Wilhelmine Heimburg
Trotzige Herzen
Wilhelmine Heimburg

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Frau von Gruber war noch ganz krank von den Aufregungen der letzten vierzehn Tage. Nicht allein, daß sie sich mit der Beschaffung der Aussteuer und der Toiletten für die Braut neben dem Dienst bei Ihrer Durchlaucht, der sie mehr als je in Anspruch nahm, schachmatt gemacht hatte, da mußte auch noch der schreckliche Tag kommen, der so viel lange und sehnlichst erwartete Hoffnungen zertrümmerte in bezug auf Heinz und seine Schwester! Es war, als sollte der Stern der Behaglichkeit und Sorglosigkeit nie über den Kerkows aufgehen. Und wie sich das abspielte, mit immer neuen unerwarteten Wendungen! Wenn man sich nur wenigstens aussprechen könnte – aber mit Heinz war nicht zu reden und Hede sollte nichts erfahren, das war sein dringender Wunsch gewesen. Und wenn man seinen Wunsch nicht respektierte, so gab es Szenen mit ihm, und vor diesen hatte Frau von Gruber Furcht. Er sagte zwar nicht viel, aber das wenige waren Worte, so kantig und scharf, daß sie wie Dolchstöße in das Gewissen fuhren.

Sie seufzte, klingelte und ließ sich vom Diener Schreibmappe und Tintenfaß bringen, dann schrieb sie auf dem Tischchen, das neben ihrer Chaiselongue stand, an ihre intimste Freundin, eine Frau von Schliefen, die als behäbige Großmama im ersten Stock ihres schönen Schlosses in Schlesien saß und keine weiteren Sorgen kannte als die, welche ihr die Enkelkinder mit Scharlach oder Masern, oder mit ihrer Wildheit drunten in der Wohnung des Sohnes bereiteten.

99 »Vergönne mir, liebe Klementine«, begann sie, »daß ich wieder einmal mein Herz vor Dir ausschütte. Wenn in Deinen Sonnenschein mal ein wenig Schatten fällt, so ist's fremder Schatten, der Dich nicht frieren macht, Dir höchstens das Leben ein wenig interessanter erscheinen läßt, schon deshalb, weil Du an unseren Widerwärtigkeiten die Größe Deines Glückes ermessen kannst.

Ich schrieb Dir ausführlich damals die ganze Begebenheit mit dem Heinz Kerkow, daß er sich verlobt habe mit Toni Ribbeneck, die einen recht netten Geldsack vom alten Dietz Ribbeneck, der ehemals auf Karlitzke in Pommern saß, geerbt hatte, und auch, daß der Junge hier den Duodezposten eines Hofmarschalls an unserem Duodezhöfchen bekam. Na, Passion ist's ja leider von ihm nicht gewesen, aber, lieber Gott, bei den Verhältnissen, in denen er steckte, war die Toni der Strohhalm, nach dem er griff und greifen mußte. Was für Ärger und Mühe ich meinerseits, ehe es so weit war, hatte, um beides zu machen, die Braut und den Hofmarschall, na, Du weißt's ja aus meinen Briefen!

Was geschieht nun? – Wenn Du es in einem Buche läsest, würdest Du rufen: ›Unmöglich! Unwahrscheinlich!‹ Und doch ist alles, was nun folgt, nackte Wirklichkeit! – Also, er hat sich in seine neue Tätigkeit eingearbeitet, die Hochzeit ist bestimmt, Durchlaucht sehr gnädig, sehr liberal, erteilt vier Wochen Urlaub für die Hochzeitsreise. Ich erbiete mich natürlich zur Stellvertreterin für Toni, und am dritten Feiertag soll die Hochzeit sein, das heißt nun in acht Tagen! – Doch, was geschieht vor vier Tagen? Hede Kerkow, die jüngste Schwester von Heinz, soll abends ankommen, er hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden, und da das junge Ehepaar beabsichtigte, am Hochzeitstage abzureisen, lud er sie schon zeitig ein, um noch mit ihr zusammen zu sein. Durchlaucht hatte gnädigst erlaubt, daß sie hier Gast sei während der Zeit. – Mir war schon aufgefallen, daß Toni sich, sobald auf die Verwandtschaft von Heinz die Rede kam, sehr absprechend und still verhielt. Unter uns – liebenswürdig ist sie nun einmal nicht! – – Um Mittag dieses Tages trifft sich das Brautpaar, wie immer, in meinem Salon. Ich sehe schon Heinz an, daß ihm irgend etwas geschehen sein muß. Er ist blaß, und die gleichmäßige Ruhe, die er sich angewöhnt hat, scheint ihm völlig abhanden gekommen. Ich denke also, er hat Ärger gehabt mit den Beamten – kommt ja alle Tage vor, und leicht ist es nicht für einen Offizier wie er, wenn er plötzlich Haushaltungssorgen hat, denn weiter ist's ja doch 100 im Grunde nichts. Aber er erwidert nichts auf meine Frage als: ›Ich habe ein paar unangenehme Nachrichten bekommen. Die eine über Hedes Befinden von unserm alten Hausarzt, die andere – über die spreche ich später mit Toni allein.‹

Toni nun hat ein bemerkenswertes Talent, Unangenehmes nicht zu hören. Sie fängt also auch gleich von ihrem Teppich an zu reden, den ihr die Herzogin kürzlich schenkte, einem echten ›Smyrna‹. Heinz kommt wieder auf den Brief des Arztes und sagt sehr freundlich, indem er neben Toni Platz nahm: ›Hede macht mir Sorge, ich möchte sie bei uns behalten, Toni, ich kann sie dem einsamen kummervollen Leben nicht länger aussetzen. Sie ruiniert sich mit ihrem Unterrichtgeben, sie bekommt fünfundsiebzig Pfennig für die Stunde. Sie reibt ich auf, um das tägliche Brot zusammenzubringen.‹

Toni verfärbte sich vom Blassen bis zum Dunkelroten, rollte ihre Gürtelschleife zwischen den Fingern und antwortete: ›Du kannst ihr ja lieber einen Geldzuschuß monatlich schicken.‹

›Damit ist ihr nicht gedient‹, sagte er noch ganz ruhig, ›sie muß besser essen. Sie kann sich kein Mädchen halten, und die Zeit, für sich Speisen zu bereiten, fehlt ihr.‹

›Warum speist sie nicht in einem Gasthaus?‹

›Nun, ich sehe, du willst nicht darauf eingehen‹, sagte er, ›aber ich kann dir diesmal nicht helfen, ich bestehe darauf, für ein Jahr wenigstens. Ich bitte dich, Toni, es ist die letzte Verwandte, die ich habe, denn meine irre Schwester – die –‹

›Warum muß es denn gleich sein?‹ stieß sie hervor.

›Weil's nötig ist!‹ erwiderte er.

Ich will eben vermitteln, weil ich das Gewitter in ihr schon aufsteigen sehe, da sagt sie: ›Nimm's nicht übel, Heinz, der Gedanke, mein erstes Ehejahr zu dreien verleben zu müssen, ist mir im höchsten Grade unsympathisch – ich bitte dich, davon abzustehen. Ich werde ihr einen so reichlichen Zuschuß geben, daß sie sich ein Mädchen halten kann und essen, wonach es sie gelüstet, aber –‹

Er sah sie an mit einem Blick, Klementine – mir stockte das Herzblut, so zornig, so verächtlich war er. ›Ich bedaure, auf meinem Willen beharren zu müssen‹, erklärte er eisig, ›das Essen allein macht's nicht, sie bedarf freundlichen Zuspruchs, Liebe, anderer Verhältnisse, anderer Luft – sie hat niemand weiter als mich und – –‹

›Und ich bestehe auf meinem Willen!‹ ruft sie, ›ich heirate dich und nicht deine Familie!‹ Und die ganze kreideweiße Person zittert vor innerer Erregung. ›Im übrigen, wenn dir 101 deine Schwester lieber ist als ich – du brauchst nur zu wählen, sie oder mich.‹

Eine Weile ist's ganz ruhig. Ich bin halb ohnmächtig, natürlich, suche nach passenden Worten. Aber obgleich ich sonst so leicht meine Fassung nicht verliere, fällt mir nichts ein, und als ich endlich den Mund öffne, um zu sprechen, kommt Heinz mir zuvor und sagt: ›Vor diese Wahl gestellt – natürlich dich!‹ Das klingt aber so höhnisch und wird mit so zuckendem Gesicht gesprochen, von einer so tiefen Verbeugung begleitet, daß, wie er bereits hinausgegangen ist, wir beide noch dastehen und uns verständnislos ansehen.

Sie macht endlich eine große Weinszene, redet davon, daß er sie nicht liebe, und steigert sich in einen wahren Paroxysmus von gekränkter Tugend und Unschuld hinein. Da bringt ein Lakai einen Brief von Heinz an mich, und als ich öffne, liegt darin eine Karte von ihm und ein großer Brief, an ihn adressiert. Auf der Karte schreibt er: ›Liebe Tante, beifolgende Nachricht erhielt ich heute früh und wollte sie vorhin so schonend wie möglich meiner Braut mitteilen. Ich bitte Dich nun, sie von dem Inhalt des Schreibens in Kenntnis zu setzen auf eine Weise, die sie nicht allzusehr erschreckt. Ich bin nach dem Vorhergegangenen nicht in der Lage, es genügend ruhig zu tun. Heinz.‹

Ich lese und kann einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken. Toni erkennt die Handschrift ihres Onkels, des Bruders ihrer Mutter, den sie mit der Verwaltung ihres ererbten Vermögens beauftragt hat, liest und bricht in Schreikrämpfe aus. – Denke Dir, Klementine, der alte Esel – Pardon – hat das ganze Vermögen in Börsenpapieren angelegt und am neunzehnten November bei dem großen Krach ging, bis auf einen kleinen Teil, alles, aber auch alles verloren! – Der unglückliche Junge!

Ja, zu machen ist nichts und an ein Zurücktreten unter solchen Umständen ist auch nicht zu denken. Ich bin überzeugt, hätte er, als Toni ihn vor die Wahl stellte: mich oder deine Schwester! diese Hiobspost noch nicht gehabt, er würde rabiat genug gewesen sein, zu sagen: ›meine Schwester!‹ So löste sich die Sache in einer leidenschaftlichen Abbitteszene ihrerseits auf, die er stillschweigend duldete. Über den Verlust hat er kein Wort geäußert, aber er geht mit sorgenvoller Miene umher. Du kannst verstehen, was es für ihn heißt, ein armes Mädchen zu heiraten. – Sie hat ihm zwar pro forma ihr Wort zurückgeben wollen, doch hat er es selbstverständlich nicht angenommen. Se. Hoheit der Herzog, der 102 die ganze Tragikomödie von der Herzogin-Mutter erfuhr, hat ihn noch am nämlichen Tage nach dem Jagddiner in sein Arbeitszimmer befohlen, ihm dort lächelnd einen Frackknopf beinah abgedreht – Du kennst ja die Manier des Herzogs, wenn er mit jemand spricht, an dessen Knöpfen zu spielen – und hat gesagt: ›Mein lieber Kerkow, von der Ehrenschuld gegen Ihre Auserkorene kann ich Sie nicht lossprechen, aber von den Bären, die Sie sonst angebunden haben, da kann ich Sie frei machen. Stellen Sie mal so ein Listchen auf – soll mein Hochzeitsgeschenk sein!‹ – Se. Hoheit hat entschieden Verständnis für die Situation des armen Jungen.

Eine Sorge ist also von ihnen genommen, im übrigen müssen sie leben mit der Hofdamengage und dem Hofmarschallgehalt. Es wird wieder ein neues Stückchen glänzendes Elend, wie wir, die wir von den Kerkows stammen, es seit alters her gewohnt sind. Von dem stattlichen Vermögen, das hundertundachtzigtausend Taler betrug, sind keine zehntausend gerettet!

Nun ist Hede Kerkow hier, und Toni und sie gehen umeinander herum mit mißtrauischen Blicken, wie die Katze um den heißen Brei. Hede hat große fragende, ängstliche Blicke für mich und für ihren Bruder. Am liebsten sitzt sie allein in ihrem Zimmer. Toni hat ihren Vermögensverlust so ziemlich überwunden und sich wenig oder gar nicht zurückgeschraubt in ihren Ansprüchen. Der Rest, den sie behielt, wird bald genug vergeudet sein. – Mein armer Junge! Und wie, wenn die alte Herzogin stirbt? Die Pension, die er und sie erhalten, ist nicht der Rede wert, und die alte Dame ist merkwürdig zusammengebrochen seit dem Herbst.

Du siehst, Klementine, nichts als Sorgen, nichts als beängstigende Schatten!

Leb wohl, Klementine! Im Sommer hoffe ich Dich zu sehen. Von vergangenen glücklichen Tagen zu plaudern, ist das einzige, was mir noch Freude macht im Leben. Am Polterabend, den die Herzogin ausrichtet, ebenso wie die sehr kleine gewählte Hochzeit, sehe ich die Gräfin Arnstein, wir werden von Dir sprechen. Von ihren sechs Töchtern ist noch keine verlobt, sind auch keine Bilder auf Goldgrund mehr, die Töchter aus dem Hause Arnstein.

Addio, grüße Deine Kinder!

