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Meine Herzenskönigin

Auf dem Wege der Töne hatten sie schließlich einander gefunden, auf dem der Töne und des Gedichtes.

Sie entsann sich jenes Sommers noch so genau! Wie konnte sie ihn auch je vergessen!

Er war der Bruder des Hausherrn des reizenden Landsitzes, und sie die beste Freundin der Frau. Gleich als sie im Juni dort hinauskam, hörte sie alle Tage von »Julius« reden. »Julius, der Taugenichts!« sagte der Hausherr, aber sein Gesicht strahlte, wenn er von dem Bruder sprach. »Wir warten wohl damit, bis Julius kommt,« sagte die Frau, wenn es sich um einen weiteren Ausflug, einen Besuch in der Nachbarschaft oder ein anderes Vergnügen handelte. »Liese soll nicht auf die Weide hinaus, denn auf ihr soll Herr Julius reiten,« erklärte der Kutscher, als Hertha ihn fragte, warum die graue Stute allein drinnen stehen müßte und nur herumgeführt würde, während alle ihre Kameraden draußen im Roßgarten ihre volle Freiheit hatten. »Nun ist im Zimmer des Herrn Julius alles in Ordnung,« rapportierte schließlich die Kammerjungfer, und am selben Nachmittag kam er selbst mit seinem dunklen, lockigen Jünglingskopf, seinem Violinkasten und dem besten Kapellmeisterzeugnis des Musikkonservatoriums an.

Musizieren war auch Herthas schönstes Vergnügen, allein sie bedurfte einiger Tage, bevor sie wagte, sich mit dem »Kapellmeister« einzulassen, dessen überlegene Fertigkeit sie bald erkannte. Aber nachdem das Eis einmal gebrochen war, nahmen die Duette gar kein Ende, sowohl in Gesang, wie in Violine mit Piano.

Herr Julius war ein Sonntagskind der Musen. Nicht nur, daß ihm die Töne nach Gefühl und Gedanken sich zu schönen, gefälligen Melodieen formten, er hatte auch einen hohen und vollen Tenor und ein nicht geringes Maß poetischen Talentes. Die Wenigen, die seine kleinen Dichterversuche gelesen hatten, fanden vielleicht nicht so sehr viel daran; aber wenn er sie in das Gewand der Töne kleidete, das er selbst geschaffen hatte, und sie selbst spielte oder sang, vermochte er fast jeden zu rühren.

Und am wenigsten von allen war Hertha auf der Hut vor seiner Zaubermacht. Sie genoß sie in vollen Zügen und fühlte eine Seligkeit, wie noch nie zuvor; sie war sprudelnd froh und heiter und witzig, und es verging ein ganzer Monat, ohne daß sie nur mit einem Gedanken daran dachte, daß auch dieser Sommer schließlich zu Ende gehen mußte.

Dann trat einer jener unbedeutenden Zufälle ein, die urplötzlich blendendes Licht in den verborgensten Winkel unseres Herzens werfen, und in der bekannten Weise die Seligkeit in Qual und die Freude in Thränen in langen, schlaflosen Nächten verwandeln. Sie mußte sich plötzlich losreißen, so lange es noch möglich war, sie mußte fort, weit fort und ihn niemals wiedersehen.

Und eines Morgens erzählte sie mit einer Gleichgültigkeit, die zu stark erschien, um natürlich zu sein, und in Ausdrücken, die sie sich in stundenlanger Mühe zurechtgelegt und eingeübt hatte, daß »sie am nächsten Dienstag ›Baumfried‹ verlassen müßte.«

Es war, als wäre eine Bombe am Kaffeetisch niedergefallen. Die Frau war »empört« und der Gutsherr »wütend«; nur Julius saß und zerschnitt seine Buttersemmel, als wenn er nichts gehört hätte.

»Aber warum in aller Welt ...?«

Hertha hätte einen Brief bekommen; es handelte sich um eine Stelle ...

