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Erstes Kapitel.
Simla.

Im Frühling des Jahres 1905 ging mir der Gedanke an eine neue Reise nach Tibet sehr im Kopfe herum. Drei Jahre waren seit meiner Rückkehr ins Vaterland verstrichen; mein Arbeitszimmer begann mir schon zu eng zu werden; wenn am Abend ringsum alles still ward, glaubte ich im Sausen des Windes den Mahnruf zu hören: »Komm wieder zurück in die Stille der Wildnis!« Und wenn ich morgens erwachte, horchte ich unwillkürlich, ob nicht schon draußen die Karawanenglocken läuteten. So verstrich die Zeit, der Plan gedieh zur Reife, und bald war mein Schicksal entschieden: ich mußte wieder zurück in die große Freiheit der Wüste und hinaus auf die weiten Ebenen zwischen Tibets schneebedeckten Bergen. Dieser inneren Stimme, wenn sie stark und deutlich spricht, nicht zu folgen, hieße sich dem Untergang und Verderben preisgeben; der Führung dieser unsichtbaren Hand muß man sich überlassen, an ihren göttlichen Ursprung glauben und auch an sich selbst, und sich dem verzehrenden Schmerz unterwerfen, den ein neuer Abschied von der Heimat, für so lange Zeit und aufs Ungewisse hin, mit sich bringt.

Am Schluß meines wissenschaftlichen Werkes über die Ergebnisse der vorigen Reise (» Scientific Results«) nannte ich es eine Unmöglichkeit, von Tibets innerer Beschaffenheit, von seinen Gebirgen und Tälern, seinen Flüssen und Seen eine besondere, eingehende Schilderung zu geben, zu einer Zeit, wo noch so große Teile des Landes völlig unbekannt seien. »Unter diesen Umständen,« sagte ich dort (Band IV, Seite 608), »ziehe ich es vor, die Vollendung einer solchen Monographie bis zur Rückkehr von der Reise zu verschieben, zu der ich soeben aufbrechen will.« Statt mich in Vermutungen zu verlieren oder die Ergebnisse durch Mangel an Material zu verwirren, wollte ich lieber diese unbekannten Gebiete mitten in Nordtibet mit eigenen Augen sehen und vor allem die große Strecke völlig unerforschten Landes besuchen, die sich im Norden des oberen Brahmaputra ausdehnt und weder von Europäern noch von indischen »Punditen«, eingeborenen Forschungsreisenden, durchkreuzt worden ist. Soviel war ja schon a priori sicher, daß gerade dieses Gebiet einige der allergrößten und schönsten Probleme umfaßte, die in der physischen Geographie Asiens noch ungelöst geblieben waren. Dort mußte es ein oder mehrere Gebirgssysteme geben, die mit dem Himalaja und dem Karakorum parallel liefen; dort mußten sich Gipfel und Bergrücken finden, die nie der Blick eines Forschers gestreift hatte; türkisenblaue Salzseen in Tälern und Senkungen spiegelten dort den rastlosen Zug der Monsunwolken nach Nordosten wider, und von ihren südlichen Rändern mußten wasserreiche Flüsse, bald schäumend, bald ruhig, herabströmen. Dort gab es ohne Zweifel Nomadenstämme, die im Frühling ihre Winterweiden verließen und im Sommer auf höher liegenden Ebenen umherstreiften, wenn das neue Gras dem kargen Boden entsprossen war. Aber ob dort eine ansässige Bevölkerung wohnte, ob es dort Klöster gab, von deren Dach herab täglich ein Lama, pünktlich wie die Sonne, durch Blasen auf einer Muschel die Mönche zum Gebete rief, das wußte keiner. Vergeblich durchblätterte man die tibetische Literatur neuerer und früherer Zeit nach Aufklärung darüber; nichts fand man als einige phantastische Mutmaßungen über die Existenz eines gewaltigen Bergrückens, die keinen Wert hatten, da sie der Wirklichkeit nicht entsprachen und sich auf keinerlei Tatsachen stützen konnten. Dagegen waren einige wenige Reisende im Norden und Süden, Osten und Westen an dem unbekannten Lande vorübergezogen; ich selbst hatte mich unter ihnen befunden. Betrachtete man aber eine Karte, die die Reiserouten durch Tibet wiedergab, so konnte man fast den Eindruck haben, als ob wir alle den großen weißen Fleck, der sogar auf der kürzlich herausgegebenen englischen Karte (Abb. 1) nur das Wort » Unexplored« (»Unerforscht«) aufweist, absichtlich vermieden hätten. Daraus durfte man den Schluß ziehen, daß eine Durchquerung dieses Landes nicht leicht sein müsse, da sich sonst wohl im Laufe der Zeit jemand dorthin verirrt haben würde. In meinem Buch »Im Herzen von Asien« habe ich ausführlich geschildert, welche verzweifelten Versuche ich im Herbst und Winter 1901 anstellte, um von meiner Reiseroute zwischen dem Selling-tso und dem Panggong-tso nach Süden vorzudringen. Einer meiner Wünsche war, Gelegenheit zu finden, einen oder einige der großen Seen in Mitteltibet, die der indische Pundit Nain Sing 1874 entdeckt und die seitdem niemand außer den Eingeborenen gesehen hatte, besuchen zu können. Schon während meiner vorigen Reise hatte ich von der Entdeckung der Quelle des Indus geträumt; aber es war mir damals nicht beschieden gewesen, bis zu ihr zu gelangen. Dieser geheimnisvolle Punkt hatte noch immer nicht seinen richtigen Platz auf der Karte Asiens erhalten – irgendwo mußte er aber doch zu finden sein! Seit dem Tage, an dem der große Mazedonier Alexander (im Jahre 326 v. Chr.) mit seiner sieggewohnten Schar den mächtigen Fluß überschritt, hat die Frage nach der Bestimmung dieser Stelle stets auf der Tagesordnung der geographischen Forschungsarbeit gestanden.

siehe Bildunterschrift

1. Die neueste Karte von Tibet.
Aus: Geographical Journal, 1906.
Zu beachten ist der weiße Fleck nördlich des oberen Brahmaputra mit dem Wort »Unexplored« und nördlich davon die beiden andern vom Verfasser durchkreuzten weißen Flecke.

Im Voraus einen ausführlichen Plan zu einer Reise zu entwerfen, deren Verlauf und Ausgang unsicherer als jemals waren und von Umständen abhängig erschienen, die man durchaus nicht in seiner Gewalt haben konnte, war ebenso unmöglich wie überflüssig. Ich zeichnete freilich in eine Karte von Tibet den wahrscheinlichen Weg meiner bevorstehenden Reise ein, damit meine Eltern und Geschwister ungefähr wissen sollten, wo ich mich befand. Vergleicht man diese Karte mit der wirklichen Reiseroute, so findet man zwar in beiden Fällen dieselben Gebiete berührt, Verlauf und Einzelheiten sind aber völlig verschieden gewesen.

