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VI.
Eine Werbung.


So lange ein Junggeselle stark, jung, heiter und sich selbst genug ist, kann er recht behaglich leben, Gesellschaft suchen und finden oder es auch bleiben lassen, ganz wie es ihm beliebt.

Das Junggesellenleben ist auch noch erträglich, sobald man alt und grau geworden, wenn man nur gegen Nahrungssorgen gesichert ist und in einer Großstadt lebt, unter deren vielen Zerstreuungen man auch solche finden kann, die sich für jemand eignen, der ein ruhiges und stilles Leben führen möchte, und deren interessantes Volksleben eine Unterhaltung verschafft, ohne daß man sich selbst in dasselbe zu mischen braucht, wo es kurzum leichter ist, die Zeit todtzuschlagen und zu vergessen, daß man selbst hinwelkt.

Es ist auch für einen reichen alten Junggesellen erträglich, der die Mittel hat, sich ein eigenes Heim nach seinem Geschmacke einzurichten, Sorge und Pflege ordentlich zu bezahlen und die Zuneigung zu erkaufen, die er versäumt hat, sich zu erwerben.

Aber traurig wird es für den alten Junggesellen in einer kleinen Stadt, sobald seine gute Laune nachläßt, er weniger in die frohen Kreise paßt und sich von den Verpflichtungen des Gesellschaftslebens beschwert zu fühlen beginnt, wenn die Gläubiger seine mäßigen Jahreseinkünfte theilen wollen und ihm nicht viele Groschen übrig bleiben, nachdem die Miethe für zwei ärmliche Räume, die er mit derbem Euphemismus sein Heim nennt, sowie das Monatsabonnement im Gasthause bezahlt ist.

Hauptmann Malm schien viel schneller zu altern, obgleich er viel regelmäßiger lebte, als die Anderen. Aeußerlich wurde die Freundschaft mit all seinen Bekannten wohl aufrecht erhalten, aber das Gedränge in der Ecke des lustigen Hauptmanns, ob er sich nun auf der Veranda, im Speisesaal oder im Café aufhielt, war nicht mehr so groß, wie früher. Jahre vergingen, und die berühmte 53 nahte heran, das übliche Pensionsalter für Hauptleute, er war nun einer der allerältesten Stammgäste des »Goldnen Rosses« geworden, aber die Falte auf seiner Stirn wurde immer tiefer, und der einst so lustige Hauptmann sah immer ernster aus, wenn er abends nach Hause ging, was jetzt vielleicht etwas zeitiger geschah, als früher.

Unter den vielen Männern, die öfter an Mariens Büffett Revue passiren mußten, gab es wohl keinen einzigen, den sie nicht wenigstens einmal in einem Augenblick gesehen hatte, wo es mit seiner Gottähnlichkeit übel stand und sein Geist ziemlich stark umnebelt war, keinen, außer Hauptmann Malm. Und doch hatte das Wirthshaus- und Junggesellenleben ihn am meisten mitgenommen. Assessor Ek, der eine Zeit lang ganz furchtbar gebummelt und ausgesehen hatte, als wäre er direkt aus dem Grabe auferstanden, wenn er morgens zum Frühstück kam, war nun Bürgermeister, Familienvater und das exemplarische Vorbild der Nachbarstadt. Oberlehrer Berg war der Vorsitzende in Naalköpings Mäßigkeitsverein, Hilfslehrer Hansson hielt Vorträge im Enthaltsamkeitsverein und kam niemals mehr ins »Goldne Roß«. Aber für Hauptmann Malm, der immer korrekt und fein war, den man niemals in solch erniedrigenden Situationen gesehen hatte, in welche die Anderen bisweilen geriethen, hielt niemand eine derartige Besserung für möglich, denn er hatte zuviel Jahre seines Lebens vergeudet.