Immer Deine getreue Christiane von Gruber geb. von Kerkow.«

Seit Frau von Gruber an ihre Freundin in Schlesien jenen Brief geschrieben, in welchem sie ihr die Enttäuschung mitgeteilt 103 hatte, die ihr Neffe Kerkow in bezug auf das Vermögen seiner Braut hatte erleben müssen, waren zwei Wochen vergangen. Hede Kerkow hatte der Tante und dem Bruder erklärt, sie werde bei der Polterabendfeier nicht zugegen sein, und wenn man ihr zureden wollte, hatte sie gerufen: »Soll ich denn zweimal hintereinander in dem nämlichen weißen Kaschmirkleidchen hier auftreten? Und das möchte noch gehen, aber mir steht der Sinn nicht nach so viel Menschen, ich gebe meinem Herzen schon einen großen Stoß, wenn ich das Hochzeitsdiner mit absitze. Laßt mich, bitte, bitte! Eigentlich wollte ich nur dem Heinz das Geleit in die Kirche geben!«

In der Nachmittagsstunde vor dem Polterabend klopfte sie an die Tür von ihres Bruders Zimmer; sie mußte ihn noch einmal sehen, bevor sie ihn für immer hergab. Vorläufig war noch nichts in seinen Räumen geändert. Erst wenn das junge Paar abgereist sein würde, sollte die Schar der Handwerker unter Tante Grubers Aufsicht eine elegante Wohnung daraus schaffen. Tonis Wünsche in Beziehung hierauf hatten sich nicht geändert, überdies war bereits alles bestellt gewesen.

Heinz Kerkow saß müßig in einer der Fensternischen, draußen wirbelte dichter Schnee. So dicht fielen die Flocken, daß von dem Städtchen und der weiten Ferne draußen nichts mehr zu sehen war. Kaum noch konnte man die am Schloßplatz liegenden Häuser erkennen.

»Du, Heinz«, sagte sie herzlich, als sie auf das »Herein!« in das Zimmer getreten war, »sei nicht böse, daß ich noch einmal komme, ehe der große Trubel beginnt. Ich hatte so große Sehnsucht nach dir, morgen bist du schon weit fort.«

»Willkommen, Hede«, antwortete er freundlich, »ich bin gerad noch ein paar Stunden ›Freiheit‹. Meine Geschäfte hat Seine Exzellenz seit heute mittag übernommen, Toni macht Toilette und Tante Gruber ebenfalls; 's ist die Stille vor dem Sturm, Kind, und da du heute abend nicht unser Fest verherrlichen willst, so wollen wir uns jetzt schadlos halten.«

Er war aufgestanden, hatte ihr seinen Stuhl im Erker überlassen und nahm nun ihr gegenüber Platz. »Sitzt sich's hier nicht nett, wenn das Wetter da draußen sein Unwesen treibt?«

»Sehr nett – aber Heinz, du bist mir doch nicht böse, daß ich nicht mittue, heut abend?«

»Ach, Kind, ich begreife dich vollkommen in deiner Trauerstimmung.« Sie hatten sich die Hände gereicht und schauten sich liebevoll in die Augen. »Ja, ja«, sagte er, mühsam lächelnd, »nun wird's Ernst.«

104 »Heinz, wenn du doch recht glücklich würdest«, sprach sie mit zitternden Lippen.

»Ich werd' schon – ich werd' schon!« tröstete er und streichelte ihre Hände. »Mache dir nur keine Gedanken, Kind. Deine Zukunft liegt mir mehr am Herzen, macht mir mehr Sorgen als die meine. Unsereiner beißt sich schon durch.«

»Wie das klingt für einen angehenden Ehemann«, bemerkte sie, halb lachend, halb weinend, »durchbeißen! Beißen! Weißt du noch, wie wir Hochzeit hielten als Kinder, als du Nachbars Willy mit mir trautest und die schöne Rede hieltest: ›Schlagt euch nicht, beißt euch nicht, zerkratzt euch lieber das Gesicht‹, und: ›Wenn euch die bösen Buben locken, so lauft voran auf schnellen Socken‹?«

Er lachte. »Gottloses Volk waren wir doch, Hede – was? Ich glaube, ihr habt euch dann auch möglichst bald gekratzt, du und dein Willy –«

»Versteht sich! Aber dann nahm ich mir kaltblütig einen andern, den Paul Gröber.«

»Ja«, sprach er, zwischen Scherz und Ernst schwankend, »das war erlaubt und recht einfach. – Wenn sich richtige Eheleute später beißen und kratzen, so ist's zwar nicht hübsch, aber sie müssen trotzdem zusammenbleiben.«

»O Heinz, ich meine, das kann man vor der Hochzeit schon fühlen, ob man sich später beißen oder kratzen wird!«

»Hm! Das möcht' ich nicht gerade behaupten«, antwortete er, »aber hab' keine Angst, Hede, meine Ehe wird nicht beißig und kratzig – sie wird musterhaft friedlich sein.«

Sie sah ihn wieder mit dem schmerzlich fragenden Blick an, wie immer, seitdem sie ihn das erstemal neben der Braut in seiner neuen Stellung gesehen hatte. Es lag ein eigentümlich bitterer Ton in seiner Stimme, matt und scharf zugleich.

»Ob ich dir das garantieren kann, meinst du?« fragte er. »Gewiß, denn, siehst du, zum Zanken, Kratzen, Beißen gehören zwei, und ich meinerseits bin darauf durchaus nicht versessen – verstehst du, Kleine?«

»O ja«, antwortete sie, »und zum Lieben gehören auch zwei.«

»Nun sieh mal an, wie klug du bist, also –«

»Heinz!« Sie konnte ihrer Bewegung nicht mehr Herr werden. – »Ach, Heinz, red' nicht so leichtfertig – wie anders bist du nur geworden!« stieß sie hervor, »als wärst du nicht mehr der goldtreue, edle, fröhliche Junge wie früher! Schon dieses Zivil schmerzt mich, das dich gar nicht kleidet, nein, gar nicht – und alles, alles – –«

»Oh, wirklich nicht?« unterbrach er sie lächelnd, um dem 105 Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben, »und ich bildete mir ein, hinreißend im Frack zu sein, mindestens ebenso vornehm wie im Waffenrock! Na, laß gut sein, Hede, was du meinst, verstehe ich – kannst es mir nicht verzeihen, daß ich die Uniform auszog? Aber sieh, Kind, ich hätt's sowieso tun müssen, denn zum Weiterdienen langte es nicht, das weißt du. Indessen, verlaß dich darauf, wenn ein Feldzug kommt, ist der Frack im Umsehen aus und die Montur angezogen!«

»Ich hätte mich lieber als Soldat durchgehungert«, sagte sie trotzig. »Und allein, verstehst du, ganz allein – es wäre doch gewiß gegangen!«

»Ach du, du ahnst ja nicht, was du sprichst«, murmelte er.

Sie wurde dunkelrot. »Du hast doch hoffentlich bei dem Schritt, den du getan hast, nicht an mich gedacht, Heinz? Das wäre mein Tod, ich könnt's nicht ertragen!«

»Nicht allein an dich, auch an unsere alte Mutter, unsere Schwester in Halle – denkst du nicht an sie, Hede?«

Sie trocknete die Tränen und preßte die Lippen zusammen. Er wandte den Kopf ab und schaute hinaus. Drunten, hinter den wirbelnden Flocken tauchten die Umrisse der Gebäude deutlich auf, hier die Oberförsterei, dort das Haus des Medizinalrats May. In dem Riesengebäude, dem Gasthof, wurden schon verschiedene Fenster hell. Dort wohnten die fremden Gäste, die zu seinem heutigen Polterabend geladen waren, Familien aus der Residenz, aus der Umgegend, die Sippe der Ribbenecks, die Kameraden seines alten Regiments.

»Wenn ich dir helfen könnte«, sagte Hede plötzlich laut und leidenschaftlich, »ich brächte Ottilie um – und mich dazu – wozu leben wir auch!«

»Wozu – oder wovon helfen?« fragte er betroffen und wandte sich nach ihr um.

»Von deiner Heirat!« –

»Du bist toll, Mädel!« antwortete er, seine Augen blitzten drohend und eine Röte lagerte auf seiner Stirn. »Was geht dich das an, was kümmert dich die Wahl meiner Frau? Hast du einmal Vorwurfe zu gewärtigen, wenn die Sache schlecht ausgeht?«

»Nein«, sagte sie hart, »du könntest mir auch keinen Vorwurf machen, denn ich – ich möchte dich am liebsten mit diesen meinen beiden Händen von ihr wegreißen!«

»Hede!« rief er, aufspringend bei dem rücksichtslosen Bekenntnis des sonst so ruhigen Geschöpfes.

Aber die grenzenlose Enttäuschung über die Schwägerin, eine Enttäuschung, die in ihrem Herzen sich seit ihrer 106 Anwesenheit in Breitenfels, seitdem sie Toni zum erstenmal gesehen, aufgesammelt hatte, die Angst, der Schmerz um das Schicksal des über alles geliebten Bruders ließen sie jede Rücksicht vergessen. Sie sprang empor, eilte zu ihm, und neben ihm niedergleitend, faßte sie seinen Arm. »Muß es denn sein?« rief sie halberstickt, »besinne dich doch, Heinz, du bist doch sonst nicht feige gewesen – nichts als ein kurzer Entschluß gehört dazu – Hunderte von Verlobungen gehen zurück. Da drunten das junge Mädchen, von dem jetzt alle Welt spricht – wie heißt sie doch gleich? – hatte den Mut. Habe ihn doch auch, mach dich nicht unglücklich, Heinz, lieber Heinz – noch ist's Zeit – denke nicht an uns, gehe hinaus in die Welt, schaff dir ein freies Glück!«

Er hatte sie emporgerissen, sie in einen Stuhl gedrückt und holte ein Glas Wasser. »Trink!« sagte er kurz, »beruhige dich, deine Nerven spielen dir übel mit! Lernst du sie nicht beherrschen, so betrittst du denselben Weg, den unsere unglückliche Schwester jetzt wandelt. Sieh mich nicht so entsetzt an! Wenn du so unsinnig sein kannst und deinem Bruder den Rat geben, ein Schuft zu werden, indem er sich, um einem eingebildeten Unglück zu entgehen, der Pflicht eines Ehrenmannes entzieht – entzieht in der elften Stunde, so bist du nicht mehr normal! Fasse dich! Ich weiß, dich läßt die Liebe zu mir in der Mücke einen Elefanten sehen, und deshalb will ich dir die Szene, die du mir heute machst, nicht anrechnen. Für die Zukunft aber, Hede – und nicht wahr, es liegt dir daran, daß wir zueinander halten in echter Geschwisterliebe? –, für die Zukunft darfst du nie wieder ein Wort gegen die sagen, die meine Frau ist, denn sieh – sonst müssen wir uns trennen. Nun reiche mir die Hand und sei meine vernünftige Hede – komm, gib mir einen Kuß! Und wenn du die Toni nicht lieben kannst, hasse sie wenigstens nicht länger so bitter wie jetzt!« Er beugte sich nieder und küßte sie. Sie aber saß wie ein wächsernes Bild und mühte sich vergebens, ihres Zitterns Herr zu werden.

Eine lange Zeit blieb es stumm zwischen ihnen. Er stand am Fenster, ihr rieselten unausgesetzt große Tropfen über die Wangen. Ja, lieber Gott, sie hätte sich das sparen können, hatte sich auch schon alle Tage, die sie hier weilte, gesagt: »Es ist nichts mehr zu ändern daran!« Nun platzte sie zuletzt doch noch damit heraus! Und er – er schaute zu Änne Mays Vaterhaus hinunter und dachte über Hedes Ausruf nach. Die hatte den Mut gehabt, sich freizumachen. Ja, die konnte es auch, das lag anders! Sie hatte einfach einen Irrtum eingesehen, er aber, er war der Werbende gewesen, er hatte Toni 107 Ribbeneck gegriffen, wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm greift. Jetzt, wo er sich auf festes Land gerettet, konnte er sie nicht verlassen. Daran gedacht hatte er, vor drei Wochen noch, als er mehr und mehr die Öde des Gestades erkannte, auf dem er gelandet war durch sie. Er meinte damals, es sei nicht möglich, darauf zu leben. Nun, wo sie in Anbetracht ihrer Ansprüche ans Leben so gut wie mittellos geworden war, kamen jene verzweifelten Gedanken einer Flucht nicht mehr. Er wußte, was er sich schuldig sei, und es war so etwas wie Galgenhumor über ihn gekommen. »Vorwärts mit frischem Mut!« trommelte er auf den Fensterscheiben.

Da scholl die Stimme Hedes hinter ihm: »Willst du mir verzeihen, Heinz? Ich sehe ja ein, ich war toll, du kannst ja gar nicht anders. Vergib mir!«

Er wandte sich sogleich um und nahm sie in den Arm. »Siehst du, du dummes Mädel? Wozu das alles erst – du solltest mich doch kennen!«

»Ja, es war dumm von mir.«

»Na, laß gut sein«, tröstete er, »wir beide bleiben die alten. Ich wollte nur, ich könnte dich in der Nähe behalten!«

»Ich wollte es auch, aber es geht doch nicht, Heinz.«

»Meinst du nicht, daß du hier auch einige mallustige Mädel zusammenbringst, wenn du dir ein paar Stübchen mietest?«

Sie schüttelte den Kopf. »Und wovon soll ich unterdessen leben, ich meine, bis ich die Malmädel gefunden habe?«

»Aber Hede, welche Frage! Bei mir steht immer der Tisch gedeckt für dich.«

»Nein«, sagte sie, indem sie sich aus seinen Armen wand, und ihr Gesicht bekam etwas Starres, Hartes, »nein, nichts – nichts von Toni!«

Er sah sie an, halb ernst, halb spöttisch. »Von Toni würde wohl nicht viel dabei sein, Hede, ich bezweifle, daß ihre Gage weiter reicht als zur Bestreitung der Toilette.«

Sie verstand ihn nicht. »Aber – das große Vermögen?« stotterte sie.

