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Erfindungen, Technik, Industrie

Wie ein Baum, dessen Verzweigung dem Beschauer willkürlich und zufällig erscheint: er vermag nicht auszumachen, warum gerade hier ein Zweig und dort ein anderer in entgegengesetzter Richtung herauswuchs, – und dennoch entspricht die Verästelung zwingend den inneren Geboten der organischen Entwicklung, den äußeren des Raums und der Belichtung: nicht viel anders ist es mit den Erfindungen und Entdeckungen, die unvorhergesehen und überraschend, Geschenke, scheint es besonderer Begabung, kommen, dennoch zeitbedingt, zeitgefordert, zeiterfüllend sind.

Es mehren sich in dieser Zeit der Kriege und des anschwellenden Militarismus die waffentechnischen Errungenschaften ins Ungeheure. 1851 erfindet der amerikanische Oberst Colt den Revolver. Der Geschützbau nimmt seinen Aufschwung: 1852 die Spitzkugel mit Einkerbungen; 1855 die Verschwindelafette; 1856 konstruiert der französische General La Hitte eine Vorderladekanone mit Warzenführung der Geschosse; im gleichen Jahr erfindet der amerikanische General von Uchatius die Stahlbronze, die alsbald bei dem österreichischen Geschützbau Verwendung findet; 1859 ersteht die Armstrongkanone; 1859 fördert Collenbusch durch Erfindung des Preßspahnbodens den Bau gezogener Hinterladekanonen; 1860 erfindet der preußische General von Neumann den Perkussionszünder für Hinterladergranaten; Kreiner den Doppelkeilverschluß für gezogene Hinterladekanonen; 1861 gibt Gatling das Revolvergeschütz mit rotierenden Läufen; 1865 Hotchkiß die nach ihm benannte Revolverkanone; 1867 der französische Oberst de Reffye die Mitrailleuse; bereits 1862 war Friedrich Krupp mit dem Flachkeilverschluß für Geschütze hervorgetreten, es folgte 1865 sein Rundkeilverschluß, 1889 seine Schnellfeuerverschlüsse, er erbaut 1892 seine Riesenkanone.

Das Gewehr geht den Weg zum Hinterlader: 1858 das Chassepot-Gewehr; 1863 verbessern Paul und Wilhelm Mauser das Zündnadelgewehr; 1870 das französische Lebelgewehr; 1878 erfindet der Wiener von Mannlicher seine Repetiergewehr-Grundtypen, die sich mit Abänderungen und Verbesserungen allgemein durchsetzen.

1867 bringt Alfred Nobel das Dynamit; 1888 J. M. L. Vieille das rauchlose Pulver.

1855 baut Cowper Phipps Coles den Kuppelturm für Panzerschiffe; in demselben Jahre Guieyffe schwimmende Panzerbatterien; 1858 erweist Dupuy de Lôme die Panzerungsmöglichkeit großer Schiffe; 1861 erbaut John Ericson ein Panzerturmschiff; 1867 erfinden Robert Whitehead und Lupis den Fischtorpedo; 1872 konstruiert John I. Thornycroft das Torpedoboot; 1877 stellt Alexander Wilson die Compound-Panzerplatten her; 1882 baut Thorsten Nordenfelt ein brauchbares Unterseeboot.

 

Als müßten den Wunden, die der Krieg aufreißt, Heilungsmöglichkeiten entgegengetragen werden –, es mehren sich die Erfindungen auf dem Gebiet der Medizin derart, daß man von völlig neuer Wissenschaft reden könnte. Ein Teil davon kommt der Verwundetenpflege unmittelbar zugute, und es ist wie Symbol, daß Florence Nightingale, die Begründerin der Kriegskrankenpflege (1859), am Eingang der Epoche steht. Für die Wundbehandlung wird die 1867 von Frederick Crace Calvert entdeckte Karbolsäure wichtig. Noch in demselben Jahr begründet Joseph Lister die antiseptische Wundbehandlung. 1872 führt Karl Ehrle die Verbandwatte ein und verdrängt damit die bislang gebrauchte Scharpie. 1880 begründet Gustav Neuber die Theorie der aseptischen Wundbehandlung. 1890 erfindet Carl Ludwig Schleich das Verfahren der Infiltrationsanaesthesie. Röntgens große Erfindung (1895) dient auch dazu, Geschoßverletzungen festzustellen.