Hauptmann Malm flößte Marie ein Gefühl des Mitleids ein, und schließlich wurde er derjenige von allen Gästen, für den sie sich am meisten interessirte. Sie entdeckte, daß sie eine wirkliche Befriedigung empfand, wenn er nach Schluß der Manöver wieder dreimal am Tage in's »Goldne Roß« kam, und sie begrüßten dann einander wie zwei alte Freunde, froh, fast kameradschaftlich und vertraulich, aber ohne eine Spur der Courmacherei oder eines heimlichen Einverständnisses. Eines Abends hatte Marie sich nach einem Gespräch mit dem Hauptmann, das etwas tieferen Inhalts gewesen war als gewöhnlich, so angeregt gefühlt, daß sie sich nachher ordentlich zu prüfen begann, ob sie etwa im Begriff wäre, sich in ihn zu verlieben.

Aber sie lachte bei sich im stillen über diesen Gedanken. Sie war nun 37 Jahre alt geworden und fühlte, daß der berauschende, gefährliche Frühlingstraum des Lebens, der sie einmal beinahe zu weit mit sich gerissen hatte, niemals und in keiner Form wiederkehren würde.

Aber zugleich wußte sie, daß sie für keinen Anderen auf Erden das empfand, was sie für Hauptmann Malm fühlte, obgleich sie durchaus nicht begriff, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte, das so fest, so klar und bestimmt war, und worüber es ihr doch so unmöglich erschien, in ihren sonst so lichten Gedanken in's Klare zu kommen. Das war ganz einfach eine Freimaurerei der Parias der Gesellschaft!

»Parias der Gesellschaft?« – sie? O ja! Dieser stattlichste und begabteste Officier des Regimentes, dessen männliche Ehre rein und unbefleckt war und der sich nichts anderes vorzuwerfen hatte, als daß er sein Leben vergehen ließ, ohne seine reichen Gaben anzuwenden, er war nun verschuldet, bereit, seinen Abschied zu nehmen, ohne Hoffnung auf irgend eine Aenderung seiner Lage, als die, welche das Hinwelken des Alters ihm bringen würde, wenn er noch lange am Leben blieb. Er war nichts anderes, als ein armer Paria, gegen den die Gesellschaft von Naalköping ganz allmählig immer kühler wurde, der ohne eine nützlich verwendete Vergangenheit und ohne jede andere Zukunft dastand, als sich allmählig immer mehr in sich selbst zurückzuziehen und zu sterben. Dann würden die schön bedruckten Kranzschleifen kommen, dann würde das ganze Officiercorps in Paradeuniform auf dem Kirchhof erscheinen, manches Herz vielleicht ein wenig schneller klopfen bei dem Gedanken an die alten Zeiten und an die verblaßten Erinnerungen, und »Naalköpings Wochenrevue« würde seiner reichen Begabung, seines liebenswürdigen Wesens, all' seiner angenehmen Eigenschaften als Mittelpunkt des besten Gesellschaftskreises, der Freude, die er einst durch seinen funkelnden Witz um sich verbreitet hatte, und des Entzückens gedenken, mit dem man seine genialen Tischreden anhörte u. s. w.

Aber nun war er, trotz allem, ein Paria, einer der Ausgeschlossenen, der sich selbst ausgeschlossen hatte von der Freude des Lebens, von der Theilnahme an fast allem, woran die meisten seiner Standesgenossen sich erfreuten und worauf sie hofften.

Und das stattliche, schöne Weib im Hochsommer des Lebens, dieses Weib mit den tadellosen Toiletten und dem ruhigen, gesetzten, angenehmen Wesen, – ein prächtiges Geschöpf, nach dem man sich auf den Straßen einer Großstadt umgesehen haben würde, um lächelnd bei sich zu denken: »Eine flotte, elegante Dame!« Sie war ja gar keine »Dame«, sie war nur die Marie vom »Goldnen Roß«, ein Mädchen mit fleckenreinem Ruf, in seiner Weise geachtet und geschätzt, von großer Tüchtigkeit, mit klugem Kopf und mit ruhigem Gewissen, in deren Erinnerung es nichts gab, vor dem sie hätte die Augen niederschlagen müssen. Aber dennoch nur eine Wirthshausmamsell, die zwar an Bildung und Intelligenz zu hoch stand, um an dem Umgang der Kreise Genuß zu finden, die ihr offen standen, der es aber niemals gelingen würde, in andere hineinzukommen – – auch sie ein richtiger Paria!

