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Viertes Buch
Die Stadt

Das märkische Berlin

Unter dem Asphalt der Straßenzüge Berlins lag am Ausgang der Periode Erde, hermetisch abgeschlossen, wie ein sterilisiertes Etwas unter dem Deckel der Konservenbüchse. Von Zeit zu Zeit kamen sie mit dem Erdbohrer und setzten ihn zwischen die Granitplatten des Bürgersteigs ein: dann stieg ein Gasgeruch auf.

Dort, wo sie die Kanalisation legten, war manchmal ein Blick durch den Bauzaun vergönnt. Man erspähte die Schichten des Alluvialbodens. Das war dieselbe Erde, in die sie ihre Toten betteten, und es waren nicht Schollen, die auf die Särge niederfielen, es war Sand, gelber Sand.

Aber schon wenn man den Torflügel des Hauses öffnete, änderte sich vielfach der Eindruck. Der Hof strafte die Straße Lügen. Er führte ein Eigenleben. Nicht sowohl der Hof des am Ende dieser Periode aufschießenden Mietshauses, der den Asphalt des Straßendamms weitertrug oder gegen Kachelbelag eintauschte und mit einem Rasenfleck und ein paar fremdartigen Ziersträuchern die Gartenwohnung vortäuschte, als vielmehr der Hof älterer Gebäude, der nichts als Hof sein wollte.

Im Stadtinnern fand sich vielfach noch der Hof des Biedermeierhauses. An der vorgebauten Galerie kletterte kräftiger Wein. Aller Ecken bot das alte Gebälk Unterstellmöglichkeiten, und sie waren ausgenutzt. Die Linde im Hofinnern hatte sich kräftig entwickelt, als griffen ihre Wurzeln nahrhafte Erde. Ueber den Simsen waren Kästen mit Kresse oder Petersilie aufgestellt. Auf einer Kiste saß hier ganz bodenständig und unscheu die Katze; ihr gehörte dieser alte Berliner Hof wie dem Hunde die Straße.

Höfe in Häusern aus dem Anfang dieser Periode waren bedingungslos dem Gewerbebetrieb anheimgefallen. Hier war Stallung für Pferde. Hier stand der Last- neben dem Umzugswagen. Hier hatte die Feldschmiede Platz gefunden. Dort lagerten Röhren. Hühner gackerten umher, an der Mauer hinten kümmerte Gesträuch. Der angekettete Bastardhund war Wächter, die Katze strich scheuer. Ueber den Hof tönte das Wiehern der Pferde. Irgendwie empfing man einen landschaftlichen Eindruck. Märkische Landschaft?

 

Was ist das: märkische Landschaft?

Die Ebene, leicht gewellt, selten zu Hügeln anschwellend. Felder, Dörfer, Kiefernwaldungen und – der Flußlauf. Diese Landschaft bleibt tagsüber beinahe stumm, oder sie schläfert in lustlose Rhythmik ein.

Sie erwacht zu nächtlicher Stunde zu etwas Seltsamem, Großem. Aus der Ebene tritt nur noch die freistehende, die astverkrampfte, die gebieterische Kiefer hervor, ein Gigantisches, Tot-Lebendiges. Hinter ihr scharen sich, die Senkungen ausfüllend, die Hügel erkletternd, die dicht gedrängten Kiefern, die Namenlosen, das Heer. In dieser nächtlichen märkischen Landschaft ist immer Heerzug, der Herzog steht voran, ein Lebend-Toter. Noch immer werden hier nächtens die alten Wendenkriege ausgefochten. Wie eine Straße des Todes dunkelt der Fluß.

Aber man kehrt bei hellem Sonnenlicht zu dieser freistehenden Kiefer zurück, und sie scheint nicht mehr feindlich. Mit gekrümmten und gespannten Wurzelgliedern hat sie sich an den Abhang angeklammert, ihr Wachstum war wohl ein Niederringen der Nachbarbestände; immer wieder schob und drehte und verrenkte sie sich lichtwärts – ein Ebenbild märkischer Bevölkerung: zäh und arbeitstüchtig, genügsam und trotzig, kümmerlich und stark.

Es war recht eigentlich der Fluß, der die Landschaft in die Stadt hineintrug, und es mag damit zusammenhängen, daß man einen ausgesprochen märkischen Teil der Bevölkerung mit Sicherheit an den Flußufern antraf. Sei es, daß sie hier als Ablader ihre Arbeit gefunden hatten, sei es, daß sie herumlungerten. Inmitten der Fremdstadt mögen sich die aus der nahen Provinz Zugewanderten hier heimischer gefühlt haben. Wie in weit zurückliegenden Zeiten die Flüsse wandernden Haufen zu Wegweisern wurden –: der Fluß hat auch in diesen wandlungsreichen Jahrzehnten seine sammelnde und führende Kraft bewährt.