In den Spuren des Krieges schleicht die Seuche: 1860 weist Friedrich Albert von Zenker die Trichinen und damit den Weg zur Bekämpfung der Trichinose nach. Im Kampf gegen die Tuberkulose zählen die Entdeckungen von Jean Antoine Villemin (1867), Edouard Nocard und Emile Roux (1887), Georg Cornet (1888), Robert Koch (1882 und 1890). Der Leprabazillus wird 1880 von dem Norweger Armaner Hansen entdeckt, der Malariaerreger 1880 von Alphonse Laveran, der Cholerabazillus 1883 von Robert Koch, der Diphtheriebazillus 1884 von Friedrich August I. Löffler; – die weiteren Fortschritte in der Diphtheriebehandlung: 1888 entdecken Pierre Paul Emile Roux und Alexandre Persin das Toxin des Diphtheriebazillus, 1894 stellen Emil Behring und Paul Ehrlich ein hochwertiges Diphtherieantitoxin her. Die Serumtherapie ist 1890 von Emil Behring begründet worden.

Grundlegend für die gesamte Entwicklung der medizinischen Wissenschaft in dieser Periode: Rudolf Virchows Cellularpathologie (1859).

Die operativen Möglichkeiten werden erweitert: 1862 führt Victor von Bruns die ersten Kehlkopfoperationen mit Hilfe des Kehlkopfspiegels aus, 1866 gelingt P. H. Watson die erste Kehlkopfexstirpation. Die operative Ohrenheilkunde wird 1868 von Hermann Schwartze begründet. 1877 lehrt Vinzenz Czerny die Exstirpation der Niere und des Uterus.

Neue Medikamente kommen zur Geltung: Das Kokain, 1859 von Niemann entdeckt, wird 1884 durch Freud und Koller in die Medizin eingeführt; das Digitalis bringt Ludwig Traube 1861 für Herzkrankheiten in Anwendung; die Vaseline wird 1875 von R. A. Chesebrough hergestellt; das Saccharin 1878 von Constantin Fahlberg entdeckt; das Lanolin 1882 von Oskar Liebreich in die Therapie eingeführt; das Ichthyol 1883 von Paul G. Unna; das Antipyrin 1884 von Ludwig Knorr; das Phenacetin 1887 von Alfred Kast und O. Hinsberg.

An medizinischen Hilfsmitteln werden gewonnen: der Augenspiegel 185O (Helmholtz); Schrifttafeln als Sehproben 1876 (Ferdinand von Arlt); das Wasserbett 1854 (Neill Arnott); die Magenpumpe 1860 (Adolf Kußmaul); die Magensonde 1879 (Wilhelm Leube).

Die wissenschaftliche Massage wird 1863 durch Johann Georg Mezger begründet.

Der Bürger ist wohlhabend geworden, es werden Maßnahmen gegen die Fettleibigkeit erforderlich. Die Stoffwechselversuche 1857 von Voit und Pettenkofer gehen voran, es folgt 1864 die Bantingkur, 1878 die Ebsteinkur. Es bedarf auch des Ersatzes für die Muttermilch: Franz Soxhlets sterilisierte Milch 1886.