Die Mutter war gestorben und brauchte sie nicht mehr, den Geschwistern ging es sämmtlich gut, und sie sah sie so selten, hatte die jüngeren so wenig gekannt, daß sie keine besondere Freude bei dem Gedanken empfand, ihnen einmal ihre Ersparnisse zu hinterlassen. Bisweilen fühlte sie sich so entsetzlich müde, sie war all' dieses Strebens, das ihr so ganz zwecklos erschien, so überdrüssig, daß sie sowohl für sich, als für andere ungenießbar geworden wäre, wenn nicht die Gewohnheit und ihre große natürliche Ruhe es ihr möglich gemacht hätten, sich zu beherrschen. Aber in ihrem Innern begann, unsichtbar für die Welt, eine Unzufriedenheit, ein Neid, Murren und anderes Unkraut unter dem vielen Guten und Sympathischen, was sich in ihrem Charakter vorfand, emporzukeimen. Für einen im Grunde guten Menschen giebt es gegen solche Herzenskämpfe kein besseres Mittel, als Theilnahme und Mitgefühl für andere. Marie sah instinktiv ein, wie es mit Hauptmann Malm stand, und ihr herzliches Interesse für ihn that ihr innerlich wohl.

Wieder kam der Frühling, und Malm reiste zu den alljährlichen Uebungen. Und es kam der Sommer, während dessen Marie ungeduldiger, als sonst, ihn zurückerwartete. Die Uebungen waren zu Ende, eine Woche verstrich, aber er kam noch immer nicht. Hatte sich seine Lage etwa so gebessert, daß er sich, wie früher, auf Reisen begeben konnte? Sie fühlte sich in dem Gedanken ganz glücklich. Der arme Hauptmann Malm, er brauchte wohl ein bischen Zerstreuung!

Noch eine Woche verging, und dann fragte sie Lieutenant Brand, der sich vorübergehend in der Stadt aufhielt:

»Kommt denn Hauptmann Malm gar nicht wieder nach Naalköping?«

»Sieh, sieh! Ja, ja, für den alten Malm interessiren sich, meiner Treu, noch heute die Frauenzimmer! Ja, er kommt schon wieder, wenn nur erst das schlimmste Unwetter vorüber ist.«

»Wie meinen Sie, Herr Lieutenant? Was für ein Unwetter soll vorüber sein?«

»Der Konkurs. Hat noch nichts davon in den Zeitungen gestanden? Er wohnt draußen bei dem alten Gutsbesitzer Barkmann auf Ostfelde. Es fällt ihm natürlich schwer, sich hier zu zeigen, bis der erste Schmerz vorüber ist.«

»Ist Hauptmann Malm in Konkurs gerathen?« fragte ein bekannter Herr am nächsten Tische, während Marie sich zurückzog.

»Ja, es kam am letzten Tage bei den Uebungen zum Klappen. Solange er im Dienste war, gelang es ihm, sich über Wasser zu halten; aber vorgestern stand sein Abschied in der Postzeitung!«

Ein Stich fuhr Marie durch's Herz. Der arme Hauptmann! Dieser Paria war arm, noch ärmer, als sie, denn sie war für ein Mädchen in ihrer Stellung reich, sogar sehr reich. Sie besaß ganze 20 000 Kronen. Die ersten 3000 hatte sie mühsam und verhältnißmäßig langsam zusammengespart. Dann kam sie aber eines Tages zum alten Lindberg und sagte, sie wünsche ihn zu verlassen, um auf eigene Hand ein kleines Baderestaurant in einem der kleinsten Kurorte zu übernehmen, dessen Besitzer es verpachtete, sodaß ihre Sparschillinge für das Unternehmen wohl ausreichen würden.