»Das?« Er lachte auf einmal so herzlich wie in alten Tagen, »das ist so sicher angelegt, daß sie gar nicht heran kann, Hede.« Ihr betroffenes Gesicht amüsierte ihn geradezu.

»Was soll das heißen? Toni ist arm?«

»Ungefähr so. Du siehst also, Schatz, du könntest ohne große Gewissensbisse an unserm Tische mitessen.«

»Nein«, wiederholte sie kurz und mühsam atmend, »du hast schon übergenug Last an Ottilie!« Sie war in den Stuhl zurückgesunken und starrte vor sich hin. Mit welchen 108 Hoffnungen war sie hergekommen aus ihrem Elend daheim! Auf Liebe, auf Sonnenschein hatte sie sich gefreut, auf ein Atmen in anderer Luft, und nun blieb ihr doch nichts weiter, als wieder hineinzutauchen in das Jammerleben, das Stundengeben für einen Bettellohn, das Hungern bei Tee, Kartoffeln und Grießbrei, das Hungern nach einem Herzen, das ihr nahestand.

»Heinz« sagte sie endlich, »ich reise übermorgen wieder heim.«

»Warum willst du nicht noch ein Weilchen bei Tante Gruber bleiben, Hede? Es würde deiner Gesundheit so dienlich sein.«

»Nein! Nein! Ich verwöhne mich hier nur, und wenn du fort bist – was soll ich hier?« sprach sie hastig.

»Aber ich bleibe ja nicht lange, Kind. Italien haben wir heimlicherweise längst aufgegeben – acht Tage Berlin, voilà tout!

»Nein, nein, es ist besser, ich reise!«

»Wie du nun aussiehst«, schalt er, »ich muß ja Angst haben, dich hier allein zu lassen heute abend –«

»Aber warum? Ich bitte dich, ängstige dich nur nicht um mich! Ich lese, ich werde –«

Er sah nach der Uhr. »Nun ist's auch für mich Zeit«, sagte er zögernd. Das blasse Mädchen mit den starren, dunklen Augen tat ihm so unsäglich leid.

»Hast du etwas zum Lesen?« fragte er und trat an ein Tischchen, auf dem Bücher und Journale lagen, nahm einige davon und ergriff dann noch eine Zeitung, auf deren Titel »Breitenfelser Amtsblatt« zu lesen war, und übergab ihr alles. »So, Hede, da hast du allerlei, sogar die neuesten Begebenheiten in Breitenfels. Von meinem Polterabend bringen sie sicher auch einen Sums. Und nun fange keine Grillen. Auf mich kannst du immer bauen, hörst du, Hede, wenn ich auch kein Krösus bin. Und tue mir den Gefallen, überlege, ob du nicht lieber hier dein Domizil aufschlagen willst!«

Sie hielt, wie geistesabwesend, die Bücher im Arm.

»Komm«, sagte er, »ich bringe dich hinüber.«

Sie schritten miteinander den langen, teppichbelegten Korridor hinunter. Hedes Zimmer lag nach der Seite hinaus, die von der Herzogin-Mutter bewohnt wurde, nur zwei Treppen höher. Er trat hinter der Schwester ein. Die Hängelampe brannte, die Vorhänge waren zugezogen, im Kamin züngelten die Flammen.

»Ist dir's auch warm genug?« erkundigte er sich; »dein Abendbrot ist angeordnet. – Daß du auch so allein bist! Soll ich nochmals zu dir kommen, wenn das Fest zu Ende ist?«

Sie nickte. »Bitte!«

109 »Ich werde vorsichtig anklopfen, falls du schläfst.«

»Ich erwarte dich, ich schlafe nicht.« – »Es ist der letzte Abend, den du noch mir gehörst«, wollte sie sagen, verschluckte es aber.

»Leb wohl indessen, Hede, ich sehe dich also noch«, setzte er rasch hinzu, wie um weitere Betrachtungen abzuschneiden. Dann ging die Tür und das Mädchen war allein.

Sie zog einen Sessel an den Kamin und hockte sich hinein, die Füße emporgezogen; die Bücher und Zeitungen hielt sie noch immer an sich gepreßt. So verharrte sie eine ganze Weile. Bis hier herauf drang kein Laut. Das Schloß war ja überhaupt so geräuschlos, als sei es von Geistern bewohnt, und so still war es hier wie daheim in ihren niedrigen einsamen Zimmern. Nur die Uhr tickte, eine Bronzeuhr im Empirestil.

Hede brach auf einmal in leises leidenschaftliches Schluchzen aus. Ein unsägliches Grauen vor der Zukunft hatte sich ihrer bemächtigt. Bisher, seit Mutters Tode, war Heinz ihre Hoffnung gewesen, und diese, lieber Gott, war gescheitert! Der arme Junge, der würde selber seine Not haben, durchzukommen. Und sie fühlte, wenn sie weiter leben mußte wie bisher, ohne einen Menschen, der ihr nahestand, es würde Wahrheit werden, was Heinz ihr angedroht hatte, sie würde dort enden, wo ihre Schwester schon war – im Irrenhause! Sie gedachte der Nächte, da sie, furchtdurchschüttelt ob der entsetzlichen Einsamkeit und Verlassenheit, in ihrem Bette aufrecht saß – sterben und verderben konnte sie, keiner hätte es gemerkt! Sie gedachte der Morgen, an denen sie frierend umherschlich, um auf dem Spirituslämpchen Tee zu bereiten, dachte an das Heizen des Ofens mit den starren zitternden Fingern. Ja, wenn sie's gewöhnt gewesen wäre! Aber bis vor kurzem hatte sie noch eine Aufwartefrau gehabt. Und dann die Unterrichtsstunde mit dem schmerzenden Kopf, in dem Terpentindunst. Und mittags die paar eilig gekochten Kartoffeln, ein Ei dazu, wenn's hoch kam, und wieder ans Werk; dutzendweise dasselbe Motiv auf Ober- und Untertassen, und doch welch Glück, wenn sie Arbeit hatte!

Dann kamen die langen Abende, an denen sie vorzeitig aus Müdigkeit und Frost ihr Lager suchte, denn der Schlaf floh sie bis zum Morgen. Sie schlug sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn und blickte sich um, als erwache sie eben aus schwerem Traume. Dann setzte sie die Füße herunter vom Stuhl und betrachtete wie abwesend die Lektüre, die sie noch in der Hand hielt – »Breitenfelser Amtsblatt«, las sie. Mechanisch faltete sie es auseinander – Politik – 110 Hofnachrichten – der Name ihres Bruders sprang ihr entgegen, die Namen der eingetroffenen Gäste – wie großartig das klang! Dann Theateranzeige – »Der Barbier von Sevilla« – vorletzte Vorstellung; – eine Verlobungsanzeige; – irgend jemand hatte Zwillinge bekommen, irgend jemand war gestorben – eine Büfettmamsell mit seiner Garderobe wird gesucht – und endlich blieben ihre Augen wie gebannt an folgendem Satze hängen: »Eine gebildete Dame als Repräsentantin seines Hauses, die bei drei Kindern im Alter von sieben, fünf und drei Jahren Mutterstelle zu vertreten hätte, sucht möglichst sofort — der herzogl. Oberförster Günther

Sie las noch einmal und saß dann wieder regungslos wohl eine Viertelstunde lang, bis die Uhr neben ihr mit silberner Stimme sechs Schläge ertönen ließ. Plötzlich sprang sie empor. setzte hastig ihren schmucklosen Filzhut auf, fuhr in das Jackett, griff nach dem Muff und verließ das Zimmer. Sie vermied die Haupttreppe und schritt die für die Dienerschaft bestimmte Stiege hinab. Sie kannte die Seitentür, die direkt unter den Zimmern der alten Herzogin auf den Schloßberg mündete. Der Weg führte zum Marstall und zog sich in Windungen durch jetzt kahles Fliedergesträuch hinunter. Sie ging mit schnellen und kurzen Schritten, ein starkes Herzklopfen peinigte sie. Die Fensterreihen der Gemächer der Herzogin strahlten mit ihren rötlichen Lichtern in die Schneenacht hinaus und erhellten ihren Weg. Bald war sie am Fuße des Berges und schritt auf dem Schloßplatz dahin, der Oberförsterei zu. Die ersten Wagen mit Gästen rollten eben langsam den steilen Berg hinan. Am Eingange des Schloßberges flammten Pechfackeln und zuckten mit ihrem Schein über die Gebäude und die dürren Wipfel des Parkes.

In wenig Minuten hatte Hedwig von Kerkow die Oberförsterei erreicht und trat ein in den kaum notdürftig erhellten Flur. Die Schelle rasselte laut und mißtönig, ein paar Dachshunde fuhren ihr belfernd entgegen, und bald nachher kam aus der nach rechts gelegenen Stube ein Mädchen, dem sich einige Kinder nachdrängten, und fragte nach ihrem Begehr.

»Ist der Herr Oberförster zu Hause?«

»Ja! Wen soll ich melden?«

»Sagen Sie ihm, eine Dame, die auf seine Annonce hin gekommen ist.«

Das Mädchen musterte im Abgehen Hede Kerkow vom Kopf bis zu den Füßen. Nach einem Weilchen kam es zurück. »Der Herr Oberförster lassen bitten, einstweilen einzutreten, er stehe gleich zur Verfügung.« Sie führte Hede in ein Zimmer. Die 111 Lampe brannte auf der Platte des Schreibtisches und warf ihren Schein auf dienstliche Papiere. Der Sessel war halb zurückgeschoben, als sei eben jemand eilig aufgestanden.

»Nehmen Sie Platz!« sagte das Mädchen und schob einen Stuhl in die Mitte der Stube.

Hede dankte und blieb stehen. Das Mädchen machte sich am Ofen zu schaffen. Ein schöner Hühnerhund erhob sich von der warmen Lagerstatt und kam langsam herüber zu der fremden Dame; als er vor Hede stand. bewegte er den Schweif und schaute sie an aus seinen glänzenden, klugen Augen, und sie streichelte leise den schönen Kopf des Tieres.

»Wenn Sie hier die Stelle haben wollen, dann sagen Sie man nichts auf die gewesene Braut«, begann plötzlich das Mädchen plump vertraulich. »Was die Stübken is, die is deshalb hinausgeflogen gestern, aber mit Dampf, und sie hatte doch gedacht, sie macht es recht schön. Na, meinswegen, ich bin froh, daß das Lügenmaul raus is.«

Hede maß die Schwätzerin mit einem kühlen Blicke von oben bis unten und wandte sich wieder zu dem Hund. Das Mädchen zögerte noch eine Weile, dann ging es.

»So 'ne olle hochmütige Trine, was brauchte die sich zu melden« murmelte es, »der werd' ich's eintränken, wenn sie hier in Konditschon kommt!«

Hede stand noch mit dem Tiere beschäftigt, als Günther eintrat. »Entschuldigen Sie, Fräulein«, bat er, »ich ließ Sie warten. Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Er wies zum Sofa hin und ergriff den Stuhl ihr gegenüber.

»Ich komme – –« begann sie, dunkel erglühend – –

»Ja, ich weiß«, unterbrach er, ihr feines vergrämtes Gesicht betrachtend. »Ich suche – ich bin nämlich Witwer, Fräulein – eine Dame, die meinem Hause vorsteht und die ein wenig gut ist mit den Würmern. – Unruhe und Arbeit würden Sie reichlich finden. Ich bin nicht allzuviel daheim, verlange aber auch keinerlei Berücksichtigung meiner Person. Seeben, das ist mein Faktotum, ein alter, invalid geschossener Waldläufer, der sorgt für mich. Mit mir haben Sie also keine Last, Fräulein. Aber trotzdem – Sie sehen zart aus – am End' wird's doch zu schwer für Sie.«

»Oh, sicher nicht!« antwortete sie, »ich habe viel Lust zur Wirtschaft und Kindererziehung; viel Übung freilich nicht. Vielleicht versuchen Sie es mit mir, Herr Oberförster?«

»Haben Sie Zeugnisse?« fragte er.

»Nein«, sagte sie, »ich war bisher noch nicht in Stellung, ich lebte bis vor kurzem mit meiner Mutter zusammen. Sie 112 starb so rasch, und ich fühle mich einsam und wünsche Tätigkeit. Vorhin las ich Ihr Gesuch – ich bin sogleich gekommen.«

Er heftete den Blick auf sie. Ein schmales, edelgeschnittenes Gesicht, nervös die Farbe wechselnd. Um den feinen Mund ein herber Zug, und ein Paar großer dunkler Augen, in denen viel zu lesen war von verschwiegenem Kummer, von herben Erfahrungen. Sie gefielen ihm, diese bangen, fragenden Augen.

»Und Sie könnten gleich kommen, Fräulein?«

Sie zögerte ein wenig. »Ja« sagte sie dann, »ich denke, es wird meinem Bruder recht sein.«

»Lebt Ihr Bruder hier?«

»Er lebt hier«, antwortete sie stockend, »es ist der Hofmarschall von Kerkow.«

Der Mann vor ihr war jählings aufgestanden. Des Kerkow Schwester? – Er trat zum Schreibtisch und wühlte dort planlos umher, und seine Hand zitterte dabei. – Die Schwester des Mannes, dem er indirekt die bitterste Erfahrung seines Lebens verdankte! »Weiß Ihr Herr Bruder?« fragte er tonlos.