 

Die Ferne soll dieser Zeit nahegerückt werden, und wie auf Ruf stellen sich die Erfindungen ein: 1849 gründet B. Wolff sein Telegraphenkorrespondenzbüro in Berlin. 1852 findet Werner von Siemens sein Verfahren, schadhafte Stellen in den Kabeln nachzuweisen. 1851 führen Siemens und Halske in Berlin telegraphische Feuermelder ein. 1861 erfindet Philipp Reis sein Telephon. 1877 wird der Hand-Fernsprecher von Alexander Graham Bell bekannt. 1878 erfindet David Edward Hughes das Mikrophon. Der Mehrfach-Telephonie dient das Verfahren von Frank Jacob 1882. Die drahtlose Telegraphie wird von Edouard Branly 1890 angebahnt, die entscheidende Erfindung geht auf den Namen des Turiners Guglielmo Marconi 1895.

Die Zeit sieht 1890 Otto Lilienthals Segelflugapparat.

Die Rohrpost geht auf Latimer Clark (1853) zurück, die elektrische Eisenbahn auf Werner von Siemens (1879), der elektrische Fahrstuhl gleichfalls auf Werner von Siemens (1880).

Der Suezkanal (Ferdinand von Lesseps) 1859; die Rigibahn (Riggenbach, Naef und Zschokke) 1870; der Gotthardtunnel (Louis Favre) 1872.

Die Eisenbahn wird das Verkehrsmittel der Zeit: Krupp erfindet 1853 die ungeschweißten Gußstahlreifen für Eisenbahnräder. Adolf Hirn entdeckt 1857 die Ueberhitzung des Dampfes. Pullmann führt 1858 die Eisenbahnluxuswagen ein. Julius Pintsch ermöglicht 1867 durch seinen Druckregler die Eisenbahnwagenbeleuchtung mit Oelgas. Hardy gibt 1869 seine Luftsaugebremse, Westinghouse 1870 die nach ihm benannte Bremse, es folgt 1882 Jesse Fairfield Carpenters Luftdruckbremse. Die elektrischen Blockanlagen werden 1872 von Siemens und Halske konstruiert, die erste Verbundlokomotive mit stufenweiser Expansion bauen 1876 Schneider & Co.

Der Brückenbau: Man denkt an Lohse (1855, 1868) und seine großen Gitterbrücken über die Nogat, den Rhein und die Elbe; an Sternberg (1860) und seine große Eisenbahnbogenbrücke bei Koblenz; an August von Pauli 1870 und seine nach ihm benannten Träger; an die Forthbrücke mit ihrer weitesten Spannung, erbaut 1883 von Sir John Fowler und Benjamin Baker.

Die Straßendämme der Großstädte erhalten 1860 durch den Basler Ingenieur Merian ihren Asphalt.

Der Daimlermotor wird 1885 von Gottlieb Daimler, der Dieselmotor 1863 von Rudolf Diesel erfunden.

 

Im Dienst der aufblühenden Industrie: 1850 stellt Wolf in Schweinfurt das Nickeleisen gewerblich her; 1855 erfindet Henry Bessemer sein Verfahren zur Stahl- und Schmiedeeisenbereitung; 1861 konstruiert John Haswell seine Schmiedepresse; 1867 erfindet Werner von Siemens die dynamoelektrische Maschine; in demselben Jahr stellt William Siemens den Siemens-Martinstahl her; 1890 erfinden Max und Reinhard Mannesmann ihr Röhrenwalzverfahren.

Die Maschine tritt in den Dienst der Landwirtschaft ein: 1855 John Fowlers Dampfpflug, 1856 James Howards Dampfpflugsystem. 1855 die erste Buttermaschine des Schweden Sternswärd. Die Industrie tritt zugleich in Konkurrenz zur Landwirtschaft: 1868 erfindet Mège Mouriés die Bereitungsmethode der Kunstbutter (Margarine).

Die Städte werden kanalisiert: Marie François Eugène Belgrand (1856). Der Haushalt des Bürgers erhält den Bunsenbrenner (Wilhelm von Bunsen) 1850; die Petroleumlampe (Benjamin Silliman) 1855; Glühlampenbeleuchtung (Thomas Alva Edison) 1879; Gasglühlicht (Carl Auer von Welsbach) 1885.