Der alte Gastwirth war ganz verzweifelt und bot ihr höheren Lohn, obwohl sich ja gezeigt hatte, daß sie durch ihre Trinkgelder beträchtliche Einnahmen hatte. Aber es half ihm nichts. Da bot er ihr Antheil am Umsatz an. Sie wurde zur Aufseherin über das Ganze gesetzt und war in Wirklichkeit diejenige, welche fast allein die Zügel des »Goldnen Rosses« führte, obgleich kaum jemand etwas davon wußte und sie wie früher hinter dem Büffett stand und ihre Trinkgelder in Empfang nahm.

Es dauerte bis in den Oktober hinein, bis Malm wieder kam. Die Freunde, die nichts bei ihm verloren hatten, und auch einige von diesen zeigten sich nobel und nachsichtig und nahmen ihm gegenüber etwas beschützend Gütiges an. Aber die alte Ecke des Hauptmanns war von anderen besetzt, und er mußte sich einen andern Platz suchen. Die Freunde luden ihn zum Punsch ein und waren gemüthlich, und der jetzige Witzbold der Gesellschaft schlug ihm auf die Schulter und rief ermunternd: »Na, keine Scheu vor dem ›Goldnen Roß‹, es scheut vor Ihnen ja auch nicht zurück!« Er war stolz, sehr stolz und sah doch ganz gebrochen aus. In seinem Blick lag etwas wie in dem eines auf den Tod verwundeten Thieres, und Mariens Herz erglühte, als sie ihn sah. Wenn andere ihr 50 Oere und ganze Kronen hinwarfen, beugte sie nur ein wenig den Kopf; für seine 10 Oerestücke verneigte sie sich aber und sagte »Danke bestens!« Dafür blieb er einen Augenblick am Büffett stehen und plauderte ruhig und artig mit ihr, er, der jetzt zu keiner Dame von Naalköping mehr ein Wort zu sagen pflegte.

Viele Mittage und Abende blieb er fort.

»Es ist merkwürdig, wie oft der Herr Hauptmann eingeladen ist«, sagte Marie.

Er sah sie lange und ernst an.

»Nein, Fräulein Marie, man ladet mich nicht so oft ein; aber wenn man älter wird, geschieht es bisweilen, daß man auch ohne Essen satt wird.«

Zu niemand anders würde er sich diese wenigen Worte einer indirekten Klage gestattet haben; aber ihr gegenüber fühlte er instinktiv, daß sie ihn nicht demüthigten. Das war die Freimaurerei der Parias!

Sie dachte an ihn früh und spät. Sie hatte ja an niemand anders zu denken, sonst würde sie ihn wohl unbeachtet gelassen haben. Ihn in gewöhnlicher Weise zu lieben, war ihr unmöglich, das fühlte sie; sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Herz mehr als einmal verschenken. Aber sie hätte seine alte 80jährige Mutter sein mögen, um das Recht zu haben, über sein dunkles, graugestreiftes Haar streichen und ihm zuflüstern zu dürfen: »Muth, mein Junge! Du bist im Kampfe unterlegen, aber trotz Deiner Niederlage giebt es doch ein Herz, das für Dich schlägt, eine Schwelle, welche Du als stolzester, bester und glücklichster Sieger überschreitest!« Sie hätte seine alte getreue Schwester sein mögen, um sein schönes, aber so ernstes Haupt zwischen ihre weichen Hände nehmen und sagen zu können: »Sieh, Du stehst ja doch nicht allein! Hier ist jemand, der weiß, was in Dir wohnt, der nicht die reichen Fähigkeiten vergißt, die in Dir schlummerten, der Dich niemals mit demselben Maße messen wird, wie es andere Menschen thun!«

Es war bekannt geworden, daß Marie einiges Geld gespart hatte, obgleich niemand genau wußte, wieviel es war. Da fanden sich Männer, die es im Ernst auf sie anlegten, – Wittwer aus dem Kleinbürgerstande, ein verschuldeter Grundbesitzer und ein paar junge Kaufleute aus Naalköping, die einige Jahre jünger waren, als sie, aber meinten, es müßte ganz »fein« sein, einen kleinen Zuschuß zu einem eigenen Geschäft und eine Frau zu bekommen, die gewöhnt wäre, hinter dem Ladentisch zu stehen.