»Aber seit vorgestern ist ja keine Post angekommen, und da sagtest du nichts ...?«

Sie hätte anfangs nicht die Absicht gehabt, die Stelle anzunehmen; aber bei längerem Nachdenken ... Ja, sie müßte ganz bestimmt abreisen!

Von dem Augenblick an, da die Trennung auf Tag und Stunde bestimmt war, hielt sie sich nicht mehr so scheu von ihm fern, wie sie es in den letzten Tagen gethan hatte; der zum Tode Verurteilte bekommt ja immer seine letzten Wünsche erfüllt.

Und dann saßen sie am letzten Abend allein im Salon. Ob sie das Duett noch einmal singen sollten? – Nein, sie wäre nicht disponiert. – Ob sie ihn zu ein paar alten, bekannten Sachen begleiten wollte? – Er möchte verzeihen, sie wäre so müde.

Dann setzte er sich an den Flügel und begann zu phantasieren, und sie nahm weiter vorn am Fenster auf einem Ruhesessel Platz. Und die rhapsodischen Melodieen flossen ihm zu einem neuen Tongedicht zusammen, das ihre Wangen zum Glühen und ihr Herz zum Höherschlagen brachte. Es waren weiche, bittende, herzliche Töne, die aus weiter Ferne zu kommen schienen, und je näher sie kamen, verwandelte sich die Weichheit in Kraft und die Bitte in Jubel, und froh, stolz klangen die Melodieen wie eine Siegeshymne aus.

Sie lauschte atemlos mit einem Gefühl, als wäre ihr eine Frage gestellt, auf die Antwort erwartet würde.

»Das war bezaubernd! Wie haben Sie das genannt?«

»Aber wie können Sie wissen, daß es von mir ist?«

»Das ... ja, das weiß ich. Wie heißt es?«

»Meine Herzenskönigin! Darf ich Ihnen vielleicht auch die Worte vorsingen?«

Es kommt bisweilen vor, daß auch kleinere Dichter – und etwas anderes war ja Julius auf diesem Gebiete nicht – sich hoch über ihr gewöhnliches Niveau erheben und etwas Gewaltiges schaffen unter dem Einfluß einer starken Gefühlserregung.

Hertha erbleichte. So etwas hatte er noch nicht gedichtet, so würde er gewiß niemals mehr singen. Natürlich füllte sich ihre Brust mit einer unbezwinglichen, unnennbaren Freude, und wie hypnotisiert schritt sie auf das Piano zu.

Als der letzte jubelnde Ton verklungen war, lag sie in seinen Armen, sie waren verlobt.

»Meine liebe Braut!« flüsterte er zärtlich und strich sanft über ihr lichtes Haar. »Du begriffst doch, wer ›meine Herzenskönigin‹ ist?«

Ob sie verstand!

Hertha reiste natürlich nicht ab, nahm auch keine Stelle an; aber um so mehr sangen sie Duette.

Als sie ein paar Tage später alle vier im Salon versammelt waren, und Julius, wie gewöhnlich, an seinem Instrument saß und »klimperte«, wie sein Bruder wenig achtungsvoll sein »Phantasieren« nannte, kam er in die ersten Takte der »Herzenskönigin« hinein. Aber plötzlich brach er ab, erhob sich schnell und schlug den Klavierdeckel zu.

»Warum denn?« fragte Hertha verwundert.

»Das soll nur für dich sein, allein für dich, verstehst du?«

Sie fühlte, daß sich ein Opfer dahinter verbarg, sie empfand instinktiv, etwas Besseres würde er niemals schaffen, und sie jubelte bei dem Gedanken, daß dies Beste, Herrlichste ihr allein gehören sollte.

Sein Talent und seine einnehmende Persönlichkeit verschafften ihm bald eine einträgliche Stellung als Musikdirektor in einer großen Provinzstadt, in deren Gesellschaftsleben Julius sogleich den Mittelpunkt bildete, verwöhnt und verhätschelt von allen, bewundert von den Frauen und beneidet von den Männern.