Die Schreibmaschine wird 1867 von E. Remington & Sons praktisch verwendbar eingeführt. 1878 erfindet Edison den Phonographen; 1882 Ottomar Anschütz den Schnellseher; 1889 Emil Berliner das Grammophon; 1895 A. und L. Lumière den Kinematographen.

Der Papierstoff aus Stroh und Holz wird in den Jahren 1852, 1854 hergestellt, die Photolithographie wird 1852 erfunden, die Rotationspresse von William Bullock 1863, der Dreifarbendruck 1891 von H. W. Vogel und Ulrich, die Zeilengießmaschine von Ottomar Mergenthaler 1894.

1897 gelingt der Badischen Anilinfabrik die Synthese des Indigos. Die Kunstwollefabrikation war bereits 1851 durch Gustav Köber ermöglicht worden. Die Kunstseide stellt St. Hilaire de Chardonnet 1887 her.

 

Die Gestirne werden nähergerückt: durch die Spektralanalyse (1859: Robert Wilhelm von Bunsen und Gustav Kirchhoff); durch die Himmelsphotographie (1887: Prosper und Paul Henry; 1888: E. Ch. Pickering).

Darwin gibt 1858 seine Deszendenztheorie, Ernst Haeckel stellt 1875 seine Gastraeatheorie auf, August Weismann begründet 1875 seinen Neo-Darwinismus, und ein überkommenes Weltbild scheint versunken zu sein, das Vertrauen auf die exakte Wissenschaft wächst über jeden Maßstab hinaus, man wähnt sich der Lösung der Welträtsel nahe.

 

Man vergegenwärtige sich den Gebildeten, in bürgerliche Herkunft und Anschauungen Eingesponnenen, der all diese Erfindungen in seiner Weise miterlebt, beim Morgenkaffee aus seinem Zeitungsblatt davon erfährt – Erfindungen, die zunächst halb ungläubig hingenommen werden, bald genug bis in sein Zimmer dringen, seine Gewohnheiten lösen, seiner Arbeit Hast gebieten, seinen Blick in die Ferne lenken; Erfindungen, denen er nur ein ungefähres Verständnis entgegenzubringen vermag, denn sie sind kompliziert genug, Fachwissen vorauszusetzen; Erfindungen, die deshalb Automaten ähnlich, nach ihm und seinen Gepflogenheiten greifen – wie werden sie auf ihn wirken? Er wird lernen, sich mit Halbwissen zufrieden zu geben; wird das Bewundern verlernen; wird seine Interessen den Tatsächlichkeiten zuwenden und sich das Fragen nach dem, was hinter greifbarer Wirklichkeit steht, abgewöhnen; wird bei scheinbar nahegerückter Ferne beengter, bei scheinbar vermehrtem Wissen ungeistiger, vielleicht unwissender sein.

Die Wirkung auf den Ungebildeten? Die besseren Erwerbsmöglichkeiten in Fabrik und Großstadt, die Vergnügungsmärkte, werden an Anziehungskraft zunehmen, bislang Selbstverständliches verdächtig erscheinen. Er wird begehrlicher werden. Wird die Kluft zwischen sich und dem Gebildeten in dem Maße, in dem er sie erschreckt fühlt, in eben dem Maße unberechtigt schelten.

 

Im Jahre 1851 »findet sich«, eigener Briefmeldung nach, der Königlich Geheime Legationsrat v. Bismarck auf der Reise von Berlin nach fünfundzwanzigstündiger Eisenbahnfahrt in Frankfurt »abgeliefert«. Am Ende der Periode legt der Schnellzug die Strecke in weniger als der Hälfte der Stundenzahl zurück.

Die Entwicklung des Eisenbahnwesens bedeutet für diese Epoche das Tempo der Zeit.