»Nein«, erwiderte sie, »aber ich weiß, er wird sich freuen, wenn wir beieinander bleiben. Wir haben uns beide nötig, er und ich, Herr Oberförster.«

»Aber sollte dem Herrn Hofmarschall von Kerkow es recht sein, daß seine Schwester eine – – es ist doch immerhin eine dienende Stellung, Fräulein?«

»Wenn nicht hier, dann woanders, Herr Oberförster. Er sowohl wie ich – waren und sind nicht in der Lage –«

Er unterbrach sie rasch. »Ich möchte doch erst die Einwilligung des Herrn Hofmarschalls –«

»Ich bin mündig« erwiderte sie, »zweiunddreißig Jahre alt. Aber wenn Sie Bedenken haben – es wäre, freilich – es wäre ein Glück für mich gewesen, in seiner Nähe bleiben zu können!« Sie stand auf und schickte sich zum Gehen an.

Ihm war es auf einmal wie eine Erleuchtung gekommen. »Wenn Sie es versuchen wollen, Fräulein«, sagte er, »ich würde mich glücklich schätzen, eine Dame wie Sie um die Kinder zu wissen, und lieb wäre es mir, wenn Sie bald, recht bald kommen könnten! Soviel an mir liegt, will ich Ihnen die Stellung angenehm machen. Sie müssen nur entschuldigen, ich bin nicht auf dem Parkett groß geworden. Wenn ich –«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich verspreche Ihnen, alles zu tun für die Kinder, was in meinen Kräften steht. Gott gebe, daß ich ihre Herzen gewinne!«

Er schüttelte die Hand. »Und die Bedingungen?« sagte er unsicher.

113 »Das überlasse ich Ihnen«, antwortete sie, entschlossen, in dieser Hinsicht durchaus nicht prüde zu sein. »Geben Sie mir, was Sie Ihrer vorigen Hausdame gaben, oder weniger, jedenfalls aber, ehe wir das vereinbaren, warten Sie, ob Ihnen meine Leistungen genügen. Und jetzt zeigen Sie mir, bitte, die Kinder!«

Er ging mit großen schweren Schritten aus dem Zimmer und kam dann wieder, das Jüngste auf dem Arm, die beiden andern zur Seite. »Das ist eure neue Tante – Sie erlauben doch, gnädiges Fräulein –« schaltete er verlegen ein.

»Bitte, bitte«, sagte sie, »und nennen Sie mich nicht ›gnädiges Fräulein‹, nur einfach ›Fräulein Kerkow‹ oder ›Fräulein Hedwig‹, oder auch nur ›Fräulein‹. – Kommt einmal zu mir, Kinder, und erzählt mir, wie ihr heißt!« Sie nahm ihm das Kleine vom Arm und setzte sich mit ihm auf den nächsten Stuhl, während sie den beiden größeren freundlich zulächelte. Sie ließ sich durch die unguten Mienen der verschüchterten Kinder nicht schrecken, sie redete tapfer in sie hinein, fragte nach Puppen und Schaukelpferd, und nach einer Weile antwortete der Junge ihr zuerst, dann mischte sich Agnes ein mit unendlicher Wichtigkeit, und das ganz Kleine wurde auch gesprächig. Es wurde ein wahres Vogelgezwitscher in der sonst so stillen Stube.

»Bleibst du gleich hier?« fragte der Bub'.

»Heute nicht, ich komme aber wieder – übermorgen.«

»Bleib doch lieber gleich«, meinte die Älteste, »der Papa ist so traurig, das ist gar nicht schön!«

»Übermorgen komme ich, und heut geht ihr schlafen ohne mich und morgen auch. Und wenn ihr zum drittenmal schlafen geht, dann komme ich mit und erzähle euch ein Märchen dabei.«

Sie waren es so zufrieden und begleiteten die neue Tante mit dem Vater bis an die Haustür. Mit einem hellen »Auf Wiedersehen!« schied sie und ging schnellen Schrittes den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Oberförster aber stand am Fenster und sah der schlanken Gestalt nach, die so unversehens nun in sein Leben getreten war.

Des Kerkow Schwester in seinem Hause! Des Mannes Schwester, von dem er geträumt im Wachen und Schlafen, an den er nur im tiefsten, herbsten Groll gedacht hatte! Und nun – nun wußte er auf einmal alles, als habe ihm jemand aufgezeichnet, wie es um jenen und um Änne stand. Der arme Offizier hatte blutenden Herzens dem heimlich geliebten Mädchen entsagt und um seiner Familie willen die andere genommen; und das vor Zorn und Schmerz verzweifelnde Kind hatte sich in seine Arme gestürzt. Ihr armen beiden! Sie war 114 an der Schwelle der Ehe zusammengebrochen unter der Unmöglichkeit, einen andern zu lieben, der Mann schleppte sich bis zum Altar und weiter, immer weiter, bis ihm das Herz erstarrte in seiner Brust.

Der Oberförster fühlte seinen Groll schwinden gegen Heinz Kerkow, aber er seufzte tief. Er war hineingezogen worden in diesen Kampf und jedermann kannte seine Wunden. Es sollte das letztemal sein, daß ein Weib in sein Leben gegriffen hatte, das hatte er sich gelobt! Er pfiff dem Hunde, setzte sich in die Sofaecke und tätschelte den Kopf des schönen Tieres. »Bist doch die Treueste«, sagte er leise und zärtlich, »gelt, Diana? Wenn wir miteinander da draußen sind in dem weiten herrlichen Gotteswald, dann wird die ganze Jämmerlichkeit dieses Lebens so wesenlos und klein, nicht wahr, Alte?«

Der andere Tag brach an, Heinz Kerkows Hochzeitstag.

Auf Ännes Gesicht lag etwas Ernstes, Entschlossenes – ihr Bruder Walter, der Student, sagte: so etwa, als ob sie statt der Toni »angekoppelt« werden sollte. »Willst du mit?« fragte er dann. »Wir fahren nachher mit Richard Meyer nach dem Jagdschlößchen, die Schlittenbahn soll herrlich sein.«

»Ach was«, brummte Robert, der Leutnant, dem es nicht paßte, brüderliche Rücksichten zu nehmen, ›damit sie die Nase erfriert‹! Ich sage dir, Änne, bleib daheim und geh brautschauen!«

Tante und Mutter sahen verstohlen zu Änne hinüber. Der Bruder war nicht unterrichtet von dem Breitenfelser Stadtklatsch, sonst hätte er diese Aufforderung unterlassen. Aber Änne erwiderte sehr ruhig: »Natürlich gehe ich in die Kirche – du doch auch, Mama, und Tante ebenfalls?«

Frau May wäre trotz allem und allem eher »gestorben«, als bei dieser Gelegenheit ferngeblieben. Wäre der Kerkow erwiesenermaßen ihr ärgster Feind gewesen, bei seiner Trauung hätte sie zugegen sein müssen. »Ich gehe schon deshalb hin, um all den Leuten die Mäuler zu stopfen, und daß du mitwillst, ist vernünftig«, sagte sie zu ihrer Tochter.

»Aber warum sollte ich nicht?« fragte Änne, als ob sie das, was ihre Mutter meinte, nicht verstand. »Ich habe doch kein Verbrechen begangen?« – Im sicheren Gefühl, daß nur Günther ihr Geheimnis kannte, dem sie es selbst anvertraut hatte, und bei dem es so geschützt und geborgen war wie in ihrer eigenen Brust, bewahrte sie ihre Selbstbeherrschung vollständig. Ihre innerliche Verzagtheit, ihr altes bitteres Weh wurde von dem trotzigen Mädchenherzen im Zaum gehalten. Wenn Heinz Kerkow überhaupt noch den leisen Gedanken gehabt hätte, daß 115 sie um seinetwillen litt, heute sollte, mußte er schwinden. Dann würde ihr die trotzige verzweifelte Kraft nicht fehlen, die Eltern zu überreden, dem zuzustimmen, was sie vorhatte!

Der Medizinalrat verfügte über Eintrittskarten für die Hofkirche, wie sämtliche Beamte des Hofes und die Honoratioren der kleinen Residenz. Für die Damen bedeutete das: elegante Visitentoilette – soweit die Begriffe von Eleganz in Breitenfels reichten – für die Herren: Frack und Zylinder. Zu sehen gab's entschieden etwas, seit ewigen Zeiten war da droben in dem stillen Witwenleben nicht eine offizielle Festlichkeit gewesen.

Um halb zwei Uhr sollte die Trauung stattfinden, der ein kleines Festmahl im engsten Kreise folgte. Auf vier Uhr bereits war die Abreise des jungen Paares bestimmt.

Die Rätin klagte während der Toilette – das unvermeidliche Schwarzseidene war wieder aus dem Schrank geholt worden – über Reißen. Es sei ungesundes Wetter, und die Jungen, die mittlerweile abgefahren waren, würden im Schneewasser wieder heimkommen. Es war in der Tat ein trüber, warmer Tag. die Schneedecke zeigte siebartig zahllose kleine Löcher, die der leichte, mit Schnee untermischte Regen verursacht hatte, und in der Dachrinne gluckste und tropfte es. Um Mittag war es fast finster.

Änne befand sich in ihrem Stübchen. Sie hatte ein gelblichweißes Kaschmirkleid angelegt, kindlich einfach in der Form, faltige Bluse und faltige weite Ärmel, und einen schmalen blauen Gürtel um die Taille. Sie wartete auf den Boten, der ihr die Nachricht von der plötzlichen Heiserkeit des Fräuleins Hochleitner bringen sollte, und sie wurde so blaß wie ihr Kleid, als sie endlich unten die Klingel hörte.

Dann Rufen nach ihr. eilige Schritte, das Rauschen eines Seidenkleides. »Das ist eine nette Geschichte« – mit diesen Worten riß Frau Rat die Tür auf – »die Hochleitner ist krank geworden, die Friedrich nirgends zu finden! Ob du nicht den Psalm singen willst? lassen sie fragen – – als ob das so ginge! Wirst du's können? Wenn du dich getraust, sollst du sofort in die Kirche kommen, läßt der Organist sagen, um noch einmal mit der Orgel zu proben.«

»Wenn ich den Leuten aus der Verlegenheit helfen kann – sehr gern«, sagte Änne, nahm gelassen ihren weißen, mit Schwan besetzten Umhang vom Bett und folgte der Mutter.

»Ein Wagen steht drunten!« rief die aufgeregte Frau. »Gott im Himmel – wenn du nun die Sache umwirfst – sag doch lieber ab, bedenke doch die Herrschaften, die zugegen sind!«

116 »Ich habe schon öfter vor ihnen gesungen«, wandte Änne ein.

»Ja, nun ja! Aber wenn du plötzlich nicht weiter kannst, dann gibt's wieder eine Klatscherei. Sie sagen womöglich, du habest aus Verzweiflung um den Heinz – –«

Änne wandte sich nach ihrer Mutter um. »Ich werde nicht steckenbleiben«, sagte sie kurz und hart, obgleich in ihrem Herzen die Zweifel stärker waren als je.

Im nächsten Augenblick saß sie in den Polstern des Hofwagens und rollte der Schloßkirche zu, die, dem Mittelbau des Schlosses angefügt, nach der Gartenseite zu lag. Ein wahres Kleinod der Spätgotik, gut erhalten und verständnisvoll restauriert, bildete sie so ziemlich die einzige Sehenswürdigkeit des Städtchens in künstlerischer Beziehung und wurde viel besucht von Architekten und Malern. Mit schlank aufstrebenden Säulen und herrlichen Spitzbogengewölben erschien sie wie ein Freiburger Münster im kleinen. Nur das Innere des Gotteshauses machte einen so günstigen Eindruck, denn das Portal war in späterer Zeit mit eingebaut in das Schloß. Man passierte, um in die Kirche zu gelangen, die große Halle im Erdgeschoß des Mittelbaues. Unmittelbar von dem darüber befindlichen Festsaal konnte die herzogliche Familie sich in die für sie bestimmte Empore der Kirche, den sogenannten Fürstenstuhl, begeben.

Als Änne durch die hohe Spitzbogentür in den tief dämmerigen Raum trat – das matte Tageslicht vermochte kaum durch die gemalten Scheiben zu dringen –, war das schöne Gotteshaus noch leer. Nur um den reich mit Orangenbäumen geschmückten Altar beschäftigten sich noch mehrere Diener, und mit geräuschloser Eile wurden Kerzen auf die riesigen Messingkronleuchter und die Kandelaber gesteckt. Der hohe Raum war ganz erfüllt von Blütenduft, der den mächtigen Orangenbäumen entstieg, deren Kübel mit den Landesfarben bemalt waren. Auf der gewundenen Treppe von der Orgelempore kam dem jungen Mädchen mit allen Zeichen des Bangens der weißhaarige alte Organist entgegen.