Marie war sehr ehrlich und deutlich gegen sie; sie ließ sie niemals auch nur bis zu einer offenen Erklärung ihrer Gefühle kommen. Sie wurden unterbrochen, ehe sie so weit waren, ihren Absichten in deutlichen Worten Ausdruck zu verleihen. Es fiel ihr niemals ein, auch nur einen Augenblick an die Möglichkeiten zu denken, die durch diese vielverheißenden Spekulationen auf ihre Hand sich ihr eröffneten. Sie verachtete diejenigen, von denen sie meinte, daß ihre Person ihnen wenig bedeutete, und empfand doch zugleich Ekel vor denen, die Zärtlichkeit und Zuneigung verriethen.

Und Hauptmann Malm kam und ging und schien bei seinem jetzigen sehr einsamen Leben fast eine ruhige und stille Zufriedenheit darin zu finden, mit ihr zu reden und sich von ihr von den Verabredungen und Festlichkeiten der Junggesellenwelt erzählen zu lassen, denen er nun fast völlig fern blieb. Und Marie strengte ihre Geisteskräfte bis auf's Aeußerste an und machte ihre Zunge so scharf sie konnte, um in Malm's eigenem Geiste die »Herren« zu verspotten und lächerlich zu machen. Sie hatte einen für den Humor des Lebens offenen Blick, und die Junggesellenwelt von Naalköping war durchaus kein hoffnungsloses Beobachtungsfeld für einen solchen. Bisweilen, wenn Malm nach einem solchen Plauderstündchen mit Marie nach Hause ging, bäumte sich sein Hochmuth auf. »Pfui! Daß Du da sitzen kannst und mit einem Mädchen über Leute spotten, in deren Kreis Du nicht mehr gehörst!« brummte er bei sich selbst. Aber mein Gott, war sie denn ein »Mädchen«? Nein! Ein braves, intelligentes, vortreffliches Weib war sie, keines von diesen kleinen Hühnerhirnen, von denen dreizehn auf's Dutzend gehen, antwortete sein eigenes Bewußtsein.

Wenn auch das ständig wachsende Interesse Mariens für Hauptmann Malm sich niemals zu der Liebe steigern konnte, die gewöhnlich zwischen Mann und Weib herrscht, drohte es doch, statt dessen, sich zu einer wirklichen Monomanie zu entwickeln.

Die Mutterinstinkte dieses 37jährigen Weibes waren von diesem 50jährigen Manne zum Leben erweckt. Ihr Herz klopfte vor Freude, wenn er dadurch, daß er leise und falsch eine alte Operettenmelodie vor sich hinsummte, eine heiterere Gemüthsstimmung verrieth, und sie lachte draußen an ihrem Büffett, wenn sie wieder einmal seine laute und frohe Stimme vernahm, wie dieselbe drinnen im Café eine Diskussion leitete, oder wenn sie sein tiefes, breites, rollendes Lachen, das nun so selten ertönte, durch den Tabaksqualm hindurchdringen hörte.

Sie träumte von ihm in langen, einsamen, dunklen Nachtstunden, aber nicht in gewöhnlicher Frauenmanier: daß sie an seine Brust sank, seine starken Arme sie umfaßten und sie seine heißen Küsse auf ihrer Stirn, ihren Wangen, dem Munde und den geschlossenen Augenlidern fühlte, – nein, sie träumte, daß sie es ihm recht behaglich und gemüthlich gemacht hätte, und daß er der Passive wäre, der ihr nur mit einem hellen Blick aus dunklen Augen dankte, und daß sie nur ein einziges Mal an einem ganzen Abend sanft ihre weiße, volle Hand über das schwarzgraue, struppige Haar gleiten ließ, während ihr Herz in gleichmäßigen, ruhigen, zufriedenen Schlägen klopfte, und beide ein Gefühl hatten, als wenn sie von einer lebenslangen Fahrt in Kälte und Schneegestöber auf ungebahnten Wegen unter Dach und in die warme Stube hineingekommen wären.