Für den Welteisenbahnbau liegt der entscheidende Fortschritt zwischen den Jahren 1880 und 1890; es wurden in diesem Jahrzehnt (Amerika und Australien stehen voran) fast 245 000 Kilometer gebaut. Deutschland aber nimmt bereits im Jahre 1875 mit 2,85 Kilometer Eisenbahn auf eine geographische Quadratmeile, und einer Gesamtzahl von beinahe 28 000 Kilometern, die vierte Stelle unter allen Ländern der Erde ein, übertroffen nur eben von Belgien, Großbritannien und der Schweiz. Wobei denn freilich ins Gewicht fällt, daß die in den sechziger Jahren in Deutschland entstandenen Privatbahnen fast ausschließlich mit englischem Kapital ins Leben gerufen worden sind.

Die Gesamtzahl der auf preußischen Bahnen beförderten Personen betrug 1854: 1,6 Millionen, war 1869 auf 15¾ Millionen angewachsen, und hatte 1891 bis 1892 304 Millionen erreicht. Es hat sich die Gesamteinnahme aus der Personenbeförderung 1899 gegen 1871 verzehnfacht. Der wirkliche Betriebsüberschuß der preußischen Bahnen betrug 1853: 4 Millionen Mark; 1863: 18½; 1873: 46½; 1883: 222; 1893: 382 Millionen Mark.

Die 4. Klasse ist anfangs der 50er Jahre eingerichtet worden, und man wird diese Tatsache, so oder so, sozial zu bewerten haben. Noch im Jahre 1896 gab es 4807 Bahnangestellte in Preußen, deren Dienstdauer mehr als 15 bis 16 Stunden täglich betrug.

Sehr merkwürdig mutet es an, daß in dieser ganzen Zeitspanne, in vierzig Jahren der Geldentwertung, der verteuerten Lebensmittel, des gesteigerten Wohlstandes und der aufgebesserten Gehälter sich die Preise für Personenbeförderung auf den Eisenbahnen kaum geändert haben. Sie betrugen, und man vergleiche: 1853 pro Meile 3. Kl. 3½, 2. Kl. 4½ Silbergroschen – 1890 pro Kilometer 3. Kl. 4 Pf., 2. Kl. 6 Pf., 4. Kl. 2 Pf. für Personenzüge, mit Aufschlag von 0,67 Pf. für 2. und 3. Kl. für Schnellzüge.

Trotzdem: die Benutzung der l. Klasse geht im gleichen Zeitraum prozentual stark zurück. Die der 2. Klasse beträgt zunächst 30 Prozent, geht in den fünfziger Jahren auf 16 Prozent zurück; beträgt 1865 nunmehr 12 Prozent; steigt anfangs der siebziger Jahre auf 15, um dann auf 10 Prozent zu fallen. Und das in einer Zeit andauernd steigenden bürgerlichen Wohlstands?

 

Im Jahre 1847 ist die Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-Aktiengesellschaft ins Leben gerufen worden, die Gründung des Norddeutschen Lloyd erfolgt 1857. Im Jahre 1877 verfügt die deutsche Handelsmarine über 3140 Segelschiffe und 220 Dampfschiffe, während die englische im gleichen Jahr über 17 765 Segler und 3133 Dampfer gebietet. 1890 stehen deutscherseits 2779 Segelschiffe 815 Dampfern gegenüber. Der Aufschwung im transatlantischen Handel bahnt sich also in Deutschland recht eigentlich erst gegen Ende der Epoche an.

Auf den Kopf der Bevölkerung kommen innerhalb des deutschen Reichspostgebietes 1875 15,6 Briefe – in Großbritannien 34,5 –, Deutschland steht an fünfter Stelle. Die aufgegebenen Depeschen sind innerhalb Preußens von rund 40 000 im Jahre 1851 auf nahezu zwei Millionen 1866 gestiegen, sie erfahren innerhalb des Deutschen Reichs in den Jahren 1871 bis 1877 eine Zunahme von rund drei Millionen (1877: 9 327 549). Die Gesamtzahl der Telegramme betrug 1891 nahezu 30 Millionen. In den Jahren 1877 und 1878 ist Berlin mit sämtlichen großen Orten des Deutschen Reichs durch unterirdische Telegraphenkabel verbunden worden.