»Gott sei Lob, daß Sie da sind, Fräulein May! Stockheiser die Hochleitner, und die Friedrich nicht zu finden, weder in ihrer Wohnung noch im Theater – der Himmel mag wissen, wo sie steckt! Haben Sie Furcht, Änne?«

Er kannte das Mädchen wie sein eigen Kind. Ihre Stimme war schon manchmal von dort droben erklungen. Als kleines Mädchen hatte Änne schon beim Weihnachtsgottesdienst ihr helles Stimmchen in der Engelverkündigung erschallen lassen:

»Ehre sei Gott in der Höhe!«

117 »Wollen wir schnell einmal proben?«

»Wenn Sie es für nötig halten«, antwortete sie, »mir ist der Psalm vertraut.«

»Wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen! Sie kennen ganz genau die Stelle, wo Sie einzusetzen haben?«

»Ganz genau!« Und sie lächelte ihn an, daß der alte verzweifelnde Mensch ordentlich wieder Farbe bekam. »Ängstigen Sie sich nur nicht«, sprach sie tapfer, »ich mache Ihnen keine Schande.«

»Guten Tag, meine Damen! Die Hochleitner ist krank, Fräulein May hat die Freundlichkeit, uns auszuhelfen mit der Solopartie«, wandte er sich an die versammelten weiblichen Mitglieder des städtischen Gesangvereins, dessen Direktor er war. Sie harrten auf der Empore vor der Orgel, und keine einzige befand sich unter ihnen, die nicht das allerverblüffteste Gesicht machte bei dieser Mitteilung.

Und Änne, über deren jüngste Erlebnisse jede einzelne hergefallen war und sie nach Möglichkeit beschwatzt, bekrittelt und herabgewürdigt hatte, stand ruhig lächelnd da in ihrem weißen Kleidchen, wie eine sieggewohnte Primadonna. Wieviel Kraft sie dazu nötig hatte, das brauchte ja niemand zu wissen!

»Könntest du singen?« fragte Fräulein Krause ihre Freundin Ida Sillig, »könntest du singen, wenn deine Liebe mit einer andern getraut würde?«

Und die andere meinte: »Wer weiß denn, ob's wahr ist? Ich könnt' nicht singen, ich würde entweder ohnmächtig, oder – ich – –« Was sie tun würde, verschwieg sie, aber ihre Finger hatten sich gebogen, und ihre Augen funkelten vor Zorn bei dem bloßen Gedanken, daß ihr heimlich Angebeteter, der Provisor in des Vaters Apotheke, sich unterstehen könnte, ihr untreu zu werden.

Die Kerzen brannten jetzt, das Publikum wurde eingelassen. Seitwärts, unter dem Herzogsstuhl, war die Flügeltür zu der Halle des Schlosses geöffnet, von welcher ein paar Stufen in die Kirche hinunterführten. Die Lakaien postierten sich davor, der Weg bis zum Altar war mit roten dicken Teppichen belegt.

»Wird die Herzogin zugegen sein?« wisperten die Damen.

Änne gab Auskunft: Durchlaucht sei nicht wohl genug, der Medizinalrat sei schon in aller Frühe hinaufgeholt worden. Die hohe Frau klage über Asthma.

Nun erdröhnten die Kirchenglocken über ihnen mächtig und laut: Heinz Kerkows Fest begann. In dem Gotteshaus war kein Platz leer geblieben. Änne sah auch ihre Mutter und 118 neben ihr Tante Emilie, die Ännes Einlaßkarte benutzt hatte, in einem altmodischen Crêpe-de-Chine-Tuch und ihrer besten Blondenhaube. Der Vater, mit ein paar Orden geschmückt, saß hinter ihnen.

Plötzlich wurden alle Hälse lang, man mühte sich, seitwärts in den Eingang zum Schlosse zu blicken. Einige Lakaien traten nach vorn und stellten sich, Spalier bildend, zu den anderen, dann kam die Hofdame Frau von Gruber in bordeauxroter mit Pelz verbrämter Samtrobe, geführt von einem alten Herrn in Generalsuniform, einem Onkel der Braut. Dann noch einige ältere Paare und ein blasses Mädchen im schlichten weißen Kleid am Arm eines älteren Kavaliers.

Änne starrte teilnahmslos die Menschen an, wie sie langsam über den mit grünen Zweigen bestreuten Teppich dem Altar sich näherten. Und auf einmal zuckte sie zusammen und griff mit der Hand zum Herzen. Hinter ihr in jubelnden Tönen war die Orgel erbraust – das Brautpaar schritt die Stufen hinunter. Sie fühlte, wie ihr die Stirn feucht wurde, schwindelnd hielt sie sich an der Galerie des Chors, in dessen Mitte sie stand, und mit weitgeöffneten Augen starrte sie hinab auf den Mann, an dessen Arm die in Spitzen, Atlas und Tüll gekleidete bräutliche Gestalt ging. Hatte sie sich zuviel zugetraut? Wie hilfesuchend irrten ihre Augen umher – sie trat zurück – »Fort! Fort!« flüsterte sie.

Da trafen ihre Blicke die Augen einer alten Frau unten in dem Seitenschiff, die mit unsäglicher Bekümmernis zu ihr emporsah. Sie hatte plötzlich die Kraft, sich aufzurichten, wieder vorzutreten. Mit fest zusammengepreßten Lippen sah sie die weiße Schleppe über den tiefroten Teppich gleiten, sah den Zug der Brautjungfern und Brautführer hinterherschreiten, und nun standen, den Rücken ihr zugewendet, die beiden am Altar vor dem Prediger.

»Ach, bleib mit deiner Gnade –« brauste es hinter ihr, und Ännes Hände falteten sich auf der Brüstung, ihr Kopf hob sich, ihr Herzpochen ließ nach, aber ein paar große Tropfen rannen wie erlösend über ihre Wangen. Unter den Worten des Geistlichen wich das bittere, wehe Gefühl mehr und mehr, nur der Schmerz blieb, ein großer, stiller Schmerz um ihr verlorenes Glück. –

Endlich wurden die Ringe gewechselt, und das war der Augenblick, da Änne zu singen hatte. Leise begann die Orgel mit dem Chorgesang, und gerade in dem Augenblick, da Heinz den funkelnden Ring an seinem Finger fühlte, da schwebte eine süße, innige Mädchenstimme durch den hohen Raum, eine 119 Stimme, die ihm das Herz erzittern machte in Wonne und Weh:

»Halleluja! Seine Gnade ist groß!«

Änne, Änne sang ihm das Abschiedslied, das Lied der Verzeihung! Die Augen wurden ihm feucht, er biß die Zähne aufeinander. Ach, er kannte ja jede Modulation der geliebten, herrlichen Stimme, er hörte ihre emporquellenden Tränen heraus, ihr armes, blutendes Herz. – Wenn er nie gewußt hätte, daß sie ihn liebte, jetzt sang sie ihm die Wahrheit in seine Seele. – –

Ach, sie hätte es nicht tun dürfen! Was wollte sie, indem sie zu dieser Stunde sich so siegend, so groß in sein Denken drängte? Sich rächen für seine Untreue?

»Er segne eure Pfade und führe euch sanft immerdar!«

tönte es in sein Ohr. Überirdisch, wie Himmelsgesang klang die Stimme aus der Höhe.

Die Rätin beugte sich plötzlich tief herab auf ihr Gesangbuch und weinte, Tante Emilie sah starr zu dem Mädchen empor. Engelhaft hob sich ihre weiße Gestalt dort ab aus dem Halbdunkel.

Nun trat Änne zurück, der Chor fiel ein, und sie sank auf die kleine Bank neben der Orgel. Niemand achtete auf sie. Als der Segen gesprochen, der letzte Vers des Chorals gesungen war, schlich sie stumm hinunter. Der Wagen, der sie gebracht hatte, fuhr auf den Wink des Portiers vor und in fluchtartiger Eile schlüpfte sie hinein. Zu Hause angelangt, floh sie in ihre Stube und riegelte hinter sich zu – nur niemand sehen, niemand hören!

Eine gute halbe Stunde später kehrten die Ihrigen zurück. Man pochte an ihre Tür, sie solle zu Tisch kommen. Nach ein paar Minuten trat sie in die Eßstube, wo Vater, Mutter und Tante bereits saßen. Sie hatte sich umgezogen.

Der Vater, der sonst sehr karg war mit Lob, streckte ihr die Hand entgegen. »Du hast schön gesungen, Änne«, lobte er.

Die Mutter, welche die Suppenkelle bereits schwang, nickte ihr zu. »Besser hätt's die Hochleitner auch nicht gemacht. Der Organist will noch kommen, um sich zu bedanken.«

Änne sah sie freundlich an. »Das ist mir lieb, daß es euch gefallen hat, denn im Anschluß daran will ich euch um etwas bitten. Nachher«, rief sie, »eßt nur erst, so eilig ist's nicht!«

»Gelt«, sagte die Frau Rätin, »wieder neue Noten? – Da wirst du schon ein paar Mark herausrücken müssen, May.«

»Ein paar Mark?« wiederholte Änne, und etwas wie 120 Erschrecken überkam sie. Sie war doch im Begriff, furchtbar viel zu fordern.

»Warum ißt du denn nicht?« fragte die Mutter.

»Sei nicht böse, Mama, ich kann nicht!« bat sie.

»Du siehst ganz aufgeregt aus – ist's denn so was Wichtiges?«

»Ja«, gab sie tonlos zurück.

Die einfache Mahlzeit war bald beendet. »Na, dann schütte dein Herz aus«, sagte der Medizinalrat freundlich.

»Kann ich mit dir zuerst allein sprechen, Papa?«

»Das klingt ja schrecklich geheimnisvoll! Na, da komm mit!«

Änne folgte ihm, holte ihm Zigarrenetui und Spitze und strich das Zündhölzchen an. Als er die ersten Züge tat, trat sie vor ihn. Ihre zitternden Finger hatten sich ineinander gewunden, ihre vor Erregung weitgeöffneten Augen hefteten sich in die seinen. »Lieber Papa, ich wollte dich bitten – erlaube mir, daß ich mich zur Sängerin ausbilde.«

Er sah sie unangenehm überrascht an. »Mein Gott, du singst ja schon ganz nett«, murmelte er.

»Aber nicht so, wie es nötig wäre, um es berufsmäßig –?«

»Na, höre – berufsmäßig! Was ist denn das für ein Beruf? Du hast doch nicht etwa die Idee, zur Bühne gehen zu wollen?«

»Nicht eigentlich, Papa; ich möchte Konzert- und Kirchensängerin werden, und auch Lehrerin«, antwortete sie.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich möchte eine Lebensaufgabe, einen Beruf haben, Papa.«

»Gefällt's dir denn so gar nicht mehr bei uns?«

»Doch, Papa – ach doch! Aber ich bin so überflüssig, ich möchte hinaus, nützen möcht' ich, leben –«

»Du hast einen so schönen Lebenszweck von dir gestoßen.«

Sie preßte die Hände gegen die zuckenden Lippen. »Ich konnte nicht«, flüsterte sie, »gewiß nicht, Papa!«

»Und wie denkst du dir denn das eigentlich?«

»Ich müßte nach Berlin oder Dresden gehen und studieren.«

»Und woher soll ich das Geld nehmen für dieses teuere Studium?«

In diesem Augenblick trat Frau Rat ein, ihre Blicke flogen von Änne zu ihrem Mann. Sie sah, es ging um etwas Ernstes. »Na, was wird denn hier verhandelt?« fragte sie, neben ihren Gatten tretend.

Herr Rat räusperte sich. »Änne will Musik studieren in Dresden«, sagte er ruhig.

121 Frau Rat lachte kurz auf, dann wurde sie still unter dem Blick ihres Kindes.

»Ich bin nicht in der Lage, dir das Studium zu ermöglichen«, fuhr der Medizinalrat fort.

»Aber – Walther studiert doch auch, und Robert –« wandte Änne ein.

»Schwatz doch nicht solches Blech«, fuhr die Mutter sie an, »Walther ist ein Junge, und –«

»Und wenn ich nun ebenfalls ein Junge wäre«, unterbrach das Mädchen, »müßte ich dann auch hier sitzen, tatenlos, ohne Zweck und Ziel? Wäre dann auch nichts für mich da?«

»Du bist aber eben kein Junge, damit beruhige dich!« rief die Rätin streng. »Sei doch froh, daß du deine Eltern noch hast und nicht hinaus brauchst in die Fremde!«

»Ich soll nichts tun, nichts lernen?«

»Nichts tun? Genug ist zu tun, Kochen, Flicken, Staub wischen, deine Mutter pflegen –«

»Aber Mama, dazu seid ihr schon drei mit dem Mädchen! Es ist ja ein furchtbares Faulenzerleben, zu dem ihr mich verdammt!«

»Die meisten Mädchen leben bis zu ihrer Hochzeit so. Du bist auf der Welt zum Nutzen, zur Freude deiner Eltern, und um später die Frau eines braven Mannes zu werden – basta! Nun red' nicht mehr davon!«

»Nützen tu' ich nichts, und freuen könnt ihr euch doch nur, wenn ich glücklich und froh bin«, wendete Änne ein, »und das kann ich nur sein, wenn ich frische, mir zusagende Arbeit habe, und Mama – verheiraten werde ich mich nie!«

Frau Rat öffnete bereits den Mund zu einer neuen gereizten Antwort. Der Zorn flackerte ihr rot über das Gesicht, der Rat aber wehrte ihr, indem er ihr leise die Hand auf die Schulter legte. »Kind«, sagte er, »wir wollen das Gespräch nicht fortsetzen, es wär' verlorene Mühe – ich habe die Mittel nicht.«

»Dann muß ich sehen, wie ich allein durchkomme« erklärte sie finster und wandte sich zum Gehen.

