut?

Und dann sang sie es nach ihrer Lieblingsmelodie, die sie einst selbst gefunden hatte. Und die Sonne ging unter . . .

»Kann man in das Konzert gehen?« fragte Toni mit ihrer klanglosen Stimme.

»Natürlich, Toni – wir werden alle da sein. Soll ich dir einen Platz bestellen neben uns? Oder gehst du mit deinem Manne?«

»Ich? Nein! Ich bedaure, ich nehme nicht teil«, sagte er unartig kurz und bestimmt.

»Wie immer«, erklärte Toni mit einem verständnisvollen Blick zur Komtesse, der soviel bedeutete: Da siehst du, welch ein Los mir beschieden ist. »Also, seien Sie so gut, liebste Feodora, und bitten Sie Ihre Mutter, daß sie sich einer schutzlosen Frau annimmt bei dieser Gelegenheit. Ich muß leider Ihre Güte so oft in Anspruch nehmen.«

Die Komtesse schwieg und sah forschend in die blassen Züge des Mannes und von da hernieder auf das Kind, und sie glaubte ihn zu verstehen. »Adieu, Herr von Kerkow«, sagte sie mit besonders herzlicher Betonung und reichte ihm die Hand. »Mein Wagen wartet drunten vor dem Parktor, und Sie werden denken, daß Ihr Jungelchen zu kurz kommt, wenn ich Sie noch lange vom Plaudern mit ihm abhalte. – Leb wohl, kleiner Heini, vergiß die Tante nicht. Was soll ich dir denn das nächstemal mitbringen?«

Aber das Kind bewegte leise abwehrend den blonden Kopf. »Ich danke – nichts«, sagte es.

»Recht höflich!« lachte Toni auf, »das macht die Erziehung von Heinz. – Warum denn nicht, du kleiner Grobian? Hast du dich nicht gefreut über das schöne Spielzeug dort?«

Der kleine Kranke gab den Blick der ärgerlichen Mama groß und verwundert zurück. »Das bunte Papierding«, sagte er, »das kann fliegen und sieht so fröhlich aus, und ich bin doch ein lebendiger Junge und – kann's nicht. Ich mag's nicht sehen.«

Toni drehte sich achselzuckend um, sie verstand nicht die furchtbare Bitterkeit und Schärfe, die aus den Worten sprach.

Um den Mund der Komtesse zuckte es wie verhaltenes Weinen. Sie nickte noch einmal hinüber zu Heinz, der mit tiefer Verbeugung Abschied nahm, dann ging sie neben Toni über die Terrasse und verschwand hinter den Jasminbüschen. Heinz aber bog sich hernieder und strich über die bleiche Stirn des Kleinen. »Nicht bitter werden, Liebling, nicht bitter werden«, 159 murmelte er kaum verständlich. »Und wir haben uns doch lieb, was?«

»Ja, Papa!« antwortete der kleine Kranke.

Und Heinz schob nun vorsichtig das Wägelchen der Spitzbogenpforte zu, die auf den Schloßhof führte, und bis vor das Portal des jenseitigen Flügels, hob dort das gelähmte Körperchen behutsam aus den Kissen und trug es in die Wohnung hinauf.

An der Schloßwache stand der seit einigen Wochen herkommandierte Leutnant und sah sich alles mit an. Dann schlenderte er langsam über den Platz, betrat die Terrasse, die Heinz eben verlassen hatte, wandte sich rechts und ging in den Herzogingarten hinunter, setzte sich in eine fast dunkle Aristolochienlaube, lehnte sich zurück und wartete auf irgend etwas. »Hol's der Teufel, man kommt vor Langerweile auf dergleichen!« murmelte er. Er war ein hübscher Mensch mit einem geistlosen Durchschnittsgesicht und stattlicher Figur, augenblicklich aber entschieden schlechter Laune. Plötzlich verzog sich das Gesicht zu einem süßlichen Lächeln. »Aha!« sagte er halblaut.

Ein eiliger, kurzer Frauenschritt erklang, das Rauschen eines mit Seide abgefütterten Kleides, und in den Eingang der Laube trat eine blonde Frau im blauen Leinenkleid mit seidenen Ärmeln derselben Farbe.

»Sie hier, Leutnant Grellert?« fragte sie mit gutgespieltem Erstaunen.