Eine Gesamtentwicklung, die zugleich Ausfluß des Aufschwungs der deutschen Industrie, zugleich Vorbedingung dafür ist.

 

Im Jahre 1872 schreibt David Friedrich Strauß in »Der alte und der neue Glaube«: »Manches von den Wunschattributen, die der Mensch früherer Zeitalter seinen Göttern beilegte – ich will nur das Vermögen schnellster Raumdurchmessung als Beispiel anführen – – hat er jetzt, infolge rationeller Naturbeherrschung (!) selbst an sich genommen.« Mit solchen Empfindungen also stieg der gebildete Bürger damals in seine Eisenbahn, gab der Nachdenkliche sein Telegramm auf.

 

Man vergegenwärtigt sich den Aufschwung der deutschen Industrie an einigen wenigen Zahlen:

Die Roheisenerzeugung betrug 1850 zehn, 1898 zweiundachtzig Prozent von der Großbritanniens. Die Ausfuhr an Rohstahl betrug 1850 5000 bis 6000 Tonnen, während Großbritanniens Ausfuhr das doppelte Ausmaß aufwies – im Jahre 1905 hat Deutschland Großbritannien überflügelt. Die Steinkohlenförderung stand 1850 zu der Großbritanniens wie 2:12 (auf den Kopf der Bevölkerung wie 7:43), die an Roheisen wie 4:45 (auf den Kopf der Bevölkerung wie 0,30:1,60). Es wurden 1800 im Ruhrbecken 177 000 Tonnen Kohle gefördert, 1888 33 Millionen Tonnen; in Oberschlesien stieg die Förderung in eben den Jahrzehnten um das Zweitausendfache. Deutschland erzeugte 1871 zehnmal mehr Eisen als 1840.

Die Eisenindustrie machte Anfang der siebziger Jahre eine schwere Krise durch. Der Verbrauch an Roheisen auf den Kopf der Bevölkerung sank von 71 Kilogramm im Jahre 1873 auf 50,6 Kilogramm im Jahre 1874, auf 34,3 Kilogramm im Jahre 1879 hinab, und hatte damit den Durchschnitt aus dem Ende der sechziger Jahre wieder erlangt. Aber die Krise wurde verhältnismäßig sehr schnell überwunden.

Die Arbeiterschaft bei Krupp stieg von 107 im Jahre 1849 auf 693 (1855), auf 970 (1856), auf 1764 (1860), auf 2512 (1862), auf 4185 (1863), auf 6693 (1864), auf 8187 (1865). Das hat etwas vom Anschwellen des Schneeballs, der zur Lawine wird, nur eben eine Lawine, die nicht Leben zerstört, sondern Leben fördert. (Und zugleich doch auch, im Hinblick auf die Rüstungsindustrie, eine lebenzerstörende Lawine.)

Im Jahre 1875 hingen in Deutschland etwa 900 000 Menschen von der Arbeit am Eisen und für das Eisen ab.

Binnen fünfundfünfzig Jahren steigt die Einwohnerzahl der Stadt Essen (Krupp) von 10 000 auf 230 000.

Macht man sich davon ein Bild, so sieht man nicht nur die langen neuen Straßenzeilen entstehen; auch in der Altstadt wird abgerissen, neu aufgebaut. Es erstehen die Arbeitersiedlungen. 1861 wird der große Dampfhammer im Gewicht von 50 000 Kilogramm zu einem Kostenpreis von fast zwei Millionen Mark gebaut. Die Stadt bedarf eines erweiterten Bahnhofs, eines neuen Postgebäudes. Das Straßenpflaster wird wieder und wieder aufgerissen: die Gasröhren werden gelegt, die Stadt erhält Kanalisation, das Telegraphenkabel zur Verbindung mit Berlin wird in die Erde versenkt, es folgen die Kabel für das elektrische Licht. Es wachsen aber auch die vielen Stiftungen Krupps aus dem Boden heraus, vom Wöchnerinnenheim bis zum Altersversorgungsheim ...