Inzwischen schrieb ich an den damaligen Vizekönig von Indien, Lord Curzon, teilte ihm meinen Plan mit und bat um all die Unterstützung, die ich für notwendig hielt, um in dem unsicheren, seit kurzem im Kriegszustand befindlichen Tibet günstige Erfolge zu erzielen.

Bald darauf erhielt ich folgenden Brief, den ich mit seines Absenders Erlaubnis hier mitteile:

Simla, Palast des Vizekönigs, 6. Juli 1905.

Mein lieber Doktor Hedin!

Ich höre mit großem Vergnügen, daß Sie meinem Rate folgen und vor Abschluß Ihrer wunderbaren Reisen noch eine große Expedition in Zentralasien unternehmen wollen.

Ich bin stolz darauf, Ihnen, solange ich noch in Indien bin, all die Unterstützung zu gewähren, die in meiner Macht steht, und ich bedauere nur, daß ich lange vor Beendigung Ihrer großen Expedition diese Gegenden verlassen haben werde, denn ich habe die Absicht, im April 1906 heimzureisen.

Nun aber zu Ihrem Plan! Ich sehe, daß Sie erst im nächsten Frühjahr nach Indien kommen; da werde ich also vielleicht noch das Glück haben, Sie zu treffen. Ich werde dafür sorgen, daß sich ein tüchtiger eingeborener Topograph zu Ihrer Begleitung bereit hält, und ich werde Ihnen desgleichen einen mit astronomischen Beobachtungen vertrauten Mann zur Verfügung stellen nebst einem zweiten, der meteorologische Arbeiten ausführen kann. Beide werden bei Ihrer Ankunft reisefertig sein.

Ich kann nicht voraussagen, was für eine Haltung die tibetische Regierung zur Zeit Ihres Eintreffens in Indien annehmen wird; sollte sie dauernd eine freundliche bleiben, werde ich natürlich versuchen, Ihnen die notwendige Erlaubnis, einen Paß und sicheres Geleit zu verschaffen.

Mit der Versicherung, daß es mir die größte Freude bereitet, Ihre Pläne auf jede Weise zu unterstützen, bin ich

Ihr ergebener
Curzon.

Wie wichtig dieser tatkräftige Schutz und Beistand seitens des Vizekönigs mir werden würde, begreift sich leicht. Besonders freute mich, daß ich eingeborene Topographen mitnehmen sollte, die in Vermessungsarbeiten geübt waren; denn durch ihre Tätigkeit mußte die aufzunehmende Karte ungemein wertvoller werden; ich selber aber würde von diesen mannigfachen Arbeiten, die so viel Zeit rauben, befreit werden und mich den physisch-geographischen Untersuchungen ungeteilt widmen können.

Mit diesem liebenswürdigen Briefe als Einführung trat ich meine fünfte Reise nach Asien an. Lord Curzon hatte allerdings, als ich in Indien eintraf, bereits seinen Posten verlassen, und in England sollte bald unter dem Premierminister Sir Henry Campbell-Bannerman eine neue Regierung ans Ruder gelangen. Aber Lord Curzons Versprechungen waren doch so gut wie ein Königswort, und ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß auch ein liberales Ministerium sie respektieren würde.

Am 16. Oktober 1905, an demselben Tage, an dem ich zwölf Jahre vorher meine Reise »Durch Asiens Wüsten« angetreten hatte, verließ ich wiederum mein liebes altes Heim in Stockholm. Weit ungewisser als damals schien es mir jetzt, ob ich alle die Meinigen Wiedersehen würde; einmal muß ja doch die Kette reißen, die uns umschließt! Würde es mir vergönnt sein, nochmals die Heimat unverändert wiederzufinden?

Die Reise ging über Konstantinopel und das Schwarze Meer, durch Türkisch-Armenien, quer durch Persien bis Seistan und durch die Wüsten Belutschistans bis Nuschki, wo ich den westlichsten Ausläufer des indischen Eisenbahnnetzes erreichte. Nach all dem Staube und der Hitze Belutschistans wirkte Quetta auf mich wie eine frische, herrliche Oase. Am 20. Mai 1906 verließ ich diese Stadt, fuhr in vier Stunden von 1680 Meter Höhe in ein nur 100 Meter über dem Meeresspiegel liegendes Land hinab und hatte schon in Sibi abends eine Hitze von 38 Grad Celsius. Am folgenden Tage ging es am Indus und Satledsch entlang über Samasata und Bathinda nach Ambala; und ich war nun, in der heißesten Zeit des Jahres, der einzige Europäer im Zuge. Die Temperatur stieg bis 41,6 Grad, also auf dieselbe Zahl, die ich kurz vorher in Belutschistan festgestellt hatte; aber hier im schattigen Eisenbahnwagen war sie viel leichter auszuhalten. Durch ein Dach mit herabhängenden Schirmen wird der ganze Wagen gegen die direkte Sonnenglut geschützt; gleichwohl tut man gut, jegliche Berührung mit den Außenteilen des Wagens zu vermeiden – sie sind nämlich glühend heiß. Zwei Fensteröffnungen sind mit einem Geflechte feiner Wurzelfasern überspannt, die automatisch mit Wasser begossen werden, und ein Windfang treibt die Zugluft durch dies feuchte Gitter herein. An einem solchen Fenster hatte ich sogar mittags nur 27,5 Grad und brauchte mich deshalb keineswegs zu beklagen. Auf einigen Haltestellen findet man vorzügliche Restaurationen, und Eingeborene fahren mit im Zuge und bieten unterwegs Limonade und glashelles Eis feil.

Trotzdem sehnt man sich von Indiens schwülen, verdorrten Ebenen nach seinen Bergen mit ihrer frischen, reinen Luft hinauf. Von Kalka aus wird man durch eine kleine Schmalspurbahn in 6½ Stunden auf eine Höhe von 2160 Meter befördert und ist dann in Simla, der Sommerresidenz des Vizekönigs und dem Hauptquartier des englisch-indischen Heeres. Die Bahnlinie ist eine der entzückendsten und großartigsten, die es auf Erden gibt. In den tollkühnsten Kurven klettert die kleine Bahn die steilen Wände hinan, die Abhänge hinab, in schmale, tiefe Talschluchten hinein, auf steile Bergabsätze hinaus, von deren äußerstem Vorsprung, so scheint es fast, der Zug in die Luft hinaussausen will, über Brücken hinweg, die unter seiner Schwere knarren und beben, in nachtschwarze Tunnel hinein und dann wieder in den blendenden Sonnenschein hinaus. Bald fährt man an einem Tal vorüber, dessen Sohle tief unten zu unseren Füßen schimmert, dann aufwärts über einen Kamm, der nach beiden Seiten freie Aussicht gewährt, dann wieder am Abhang einer steilen Wand hin, von deren Höhe man die sich wunderbar windende Bahn mehrere Stockwerke unter sich erblickt. Jede oder jede zweite Minute verändert sich die Landschaft, neue Bilder und Perspektiven, neue Sehwinkel und Beleuchtungen folgen einander und halten die Aufmerksamkeit des Reisenden in äußerster Spannung. Durch 102 Tunnel geht die schnaubende Fahrt; die meisten davon sind ganz kurz, der längste aber ist 1207 Meter lang.