»Pardon, wenn ich störe, gnädige Frau«, antwortete er, »ich – befehlen, gnädige Frau, daß ich mich entferne – oder –«

Er durfte bleiben. Und derweil brachte Heinz mit Hilfe des Dienstmädchens den kleinen Kranken zur Ruhe und saß dann, auf seine Frau wartend, im Eßzimmer am Fenster. Der Tisch war gedeckt, unter dem Teekessel zuckte die bläuliche Flamme. Tante Gruber kam herauf in einem der schwarzen Damastkleider, die sie von der Herzogin geerbt hatte und jetzt auftrug für täglich. Sie raschelte leise umher im Zimmer, tat zuweilen einen Blick auf die Uhr und unterdrückte ein verstohlenes Gähnen. Heinz merkte nicht, wie spät es war, wußte nichts von der Gegenwart, er sah nur eine liebliche schlanke Mädchengestalt und hörte ihre süße Stimme:

»O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!«

Was wußte er damals von der Wahrheit dieser Worte! War es ein Ahnen kommenden Unglücks gewesen, das sie ihm eingab?

Dann flog die Tür auf und Toni trat ein. »Feodora hatte noch soviel zu schwätzen«, entschuldigte sie sich atemlos, bevor 160 noch jemand sie anklagte. Dann saß man schweigsamer als je zu Tisch, denn Tante Gruber, die sonst mit der jungen Frau allein sprach, bekam heute kaum eine Antwort von ihr.

Der Mai ging vollends vorüber, wunderbar schön mit seinen Blütendüften, seinen warmen, dunklen, vom Gesange der Nachtigallen durchtönten Nächten. Sie schlugen so laut und sehnsüchtig, daß der Mann da oben auf seinem Lager, neben dem das Bettchen des Kindes stand, nicht schlafen konnte, und daß, wenn er endlich schlief, allerhand süße liebliche Träume über ihn kamen, die er einst wachend hatte erleben wollen.

Auch im Garten der Oberförsterei sangen sie in langgezogenen, schmelzenden Tönen, die Nachtigallen, dicht vor Hedwig Kerkows Stube in den Haselnußsträuchern. Die Kinder nebenan schliefen süß und fest, aber sie wachte und saß halbe Nächte am Fenster und dachte an Heinz da droben und weinte um ihn, und wußte gar nicht, daß sie auch über sich selbst weinte in unruhigem nicht verstandenem Leid. Auch heute wieder erging es ihr so, zwei Tage vor dem Musikfeste, das bereits die ganze Stadt in Aufregung hielt. Eigentlich war es ja töricht, daß sie weinte, sie konnte damit Heinz' Schicksal nicht ändern. Und sie selbst – sie hatte es doch eigentlich recht gut getroffen im Leben, sie hatte ein Heim, eine Stellung, in der sie absolute Freiheit genoß. Der Hausherr begegnete ihr mit derselben achtungsvollen Herzlichkeit, mit der er sie am ersten Tage ihres Eintritts empfangen hatte. Ein- bis zweimal hatte er auch ein paar verlegene Dankesworte für sie gehabt, damals, als sie die Kinder Tag und Nacht pflegte während der bösen Scharlachepidemie. Nur ein Gemurmel war's gewesen, ein Händedruck, aber die Augen waren ihm feucht dabei geworden. Im übrigen glich er einem Automaten und saß drüben in seinem Bau, wie er scherzweise seine Stube nannte, nach wie vor allein. Nur so gegen Abend, in der Dämmerung, kam er herüber in das Wohnzimmer, setzte sich still in eine Ecke des Sofas und lauschte dem Klavierspiel Hedwigs. Sie war keine Virtuosin, sie klimperte eigentlich nur, aber ihr Anschlag war weich und zart, und die Stimmen der Kinder jubelten so hell und frisch, und der weiche Alt des Mädchens klang anmutig dazwischen, wenn sie die alten Volkslieder sangen, die er schon von seiner Mutter gehört hatte, den »Jäger aus Kurpfalz«, den »schönen grünen Jungfernkranz« und »Über der Heide schimmert es rot«.

Noch bevor die letzten Töne verhallten, pflegte er wieder zu verschwinden. So lebte er dahin, schien nichts zu vermissen und zufrieden zu sein in diesen wunderlich stillen Gewohnheiten. Und wenn ihm Hede des Morgens heimlich nachblickte, wie er, 161 die Büchse über der Schulter, in den Forst schritt, so aufrecht und kernig wie die Eichen im Walderoder Schlag, auf die er so stolz war, dann mußte sie ihn unwillkürlich mit Heinz vergleichen, den die letzten Jahre gebeugt hatten, als stehe er bereits an der Schwelle des Alters. Armer Heinz!