»Änne!« rief die Rätin, außer sich über den Trotz des Mädchens, und hielt sie am Ärmel fest, »bist du denn ganz von Gott verlassen? Wer hat dir nur so verrückte Ideen in den Kopf gesetzt?«

Sie machte sich ruhig los, nur einen großen, schmerzlichen Blick gönnte sie der erregten Frau. »Laß doch, Mama, ihr könnt oder wollt mich nicht verstehen. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch hier zu tun hätte.«

122 »Woher soll denn dein Vater das Geld nehmen?« schrie ganz außer sich die Mutter, »hast du denn gar keine Einsicht?«

»Doch! Ich verstehe es – da ich nur ein Mädchen bin, habe ich kein Recht, etwas zu fordern, hieße ich Kunz oder Hans, so wäre es da«, antwortete sie. »Ich will mich bemühen, mit dieser hergebrachten Ungerechtigkeit fertig zu werden.«

Sie ging hinaus, setzte sich in der sogenannten »guten Stube« ans Fenster und lächelte bitter vor sich hin. Die Flittergoldfahne des Tannenbaumes inmitten der Tafel rauschte leise, süßer harziger Weihnachtsduft umwehte sie. Sonst war dies alles so reizend, so traut gewesen, hatte sie sich denn nur allein verwandelt? Sie strich sich über die Stirn. Nein, sie konnte so nicht weiter leben, denn sie war nicht mehr das harmlose Kind früherer Tage. Hier in Breitenfels bleiben, bedeutete für sie das Absterben aller Lebenskraft. Das Dasein drückte mit Bleigewichten auf sie. Die erregte Stimme der Mutter drang ein paarmal bis hier herüber – hatte sie ihren Eltern wirklich so weh getan mit dem Wunsch, ihr Talent auszunutzen?

Sie hatte gewußt, daß sie gegen die herkömmlichen Ansichten verstieß, denen zufolge die Tochter still im Hause sitzen muß, wartend, bis irgendein Mann kommt, der sie begehrt. »Es ist geradezu entwürdigend«, flüsterte sie. Und ihretwegen mochten zwanzig kommen, sie würde doch keinen lieben können, denn den einen würde sie nie vergessen – nie!

Sie wollte an die Herzogin schreiben, sie um eine Unterstützung bitten. Wie viele studieren von solchen Stipendien! Ob sie es aber geben würde, die alte Dame? »Morgen gehe ich zur Frau von Gruber«, entschied sie, »und melde mich zur Audienz.«

Drüben schlug heftig eine Tür. Frau Rat kam durch den Flur und trat ins Zimmer, heiß geweint, dunkelrot. Als sie die Tochter so still dasitzen sah, wendete sie sich kurz ab und ging wieder hinaus. Ihre Tritte verloren sich in der Küche. »Undankbares Geschöpf!« hatte sie beim Weggehen vor sich hin gemurmelt.

Änne blieb allein mit ihrem bitteren Lächeln. Nach einer Stunde etwa erschien Tante Emilie. Ihr altes gutes Gesicht leuchtete wehmütig durch die sinkende Dämmerung.

Das Mädchen erhob sich. »Hier, Tante!«

»Komme doch noch mal herüber zu deinem Papa!«

Sie ging mit der alten Dame hinüber.

»Wir haben noch weiter überlegt«, begann der Medizinalrat, 123 »und ich will dir gern zugestehen, daß dir nach den jüngsten Ereignissen eine Veränderung wünschenswert sein muß. Anderseits glaube ich, daß du, wie hundert andere Menschen, das Gute erst schätzen lernen wirst, wenn du es verloren hast. Du weißt offenbar nicht, wie gut es dir geht, wie geschützt, wie gehegt und geliebt du bist –« Er hielt inne, er war so bewegt, daß er nicht weiter reden konnte.

»Papa«, flüsterte sie an seiner Schulter, »ich weiß ja alles, ich bin euch so dankbar – –. Wenn ihr alt und kränklich wäret, ich wiche keinen Schritt von euch, aber ihr seid verhältnismäßig jung und rüstig – soll ich denn meine Kräfte so ungenutzt lassen? Und wenn ich sie nie geübt habe und nie gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, wie soll es dereinst werden, wenn ihr von mir geht? Du kannst mir nichts hinterlassen, sagst du – soll ich als schwere Last die Schultern meiner Brüder drücken? Und abgesehen von allem, gönnt mir doch auch das beglückende Gefühl, mein Talent zu verwerten, mein Leben auf meine Weise zu gestalten!«

»Das klingt alles sehr schön in der Theorie, die Praxis ist anders, Kind! Du kennst das Leben nicht, du versprichst dir goldene Berge und wirst nichts als Mühe und Hindernisse finden.«

Sie reckte ihre schlanke junge Gestalt. »Ich habe Kräfte, Papa.«

»Du wirst mit gebrochenen Flügeln heimkehren, aber – wie du willst!«

»Ja?« schrie sie.

Er wehrte ihrer Umarmung. »Ich will nicht die Vorwürfe dereinst hören, du habest dein Leben verfehlt. Also, ich gebe dir ungern, sehr ungern meine Einwilligung, eine Probe da draußen mit deinem Talent zu machen. Und weiter kann ich dir nichts geben als das Versprechen, daß, wenn du müde und enttäuscht heimkehrst, du hier immer die alte Liebe und Treue finden sollst.«

Änne stand ganz verständnislos, die Arme waren ihr heruntergesunken. »Ich danke dir«, murmelte sie, »es ist schon sehr viel, deine Erlaubnis, Papa, zu dieser Probe und die Versicherung, daß ich jederzeit wiederkommen darf – aber davon –«

Da trippelte Tante Emilie zu ihr heran. »Ich hab' dem Vater gesagt«, begann sie verschämt, »ob ich in Dresden oder hier meine paar Groschen verzehre, 's ist ja gleich und – allein kannst du doch nicht –. Für die Stunden – na, mein Gott, wie lang' werd' ich denn noch leben? – Die kleine Hypothek 124 in Königsberg, die kündige ich, das wird ja wohl langen.«

Das Mädchen lag plötzlich schluchzend der alten Frau an der Brust. »Ach, du – du!« rief sie.

»Geh zur Mutter, sag ihr ein gutes Wort! Meinst du nicht, daß es ihr ans Herz greift, wenn ein Kind sich losreißen will von ihr?«

Und Änne taumelte hinaus und fand die Mutter auf ihrem Bett sitzend in sich zusammengesunken, mit zornigen Augen.

»Hast's durchgesetzt?« fragte sie.

»Mama« rief Änne niederkniend, »sage doch nur ein gutes Wort – du weißt ja nicht, ach, du weißt ja gar nicht –«

»Was ist denn da zu sagen? Anstatt daß ich dich als glückliche Frau sehe, willst du umherziehen und die Leute amüsieren! Und anstatt der Enkel – na, bringst du, wenn's Glück gut ist, mir einen verwelkten Lorbeerkranz mit ins Haus!«

»Aber – die Brüder, wenn die heiraten, dann –«

»Ach, das sind keine Tochterkinder – Tochterkinder sind die richtigen Enkel! Und wenn man alt und wacklig wird und vielleicht Witwe, dann ist's mir nicht vergönnt, eine Zuflucht in deinem Hause zu finden, kann deine Kinder nicht auf den Schoß nehmen, sondern werde von Fremden herumgestoßen, und es ist noch eine große Gnade Gottes, wenn du Zeit findest, bei meinem Begräbnis zu sein!«

»Aber Mama«, sagte Änne, »jeden Augenblick, wenn du mich brauchst, bin ich da.«

»Ich seh' 's schon! Wenn eine selbst nicht weiß, wie's einer Mutter ums Herz ist, dann fehlt die rechte Liebe! Und das ist meine einzige Tochter!«

Änne stand auf. Sie kannte die wenig logischen Anschauungen der grundguten, aber heftigen Frau. Sie streichelte ihr leise über das Haar, wie sie früher getan, und legte ihre Stirn gegen die der Mutter. »Komm«, bat sie, »sei lieb zu mir, es tut dir sonst schrecklich leid, wenn ich fort bin.«

Da brach die Frau in Tränen aus und hielt ihr Kind auf dem Schoß. »Wenn die Emilie nicht mitginge, es wäre mein Tod!« schluchzte sie. »Und nun laß mich allein und sage dem Vater, er soll zu mir kommen – ich mag jetzt mit keinem andern Menschen reden!«


Änne umarmte noch einmal Tante Emilie, dann schlich sie leise aus dem Haus. Es zog sie zu Fräulein Hochleitner. Als sie – des hohen Schnees wegen mußte sie durch die Stadt gehen – die Hauptstraße hinunterschritt, die todeseinsam und 125 verschlafen wie immer lag, kam ein Schlitten mit hellem Schellengeläute hinter ihr drein. Es war schon Zwielicht, aber Ännes erschreckte junge Augen sahen deutlich, ach, so deutlich! – Sie wich zur Seite, da jagten die herrlichen Rappen an ihr vorüber, vom Kutscher in russischer Pelztracht gelenkt, und rissen das zierliche Gefährt ungestüm mit sich.

Änne stand regungslos. – Neben der dichtverschleierten Frauengestalt im grauen Mantel mit riesigem weißen Pelzkragen saß Heinz Kerkow. Das junge Paar flog vereint in die Welt hinaus. Ihr war es, als habe der Mann sich vorgebeugt, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich dastehe. Aber er grüßte nicht.

Nun fuhren sie nach der Bahnstation, und Änne ging weiter, den Kopf gesenkt, als trüge sie plötzlich eine schwere Last auf den Schultern. Was sie noch eben aufrecht und stolz dahingehen ließ, der Sieg, den sie über die Vorurteile der Eltern errungen hatte, die beglückende Zuversicht, nur sich selbst dereinst eine Stellung im Leben zu verdanken, fiel von ihr ab angesichts des geliebten Mannes, der im engen Schlitten mit ihr seinem Glücke entgegenfuhr – unendlich selig, wie Änne meinte. Ein starker, brennender Schmerz, eine heftige Eifersucht überfielen sie. Heute nachmittag hatte sie nicht so gefühlt, als sie die beiden vor dem Altar gesehen hatte, jetzt aber, da das Gefährt mit ihnen in den herabsinkenden Dunst und Nebel des Winterabends hineinfuhr, schüttelte es sie förmlich.

Das war ja doch das einzige, das wahre Glück, was dort vor ihren Augen entschwand, alles andere lohnte nicht, war nicht des Lebens wert. Wozu denn lernen – wozu überhaupt weiterleben? Sie verspürte plötzlich Lust, in den verschneiten Wald hineinzulaufen, sich dort unter irgendeinem Baum niederzuhocken, um im Frost und Schnee einzuschlafen und nie wieder zu erwachen.

Schwerfällig wandte sie sich um und schlug die Richtung nach dem Schloßpark ein, sie mochte selbst Fräulein Hochleitner nicht sehen. Aber sie kam nur bis zum Eingang des Parkes, da rief eine helle wohlbekannte Stimme ihr nach: »Is dös a recht, mi so wart'n z' lass'n? I lauf' hier herum wie a Eichkatzerl im Käfig und schau' nach Ihn'n aus, derweil hab'n S' net a mal d' Absicht g'habt, mit mir z' red'n? Na, aber sag'n S' g'schwind, was meinen die Herrn Eltern zu Ihr'm Plan?«

Fräulein Hochleitner in Mütze und Pelzmantel stand neben ihr, und unter dem Schleier lachten die braunen Augen erwartungsvoll.

126 »Brav hab'n S' g'sungen heut mittag«, fuhr sie fort, als Änne ihr stumm die Hand gab, »beinah hätt' i a bisserl g'want. – I hab' alles g'hört. Aber kommen S', Kind, geh'n wir a Stückerl weiter, damit die arme heisere Schannet von niemand g'seh'n wird. Herr Gott, war dös heut früh a Hetz, als i sag'n ließ, i sei heiser wie a alt's verschnupft's Werkl! Und die kleine Friedrich hat gelacht, rein auseinander sin wir g'wes'n vor Vergnüg'n. Die Friedrich ham s' gesucht wie a Naderl und derweil hat's in meiner Schlafstub' g'sess'n und an Eierpunsch trunk'n, und i hab' endli mit Müh' und Not krächzt: ›Die Fräul'n May singt doch a ganz rechtschaff'n, frag'n S' halt bei der an.‹ Na, und wie wir glaubt ham, alles is in der Kirch', da san mir zwa a hingang'n, ganz in a Eckerl druckt, ham ma zug'hört. Brav war's, schön war's, Fräul'n Änne, gratulier' Ihn'n herzli.«

Änne dankte kleinlaut.

»Na, und 's Vatterl und Mutterl, und die Frau Tant'?«

»Sie haben mir erlaubt, einen Versuch zu machen. Nach Neujahr gehe ich nach Dresden. Fräulein Hochleitner – ich wollte auch eben zu Ihnen, um zu danken, aber ich war so traurig!«

»Man hat Ihn'n 's Herzerl halt schwer g'macht, dös kenn' i alles, anders tun's die Alten net, und dös will überwund'n sein. Sind aber ganz gesunde Schmerz'n, man kann halt net ewig am Rock vom Mutterl häng'n.«

Sie gingen in der breiten Allee längs des Schloßteiches dahin. Öde und dunkel war's ringsum, ein kalter Wind trieb ihnen entgegen und kräuselte die dünne Wasserschicht des Teiches, die das Tauwetter über dem Eise geschaffen hatte.