Wir fahren durch einen Vegetationsgürtel nach dem anderen. Der Pflanzenwuchs der Ebene blieb schon lange hinter uns zurück; jetzt trifft der Blick auf neue Formen in neuen Zonen, Formen, die für die verschiedenen Höhen der Südabhänge des Himalaja charakteristisch sind, und schließlich zeigen sich noch weiter oben die dunkeln Deodarawälder, die königlichen Himalajazedern, in deren üppigem Grün die Häuser Simlas, hellen Schwalbennestern ähnlich, eingebettet liegen (Abb. 2). Wie fesselnd ist nicht dieses Bild, aber wieviel überwältigender wird es als ein Symbol der Macht des Britischen Reiches! Hier horstet der Adler, und von seinem Horst aus wirft er spähende Blicke über Indiens Ebenen. Hier sammelt sich ein Bündel zahlloser Telegraphendrähte von allen Ecken und Enden des britischen Kaiserreichs, und von diesem Punkte aus werden täglich unzählige Befehle und Anordnungen » in His Majesty's Service only« erlassen; von hier aus wird die Verwaltung geführt und die Armee befehligt, und von diesen Fäden umsponnen ist ein Heer von Maharadschas, indischen Großfürsten, wie die Beute in einem Spinnennetz.

Abb. 2 und 3. fehlen im Buch

Mit einigem Zagen näherte ich mich Simla. Seit Lord Curzons Brief hatten die Machthaber in Indien nichts wieder von sich hören lassen. Immer größer wächst die eigentümliche Stadt auf ihrem halbmondförmigen Bergrücken empor, immer deutlicher treten die Einzelheiten hervor, jetzt fehlen nur noch ein paar Kurven, und dann rollt der Zug in den Bahnhof von Simla ein. Vier feuerrot gekleidete Lakaien vom Auswärtigen Amt bemächtigen sich meines Gepäcks, und im Grand Hôtel empfängt mich mein alter Freund, der Oberst Sir Francis Younghusband; wir hatten 1890 in Kaschgar zusammen Weihnachten gefeiert, und er war noch ebenso stattlich, freundlich und gemütlich wie damals. Zum Mittagessen war ich sein Gast im »United Service Club«. Wir schwelgten die halbe Nacht in alten Erinnerungen aus dem Herzen Asiens, wir sprachen von dem allmächtigen russischen Generalkonsul Petrowskij in Kaschgar, von der englischen Expedition nach Lhasa, deren Führer Younghusband gewesen, vom Leben in Simla und den bevorstehenden Festlichkeiten der Sommersaison – aber von meinen Aussichten sagte mein Freund kein Wort! Und ich fragte ihn auch nicht; ich konnte mir ja denken, daß er, wenn alles klipp und klar gewesen wäre, es mir sofort gesagt hätte. Aber er war stumm wie eine Wand, und ich wollte nicht fragen, obwohl ich vor Ungeduld brannte, wenigstens irgend etwas zu erfahren.

Als ich am Morgen des 23. Mai auf meinen Balkon hinaustrat, war mir zumute wie einem Gefangenen, der auf sein Urteil wartet. Unter mir glänzten Simlas Dächer im Sonnenschein, und ich stand in einer Höhe mit den Kronen der Zedern. Wie herrlich hier oben über der dumpfen schwülen Luft der Ebene! Nach Norden hin leuchtete durch eine Lücke zwischen üppigen Bäumen ein Bild von unvergleichlicher Schönheit. Dort schimmerten die nächstliegenden Himalajaketten, die mit ewigem Schnee bedeckt sind. Blendend weiß zeichnete sich der Kamm auf einem türkisblauen Himmel ab. Die Luft war so strahlend klar, daß die Entfernung unbedeutend erschien; nur wenige Tagereisen trennten mich von diesen Bergen, und hinter ihnen breitete sich das geheimnisvolle Tibet, das verbotene Land, das Land meiner Träume! Später, gegen Mittag, wurde die Luft dunstig, und das herrliche Bild verschwamm; es zeigte sich auch nicht wieder in den Wochen, die ich in Simla verbrachte. Es war, als sei zwischen Tibet und mir ein Vorhang herabgelassen, und als sollte es mir nur ein einziges Mal vergönnt gewesen sein, aus der Ferne die Berge zu sehen, über die der Weg in das gelobte Land führte!

Es wurde ein trüber Tag; um zwölf Uhr sollte ich mein Urteil hören. Younghusband holte mich ab, und wir gingen zusammen nach dem » Foreign Secretary's Office«, dem Auswärtigen Amt. Sir Louis Dane empfing mich mit der allergrößten Liebenswürdigkeit, wir plauderten von Persien und der »Handelsstraße« zwischen Indien und Seistan. Dann verstummte er plötzlich; nach einer Weile aber sagte er:

»Es ist besser, Sie erfahren es gleich: die Londoner Regierung verweigert Ihnen die Erlaubnis, über die indische Grenze in Tibet einzudringen.«

»Eine traurige Nachricht! Aber weshalb denn?«

»Das weiß ich nicht; wahrscheinlich will die jetzige Regierung alles vermeiden, was möglicherweise zu Reibungen an der Grenze Anlaß geben könnte; die Bewilligung Ihres Gesuches bedeutete für uns die Verantwortung für den Fall, daß Ihnen nachher vielleicht etwas zustoßen könnte. Ja, es ist jammerschade. Was gedenken Sie nun zu tun?«

»Hätte ich in Teheran eine Ahnung davon gehabt, dann würde ich den Weg durch Russisch-Asien eingeschlagen haben, denn von russischer Seite sind mir niemals Schwierigkeiten bereitet worden.«

»Ja, wir hier draußen haben alles getan, um Ihre Pläne zu unterstützen. Die drei eingeborenen Feldmesser, die Lord Curzon Ihnen versprochen hat, sind seit sechs Monaten geschult und halten sich in Dehra Dun zur Reise bereit. Aber wahrscheinlich wird auch dies von London aus rückgängig gemacht werden. Doch wir haben noch nicht alle Hoffnung aufgegeben und erwarten erst am 3. Juni die endgültige Antwort.«

Elf Tage auf die endgültige Entscheidung warten zu müssen, erschien mir unerträglich. Vielleicht, daß ein persönliches Eingreifen günstig für mich wirken konnte. Ich sandte daher dem englischen Premierminister folgendes Telegramm:

Die freundlichen Worte, die Euer Exzellenz vor zwei Jahren im Parlament über meine Reise und mein Buch gesprochen haben, geben mir den Mut, mich direkt an Sie zu wenden und im Namen der geographischen Wissenschaft Sie zu bitten, mir die Erlaubnis Ihrer Regierung zum Eindringen in Tibet über Simla und Gartok zu geben. Ich beabsichtige das zum größten Teil unbewohnte Gebiet nördlich vom Tsangpo (Brahmaputra) und um die in seiner Mitte befindlichen Seen zu erforschen und dann nach Indien zurückzukehren. Ich bin mit den gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen Indien und Tibet völlig vertraut, und da ich seit meinem einundzwanzigsten Jahre mit Asiaten friedlich verkehrt habe, werde ich mich auch jetzt durchaus taktvoll benehmen, den gegebenen Instruktionen folgen und es als Ehrenpflicht ansehen, alle Streitigkeiten an der Grenze zu vermeiden.