Hede ging selten hinauf. Zwischen ihr und der Schwägerin und Tante Gruber hatte sich das Verhältnis in nichts gebessert. Er war ihr eine Qual, dieser Besuch, wenn er einmal sein mußte, zu seinem Geburtstage, oder dem des kleinen Heini. Sie kam immer todunglücklich zurück und brauchte Tage, um sich zu beruhigen. In der Stadt war die unglückliche Ehe das Gespräch aller bösen Zungen, männlichen und weiblichen Geschlechts. Infolgedessen hatte sich Hede, die anfänglich, durch Heinz und den Oberförster veranlaßt, bei einigen Damen – der Superintendentin, der Frau Oberamtmann und Frau Medizinalrat – verkehrte, ganz zurückgezogen. Nur zu der Medizinalrätin pflegte sie mitunter einmal hinüberzuhuschen. Die Frau erregte ihr Interesse, sie war so vorsündflutlich und so originell in ihren Urteilen und Ansichten, und sie trug an irgendeinem schweren Kummer. Sie wirtschaftete dabei emsig in dem schmucken Häuschen, und wenn sie unten fertig war, fing sie oben wieder an und war nicht zufrieden, wenn sie das heimlich lachende kleine Dienstmädchen nicht ausschelten konnte.

Frau Rat hielt noch immer mit Vorliebe Mädchen, die letzte Ostern konfirmiert worden waren. Diese armen Dinger das Wirtschaften zu lehren auf eine so energische Art, daß ihnen vor Angst die Augen übergingen, sie umherzujagen, daß sie »Schuh und Pantoffel verloren«, das gehörte zur Lebenslust für sie. Wenn sie von ihrer Tochter sprach, dann seufzte sie. »Ach Gott, das ist doch kein Leben für ein richtiges Frauenzimmer«, hatte sie erst vor kurzem zu Hedwig gesagt, »den ganzen Morgen Singübungen und wieder Singübungen machen, und selbst beim Ausruhen noch Lungengymnastik treiben, wie sie's nennen, und mittags sich halb satt essen und abends in die Fleischerläden gehen und ein viertel Pfund Aufschnitt kaufen, wie sie schreiben – o lieber Gott, man sah's ja auch. Als sie im letzten Sommer uns besuchte, war sie ganz abgemagert.«

Auch heute früh war Hede drüben gewesen und Frau Rat hatte gerade toller im Hause umhergescholten als je. Aber in ihrem Gesicht lag so etwas Eigenes, die vollen Wangen waren ganz blaß, um den Mund zuckte es. Sie stand vor dem Wäscheschrank und suchte ihre feinsten Leinenbezüge, ihre schönsten Damastgedecke aus.

»Sie müssen entschuldigen, Fräulein von Kerkow«, sagte sie 162 zu Hede, »um sieben Uhr können sie schon hier sein, die Änne und die Emilie, und bis dahin gibt's noch massenhaft zu tun. Das alberne Ding, die Line, kann ja nicht einmal eine Taube rupfen, und so was Dummes von Benehmen beim Spargelstechen hab' ich noch nicht gesehen! Und glauben Sie wohl, daß sie imstande ist, eine Girlande zu winden? – Alles muß man selbst machen. Aber gehen Sie nur ein bißchen hinein zu meinem Mann, der liest die Festzeitung, da steht ganz was Großmächtiges drin über die Änne!«

»Frau Rätin, das kann ich zu Hause lesen, jetzt helfe ich Ihnen Kränze winden«, sagte Hedwig. »Wo ist das Grün? Wo sind die Blumen?« Und es dauerte nicht lange, da saß sie draußen vor dem Küchenfenster auf der Bank und wand eine Girlande aus dunklen Tannenreisern mit zartgrünen Spitzen, und die roten Päonien drin nahmen sich aus wie die herrlichsten Rosen. Vor ihr aber stand der alte Medizinalrat und hinter ihr schaute die Frau Rat aus dem Küchenfenster, und hinter jener wieder lauschte das »Ostermädchen«, denn der Herr las aus der Zeitung vor. Hede wußte noch jedes Wort, obgleich nach den meisten Sätzen ein Räuspern und Schlucken in der Kehle des alten Herrn gewesen war, und obgleich die Frau hinter ihr alle Augenblicke die Nase schneuzte und bei allzu begeisterten Ausdrücken sagte: »Nun – nun, May!« – Worauf er antwortete: »Ich hab's doch nicht geschrieben, Mutter!«