»Dös is nichts für mein' Heiserkeit«. lachte Fräulein Hochleitner, »dreh'n ma um und suchen a geschützte Stell', wo wir Abschied nehm'n können. Morgen mittag geht's heim.«

Als sie sich wandten, lag hoch über ihnen das Schloß mit seinen erleuchteten Fensterreihen, die hochzeitsfestlich in die Dunkelheit strahlten. »Warum san S' so trauri?« fragte Jeanette Hochleitner endlich. »Sie überleg'n wohl, ob S' Heimweh bekomm'n wer'n drauß'n in Sachsen – nach Breitenfels? Oder lass'n S' gar was Lieb's z'rück hier – i mein' – – Sie versteh'n schon – etwas hoffnungslos Lieb's?«

Änne wandte den Kopf. »Aber ich bitte Sie«, sagte sie verletzt.

»I hab' g'meint, i hätt' so was aus Ihrer Stimm' g'hört«, fuhr die Sängerin fort. »Aber seh'n S', Fräul'n Annerl, für so Herzensg'schicht'n, da is die Kunst das beste Heilmittel, 127 unsere große herrliche Kunst! Ach, sich so recht alle Qual und alles Leid von der Seel' sing'n, dös is gut, dös is groß, macht leicht! Und glaub'n S' mir, die nur kann so recht sing'n, so daß die Herzen der Menschen erzittern und die Aug'n übergeh'n, die so a hamliche tiefe Herzenswund'n hat. Mein Lehrer in Wien, der hat oftmals zu mir g'sagt, wie i frisch von Innsbruck hinkommen bin mit mei'm dummen unschuldigen Kinderg'müt, ›Schani‹, hat er g'sagt, ›ich wollt', Sie verliebten sich mal so recht unglückli, daß S' glei meinen, am best'n wär's in der Donau drunt'n, dann sollt'n S' mal seh'n, was S' mach'n könnt'n mit Ihrer Mordsstimm'; jetzt sing'n S' halt allweil z' kalt, 's g'friert a'm orndli.‹ – – Na, dös is denn a net ausblieb'n, und grad da is er dann z'fried'n g'wes'n, wie i g'meint hab', i könnt' halt vor Tränen kan Ton aus der Kehl' würgen. Und wie i auftret'n bin, is so blieb'n. Wenn mir am wehsten ums Herz is, da kann i am best'n sing'n, und da is 's Publikum am bravsten, ach – und dös tut wohl, wenn s' klatsch'n und ruf'n, dös is a Hochgefühl! Werden's a erleb'n!

Aber«, fuhr sie fort, »Sie müss'n mi net falsch versteh'n, Fräul'n Annerl. Seiner Trauer, sein'm Gram darf ma net z' viel nachgeb'n – die Kunst ist a eifersüchtig's Weiberl, die will uns ganz, die verlangt d'n Menschen mit Haut und Haar, sonst rächt sie sich. 's is a ernste Sach' um d' Kunst, auch auf'm Theater, und was dem liab'n Publikum drunt'n so leicht und natürli vorkommt, is oft recht schwer und muß durch viel Fleiß und Studier'n errung'n werd'n trotz allem Talent. Und nun nichts für ungut! Net wahr? I mein's von Herzen gut, und es war mir a Freud', Sie kenneng'lernt z' hab'n, und i hoff', wir seh'n uns no mal wieder im spätern Leb'n, i hoff's sicher. Und wenn von Ihn'n d' erste glänzende Kritik in die Blätter steht, da gibt's halt keine, die sich mehr freut als i. Und nun leb'n S' wohl, lieb's Annerl, ham S' Dank für jede Freundlichkeit, die S' mir erwies'n hab'n.«

Sie zog das Mädchen an sich und küßte es herzlich. »Viel Glück – und wenn S' amal Zeit ham, schreib'n S' an mi von Dresden aus. B'hüt' Ihn'n Gott!«

Änne stand plötzlich am Ausgange des Schloßgartens allein in der Dunkelheit. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht, sie fühlte sich zum Sterben unglücklich. Sie hatte nicht die Spur von Mut in diesem Augenblick, und wenn jetzt die Mutter ihr an der Schwelle des Hauses entgegentreten und sagen würde: »Bleib doch bei mir, Kind, was willst du denn draußen? Die Welt ist öde und weit, und wir haben dich lieb«, sie würde mit einem Aufschrei der Erlösung an ihre Brust 128 sinken und rufen: »Ja! ja! ich bleibe, ich habe Angst vor dem unbekannten Leben!«

Langsam ging sie auf dem Wege hin, dann beschleunigte sie plötzlich ihre Schritte – hinter ihr erklang Gelächter, Säbelklirren, Sprechen. Es schien ein ganzer Trupp Offiziere zu sein, die von dem Hochzeitsdiner kamen. Sie schritt rascher vorwärts, konnte es aber nicht verhindern, daß ein Teil des Gespräches in ihre Ohren drang.

»Was soll man nun um Gottes willen anfangen den langen Abend in diesem Wurstnest?« fragte einer.

»Wenn wenigstens ein Theater wäre«, meinte ein anderer.

»Ja, Donnerwetter«, näselte eine hohe Stimme, »laden wir doch die Damen ein, die Hochleitner und die kleine Friedrich.«

»Dann schlage ich vor, Selden, daß du dem Fräulein Hochleitner die Einladung überbringst.«

»Warum denn?«

»Weil du trotz deiner engen Lackstiefel die Treppe verdammt geschwind wieder herunterkommen würdest – die versteht keinen Spaß!«

»Na, denn nicht, dann einen Skat –«

»Und ein Glas Punsch –«

»Trinken wir auf das Wohl der schönen jungen Frau!«

»Boshafter Mensch!«

»Nee, dieser Kerkow!« begann ein anderer, »'s ist rein unbegreiflich – der Kerl muß vor lauter Langerweile auf diese Kateridee gekommen sein. Übrigens, wer war das hübsche Mädchen, die ihn ins Elend hineingesungen hat?«

»Das ist die Tochter vom Leibarzt. Hübsch, was?«

»Aber keinen Dreier«, kam es gelassen von den Lippen eines andern, »sonst hätte der Kerkow heute nicht die Geschmacklosigkeit verbrochen! Ich weiß ja nicht, ob's wahr ist, man sagt aber – –«

Das andere verhallte undeutlich, denn Änne eilte, vom Weg abbiegend, wie gejagt durch den tiefen Schnee des Platzes zu ihrer väterlichen Wohnung hinüber. An der Treppe, die zur Haustür emporführte, blieb sie tief atmend stehen, den Kopf stolz in den Nacken gebogen, und in den Augen funkelten zornig ein paar Tränen. Es war die höchste Zeit, daß sie hinausging aus Breitenfels, um sich selbst wiederzufinden in heißer, treuer Arbeit, in begeistertem Streben. Sie wollte beweisen, daß ein Mädchen, auch ohne einen Dreier zu besitzen, noch etwas gelten kann in der Welt. – In diesem Augenblick wollte sie eine Patti werden!

Sie trat in den Hausflur; Tante Emilie schien gewartet 129 zu haben. Sie machte ein Zeichen, daß Änne leise reden solle, und flüsterte ihr zu: »Sprich nicht mehr heute abend mit der Mutter, sie hat sich zu Bett gelegt und trinkt Baldriantee, und Vater ist eben zur Herzogin gerufen worden. es soll ihr nicht gut gehen.«

»Und die Brüder?«

»Sind noch nicht daheim, Kind. Wollt' auch, sie kämen noch nicht, denn, siehst du, da hat's auch gestern was gegeben.«

Sie waren flüsternd in die Eßstube getreten, wo der Tisch gedeckt stand mit ein paar einfachen kalten Schüsseln. Tante Emilie kam dem Mädchen ganz nahe. »Der Große« – das war der Leutnant – »hat Schulden!« wisperte sie.

Änne erschrak; und sie war auch noch gekommen mit ihren Forderungen!

»Ich habe sonst immer ausgeholfen«, flüsterte die alte treue Seele weiter, »aber diesmal ging's doch nicht. Ich wußte ja bestimmt, daß du von hier fort wolltest, und hatte mir gleich vorgenommen – da gehst du mit, da hilfst du ihr, wenn sie dich auch nicht mehr liebhat und gar nichts mehr von dir wissen wollte in der letzten Zeit!«

Sie konnte nicht weiter sprechen, denn des Mädchens Mund preßte sich fest auf ihre Lippen – eine wortlose Bitte um Verzeihung.


In dem Salon der Frau von Gruber gab es nach Beendigung der Hochzeitsfeier eine Szene. Die alte Dame war von Hedwigs Eröffnung, bei dem Oberförster da drunten, unter ihren, der Frau von Gruber, Augen und in allernächster Nähe des Bruders, als Hausfräulein einzutreten, aufs höchste erbittert.

»Auf keinen Fall gebe ich das zu«, sagte sie, nachdem sie einige sanfte, ihrer Würde entsprechende Vorstellungen gemacht hatte, und trat mit dem Fuße auf, da sie wohl einsah, daß sie mit Güte nicht durchdrang.

»Aber, Tante, ich bin doch mein eigener Herr«, antwortete Hedwig von Kerkow, nunmehr auch erbittert.

»Spiele du diesen ›eigenen Herrn‹, wo du willst, hier aber nicht, ich verbitte es mir!« rief die alte Dame, von ihrem Sessel aufspringend und mit ihrer moirée antique-Schleppe durch das Zimmer rauschend – sie war noch in festlicher Toilette. »Hörst du, ich verbiete es dir!«

»Tante«, war die bestimmte Antwort, »wenn Heinz damit einverstanden ist, so kannst du doch wahrhaftig – –«

130 »Heinz kann nicht ja dazu gesagt haben, das glaube ich dir nicht!«

»Liebe Tante, dazu kann ich dich nicht zwingen – jedenfalls ist es so, ich lüge nie.«

»Was soll Ihre Durchlaucht denken, wenn sie erfährt, daß die Schwester höchstihres Hofmarschalls – Wirtschafterin bei dem Oberförster Günther geworden ist?«

»Ich halte Durchlaucht für eine sehr vorurteilsfreie Dame.«

»Für eine Frau mit enormem Feingefühl, wäre richtiger.«

»Aber, was geht sie denn meine Existenz an? Barmherzigkeit!« rief das Mädchen verzweifelt.

»Du hättest bleiben sollen, wo du warst, bei deiner Porzellanmalerei.«

»Aber ich fühle, daß das unmöglich ist – sie hätte mich tot gemacht, diese liebeleere, trostlose Einsamkeit. Und ich weiß, für Heinz ist es eine große Beruhigung, mich in der Nähe zu wissen.«

»Heinz ist ein – –« – Frau von Gruber verschluckte das Wort – »wenn er so naiv ist, das in Ordnung zu finden! Und was wird Toni dazu sagen?«

»Was geht mich Toni an?« rief Hedwig. »Ich will nichts von ihr und sie nichts von mir! Ich werde weder dir noch ihr jemals mit meiner Gegenwart lästig fallen, und wenn ich Heinz einmal sehen will, so hat er ja sein eigenes Zimmer. Und wenn ich ihn auch wochenlang nicht sehen kann, ich habe doch wenigstens das Bewußtsein: einer, der dir nahe steht, weilt in deiner Nähe, und wenn du mal ganz verzweifelt bist, dann hat er doch vielleicht ein paar freundliche Worte für dich übrig – ich meine, das kann mir doch wahrhaftig nicht verargt werden!«

»Von Stolz und Standesbewußtsein besitzest du keine Spur!« rief Frau von Gruber, sie unterbrechend.

»Ach Gott, in meiner Lage – das verlernt man« kam es leise von Hedwigs Lippen, und sie lachte kurz auf, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Das ist sehr schlimm! In allen Lagen soll man sich seiner Abkunft bewußt bleiben.«

»Das gedenke ich zu tun, Tante. Übrigens, Ottilie war ja auch in einer Stellung wie die, die ich bei Günther innehaben werde«

»Da war eine Frau im Hause!«

»Ach so!« Hedwig lächelte wieder. Es war ein trübes Lächeln, und sie warf einen Blick zu dem Spiegel hinüber auf ihr bleiches, verweintes Gesicht, ihre überschlanke Gestalt. »Darf ich morgen früh dir noch adieu sagen, Tante?« fragte sie dann, 131 als ob es nicht der Mühe wert sei, auf den Einwurf zu antworten.

»Wenn du darauf bestehst, diesen Plan auszuführen – lieber nicht«, lautete die kurze Erwiderung.

Hede Kerkow war noch in dem einfachen weißen Kaschmirkleide, das sie zu der Festlichkeit getragen hatte, die ihr zur Pein geworden war durch die Länge und die höfische Etikette. Sie kannte niemand und niemand hatte von ihr Notiz genommen außer den zwei Tischherren, dem Superintendenten und einem alten Onkel Ribbeneck. Letzterer war völlig taub, und der Superintendent unterhielt sich fast nur mit der Dame zu seiner Rechten. Als Heinz sich mit seiner jungen Frau zurückgezogen hatte, war es ihr gewesen, als sei die Sonne untergegangen. Dann hatte sie gehofft, noch ein trauliches Plauderstündchen bei Tante Gruber zu verleben, mit der sie über ihre Zukunft ausführlich sprechen wollte – da kam der Sturm, die völlige Ungnade.

»Wenn du so denkst, Tante, dann kann ich ja heute abend noch –« fügte sie hinzu.

»Genier dich nicht!« klang es aus der Kaminecke, hart, verletzend.

Hede Kerkow drehte sich auf den Hacken um. »Adieu, Tante!«

Sie erhielt keine Antwort. In ihrem Zimmer warf sie voller Hast eine Menge Sachen durcheinander in den Reisekorb und verschloß ihn. Dann lief sie durch den Schnee nach der Oberförsterei.