Und nun warteten wir wieder; die Tage vergingen, meine drei eingeborenen Gehilfen in Dehra Dun hielten sich reisefertig, der Höchstkommandierende, Lord Kitchener, versicherte, daß er mir mit Freuden zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Gurkhas zur Verfügung stellen werde – nur müsse erst die Erlaubnis vom Staatssekretär für Indien, Mr. John Morley, da sein. Denn dieser war es, der die Schlüssel zur Grenze in Händen hatte; und von ihm allein hing alles ab. Lord Minto, der neue Vizekönig von Indien (Titelbild), tat alles, was in seiner Macht stand. Er schrieb lange, ausführliche Gutachten und sandte ein Telegramm nach dem anderen. Keine abschlägige Antwort konnte ihn entmutigen, er schickte immer wieder eine neue Depesche, die mit den Worten begann: »Ich bitte das Ministerium Seiner Majestät, noch einmal in Erwägung ziehen zu wollen, daß« usw. Als von London aus versichert wurde, der ablehnende Bescheid gelte durchaus nicht mir persönlich, sondern die gleiche Antwort sei mehreren britischen Offizieren erteilt worden, bat Lord Minto in seinem letzten Telegramm um die Erlaubnis für mich, den englischen Offizier begleiten zu dürfen, der im Sommer zur Inspektion des Handelsplatzes nach Gartok reisen sollte. Aber der Staatssekretär hielt auch jetzt unerschütterlich an seinem Beschlusse fest, und ich selbst bekam auf mein Telegramm folgende Antwort – und zwar durch ein Schreiben des Staatssekretärs an den Vizekönig vom 1. Juni 1906:

Der Premierminister wünscht, daß Sie Sven Hedin folgende Botschaft mitteilen: »Ich beklage es aufrichtig, daß es mir aus den Gründen, die Ihnen ohne Zweifel von der indischen Regierung auseinandergesetzt wurden, unmöglich ist, Ihnen die erbetene Unterstützung bei einer Reise nach und in Tibet zu gewähren. Diese Unterstützung ist auch der Königlichen Geographischen Gesellschaft in London und ebenso britischen Offizieren im Dienste der indischen Regierung versagt worden.«

Der Inhalt der letzten Londoner Telegramme bedeutete also, daß mir alles und jedes verweigert wurde. Der indischen Regierung und dem Vizekönig blieb natürlich, wie immer, nichts weiter übrig, als dem Londoner Befehle zu gehorchen. Sie wollten ja alles tun und hegten für meine Pläne das wärmste Interesse, aber sie durften mir nicht helfen. Sie durften mir keinen Erlaubnisschein und keinen Paß aus Lhasa verschaffen, sie durften mich nicht mit der in dem unsicheren Tibet nur allzu notwendigen Eskorte umgeben, und ich wurde auch des für beide Teile großen Vorteils beraubt, drei tüchtige Topographen und Gehilfen bei meinen wissenschaftlichen Beobachtungen mitnehmen zu dürfen. Doch das war noch nicht alles! Würde ich mich, weil die Umstände es geboten, in mein Schicksal finden und allein, auf eigene Faust, mit einer Schar Eingeborener über die Grenze gehen, so hatte die indische Regierung Befehl, mich daran zu hindern! Von der indischen Seite aus war mir Tibet also versperrt, und die Engländer, d. h. Mr. John Morley, schlossen es mindestens ebenso hermetisch ab, wie es die Tibeter jemals selbst getan. Ich kam bald dahinter, daß die größten Schwierigkeiten, die ich auf dieser Reise zu überwinden hatte, mir nicht von Tibet, seinem rauhen Klima, seiner dünnen Luft, seinen gewaltigen Bergen und seinen wilden Völkern bereitet würden, sondern – von England! Konnte ich nur erst Mr. John Morley unterkriegen – mit Tibet wollte ich dann schon so oder so fertig werden!

Die Hoffnung ist das letzte, was man aufgibt, und so hoffte ich denn noch immer, daß schließlich alles gut gehen werde. Der Mißerfolg reizte meinen Ehrgeiz und spannte meine Kräfte bis zum äußersten. Versucht nur, mich zu hindern, wenn ihr könnt, dachte ich; ich werde euch zeigen, daß ich in Asien besser zu Hause bin als ihr! Versucht nur, dieses ungeheuere Tibet abzuschließen, versucht nur, all die Täler zu sperren, die von der Grenze zu seinen Hochebenen hinaufführen, und ihr werdet erfahren, daß dies völlig unmöglich ist! – Eine wahre Erleichterung war es mir daher, als die letzte unerbittliche und ziemlich kurze Ablehnung kam und alle weiteren Verhandlungen unwiderruflich abschnitt. Ich hatte das Gefühl, als ob alles um mich herum plötzlich einsam geworden sei und alles weitere nun von mir allein abhänge. Mein Leben und meine Ehre standen für die beiden nächsten Jahre auf dem Spiel – zu kapitulieren konnte mir natürlich nicht in den Sinn kommen. Diese fünfte Reise hatte ich mit schwerem Herzen angetreten, nicht mit Trompeten und Fanfaren wie die früheren. Nun aber wurde sie mit einem Schlage mein Schoßkind. Mochte ich auch dabei untergehen müssen, so sollte diese Reise doch der Glanzpunkt meines Lebens werden! Sie wurde der Inhalt aller meiner Träume und Hoffnungen, ihr galten meine Gebete, und meine ganze Sehnsucht verlangte nach der Stunde, wo die erste Karawane fertig dastehen würde – und dann sollte jeder neue Tag ein voller Akkord in einem Siegesliede werden!