Ein Stern am Himmel der Kunst wurde sie genannt, eine Sängerin, der eine verheißungsvolle Zukunft winke. Ihre tiefe Auffassung, ihre Innigkeit, die Klangfülle der Stimme seien einzig, und man bedaure nur, daß das junge Mädchen eigensinnig darauf beharre, die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht zu betreten. Es sei doch gewiß phänomenal, daß eine unbekannte Konservatoristin mit einem ersten Auftreten solchen Sturm der Begeisterung erregt habe, und man hoffe bestimmt, daß es den Überredungen des Intendanten einer unserer ersten Hofbühnen gelingen werde, sie zur Bühnenlaufbahn zu bewegen.

Sie waren dann alle drei stumm geworden, nur der Herr Rat hatte nach einigen Minuten gesagt: »Und das ist unsere Änne – Alte – unsere Änne!« Die Mutter aber fand keine Antwort, sie zog sich still weinend vom Küchenfenster zurück.

Und Hedwig hatte den ganzen Tag an dieses Mädchen gedacht, der das Schicksal so Herrliches in den Schoß geworfen hatte, ein großes Talent, Jugend und Schönheit. Lieber Gott, 163 wenn sie jetzt hier lebte als Günthers Weib – eine Nachtigall im Käfig! –

Nun war sie wohl schon angekommen im Vaterhause und schlief in ihrem kleinen Mädchenstübchen den süßen Schlummer ihrer Kindertage. – Ob sie an den Mann dachte, dem sie ihr Wort gebrochen hatte?

Ach, Änne schlief so wenig wie Hedwig Kerkow und wie Heinz neben dem Bettchen des Kindes. Auch sie stand am Fenster, und ihre Augen hingen am Schlosse droben wie gebannt. Sie war heimgekommen mit einer ganzen Last von Glück, mehr als sie zu hoffen gewagt hatte. Noch faßte sie es selber nicht, noch lehnten sich ihr Zartsinn, ihre Bescheidenheit förmlich auf gegen die Lobposaunenklänge, die ihr von überall entgegentönten. Und in dieser Stille, in dem Zauber der Abgeschiedenheit meinte sie, es sei alles ein Traum und sie stehe hier wie damals, in der einzigen glücklichen Zeit ihres Lebens, und schaue nach dem Lichtlein empor, das ihres Daseins Stern bedeutet hatte.

Ach ja, sie war nicht imstande gewesen, das zu vergessen, immer und überall hatte die Erinnerung daran sie verfolgt. Der dumpfe Schmerz zwar war milder geworden da draußen in der Fremde, im heißen Ringen nach dem großen Ziel, aber er brannte stetig fort, sie fühlte ihn beständig. Wie mochte es Heinz ergehen? Und ob sie ihn hier wohl einmal sehen würde?

Erst gegen Morgen schlief sie ein und war doch vor Tau und Tag wieder munter. Und als vor ihrem Fenster die heimatliche Welt im lachenden Frühsonnenschein lag, so grün, so frisch, so lieb und vertraut – als die herrliche erquickende Bergluft sie so wohlig umfächelte, wie sie den Kopf hervorstreckte, da hielt sie es nicht länger. Sie zog ihr graues einfaches Reisekleidchen an, setzte den alten Gartenhut, der noch von damals hier hing, auf das eilig frisierte Haar und schlüpfte aus dem Hause in den Schloßgarten hinüber. Und hier schritt sie in die alten abgeschiedenen dämmerigen Gänge hinein, die sie so geliebt, auf denen sie ihre jungen seligen Liebesgedanken und dann ihren Gram spazieren geführt hatte, die Wege am Wildgatter hin, auf denen sie mit Jeanette Hochleitner gewandert war, um von der Kunst zu reden.