Recht eigentlich der Märker in Berlin war der Kutscher geblieben. Nicht etwa der herrschaftliche, sondern der Führer des Lastwagens und der Droschke, Leute, deren märkisch-berlinisches Schimpfwort gefürchtet war. Leute auch, denen an ihren Sammel- und Einkehrplätzen bemerkenswerte Kellerkneipen zur Verfügung standen, in denen man ein märkisches Gericht zuzubereiten und zu schätzen wußte. Dort, wo sie ihre Stallung hatten, war immer ein Fleck märkischer Erde. Mit den Spatzen pflogen sie griesgrämig Freundschaft. Es war, als wären sie mit ihrem Pferd aus der ländlichen Umgebung in die Stadt gekommen und aus Schwerfälligkeit bei ihm geblieben.

Der märkische Berliner war aber auch Maurer und Gärtner, und es fällt auf, daß gerade Berufe, die sich mittelbar oder unmittelbar dem Boden zuwenden, die einheimische Bevölkerung an sich zogen. Wie der Fluß, übte offenbar die Erde eine dem modernen Menschen nicht mehr fühlbare, im Unbewußten aber um so bindendere Kraft. Auch der Pförtner des herrschaftlichen Hauses, in seinem Renaissancepalast gewöhnlich der einzig Seßhafte, war vielfach Märker. Und jene Schöneberger Bauern, die durch den Verkauf ihrer Aecker eben damals, als Berlin den großen Aufschwung nahm, zu Reichtum gelangten, lebten in ihren Nachkommen, seßhaften Pfahlbürgern, fort.

Alluvialboden, und es ist anzunehmen, daß der Prozentsatz märkischer Bevölkerung in dieser Zeit, da die entlegene Residenz zu einer Weltstadt anschwoll, im Ausmaß zu der Gesamteinwohnerzahl recht gering geworden sei. Nur ist zu erwägen: wem ist es für sein eigen Teil und seine Nachkommen gegeben, sich inmitten hart reibenden Bevölkerungswechsels, anflutenden Zuflusses, abgedrängter Abwanderung, auf diesem märkischen Großstadtboden dauernd zu behaupten? Eine Frage, die in gleicher Weise auf die körperliche Konstitution wie auf die gerade hier geforderte Arbeitsleistung geht.

Nicht unwahrscheinlich, daß sich die märkische Familie doch am ehesten auf diesem Asphaltboden, unter dem die märkische Erde schläft und – wacht, behauptet hat.

 

Theodor Fontane ist in einem Aufsatz »Die Märker und das Berlinertum« der Frage nachgegangen, wie viel märkische Ingredienzien das berlinische Wesen bestimmt haben mögen.

Er spürt den Quellen dessen, was ihm das Berlinertum geistig und seelisch ausmacht, nach, und findet einen Ursprung in jenem Tabakskollegium, das Friedrich Wilhelm I. mit seinen Getreuen (selbstverständlich Adligen) abzuhalten pflegte, eine Kumpanei, in der Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit geschätzt wurde, und die, wesentlich verfeinert, in der Hofgesellschaft Friedrichs des Großen – der geistig nun ein Voltaire präsidierte – Fortsetzung fand und Boden gewann. Es waren aber auch – Fontane weist mit Recht darauf hin – die gealterten und dienstentlassenen friderizianischen Grenadiere, die, im niedern Bürgertum seßhaft geworden, ihrem Mißvergnügen, Besserwissen, ihrer ruppigen Kritik an all und jedem bei vorhandener wie bei fehlender Gelegenheit boshaften Ausdruck gaben und auf die man hörte und denen man es nachtat, als Leuten, die sich vielfach besserer Herkunft rühmen konnten, in der Welt herumgekommen waren, sich mit Tod und Teufel herumgeschlagen hatten, und dieserhalb wohl Bescheid wissen mußten. Folgt der Einfluß des emanzipierten Judentums zu Beginn der Schinkelzeit – Fontane setzt als Wegmarke Lessings »Nathan den Weisen« – und damit Zuschuß neuen kritischen Geistes. Friedrich Wilhelms III. sehr bürgerliche Persönlichkeit, die Neigung des Herrscherhauses zu berlinischer Witzelei, das gute Einvernehmen der Offizierskasinos mit den Verfassern und Darstellern der Berliner Possen im damaligen Königstädtischen Theater habe dann ein Letztes und Uebriges dazugetan. Tiefergehende, oder nur irgendwie in Rechnung zu setzende Einwirkung der französischen Kolonisten glaubt Fontane in Abrede stellen zu müssen.

Besteht der Geist des Berlinertums in Uebermut und Selbstironie, Spottsucht und Gutmütigkeit, Kritik und Sentimentalität, wie Fontane ihn hier festlegt, so ist beizustimmen, Fontane habe die wesentlichen Quellen aufgedeckt. Er besteht aber in noch etwas anderem. In Arbeit.