Aber bisweilen zog er sich völlig zurück, schloß sich mit Hertha von der Welt ab und erfreute ihr Herz und ihre Seele mit den Tönen, die nur für sie allein komponiert waren. Und dann durfte kein anderer zuhören, als der Kleine, der ihnen beiden gleich nahe stand.

Schließlich wollten aber gar keine Abende mehr für die »Herzenskönigin« übrig bleiben. Er wurde hin- und hergehetzt, von Fest zu Fest, von Kreis zu Kreis, und konnte sie ihn nicht immer begleiten, dann, ja dann mußte er eben allein gehen. Und er reiste in die Weltstädte als Pianist weltberühmter Sängerinnen und brachte die schönsten Photographien in Boudoirformat mit schmeichelhaften, bisweilen sehr warmen Dedikationen auf der Rückseite, in französischer und italienischer Sprache, mit.

Und einige von den Divas wurden zu Hause sogar auf den Flügel gestellt, der fast niemals mehr geöffnet wurde. Er benutzte den im Übungssaal, und sie »hatte keine Lust«.

Ihr blondes Köpfchen wandte sich nach ihm um, wie sich die Blume der Sonne zukehrt, wenn er, umschwärmt, bewundert und ausgezeichnet, sich im Damenkreis bewegte. Und wenn er unter Beifallsbrausen nach beendigter Ausführung einer Programmnummer den Blick erhob, begegneten ihm immer, näher oder ferner im Raum, aber stets so, daß sie ihn mit ihrem Blick umfangen konnten, ein paar blaue Augen, die in Liebe strahlten.

Er richtete es ständig so ein, daß er ein- oder zweimal im Laufe des Abends in ihre Nähe kam, und dann sagte er ihr ein paar freundliche Worte oder streichelte ihre Wangen oder drückte ihre Hand; auf dem Heimwege dagegen war er meist still und vertiefte sich in die Erinnerungen vom Abend, und immer seltener fragte er sie, was sie von seinen neuen Schöpfungen hielte. Er meinte, daß ihm die Generalin&nbsp;P., Signora Puletti, Freiherrin&nbsp;Z. und viele andere genug darüber sagten.

Sie fühlte, wie er ihr mehr und mehr entglitt. Es fiel ihr nicht ein, und sie hatte auch keinen Grund dazu, eifersüchtig auf eine bestimmte unter den Frauen zu sein, die ihn umringten, vergötterten und um »Lektionen« baten; aber sie war eifersüchtig auf sie alle, weil sie seine Zeit und seine Gedanken in Anspruch nahmen, auf das Gesellschaftsleben, selbst auf seine Genialität, die sie doch zugleich so stolz machte. Vielleicht hätte sie weniger gelitten, wenn es sich um eine einzelne Frau gehandelt hätte. Dann würden die Welt, der Stolz, die Liebe, ihr Mutterrecht ihr zu Hilfe gekommen sein, dann hätte sie denken können, es sei nur ein vorübergehender Sinnenrausch; aber die vielen, von denen keine ihm ein wärmeres Gefühl abgewann, waren vereint zu stark gegen sie.

Und die bittenden, flüsternden, jubelnden Töne in seiner »Herzenskönigin« – sie hatte sie nun wohl in Jahr und Tag nicht gehört.

Da wurde im Anfang des Sommers ein großes öffentliches Musikfest gegeben. Die vornehmsten Künstler der königlichen Oper waren auf einer Ferientournee auch in die Stadt gekommen, in der Julius wohnte, und alles, was es an Musikinteressenten in der Stadt gab, hatte sich nach Schluß des Konzerts zu einem Huldigungsschmaus für die gefeierten Künstler vereinigt. Aber man wollte dabei auch mit den künstlerischen Größen des Platzes glänzen, und Musikdirektor Julius mußte hervor mit Violine und am Klavier, einmal um's andere, und schöne Köpfe umringten ihn und kleine weiße Händchen legten sich eifrig und bittend auf den Ärmel seines Fracks.

Als er schließlich wieder auf den Pianostuhl genötigt war, wußte er kaum noch, was er zum Besten geben konnte. Er ließ die Hände spielend über die Tasten gleiten, und dann schlichen sich weiche, innige, bittende Akkorde hervor.