Sie war im Umsehen drüben an den Stallgebäuden vorbeigeschritten, und nun stand sie tiefatmend in der dämmerigen berühmten Lindenallee des herzoglichen Gartens. Ach, das war schön – das war schön daheim! Und so einsam, so köstlich einsam! Wie hatte sie bei ihrem angestrengten Leben in Dresden den Umgang mit der Natur vermißt, wie hatte sie 164 den Waldesodem entbehrt droben im vierten Stockwerk der Christianstraße! Und da war noch die beste Luft, da kam sie vom »Großen Garten« herüber, und im Frühjahr brachte der Wind wirklich zuweilen einen schwachen Hauch von Syringenduft mit, der sie dann fast krank machte vor Heimweh. Ja, schwere Jahre hatte sie hinter sich, die kleine Änne May! Oftmals war es knapp, ganz knapp bei ihnen zugegangen da droben in der Mansarde, denn Tantes Kapitalien und ihre geringe Witwenpension wollten sich der Großstadt doch nicht ganz gewachsen zeigen, und Änne war doch recht sehr an die Fleischtöpfe der guten Mutter gewöhnt. Ihr junger, ungeduldiger Magen mußte ebenso entsagen lernen wie ihr Herz. Aber geschadet hatte es ihr nichts! Sie war noch gewachsen, sie trug ihre schöne Figur kraftvoll aufrecht, und wenn auch das Gesicht nicht mehr so kinderhaft gerundet erschien, so war es dafür desto edler und reizvoller geworden. Und der Medizinalrat hatte recht, als er zu seiner Frau sagte: »Ist bildhübsch geworden, die Änne – schlägt meiner seligen Mutter nach, Alte!«

Die »Alte« gab das gutmütig lächelnd zu. Von ihr hatte Änne allerdings die Reize nicht, von der kleinen, kugelrunden, etwas stumpfnäsigen Frau Rat.

Und Änne schritt dahin und nickte jedem Baume zu, den Linden, den Rotbuchen, den Hängeweiden am Teich. Das zahme Reh kam wie sonst auf ihr Rufen heran. »Liese, bist du's denn wirklich noch?« fragte sie gerührt, als das Tier sie anblickte aus den braunen, zutraulichen Augen.

Alles wie sonst, und so schön, so schön!

»Morgen bringe ich dir etwas mit«, sagte sie laut, »und deinem Hans auch. Lebt dein Hans noch? Und wo sind deine Kinder?« Aber Liese sah sie nur stumm und groß an.

Ach ja, sie hätte immer fragen mögen, wie ist's euch ergangen seither und – habt ihr den Heinz nicht gesehen, den Heinz Kerkow? Aber nach ihm wagte sie niemand auszuforschen. Mitunter hatte sie auf den Rand ihrer Briefe an die Eltern, einem mächtigen Drange nachgebend, gekritzelt: Wie geht es denn eigentlich den Kerkows? Sind sie noch in Breitenfels?« Aber sie hatte sich nicht entschließen können, diese Briefe abzusenden, hatte die Stelle entweder so gründlich ausgestrichen, daß keiner auch nur einen Buchstaben hätte entziffern können, oder hatte das Streifchen abgeschnitten. Geschrieben hatte ihr niemand über Heinz, über ihn nicht und über Günther nicht. Als sie vor drei Jahren, das einzige Mal während ihres Studiums, hier war in der Weihnachtszeit, hatte sie wohl 165 von ihm sprechen hören. Damals war er also noch dagewesen. Sie hatte auch erfahren, daß Hedwig Kerkow die Hausdame des Oberförsters geworden sei. Gesehen hatte sie weder den einen noch den anderen, und sich näher nach Heinz zu erkundigen, das litt ihr trotziges Herz nicht.

Es wurde ihr plötzlich heiß; sie nahm den Hut vom Kopf und ging, ihn lässig in der Hand haltend, gesenkten Hauptes weiter. Auf den weiten Rasenflächen hatte man das erste Gras geschnitten, wunderbar harmonierte der Duft mit der ganzen Frühlingsstimmung. So war sie, ohne acht darauf zu haben, zum Luisenschlößchen emporgestiegen und wollte, wie sonst, daran vorüberschreiten, um in den Weg zu gelangen, der an der äußersten Grenze des Parkes hinlief. Da blieb sie verwundert stehen. Der alte, halbzerfallene Bau war renoviert. Frisch gestrichen, schaute er gar schmuck aus den dunklen Tannen heraus, die ihn im Halbkreise umstanden. Das Erdgeschoß schien bewohnt, es leuchteten schneeweiße Gardinen hinter den kleinen Scheiben der hohen Fenster. Ein Frauenkopf erschien dort einen Augenblick, sonst war auch hier alles spukhaft still. Über den frisch aufgeschütteten Kiesplatz lief eine schmale Räderspur und verlor sich nach dem Garten zu, der, durch ein ganz neues Gitter eingefriedet, erst neuerdings geschaffen sein mußte, als Haus und Privatgärtchen der Schloßbewohner.