Über die Politik, die damals scheinbar unübersteigbare Hindernisse auf meinen Weg türmte, kann ich mir kein Urteil erlauben. Jedenfalls war sie klug. In Zukunft wird sie notwendig sein. Hätte ich unter britischem Schutze gestanden, britische Untertanen bei mir gehabt, und wäre ich dann getötet worden, so hätte wahrscheinlich eine kostspielige Strafexpedition ausgesandt werden müssen, um ein Exempel zu statuieren; ob ich Schwede oder Engländer war, hätte in diesem Falle keinen Unterschied gemacht. Wie der englische Staatssekretär selbst die Sache auffaßte, ergibt sich aus seiner Antwort auf Lord Percys Interpellation einen Monat später, nachdem ich meinen Bescheid erhalten hatte: »Sven Hedin ist die Erlaubnis zum Eindringen in Tibet aus politischen Gründen verweigert worden; übereinstimmend damit wird nicht einmal britischen Untertanen erlaubt, dieses Land zu besuchen. Die indische Regierung begünstigt Expeditionen erprobter Forscher; aber die kaiserliche Regierung hat anders verfügt und hält es für ratsam, Tibet auch fernerhin in derselben Isolierung zu halten, in der es von der früheren Regierung sorgsam bewahrt wurde.«

Während dieser Tage erhielt ich viele Beweise der Sympathie und der Freundschaft. In Indien hatte ich lauter Freunde, und sie empfanden es bitter, daß sie mir nicht helfen konnten. Sie hätten es so gern getan! Ich selber aber durfte sie um nichts bitten, um sie nicht in eine schiefe, peinliche Lage zu bringen. Sir Louis Dane hatte mir mitgeteilt, daß ich, wenn mein Gesuch schließlich doch gewährt werden sollte, einen Revers zu unterzeichnen hätte – was dieser aber enthalten würde, habe ich nie in Erfahrung gebracht. Vielleicht handelte es sich um irgendeine Verantwortung für die Leute, die mich begleiteten, um ein Versprechen, bestimmte Gegenden nicht zu besuchen, und um die Verpflichtung, die Resultate meiner Reise der indischen Regierung zur Verfügung zu stellen – ich weiß es nicht. Nun aber war ich aller Verpflichtungen ledig; die Freiheit ist doch das Allerbeste, und am stärksten ist der, der allein steht! Es wäre jedoch übertrieben, wenn ich behaupten wollte, daß ich in jenen Tagen Mr. John Morleys Namen liebevoll genannt hätte. Wie konnte ich damals ahnen, daß ich ihn noch einmal zu meinen besten Freunden zählen und nicht ohne Wärme, Hochachtung und Bewunderung seiner gedenken würde!

Nach dem ersten Besuch im Auswärtigen Amt begleitete mich Younghusband nach dem Palast des Vizekönigs – ich sollte meinen Namen in die Besuchsliste von Lord und Lady Minto eintragen. Younghusband (Abb. 5) ist ein ritterlicher Mann, der Typus des Edelsten, was aus einem Volke erblühen kann. Er ärgerte sich mehr als ich selbst über die Ablehnung der Regierung, aber er hatte dabei noch andere weit bittere Empfindungen – seine Expedition nach Lhasa (1904), die Tibet der wissenschaftlichen Forschung hatte erschließen sollen, war völlig vergeblich gewesen. Er führte mich jetzt im Vorbeifahren zu Lord Mintos Privatsekretär, Oberst J. R. Dunlop Smith (Abb. 6), in dem ich einen Freund fürs Leben gewann; er ist einer der feinsten, edelsten, großherzigsten und erfahrensten Männer, die ich je kennen gelernt habe, er ist ein tiefernster, vielseitig gebildeter Mann und gründlicher Kenner Indiens, da er vierundzwanzig Jahre hier gelebt hat. Wenn man solche Männer auf den verantwortlichsten Posten sieht, begreift man wohl, daß die herrschende Rasse, wenn es gilt, noch manch heftigem Sturm unter Indiens dreihundert Millionen wird standhalten können.

siehe Bildunterschrift

5. Oberst Sir Francis Younghusband, Chef der englischen Tibetexpedition, Resident in Kaschmir

siehe Bildunterschrift

6. Oberst J. R. Dunlop Smith, Privatsekretär des Vizekönigs.

Mein Leben in dieser Zeit war überaus reich an Kontrasten. Wie wenig glich der Aufenthalt in Simla den Jahren der Einsamkeit und der Stille, die mich jenseits der in dunkeln Wolkenmassen verschwindenden Berge erwarteten! Ich kann mich nicht enthalten, einige Erinnerungen aus diesen wunderbar schönen Tagen festzuhalten.

Man begleite mich also zum ersten »Statedinner« am 24. Mai 1906. An den Wänden eines der großen Salons im Palast des Vizekönigs stehen wohl hundert Gäste versammelt, alle im Paradeanzug, in vornehmen bunten Uniformen und mit blitzenden Orden. Einer von ihnen überragt die anderen um Haupteslänge, er hält sich sehr gerade und sieht kaltblütig, energisch und ruhig aus; er unterhält sich mit keinem, sondern betrachtet seine Umgebung nur forschend mit hellen, blaugrauen Augen. Seine Züge sind grobgeschnitten, aber interessant, ernst, unbeweglich und wettergebräunt, man sieht ihm an, daß er viel erlebt hat und ein Soldat ist, der im Feuer gestanden hat. Seine Uniform ist feuerrot, und auf seiner linken Brust funkelt ein ganzes Vermögen an Diamanten. Er trägt einen weltberühmten, einen unsterblichen Namen: Lord Kitchener of Khartoum, der Besieger Afrikas und Oberbefehlshaber des indischen Heeres (Abb. 4).

siehe Bildunterschrift

4. Herbert Viscount Kitchener of Khartoum, Oberbefehlshaber des indischen Heeres.

Ein Herr tritt auf mich zu und fragt mich, ob ich mich noch erinnere, daß wir bei einem Essen bei Lord Curzon Tischnachbarn gewesen seien. Der Lieutenant Governor des Pandschab, Sir Charles Rivaz, gehört ebenfalls zu meinen alten Bekannten, und überdies stellt mich Sir Louis Dane nach rechts und links vor. Ein Herold tritt in den Saal und kündigt das Erscheinen des Vizekönigs an. Begleitet von seinem Stabe macht Lord Minto die Runde, begrüßt jeden einzelnen der Gäste, mich nur mit den Worten: »Willkommen in Simla!« Der melancholische Klang in seinen Worten entging mir nicht; er wußte wohl, daß ich mich nicht so »willkommen« fühlen konnte, wie er und ich es gewünscht hätten. Unter den Klängen der Tafelmusik begeben wir uns in den Speisesaal, werden mit den auserlesensten Gerichten französischer Küche bewirtet, speisen von silbernem Geschirr und erheben uns dann wieder, um an der Cour teilzunehmen, bei der dem an den Stufen des Thrones stehenden Vizekönig fünfhundert Herren vorgestellt werden. Die Namen der einzelnen werden aufgerufen, und sie defilieren in schnellem Zuge am Thron vorüber. Jeder von ihnen macht halt und Front, und der Vizekönig erwidert ihre tiefe Verbeugung; er verbeugte sich an diesem Abend neunhundertmal! Wenn indische Fürsten oder afghanische Gesandte vorbeipassieren, verbeugt er sich nicht, sondern berührt mit der Hand den Schwertgriff des Gastes als Zeichen der Freundschaft und des Friedens.