Die Stadt wird eine andere; es trübt sich die Atmosphäre; undenkbar, daß der Mensch tiefinnerlich die Wandlung nicht an sich erfahren hätte.

*

Es vollzieht sich der Uebergang vom Ackerbau- zum Industriestaat. In den vierziger Jahren gehörten noch drei Viertel der gewerblichen Arbeiter dem Handwerk an, waren noch etwa 70 Prozent der Bevölkerung mit der Landwirtschaft verbunden, 1882 ist letzterer Satz auf 42,5 Prozent gesunken und fällt noch weiter. Andererseits: während sich in der Zeitspanne 1850 bis 1880 der Handel verdreifacht, hat sich die Bevölkerung seit Jahrhundertbeginn nur verdoppelt.

Es bestehen 1870 in Preußen dreihundert Aktiengesellschaften.

Die Gesamteinfuhr des Getreide- und Mehlhandels steigt in den Jahren 1872 bis 1876 von 25 auf 60 Millionen Zentner, während die Gesamtausfuhr nur von 18 auf 22 Millionen Zentner wächst.

Es gelangt in dieser Zeit aber auch die Maschine auf das Land (zunächst als Mäh-, Häcksel-, Dreschmaschine, auch schon als Dampfpflug) und macht, zumal im Winter, viele Landarbeiter überflüssig. Die Leute arbeiten bei der Dreschmaschine – Rehbein singt ein Klagelied darüber – 124 Stunden in einer Woche, das sind nahezu 20 Stunden den Tag.

Es gelangt nicht nur die Maschine auf das Land, man wird auch Zeuge (Brennereien) einer teilweisen Industrialisierung der Landwirtschaft.

Die Arbeitsleistung steigt, aber sie verzehrt auch den Menschen.

 

An diesem stolz aufsteigenden Wege der deutschen Industrie stehn die Weltausstellungen wie Meilensteine. 1851 London, 1855 Paris, 1862 London, 1867 Paris, 1873 Wien, 1876 Philadelphia –: Reuleaux' Wort über die deutsche Ausstellung in Philadelphia »billig und schlecht« hat hier als Abschluß für eine Entwicklung zu gelten. (Abschluß deshalb, weil Wendepunkt).

Auf der Londoner Ausstellung von 1862 hatte Krupp seinen Gußstahlblock von 400 Zentnern ausgestellt und war damit recht eigentlich in den Blickpunkt des Weltinteresses gerückt. Es folgte auf der Pariser Ausstellung ein Block von 800 Zentnern, und das Staunen hielt an. Als Krupp auf der Wiener Ausstellung seinen Block von über 1000 Zentnern bot, war er kaum noch beachtet worden.

Das ist es, was die menschliche Einstellung, auf die es hier ankommt, kennzeichnet. Alle Wunder der Industrie und Technik verblüffen, nehmen das Interesse in Anspruch, beschäftigen den Geist, solange sie neu sind. Sie sind die Meteore am Himmel der inneren Anschauung. Ihre Weiterentwicklung ist alsbald selbstverständlich geworden und fällt für das innere Leben aus.

Es vollzieht sich in Erfindungen, Technik, Industrie eine Umwälzung, eine Revolution. Aber sie gleicht in ihrer geistigen Auswirkung auf den einzelnen einem Augenblicksfeuerwerk, das bald hier bald dort aufleuchtet, und – je öfter es wiederkehrt, desto weniger in Anspruch nimmt.

Diese gigantische Umwälzung in Erfindungen, Industrie, und Technik – letzten Endes setzt sie neue Gewöhnungen an Stelle der alten.


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