Änne ging der Räderspur nach und lugte über das Staket. Unter der großen Buche, die eine neugezimmerte Laube in der rechten Ecke des Gartens beschirmte, stand das Wägelchen, dessen Spur sie gefolgt war; eigentlich ein fahrbares Krankenbettchen. Ein kleiner Sonnenschirm ohne Stiel hing darüber. Aus den weißen Kissen aber sah ein gelbliches Kindergesicht, um das sich goldblonde, weiche, seidige Härchen krausten. Zur Seite kniete eine Person, die dem kranken Geschöpfchen eine Tasse schäumiger Milch an die Lippen hielt. Die Finger des Kinderhändchens, welche die Tasse hielten, waren unheimlich abgezehrt und durchsichtig.

»Nun, wird's bald, Heini?« fragte die rotbackige Person barsch, »man bekommt ja blaue Flecke von dem ewigen Knien.«

Das Kind hörte sofort auf zu trinken, schob die Hände der Wärterin mitsamt der Tasse zurück und drehte das Gesicht auf die andere Seite, ein armes, blasses, geduldiges Kindergesicht. Änne sah, wie sich die Person erhob, und hörte, wie sie schalt: »Dummer Junge, wenn du nicht so ein erbärmliches Häufchen Unglück wärst, kriegtest du ordentliche Fingerklapse. Abscheulicher Bengel du!«

Änne fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Sie war im 166 nächsten Augenblick im Garten und stand wie hingezaubert vor dem erschreckten Mädchen. »Wem gehört das Kind?« stieß sie hervor, entschlossen, es den Eltern mitzuteilen, wie der kranke Liebling behandelt werde in ihrer Abwesenheit. Sie nahm bestimmt an, daß das Kind irgendeiner Berliner oder Magdeburger Familie gehöre, die der schönen Luft wegen mit dem kleinen Patienten Breitenfels aufgesucht habe.

Die Person antwortete nicht. Halb trotzig, halb verlegen schaute sie die schöne Dame an, die da so strafend vor ihr stand.

»Wie heißt du denn, mein Kleiner?« fragte Änne, sich zu dem Kinde niederbeugend. »Wohnst du denn hier?« Und sie strich über die goldigen Härchen.

»Heini Kerkow«, sagte das Kind, und als Ännes Hand zuckte, fragte es: »Hast du dir wehgetan?«

»Nein!« antwortete sie mit versagender Stimme und kniete neben dem Wagen. »Nein, Heini!«

»Und warum weinst du denn?« forschte das Kind weiter.

»Ich weine ja nicht, mein lieber Junge, ich freue mich, dich zu sehen. Soll ich dir jetzt deine Milch geben?«

»Ja!« antwortete der Kleine.

Sie befahl, den Becher frisch zu füllen, stützte das matte Köpfchen und ließ ihn trinken. Ganz langsam, in kleinen Schlückchen nippte das Kind, und Änne kämpfte mit ihrer Erschütterung. – Das war Heinz Kerkows Kind!

»Danke!« sagte der kleine Bursche endlich ganz artig und blickte sie aus den unnatürlich großen Augen an, wie verwundert über diese Freundlichkeit.

»Heinichen muß jetzt nach Hause«, erklärte die Wärterin, rot vor Ärger, und trat hinter den Wagen, »sein Papa kommt uns alle Morgen bis zur steinernen Bank entgegen. Er ängstigt sich, wenn wir nicht pünktlich sind.«

»Adieu, mein lieber Junge!« sagte Änne weich, und noch vor dem Gefährt verließ sie den Garten. Ihr war auf einmal, als sei der Himmel nicht mehr blau, die Sonne nicht mehr so golden angesichts dieses Leids. Ihre innige Heimatsfreude, ihre jubelnde Dankbarkeit waren verschwunden, ihr rosiges Gesicht erblaßt. Ihre Augen sahen wie fragend in die grüne Wirrnis – warum läßt es Gott zu, daß in dieser herrlichen, frühlingsseligen Welt ein armes unschuldiges Geschöpf so leidet? sprach es aus ihnen.