Ein einziges Mal hatte er mit seltsamem Tonfall in der Stimme, wahrend er ernst und lange in ihr Gesicht blickte, gesagt: »Fräulein Marie, Sie können sehr gut sein, wenn Sie wollen!«

An einem schönen Sommerabend ertönte der Lärm von Musik, Gelächter und Geplauder von der oberen Etage und Veranda des »Goldnen Rosses« stärker und lebhafter über Naalköping hin, als jemals. Es wurde dort eine Hochzeit gefeiert. Es war bereits spät am Abend. Das Brautpaar war mit dem letzten Zuge zu seiner frohen Hochzeitsfahrt abgereist. Aber die Brautjungfern, Marschälle und die übrige frohe Jugend hatten es erreicht, eine genügende Anzahl von »Tugendwächtern« für einen kleinen improvisirten Ball zurückzuhalten, der gar kein Ende nehmen wollte.

Unten war das Haus leer. Viele von den Stammgästen waren mit oben. Die übrigen waren alle, mit Ausnahme des Hauptmanns Malm, nach Hause gegangen. Zu dieser Hochzeit geladen zu werden, hätte er wirklich Anspruch gehabt; es war ja die Tochter seines alten Kameraden und früheren intimen Freundes, des Stabsarztes, die sich verheirathete.

Als er übergangen wurde, beschloß er, sich an diesem Tage nicht im »Goldnen Roß« sehen zu lassen. Am Morgen trank er in einer Konditorei eine Tasse Chokolade, mittags ging er in's »Rathhaus«, aß dort ein Stückchen Fleisch und trank dazu ein Glas Bier, aber abends wendeten sich seine Schritte doch, halb unbewußt, zum »Goldnen Roß« hin. Die Hochzeit war nun ja zu Ende und das Brautpaar abgereist. Nicht einmal die Töne der Tanzmusik und des frohen Geplauders veranlaßten ihn umzukehren.

Er ging in's Café hinein und bestellte sich einen kleinen Cognak und Wasser und saß dort und starrte vor sich hin. Dann gingen die Gäste, einer nach dem andern, und zuletzt saß er allein da. Er klingelte nach einer Cigarre, und als Marie, die allein als Wache unten war, dieselbe brachte, schob er ihr still einen Stuhl hin, und sie setzte sich. Wie alt und verdrossen er aussah! Marie war sogleich geneigt, ihn in ihrer gewöhnlichen Weise und mit ihrem erprobten Mittel zu trösten.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, Herr Hauptmann, wie lächerlich und ungeschickt der Bräutigam in seiner Jägermeisteruniform aussah, und die Braut erschien so kalt und steif, als wohne sie ihrem eignen Begräbniß bei. Aber Lieutenant Averling – der war heute extrafein, fast ganz nüchtern, bis nach der Servirung des Bratens. Und der Onkel der Braut, der Kassirer mit der langen Nase –«

Aber es wirkte heute nicht wie gewöhnlich auf Hauptmann Malm. Er verzog bei Mariens kleinen Bosheiten nicht einmal den Mund, und daher schwieg sie verstimmt.

»Nicht so, Marie, nicht so! Es war ein braves und liebes Mädchen, die heute getraut wurde, mein kleines Pathchen, das früher so oft auf meinen Knieen gespielt hat – –«

»Und nun waren Sie – Herr Hauptmann –«

Sie verstummte.

»Was, Marie?«

»Ach nichts –«

Sie hatte natürlich ihr Erstaunen darüber ausdrücken wollen, daß er nicht mit auf der Hochzeit gewesen war, besann sich aber und schwieg, um ihn nicht zu verletzen.

Sie ging zum Büffett hin, kam aber nach einer Viertelstunde wieder.

»Entschuldigen Sie, Herr Hauptmann. Aber nun muß geschlossen werden.«

Er blickte mit einem Gesicht zu ihr auf, das so alt und müde und abgelebt aussah, daß sie erschrak.