Günther war nicht daheim, er ahnte nichts von dem Ereignis, das sich während seiner Abwesenheit in seinem Hause vollzog. Er war in der Dämmerung mit Seiner Hoheit nach Harterode hinaufgefahren. Der Herzog wollte die schneehelle Mondnacht auf dem Anstand verbringen, um einen Fuchs zu schießen, ein Vergnügen, das er sich jedes Jahr einmal zu leisten pflegte. Aber bevor noch der Mond kam, waren wieder dichte Schneewolken emporgezogen und hatten, dem Barometer zum Trotz, unseres Herrgotts Nachtlampe umschleiert. So hatte er den Plan aufgeben müssen und sehr schlecht gelaunt die Rückfahrt befohlen.

Im Schlosse trat der Adjutant hastig seinem Herrn mit einer leise gesprochenen Meldung entgegen. Günther stand, seiner Entlassung gewärtig, etwas zur Seite. Der Herzog verabschiedete ihn kurz und begab sich eilig, begleitet von dem Adjutanten, quer über den Schloßhof nach dem von der alten Herzogin bewohnten Flügel. Günther hörte noch, wie er fragte: 132 »Ist May bei ihr?« Am Ausgange des Schlosses begegnete er dem Rentmeister, der aus seiner Dienstwohnung neben der Oberförsterei heraufgehastet war.

»Wissen Sie, wie es steht, Herr Oberförster?« fragte der Mann ängstlich.

»Ich komme eben von Harterode zurück, weiß gar nichts – ist etwas passiert?«

»Die Herzogin soll der Schlag gerührt haben.«

»Ich weiß, wie gesagt, nichts – hoffentlich bewahrheitet sich die traurige Kunde nicht«, sagte Günther, und dann trennten sie sich mit einem Gruß. »Lieber Gott«, sprach er vor sich hin, »bei ihrem Alter – wär's ein Wunder?« Und er stieg langsam hinab zu seinem Heim.

Auf dem Schloßplatz lag frischer köstlicher Schnee wie eine eben erst gebreitete Decke. Nur eine einzige Spur lief quer darüber, die Füße hatten den Pfad verschmäht, der an den Seiten mit Hilfe des Schneepflugs hergerichtet war – mitten durch den tiefen Schnee war man gelaufen, direkt zur Oberförsterei. Fast gedankenlos blieb er stehen vor der Treppe, die zu seinem Hausflur emporführte, und starrte die schmalen, zierlichen Stapfen eines Frauenfußes an, als betrachte er droben im Walde die Spuren des Wildes in einer Neue. Sehr klein mußten sie sein, diese Füßchen, zierlich gestellt, kaum aufgesetzt, so flüchtig und leicht – und diese Spuren führten in sein Haus?

Allein, was ging ihn das an? Wer da gegangen war, ihm hatte der Besuch gewiß nicht gegolten! Er fühlte sich müde und einsam, er fror am Herzen und er fürchtete sich vor dem öden Heim, vor dem Lärm der tobenden, schlecht beaufsichtigten Kinder, die, seit Fräulein Stübken sein Haus verlassen hatte, wie die wilde Jagd dort hausten. Das sonst so brave Mädchen verstand nicht, mit ihnen fertig zu werden, und er sollte strafen, beschwichtigen! Und der Tisch war so liederlich hergerichtet, die Speisen schlecht bereitet – er konnte so nicht essen, er flüchtete sich verzweifelnd in sein Zimmer und nahm die Arbeit vor, seine Berichte und Rechnungen – um zu vergessen! Aber das Kältegefühl und die Einsamkeit waren meist stärker als die Lust zur Arbeit – ein jammervolles Leben!

Er stand während dieser trüben Gedanken noch immer da und starrte auf die Fußspuren. Endlich schritt er die Stufen hinan, dabei unwillkürlich die kleinen Stapfen schonend. Wie immer ging er, nachdem er die Büchse und Jagdtasche abgelegt, nach der Kinderstube. Unwillkürlich sah er, bevor er öffnete, nach der Uhr – es war neun vorüber. Sollten die Kinder 133 schon schlafen? Es war so merkwürdig still dort drinnen. Er öffnete und trat ein. – Auf dem Tische unter der alten Hängelampe mit der zersprungenen Glocke standen die geleerten Suppenteller der Kleinen, ein großes Brot, ein Restchen Butter. Alles still! Er wollte sich zurückziehen, da scholl ein Kinderlachen aus der halbgeöffneten Schlafstube, so ein recht jauchzendes, übermütiges Kichern, wie Finkenschlag im Frühlingswalde. Und gleich darauf vernahm er eine unendlich milde Frauenstimme: »Bösewicht du, wirst du wohl still sein? Ich gehe gleich wieder fort, wenn du nicht artig bist!«

»Nein! Nein! Nein!« riefen drei kleine Stimmen im Chor. »Sei still, Mariechen, sonst verhau' ich dich!« fügte die Älteste hinzu. »Nun faltet die Hände und betet, ermahnte die Frauenstimme, und sie sprach das alte Kinderverschen:

»Müde bin ich, geh' zur Ruh' –.«

Er war leise eingetreten, wie gewaltsam hingezogen. Da, im schwachen Schein des Nachtlichtes, kniete am Gitterbett der Jüngsten eine weiße Gestalt. Sie sah nicht den Späher, sie hatte die Hände über dem Bettchen verschlungen und den dunklen Kopf zu dem Kinde gesenkt.

Dem Manne an der Tür ward wunderlich zumute, er begriff noch nicht recht – die kleinen Fußstapfen draußen, das Mädchen im weißen Gewand, als ob der Weihnachtsengel eingetreten sei? Nur die Flügel fehlten, und die grobe blaue Schürze über dem lichten Kleid zeigte, daß sie nicht aus den engelhaften Sphären stammte.

»Amen!« sagte sie jetzt laut. »Nun schlaft brav, morgen lernen und spielen wir miteinander, gelt, das wird schön?«

Er trat jetzt mit ein paar Schritten näher, sie wandte sich und sah ihn an. »Fräulein von Kerkow?« fragte er lächelnd.

»Verzeihen Sie, Herr Oberförster, daß ich schon heute gekommen bin, es – es ging nicht anders.« Sie wurde erst jetzt verlegen unter den fragenden Blicken. »Ich bin so fortgeeilt, wie ich stand und ging«, stotterte sie, an ihrem Kleide niederblickend.

»Seien Sie herzlich willkommen, Fräulein von Kerkow. Ich fürchte nur, Ihr Zimmer wird noch nicht ganz in Ordnung sein.«

»Sorgen Sie darum nicht, ich sprach schon mit dem Mädchen.«

Er trat jetzt an die Bettchen der Kinder. »Gute Nacht«, sagte er und gab dem Buben einen Kuß, »ich hoffe, ihr seid immer brav und folgsam bei der neuen Tante.«

134 Ein einstimmiges »Ja, Papa!« scholl ihm entgegen, und die Älteste sagte altklug: »Fräulein, nun mußt du mit Papa essen gehen. Er ist immer sehr hungrig, wenn er von der Jagd kommt – gelt, Papa?«

Er nickte lächelnd. »Das wollen wir der Tante heute noch nicht zumuten – Sie werden abgespannt sein von dem Festtrubel und dem Schrecken zuletzt?«

Hedwig Kerkow sah ihn erstaunt an, sie standen jetzt draußen in der Wohnstube.

»Wann geschah denn das Unglück?« fragte er, »war denn Ihre Durchlaucht noch bei der Tafel zugegen?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Oberförster«, antwortete sie gepreßt.

»Ach, und ich glaubte – aber das konnte ja auch gar nicht mit Ihrem Früherkommen zusammenhängen: ja, wissen Sie denn nicht, daß die Frau Herzogin einen Schlaganfall hatte?«

»Nein«, sagte sie erschreckt. »Wann? Ich bin seit einer Stunde vielleicht hier –«

»Vor kurzem wohl – das Nähere weiß ich nicht. Es wurde Seiner Hoheit gemeldet, als wir vom Anstand zurückkamen.«

Das Dienstmädchen erschien jetzt mit einer Schüssel kalten Fleisches und Bratkartoffeln. Es zog ein verächtliches Gesicht, als sie die Dame im Gesellschaftskleid dastehen sah, mit der blauen Schürze darüber, die von ihr ausgeborgt war. Man mußte sie dort droben wohl Knall und Fall an die Luft gesetzt haben, anders konnte sich Karoline die Sache nicht erklären. Dem Herrn schien die Geschichte auch nicht geheuer, das sah man ja an seinem Gesicht; sie hatte wahrscheinlich ein paar Redensarten zu hören bekommen, denn sie sah mit gar so verängstigten Augen zu ihr herüber.

»Wollen Sie mir Gesellschaft leisten, Fräulein von Kerkow?« fragte er und wies auf den Stuhl neben sich. »Karoline, eine frische Serviette!«

Hedwig Kerkow setzte sich.

»Hier ist das Brotmesser«, sagte Karoline, »das vorige Fräulein hat immer das Brot geschnitten.«

Das Fräulein griff mit zitternder Hand nach dem Brote, sie wußte kaum, was sie tat. Die Herzogin einen Schlaganfall! Weiter konnte sie nicht denken.

»Wenn man das hohe Alter erwägt«, sprach der Oberförster, nachdem er ihr angeboten hatte und mit einer Gründlichkeit und Behaglichkeit zu essen begann wie seit langer Zeit nicht, »dann ist's ja leider nichts Unerwartetes –«

135 Das Mädchen hatte das Zimmer verlassen. Hede Kerkow saß und starrte auf ihren leeren Teller. Es war ihr unmöglich, etwas zu genießen. Ja, was sollte dann werden, wenn die Herzogin starb? Die Existenz ihres Bruders, ihrer Schwägerin, Tante – alles stand auf diesen zwei alten Augen.

Draußen tönte die Schelle, hastige Männertritte kamen über den Flur, ein lautes Pochen und der Rentmeister trat ein. »Steht schlecht droben, Günther«, sagte er, nach einer ungeschickten Verbeugung, »May gibt keine Hoffnung, der Anfall hat sich wiederholt. Der Herzog telegraphiert eben nach Nizza an seine Gemahlin und den Erbprinzen, die Herrschaften sollen sofort abreisen. Den Hofmarschall haben sie auch schon wieder am Schlafittchen«, fuhr er lächelnd fort. »Wenn er in Berlin eintrifft, liegt die Depesche schon im Hotel. ›Sofort zurück!‹ lautet sie.«

»Es würde für den schlimmsten Fall seine Anwesenheit sehr nötig sein«, meinte der Oberförster.

»Ihre Durchlaucht ist heute mittag noch ganz wohl gewesen«, fuhr der Rentmeister fort. »Als das Brautpaar aus der Kirche kam, ist es in dem Roten Zimmer von Ihrer Durchlaucht empfangen worden. Sie hat gesagt, es tue ihr leid, daß sie bei der Trauung nicht habe zugegen sein können, fühle sich jedoch nicht ganz frisch. Um sechs Uhr hat sie von ihrer Kammerfrau Tee verlangt, gegen ihre Gewohnheit, hat über Frost geklagt, um sieben hat sie nach dem Herzog gefragt, auch gegen ihre Gewohnheit, und um halb acht Uhr ist sie bewußtlos zusammengebrochen. Sie ist rechtsseitig getroffen, hat die Sprache verloren – ja, ja, Günther, da können wir wohl bestimmt für schwarzen Flor sorgen –«

Hedwig stand auf. »Herr Oberförster, ich – ich möchte wohl – nein«, unterbrach sie sich, »es wäre unnütz.«

»Wenn Sie glauben, Ihrer Frau Tante nützen zu können, ist es doch selbstverständlich, daß Sie hinaufgehen ins Schloß.«

Sie schüttelte den Kopf, gewaltsam zwang sie ihre Erregung nieder. »Ich danke, Herr Oberförster!«

»Fräulein!« rief Karoline herein, »Ihr Reisekorb ist da!«

»Bitte, Fräulein von Kerkow, gehen Sie ruhig in Ihr Zimmer, Sie werden Ihre Sachen zu ordnen haben – auf morgen früh denn«, redete der Oberförster ihr zu, der ihr verstörtes Wesen wohl bemerkte.

Sie grüßte stumm und verschwand. Der Rentmeister sah der Hinausschreitenden nach. »Das ist ja wohl dem Kerkow seine Schwester?« fragte er, ein spöttisches Zucken um die Mundwinkel. »Die Herrlichkeit hätte denn auch bald ein Ende 136 gehabt. Ein Hofmarschall ist nächstens überflüssig hier. Wenn er die Beisetzung angeordnet hat, kann er gehen.«

»Es ist hart für ihn. Pensionsberechtigt wird er nicht sein?«

»Gott bewahre! Hat ja kaum die Nase hineingesteckt.«

»Aber er hat seine Karriere drangegeben«, bemerkte der Oberförster.

»Warum hat er das getan! Das Risiko mußte er auf sich nehmen. – Da wird's hier übrigens recht ruhig werden in Breitenfels«, fuhr er fort und leerte das Glas Bier, das ihm der Oberförster eingegossen hatte. »Das Nest wird einschlafen und wir mit! Ja, ja, einmal kommt das Ende!« Mit diesem Gemeinplatz erhob er sich, schüttelte dem Oberförster die Hand und ging, um droben nachzuschauen. Olbers, der Kammerlakai, würde genau wissen, wie es stand.



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