Am Tage darauf wurde ich eingeladen, in den Palast des Vizekönigs ( Abb. 3) überzusiedeln, und war von nun an Lord und Lady Mintos Gast. Es war eine unvergeßliche Zeit, die ich bei ihnen verlebte; diese Wochen erscheinen mir jetzt wie ein Traum und ein Märchen. Lord Minto selbst ist das Ideal eines britischen Gentleman, ein Aristokrat edelster Rasse und dabei einfach und anspruchslos. In Indien wurde er durch sein freundliches Wesen und seine Güte gegen alle schnell populär, und er hält sich nicht für zu hochgestellt, um nicht mit jedermann aus den zahlreichen Völkerstämmen des Riesenreiches, das seiner Verwaltung anvertraut ist, ein freundliches Wort zu reden. Lord Minto hat schon früher in Indien gedient und am Feldzug gegen Afghanistan (1879) teilgenommen; nach wechselnden Schicksalen in drei Kontinenten wurde er zum Generalgouverneur von Kanada ernannt. Im Jahre 1904 kehrte er auf sein Gut Minto in Schottland zurück in der Absicht, dort den Rest seines Lebens zu verbringen; da verlieh der König von England und Kaiser von Indien ihm das Amt des Vizekönigs und Generalgouverneurs von Indien. Er ist nicht der erste Earl of Minto, der dieses Amt bekleidet hat; denn schon sein Urgroßvater ist vor hundert Jahren Generalgouverneur des Britischen Reiches auf der indischen Halbinsel gewesen. Dazumal segelte man noch um das Kap der Guten Hoffnung, um das Land der Hindus zu erreichen, eine lange beschwerliche Reise. Infolgedessen ließ der erste Lord Minto seine Familie in der Heimat zurück. Die zwischen ihm und seiner Gattin gewechselten Briefe sind noch vorhanden und zeugen von einer geradezu idealen Liebe und Treue. Als seine Dienstzeit in Indien endlich vorüber war, bestieg er ein Schiff, das ihn den weiten Weg in die Heimat führte, und eilte mit der ersten Diligence geradeswegs nach Minto. Hier erwartete ihn seine Gattin; mit sehnsüchtigen Blicken spähte sie die Straße entlang; die festgesetzte Zeit war längst verstrichen, aber kein Wagen ließ sich sehen. Schließlich erschien statt seiner ein Reiter in einer Staubwolke und brachte die Nachricht: Lord Minto ist, nur eine Poststation von Hause, gestorben! – Auf dem zusammengebundenen Briefpaket liegt ein kleiner Zettel mit den beiden Worten: » Poor fools!« (»Arme Teufel!«) Die Hand der ersten Lady Minto hat sie geschrieben. Chef der englischen Tibetexpedition, Resident in Kaschmir.

Nun aber blüht das Leben in einer neuen Familie Minto. Behaglichkeit, Einfachheit und Glück herrschen in diesem entzückenden Heim, wo jedes Mitglied eine Zierde des Ganzen ist. Ein Vizekönig ist stets mit Arbeit zum Wohle Indiens überhäuft, aber Lord Minto verlor nie seine unerschütterliche Ruhe und widmete jeden Tag einige Stunden seiner Familie. Wir trafen uns täglich bei den Mahlzeiten; zum Lunch waren gewöhnlich einige Gäste gebeten, aber zum Diner waren wir manchmal allein, und dann war es am allergemütlichsten. Dann erzählte Lady Minto von ihrem Aufenthalt in Kanada, wie sie auf Eisenbahn und Dampfschiffen gegen 190 000 Kilometer zurückgelegt, ihren Gatten auf allen Amtsreisen begleitet, wilde Jagdausflüge mitgemacht hatte, im Kanoe durch schäumende Stromschnellen gefahren war und an gefährlichen Streifzügen in Klondike teilgenommen hatte. Wir blätterten in ihren Tagebüchern aus jener Zeit; sie bestanden aus dicken Bänden voll Photographien, Karten, Ausschnitten und beschreibendem Text und waren gespickt mit Erlebnissen und Schilderungen von ganz eigenartigem Interesse. Und dennoch wird das Tagebuch, das Lady Minto seit ihrer Ankunft in Indien führt, noch spannender und merkwürdiger sein; denn es ist umrahmt von orientalischer Pracht und morgenländischem Pomp und Prunk, von juwelenbedeckten Maharadschas, von Empfängen in den verschiedenen Staaten, von Prozessionen und Paraden, Elefanten in Rot und Gold und all dem Großartigen und Glanzvollen, was sich von dem Hof und der Repräsentation eines indischen Vizekönigs nicht trennen läßt. Drei junge bezaubernde Töchter, die Ladies Eileen, Ruby und Violet, erfüllen dieses Heim mit Sonnenschein und Heiterkeit und sind neben ihrer Mutter die Königinnen der Bälle und der glänzenden Feste. Wie ihr Vater, lieben sie den Sport und sitzen wie Walküren zu Pferde.

Kann man sich darüber wundern, daß der Fremde sich in diesem Hause wohl fühlte, wo er täglich mit Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft umgeben war? Ich hatte meine Zimmer über der Privatwohnung des Vizekönigs. Zu ebener Erde liegen die Staatsgemächer, die großen Salons mit ihrer ausgesuchten Eleganz, der Speisesaal und der gewaltige, weiß und goldene Ballsaal. Aus einer großen, mit Teppichen belegten Vorhalle, die mit Waffen und schweren Draperien geschmückt ist, gelangt man in die verschiedenen Zimmer und Säle; hier herrscht bei den Festen das bunteste Gewühl. Um den größten Teil des Erdgeschosses zieht sich eine offene Galerie, eine steinerne Veranda, auf der es von Besuchern, Kurieren, Tschaprassis und Tschamadaren wimmelt, die die vizeköniglichen roten Uniformen und weiße Turbane tragen. Dahinter ist der Hof, wo Equipagen, »Rikschas« und Reiter kommen und gehen, während gutgehaltene Wege nach den stilvollen Terrassen führen, die nach Lady Mintos Zeichnungen angelegt sind (Abb. 7). Hinter diesen Terrassen beginnt der Wald mit seinen Promenadenwegen im Schatten der Felswände. Von der großen Halle in der Mitte des Hauses führt eine mit Läufern belegte Treppe in das erste Stockwerk hinauf, wo die Familie des Vizekönigs Räume bewohnt, die an Geschmack und Ausstattung alles übertreffen. Zwei Treppen hoch liegen die Fremdenzimmer. Von einer inneren Galerie herab hat man einen Überblick über die große Halle, wo die roten Lakaien lautlos die Treppen hinauf- und hinunterhuschen. Nach außen hin hatte mein Zimmer einen Balkon, von dessen Brüstung ich jeden Morgen vergeblich nach einem Schimmer von den Bergen auf der Grenze Tibets ausschaute.

siehe Bildunterschrift

7. Lady Minto und der Verfasser auf der Terrasse des vizeköniglichen Palastes.

Mehrere Tage lang waren auch der höchste Beamte Peschawars, Sir Harold Deane, mit seiner Gemahlin, und der Maharadscha von Idar im Palast des Vizekönigs zu Gaste. Sir Harold war ein Mann, den keiner wieder vergißt, der ihm einmal begegnete; stark, hochgewachsen, mannhaft und liebenswürdig. Die halbwilden Stämme und Fürsten an der Grenze Afghanistans fürchten und bewundern ihn, und er soll es meisterhaft verstehen, mit ihnen fertig zu werden. Für mich war dieses Zusammentreffen von großer Bedeutung, denn Sir Harold versah mich mit Empfehlungsbriefen an den Maharadscha von Kaschmir und dessen Privatsekretär Daya Kischen Kaul. Bei meiner Rückkehr nach Indien war Sir Harold leider gestorben; mit ihm hat Indien einen seiner besten Wächter verloren.