»Sind Sie krank, Herr Hauptmann?«

»Nein, ich bin nur müde, ach so müde, und des ganzen Lebens überdrüssig. Wissen Sie, Marie, daß ich fast wünschte, ich brauchte nicht länger hier herumzuspuken. Aber das können Sie ja nicht verstehen – zu Ihrem Glück –«

Das Blut strömte ihr zu Kopf; sie verlor die Besinnung und wußte nicht mehr, was sie sagte oder that, als sie ausrief:

»Ich nicht verstehen! Oh! Auch ich bin müde, todtmüde und all dessen hier überdrüssig. Wollen Sie – – sollen wir beide uns ausruhen – weit, weit fort von hier, irgendwo –«

Sie verstummte erschreckt über den Laut ihrer eigenen Stimme, schlug die Hände vor das Gesicht und wollte hinauseilen. Aber er hielt sie am Arm fest und rief:

»Wie meinen Sie? Reden Sie im Fieber, Marie? Was fehlt Ihnen? Sollten Sie – Ist es möglich, daß Sie mich lieben?«

Sie nahm die Hände vom Gesicht fort und sagte langsam, während die Thränen über ihre Wangen hinabliefen:

»Nein, das – nicht – das gerade nicht; ich habe Sie nur gern – ein wenig, ganz wenig, hören Sie; aber Sie sind so einsam, und ich bin so einsam, – und dann sind Sie so freundlich gewesen, verzeihen Sie mir –«

Langsam, ängstlich und zögernd, wie ein Schuljunge, umschlang er sie mit seinem Arm und flüsterte:

»Das ist seltsam. Ich weiß ja, Sie sind ein kluges und prächtiges Mädchen, ich glaube fast, das beste, das ich kenne, und doch sagen Sie, Sie seien nicht glücklich! Auch ich bin es nicht, der ich mein ganzes Leben vergeudet und nichts ausgerichtet und nichts erreicht habe! Und auch Sie sind es nicht, die Sie Ihre Arbeit so gut angewandt und für sich und andere mehr gethan haben, als jemand verlangen kann! Worin besteht nun das Glück?«

»Vielleicht darin, jemand zu haben, dem man sich ohne Furcht anvertrauen kann«, flüsterte sie leise zur Antwort und blickte zu seinem Gesicht empor. Dann entzog sie sich still seinem Arm und fuhr fort: »Aber nun müssen Sie mir versprechen, nie mehr mit mir von den thörichten Worten zu reden, die ich soeben in völliger Geistesverwirrung sprach.«

»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Marie. Ich glaube im Gegentheil, wir sollten noch mehr miteinander davon reden. Aber was ich Ihnen immerhin geloben kann, ist, Sie vielleicht höher und unbedingter zu achten und zu respektiren, als irgend ein anderes Weib, das mir nahe gestanden hat.«

Sie antwortete ihm nicht und ging ihm an den folgenden Tagen so viel aus dem Wege, als es ihr in ihrer Stellung möglich war. Schließlich nach Verlauf einer Woche schrieb er an sie: »Sofern Sie nicht wollen, daß die Hochachtung, die ich immer für Sie gehegt habe, abnehmen soll, treffen Sie mich, bitte, morgen Vormittag um 11 Uhr an der Eisenbahnstation von L. Ich fahre dorthin, ohne eine Antwort abzuwarten.«

Er fuhr nicht vergebens hin. Sie sprachen offen und lange miteinander, und als sie am Abend nach Naalköping in verschiedenen Coupés zurückkehrten, war die Sache zwischen ihnen abgemacht. Hauptmann Malm wäre wohl selbst der Erste gewesen, der, im Falle es sich um andere gehandelt hätte, von der Vereinbarung, die sie getroffen hatten, gesagt hätte, die Büffettmamsell habe sich für 20 000 Kronen Trinkgelder einen ergrauten Adonis gekauft, oder ein ausrangirter, alter, gebrochener Kerl habe sich Heim und Pflege für seine alten Tage gegen einen Hauptmannstitel eingetauscht. Sie selbst aber wußten besser Bescheid; sie selbst wußten, daß sie sich, als zwei einsame Wanderer, dahin geeinigt hatten, getreu einander die Hand zu reichen für den Rest des Weges, den sie noch wandern mußten.



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