Plötzlich blickte er auf, als wenn ihn jemand gerufen hätte.

Dort bei der Thür erhob sich Hertha von ihrem Stuhl und preßte konvulsivisch ihre Hand gegen das Herz und starrte ihn mit einem Ausdruck des Entsetzens an. Und als sie seinem Blick begegnete, bat jedes Atom in ihrem Gesicht, die thränengefüllten Augen, die roten Lippen, das kleine zitternde Kinn: »Nicht das, Julius! Nein, nicht das! Entsinnst du dich nicht ...!«

Es gab etwas in seinem Herzen, das bei diesem angstvollen Blick erbebte, und die ersten Takte von »Meine Herzenskönigin« brachen mit einer seltsamen Dissonanz ab.

Der Musikdirektor entschuldigte sich, daß er nicht mehr spielen könne, und ein Weilchen später gingen die beiden still die Straße entlang nach Hause.

Hertha blickte mit unterdrücktem Weinen zu ihm auf, legte die Hand auf seinen Arm und flüsterte:

»Verzeihe mir! Bist du sehr böse? Es war ja kindisch – aber du hattest mir einst gelobt ...«

»Ja, das hatte ich,« erwiderte er und drückte ihren Arm an sich.

Dann gingen sie die Treppe hinauf und betraten das Entree, aber anstatt, wie gewöhnlich sich schleunigst in das Schlafzimmer zu begeben, sich auszukleiden und die Lichter auszulöschen mit einem flüchtigen »Gute Nacht, Liebste!« – schlang er den Arm um sie und zog sie mit sich in den Salon, wo er sie auf einen Fauteuil setzte und einen Kuß auf ihr blondes Haar drückte.

Und dann ging er zum Flügel hin, setzte ungeduldig all die Photographieständer auf das Sofa hinunter, öffnete ihn und schlug an.

Er lachte halb wehmütig. Sein, des Meisters, Instrument war nicht sonderlich gut gestimmt. Aber das mußte sich nun gleich bleiben.

Und dann klangen sie wieder hervor, die alten, lieben Töne, die liebsten auf der Welt, wieder liebkosten sie in Worten und Tönen, und wie damals, als sie sie zum erstenmale hörte, wurde sie unwiderstehlich in seinen Arm gezogen. Aber bei der Erinnerung an den ersten Abend und an alles das, was dazwischen lag, war etwas, was in ihrem Herzen bohrte, und große, heiße Thränen fielen auf seine Wange herab.

»Meine Herzenskönigin, mein Alles auf Erden!« flüsterte er weich.

»So fühlst du vielleicht heute, Julius, aber morgen ...«

»Morgen nehme ich mir zwei Monate Urlaub, und dann ziehen wir einige herrliche, schöne Wochen, alle drei, aufs Land, und den Flügel nehmen wir auch mit.«

Sie waren an's Fenster getreten, und er hatte sie auf sein Knie niedergezogen. In der hellen Sommernacht sah er, wie es in ihren Augen bei seinem ersten Wort aufstrahlte; aber wie sie maulte, als sie hörte, daß das Instrument mit sollte.

»Du willst draußen doch Musikarbeiten machen?«

»Ja, Liebste!«

»Was willst du ... (es war so lange her, daß sie an seinen Arbeitsplänen teilgenommen hatte) ... was willst du vornehmen?«

»Ja, wir müssen im Ernst das alte Lied repetieren, Hertha, die Strophe, du weißt:

»Ach, nur für dich in der weiten Welt,
Meine Herzenskön'gin, ich noch singe.«

Denke dir, die hatte ich beinahe vergessen!«

Sie schmiegte sich an ihn und verbarg ihr blondes Haupt an seiner Brust.

»Woran denkt meine Hertha?«

»Ach, ich bitte Gott ... wenn dies nur ein Traum ist, möchte er so gnädig sein, mich niemals mehr daraus erwachen zu lassen ...«


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