In einer sehr eigentümlichen Abart von Arbeit, und das hat gerade die Periode Fontanes, die Bismarckzeit, gezeigt.

Man war bereits in Vergegenwärtigung dieser Zeitspanne dem Geheimrat begegnet, der sich zu gemessener Frühstunde in sein Amt begibt, den Kollegen antrifft und ihn zunächst und mit Nachdruck versichert, daß er vergangene Nacht wieder bis zwei Uhr über seinen Akten gesessen habe. Nicht anders der Richter; ganz so und mit Nachdruck der Generalstäbler: sie alle rühmen sich des Vollmaßes geleisteter Arbeit und tun's zu Recht. Der Großkaufmann in dieser Zeit hält es für dringendes Gebot, als Erster sein Geschäftslokal zu betreten, es als Letzter zu verlassen. Sein Buchhalter und zumal die gealterten Angestellten folgen seinem Beispiel. Der Sonntag Vormittag zum mindesten wird in die Arbeitszeit einbezogen, der Kirchenbesuch hat auch darunter zu leiden, und die Klage der Geistlichkeit verstummt nicht. Es ist aber auch nichts Ungewöhnliches, daß die Näherin im bürgerlichen Haushalt früh morgens um 8 Uhr zur Stelle ist und, »wenn die Arbeit pressiert«, bis 10 Uhr abends aushält. Unter der Arbeiterschaft ist der 14stündige Arbeitstag das gang und gäbe, sogar die Bahnangestellten haben ihn inne zu halten.

Welcher Art ist solche »Arbeit«? Eine aufopferungsvolle gewiß, eine sehr fleißige sicherlich. Aber doch auch eine Arbeit, die den Fleiß auf Kosten der Leistung überschätzt, prägnanter ausgedrückt, die Fleiß mit Leistung gleichsetzt.

Es wäre aber Irrtum zu wähnen, es träfe das zum mindesten auf den Handarbeiter zu; auch bei seinem Tagewerk sind Fleiß und Leistung nicht unmittelbar voneinander abhängig. Man wendete den Grundsatz aber auch auf geistige Tätigkeit an, und – er wurde gefährlich. Eine Gefahr, der das Deutschland, zumal das Preußen, in höchstem Maße das Berlin der Zeit unterlegen ist.

In dieser Periode stand das Strebertum in Blüte. Aber nicht davon ist hier die Rede. Sondern, ganz abgesehen von aller Gier nach Karrieremachen, von einer geistlosen Arbeitsanspannung, einer Arbeit, die in der Arbeitsverrichtung, nicht in der Leistung das Ziel sah.

Es ist für die Zeit charakteristisch: die Philologie blühte auf. Sie drang zunächst in die Geschichtswissenschaft und die verwandten Disziplinen ein – sie bemächtigte sich in gewisser Weise des gesamten Wissenschaftsbetriebs, die Naturkunde nicht ganz ausgeschlossen. Von einer Philologisierung der Gesamtwissenschaft ließe sich in dieser Aera sehr wohl reden.

Und das will besagen? Die Detailforschung, die Akribie, die Gewissenhaftigkeit werden höher eingeschätzt als der Geist, das Aktenstudium höher als das Urteil. Ein Jahr der Arbeit ohne Pfingsten. Der Privatdozent, der Professor werden will, hat seine Hand auf ein von ihm verfaßtes »Buch« zu legen, und ist es umfangreich und zuverlässig, so schmunzelt die Fakultät.

Im Namen eines bestgeschulten, hochgezüchteten Fleißes waren die französischen Kolonisten, vom Großen Kurfürsten 1685 ins Land gerufen, nach Berlin gekommen. Hatten sich hier behauptet und es zu etwas gebracht. Blickt man in dieser Zeit auf das arbeitende Berlin, so möchte man ihren Einfluß nicht so gering einschätzen, wie Fontane, der Kolonist, es tat.

Arbeitszähigkeit aber war ja auch Wesensmerkmal des Märkers gewesen. Der karge Boden hatte ihn dazu gezwungen, dazu gezüchtet. War noch eben die Frage nach den Bevölkerungsschichten aufgetaucht, die sich in diesem beständigen Wechsel des Einwohner-Zustroms, -Abzugs auf dem Berliner Asphaltboden behaupteten – die Antwort neigt nun und erneut dem Märkertum zu.

Es gewinnt den Anschein, als sei die Stadt in dieser Aera der spillernden Ausdehnung und des unvorhergesehenen Zuwachses, der Großstadtwerdung, als sei das europäische Berlin der Siege in der Bismarckzeit – märkischer geworden. Gewiß in geistiger Beziehung; vielleicht auch dem Prozentsatz der Bevölkerungsziffer nach.

Man mag es als Symbol nehmen (auch wenn man dem Wort mehr als nur Zwang damit antut), die »Mark« wurde Zahlungsmittel.


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