Der Maharadscha von Idar ist ein glänzender Typus eines indischen Fürsten; er hatte eine tiefdunkle Gesichtsfarbe, hübsche Züge und ein energisches Aussehen, kleidete sich bei festlichen Gelegenheiten in Seide, Gold und Juwelen und war überhaupt eine Erscheinung, die alle Europäer unbedingt in den Schatten stellte. Dennoch war er bei ihnen ungemein beliebt und ein stets gern gesehener Gast. Er ist ein großer Sportsmann, ein unübertrefflicher Reiter und ein außerordentlich kaltblütiger Jäger. Seine große Popularität aber verdankt er folgendem Vorfall: Als einmal in der heißen Jahreszeit ein englischer Offizier in der Nähe seines Palastes starb, war man in Verlegenheit um einen Träger, um die Leiche zu begraben. Da sich alle anderen weigerten, übernahm er, der Maharadscha selbst, diese anrüchige Aufgabe. Kaum war er in seinen Palast zurückgekehrt, als dessen Freitreppe schon von wütenden Brahminen bestürmt wurde, die ihm unter Drohungen zuriefen, er habe seinen Rang eingebüßt, müsse aus seiner Kaste ausgestoßen werden und sei unwürdig, in seinem Staate zu befehlen und zu herrschen. Er aber ging ruhig zu ihnen hinaus und erklärte ihnen, daß er nur eine Kaste kenne, die der Krieger; dann befahl er ihnen zu gehen, und sie gehorchten.

In Simla traf ich viele, die ich stets zu meinen besten Freunden zählen werde: die Generale Sir Beauchamp Duff und Hawkes mit ihren liebenswürdigen Gemahlinnen, und Oberst Adam und seine Gattin, die russisch sprach; er war Lord Mintos Militärsekretär und starb während meiner Abwesenheit. Ferner Oberst McSwiney und seine Gemahlin; 1902 war ich bei ihnen in Bellarum bei Haiderabad zu Gaste gewesen, dem Obersten war ich schon 1895 in Pamir begegnet; auch ihn hat der Tod abgerufen, und zwar einen Monat, ehe er die ersehnte Beförderung zum General der Ambalabrigade erhalten haben würde. Er war ein außergewöhnlich feiner und liebenswürdiger Mann. Auch viele Teilnehmer an Younghusbands Lhasaexpedition lernte ich kennen, darunter Hauptmann Cecil Rawling, der vor Sehnsucht brannte, wieder nach Tibet zurückkehren zu dürfen. Wir kamen oft zusammen und schmiedeten großartige Pläne zu einer gemeinsamen Reise nach Gartok, Hoffnungen, die alle in blauen Dunst aufgehen sollten. Der deutsche Generalkonsul, Graf Quadt, und seine entzückende Gattin gehörten ebenfalls zu meinen speziellen Freunden. Ihre Mutter stammt aus der schwedischen Familie von Wirsén, und wir unterhielten uns schwedisch. Nie werde ich ein Diner bei ihnen vergessen. Dunlop-Smith und ich fuhren, jeder in seinem Rikscha, einem zweirädrigen von Menschen gezogenen Wägelchen, den langen Weg nach Simla hinein, durch die Stadt hindurch und noch ebensoweit nach der anderen Seite hinaus zu Graf Quadts Haus, das früher die vizekönigliche Residenz war, ehe Lord Dufferin in den Jahren 1884–1888 den neuen Palast, das »Viceregal Lodge« erbauen ließ. Der Weg war dunkel, aber wir hatten Laternen an den Deichseln, unsere Läufer lagen beinahe wagerecht, und ihre nackten Fußsohlen klapperten wie Waschhölzer auf der harten Erde. Wir hatten uns verspätet; Lord Kitchener war schon da, und alle warteten. Nach der Tafel wurden die Gäste gebeten, sich in den Hof zu begeben; diesen bildet der Gipfel des Hügels, auf dem der alte Palast gebaut ist. Das Licht des Vollmondes zitterte in feinen Strahlen allenthalben in der linden, berauschenden Luft, ringsumher waren die Höhen in Nebel und Dunst gehüllt, und aus der Tiefe der Täler stieg das schrille, durchdringende Zirpen der Grillen empor. Dieser Hügel aber, wo heiteres Lachen ertönte und die Unterhaltung durch den Reiz des Mahles angefeuert war, schien sich hoch über die übrige Erde zu erheben. Hier und da tauchten aus dem Nebel einige dunkle Fichten und indische Zedern auf, gleich drohenden Geistererscheinungen und Spukgestalten mit langen, weit ausgreifenden Armen. Die Nacht war so still, außer uns und den Grillen schien alles Leben zur Ruhe gegangen. Solch eine Stimmung vergißt man nie wieder. Der Etikette nach durfte sich niemand vor Lord Kitchener entfernen, er hatte das Zeichen zum Aufbrechen zu geben; aber er fühlte sich hier ungemein wohl, und wir plauderten französisch mit Frau Oberst Townsend und zogen Vergleiche zwischen dem Ehestand und den Vorteilen ungebundener Freiheit. Erst nach Mitternacht erhob sich der Allgewaltige, und nun konnten die Damen und ihre Ritter die Rikschas aufsuchen. Auf dem mondhellen Hügel wurde es still; nur der schrille Gesang der Grillen stieg noch zum Nachthimmel empor.

Auch ein paar offizielle Bälle liefen im Viceregal Lodge während meines dortigen Aufenthaltes vom Stapel. Dann fährt eine endlose Reihe von Rikschas auf dem Hofe ein; wie ein Zug von Glühwürmchen schlängelt sie sich nach dem »Observatoriumshügel« hinauf. Man wundert sich fast, daß es in Simla so viele Exemplare dieses kleinen zweiräderigen Fuhrwerks gibt, aber mit Pferden bespannte Equipagen dürfen der schmalen Straßen wegen nur der Vizekönig, der Oberbefehlshaber und der Gouverneur des Pandschab benutzen. Dann rauscht es von eitel Seide, reizende Damen, tief ausgeschnitten, mit Diamantagraffen im Haar, treten durch Vorsaal und Halle ein, von uniformierten Kavalieren im Paradeanzug begleitet. Es ist furchtbar eng in dieser Flut von Menschen, die Stunden gebraucht haben, um sich so glänzend zu putzen, aber es ist prächtig und vornehm, ein Nonplusultra von Galatoiletten, ein Schillern und Wogen von bunten Farben, von Gold und Silber; die roten Uniformen der Offiziere stechen scharf ab gegen die hellen Seidenkleider der Damen in Weiß, Rosa oder Blau; hier und da schwebt der hohe, mit Juwelen besetzte Turban eines Maharadscha über einem Meer europäischer Haarfrisuren. Dann wird es plötzlich still, eine Gasse öffnet sich mitten durch die Menge: der Herold hat das Erscheinen des Vizekönigs mit seinem Gefolge auf dem Balle angekündigt, und das Musikkorps spielt » God save the King«. Der Vizekönig und seine Gemahlin schreiten langsam durch die Reihen, grüßen freundlich und verbindlich nach beiden Seiten und nehmen auf den Thronstühlen im großen Ballsaale Platz; dann wird der erste Walzer gespielt. Die hohen Gastgeber lassen sich bald diesen, bald jenen der Gäste zur Unterhaltung rufen; es ist ein Rauschen von Seide, ein Surren und Summen, die Schuhsohlen gleiten mit schlürfendem Geräusch über das Parkett hin, und mit unwiderstehlicher Gewalt reißt die Tanzmusik ihre Opfer fort. In einzelnen Partien oder Gesellschaften geht man in den nebenanliegenden Speisesaal, um dort an kleinen Tischen zu soupieren. Schließlich lichten sich die Reihen, die Gastgeber ziehen sich zurück, die Räder des letzten Rikscha knarren auf dem Sande des Hofes, die elektrischen Lichter erlöschen, und es wird wieder still im Palast.