Und dann stockte ihr Fuß. Sie war so hastig weitergeschritten, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie schon in unmittelbarer Nähe des »Teepavillons« stand. Das kleine, aus Brettern im japanischen Stil geformte Häuschen, das ganz am 167 Ende des Parkes lag, verdankte sein Entstehen und seinen Namen dem verstorbenen Herzog, der im Beginn seiner Krankheit hier in der Einsamkeit stundenlang zu weilen pflegte. Das Innere der Hütte barg damals in einem Wandschränkchen die Gerätschaften und Ingredienzien zur Herstellung einer Tasse Tee, die der Herzog sich selbst zubereitete. Als diese Marotte einer andern wich, verödete das zierliche Tempelchen mit seinem seltsam geschweiften Dach, und außer einem Gartenarbeiter, der vielleicht seine Mittagsruhe darin hielt, besuchte es sonst höchstens noch Änne gelegentlich ihres Umherstreifens.

Heute klangen Stimmen heraus. Ein mißmutiges »Gut, wir werden ja sehen – Adieu!« und aus der Tür flog wie ein Schmetterling eine zierliche, kleine Frauengestalt in lichtblauem Kleide und lief, den abwärts führenden Pfad hinunter, dem Teiche zu. Die Sonnenstrahlen huschten über das flachsblonde, zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckte Haar, dies ausdruckslose Haar, das Änne so genau kannte, das sie zuletzt unter dem bräutlichen Schleier schimmern sah, als Heinz Kerkow Hochzeit hielt.

»Toni Ribbeneck – Toni Kerkow!« flüsterten ihre Lippen.

Und hinter dieser Frau trat, noch immer lachend und den Schnurrbart streichend, ein blonder Offizier heraus und schritt ihr langsam nach. Er trug den Überrock, hatte die Mütze schief aufgesetzt wie ein Ulanenoffizier die Czapka und schwenkte eine Reitpeitsche in der Hand.

Änne starrte ihm nach wie entgeistert, die ausgestreckte Hand gegen den Stamm einer Buche gestemmt. Hatte sie recht gesehen? Und plötzlich überflutete eine Purpurröte ihr Gesicht, sie raffte den Hut, der ihr entfallen, von der Erde auf und schritt in entgegengesetzter Richtung davon, hastig, als sei in der Nähe des kleinen Pavillons die Luft verpestet. Erst als sie den Schloßplatz betrat, als sie die Fenster ihres Vaterhauses erblickte, wich das Gefühl von Ekel und Beschämung, das sich ihrer bemächtigt hatte. Aber sie sah noch ganz elend aus, als sie die Eßstube betrat. Die Mutter deckte eben den Kaffeetisch, über dessen Geräte die Sonnenstrahlen golden spielten, die durch die jungen Blätter der Kastanien blitzten.

Tante Emilie stand am offenen Fenster und fütterte die Hühner. Sie hatte dies Vergnügen so lange entbehren müssen.

»Da ist sie schon wieder im Park umhergerannt«, knurrte Frau Rat und schnitt den Napfkuchen an, der für Änne gebacken war. »Kriege ich einen Kuß – oder nicht?«

»Zwei, Mütterchen! Siehst du, ich hatte so große Sehnsucht nach dem alten Garten.«

168 »Der ist der alte geblieben«, sagte die Rätin, »aber sonst ist vieles anders geworden.«

»Wie geht's denn Kerkow?« fragte sie leise und sah dabei Tante Emilie an, die eben die letzten Brocken dem Hühnervolk zuwarf.

»Kerkow?« Frau Rat zuckte die Achseln, ordnete noch ein wenig die Tassen und fügte dann hinzu: »Ist ein hochmütiger Simpel geworden nach außen und – –«

»Und?« fragte Änne.

»Und daheim ist er Kindermädchen«

»Hat er mehrere Kinder?«

»Zum Glück nur eins, das Krüppelchen, das sein Elend der eigenen Mutter zu verdanken hat.«

Änne atmete auf. Gottlob, das arme kleine Geschöpf hatte wenigstens einen Vater, der es liebte! Und sie setzte sich schweigend an den alten Familientisch.

»Armer Heinz!« klang es in ihrer Seele, »armer Heinz!«



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