Lord Kitcheners Residenz liegt am Ende der Stadt Simla und heißt Snowdon. Der Besucher tritt zunächst in einen großen Vorsaal, der durch seine geschmackvolle Einrichtung und Ausschmückung eher den Eindruck eines Empfangssalons oder einer mit Trophäen übersäten Ruhmeshalle macht. Eine Staffelei zeigt ein schönes Bild von Gordon Pascha; ihm gegenüber stehen Alexanders und Cäsars Büsten. In die Täfelung des Treppenhauses motivartig eingebaut ist die Lehne des Präsidentenstuhls, den Ohm Krüger in Pretoria benutzt hat, und auf Tischen, Wandbrettern und Friesen stehen wertvolle chinesische Vasen aus den Perioden von Kang-hi (1662–1722) und Kien-lung (1736–1795). Denn Lord Kitchener ist ein leidenschaftlicher Sammler von altem chinesischen Porzellan, aber nur das allerfeinste findet Gnade vor seinen Augen. Was jedoch den Fremden in dieser einzig dastehenden Halle am meisten überrascht und seine Aufmerksamkeit vor allem fesselt, sind die Trophäen und Fahnen von Lord Kitcheners Siegen im Sudan und in Südafrika. Von einer oberen Galerie herab hängen sie an ihren Stangen wie Kulissen, unter ihnen die Fahnen des Mahdi und der Derwische von Omdurman und Omdebrikat, nebst mehreren Burenfahnen aus Transvaal und dem Oranjefreistaat. Auch in den inneren Salons finden wir dieselbe luxuriöse Dekorierung mit chinesischen Porzellanvasen und seltenen ethnographischen Gegenständen, worunter einige in Holz geschnitzte tibetische Tempelfriese großen Wert besitzen; sie wurden von Younghusbands Lhasaexpedition mitgebracht. Auf den Tischen liegen Albums mit Photographien von Lord Kitcheners zahlreichen Inspektionsreisen in Indien und von seiner Reise durch das kalte Pamir. Bei festlichen Gelegenheiten schmücken die Tafel kostbare, massiv goldene Aufsätze, Nationalgaben der Engländer für den Besieger Afrikas.

Meine Zeit in Simla ging zu Ende; es war nutzlos, noch länger zu verweilen, nachdem ich die letzte bestimmte Antwort aus London erhalten hatte. Am 9. Juni nahm ich Abschied vom Vizekönig und seiner jüngsten Tochter, die nach Maschroba reiten und den Sonntag über dort bleiben wollten. Ich kann diesen Abschied nicht beschreiben, so warm und herzlich war er. Lord Minto wünschte mir, daß es mir trotz alledem mit meinem Vorhaben glücken möchte, und er freute sich in der Hoffnung, daß wir uns noch einmal in Indien begegnen würden. Es war mir nicht möglich, ihm im Augenblicke des Abschiedes all die Dankbarkeit, die mich beseelte, auszusprechen. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand, um mir zu helfen, und hatte sich meinetwegen sogar Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Er hatte auf ganz besondere Weise in mein Lebensgeschick eingegriffen, und ich wußte auch, daß ich in ihm einen Freund für immer gewonnen hatte. Es war bitter, ihm nun Lebewohl sagen zu müssen; ihn schmerzte es mehr als mich, daß unsere Pläne mißglückt waren, und für mich wurde es nun Ehrensache, mein Allerbestes zu tun.

Am Sonntagmorgen fuhren auch Lady Minto und ihre beiden älteren Töchter nach Maschroba hinaus, ich sagte ihnen zum letztenmal Lebewohl und dankte ihnen für die grenzenlose Gastfreundschaft, die ich im Viceregal Lodge genossen hatte. Der Augenblick des Abschieds war glücklicherweise nur kurz; bitter ist er ja stets. Zwei glänzende Kaleschen fuhren vor mit Reitern auf den Sattelpferden und eskortiert von eingeborenen Kavalleristen in Rot und Gold, die bewimpelte Lanzen in den Händen trugen. Die Damen in sommerlich leichten hellen Toiletten mit blumengeschmückten Hüten nahmen in den Wagen Platz – wie ein Strauß von Blumen erschien mir die ganze Gruppe dieser Ladies von blauestem Blut, das durch Jahrhunderte und Generationen veredelt und verfeinert worden war. Ich blieb so lange auf der untersten Treppenstufe stehen, als ich noch einen Schimmer von den winkenden Sonnenschirmen sehen konnte, aber bald verschwanden die roten Uniformen der Soldaten zwischen den belaubten Bäumen der Allee, die nach der Hauptwache hinunterführt – und das Märchen war aus.

Als ich dann wieder mein Zimmer betrat, erschien mir der vizekönigliche Palast ausgestorben und öde, und ich hatte keine Ruhe mehr zu längerem Bleiben; ich packte meine Sachen, eilte in die Stadt, machte schnell ein paar Abschiedsbesuche, traf Bestimmungen über das große Gepäck und war bald zum Aufbruch bereit. Am 13. ging es fort. Die Zahl Dreizehn spielt auf dieser ganzen Reise eine gewisse Rolle; am 13. November verließ ich Trapezunt am Schwarzen Meer, am 13. Dezember erreichte ich Teheran, die Hauptstadt Persiens, und am 13. Juni verließ ich Simla; aber ich war nicht abergläubisch! Younghusband war der erste, der mich willkommen geheißen hatte, und der letzte, der mir Lebewohl sagte; ich sollte ihn bald in Srinagar Wiedersehen. Dann rollte der Zug wieder durch die hundertundzwei Tunnel abwärts. Von einer Biegung aus sah ich noch einmal das Viceregal Lodge mit seinen stolzen Türmen und hohen Mauern, die Stätte so vieler fröhlichen Erinnerungen und zerronnenen Hoffnungen.


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