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III.
Haben Sie jemals eine Schwester gehabt?


Der Gastwirth im »Rathhause« schlief unruhig und hatte böse Träume. Der Oktober war gekommen, aber nicht der gewöhnliche größere Zufluß von Gästen zum »Rathhaus«. Alte geistreiche Staatsmänner, die es besser hätten verstehen sollen, trabten noch immer im strömenden Regen nach dem Hügel zum »Goldnen Roß« hinaus, kneipten draußen und hatten dort ihre Spielpartien, als wäre es noch mitten im Sommer.

Der alte Lindberg wurde mit seinen Ermahnungen an Marie, gegen die Herren freundlicher zu sein, immer sparsamer. Sie hatte nun einmal ihre Art für sich, und diese mußte doch nicht so dumm sein, denn es gefiel den Gästen jetzt besser im »Goldnen Roß«, als jemals.

»Sie ist – kurz und gut – puh – eine Perle«, war jetzt die stehende Redensart des alten Gastwirths.

Aber die Verehrer bereiteten Marie noch immer mancherlei Unbehaglichkeiten. Nachdem die gewöhnlichen Courmacher, die derbe Angriffe und schnellen Erfolg lieben, Bescheid bekommen hatten, blieb noch eine andere Gattung übrig.

Das waren ein paar Exemplare von jener Kleinstadtspezies, die es liebt, die Büffettmamsell als »Salondame« zu behandeln. Sie kamen zwischen ½5 und ½7, zwischen dem Dessert und den ersten servirten Gläsern Grog, um welche Zeit es verhältnißmäßig wenig am Büffett zu thun giebt und in dem Speisesaal, worin sich dasselbe befindet, noch wenig Gäste anwesend sind. Sie fällten ihre sicheren Urtheile über die Witterung und die Vergnügungen der Stadt, sie wünschten Fräulein Marie's Meinung über Villar's »Dragoner« zu hören, bei deren epochemachender Ausführung in dem dramatischen Kunsttempel von Naalköping sie in der ersten Reihe bemerkt wurde. »Wirklich?« Ah, glaubte Fräulein Marie etwa, daß sie zu denen gehörten, die gerade in die Sonne hineinsehen können, ohne mit den Augen zu blinzeln?

Ob Fräulein Marie sich im Theater gut amüsirt habe, ob nicht auch sie einmal davon geträumt habe – –? Ach, bei ihrer Figur und ihren Augen –! Daran hätte sie nicht gedacht? Nun, da könnten Gerda Grönberg und Edda Johnson sich gratuliren, denn sie wüßten wohl, wer nach ihrem Geschmack –.

Wenn man nicht rauche, könnte man wohl an dem Eßtisch dicht beim Büffett eine Tasse Kaffee haben?

Ach es wäre so schön hier, so gemüthlich und ruhig zu sitzen und ein paar Worte mit einer intelligenten Dame zu reden. Fräulein Marie könnte sich ja gar keine Vorstellung davon machen, wie platt und oberflächlich die Interessen der Damen der Gesellschaft von Naalköping seien und dabei wären sie so jämmerlich beschränkt, man würde ihrer so müde, wenn man bei einem Mittagessen oder einem Souper gewesen wäre! Ob Fräulein Marie nicht auch glaube, daß es die selbständige Thätigkeit, die Arbeit, das Gefühl, alles allein sich selbst zu verdanken, wäre, welches das Weib adele und seine edleren Interessen zum Leben erwecke?

Das arme Fräulein Marie! Sie arbeitete wohl zu viel, und dann müßte ja jeder Einzelne, der sie sähe, zu der Ueberzeugung kommen, daß dieses keine würdige Umgebung, d. h. kein passender Rahmen für sie wäre – Sie wäre doch zu etwas ganz anderem geschaffen – aber dennoch, wenn Fräulein Marie nur wüßte, wie hoch sie geachtet und wie sie wirklich bewundert sei.

Sie hätten sich oft im stillen gefragt, was der Wirth sich eigentlich dabei gedacht habe, ein solches Wesen, das – kurz und gut – eine Dame, wie sie, hier hinter das Büffett im »Goldnen Roß« zu stellen?

Sie hätten zwar keine Erklärung dafür, aber ein Gefühl in ihrem Herzen hätte ihnen gesagt, daß dergleichen deshalb geschieht, damit ein armer Junggeselle, der sich nach der Wärme des Heims sehnt und nach dem freundlichen Blick eines Weibes, wenn er die Thüre seiner einsamen, kalten Behausung öffnet, in seinem täglichen Leben nicht ganz des Verkehrs mit einem guten, schönen und anmuthigen Weibe zu entbehren brauche. Was sie selbst anginge, so hätten sie hier in Naalköping beinahe vergessen, wie ein solches Weib aussähe, bis Fräulein Marie zum »Goldnen Roß« kam.

Ob sie sich erlauben dürften, ihr ein Billet zu der morgenden Theatervorstellung anzubieten, es würde ein sehr witziges Stück gegeben, das verdiene von einer Dame mit so viel Sinn für Humor, wie Fräulein Marie ihn hätte, gesehen zu werden.

Und Marie plauderte, lachte und parirte die Artigkeiten, so gut sie konnte, und gab den Herren gute Rathschläge, wie sie es sich gemüthlicher in der Welt machen sollten, wies sie auf Damen hin, mit denen sie sich verheirathen sollten, und rieth ihnen, sich eine Stellung an einem weltstädtischeren Platze zu suchen, wenn es ihnen in Naalköping nicht behage. Und wenn sie von ihren Herzen sprachen, als wenn in denselben nicht alles in Ordnung wäre, lachte sie schallend auf und sagte:

»Das ist nichts weiter, als die Influenza, Herr Lundquist! Versuchen Sie morgen Mittag eine ganze Flasche von unserm Burgunder von 67!«

Schlimmer war es mit dem kleinen Kassirer von der Streichhölzchenfabrik. Sein junges, verhältnißmäßig unverdorbenes Herz war im vollen Ernst aufgeglüht. Er erröthete, wenn er bezahlen sollte und schob ihr das Trinkgeld mit einem Paar Augen zu, als flehte er um Verzeihung dafür, daß er das nur wagte.

Einmal, als er seine saure Milch mit allen Anzeichen qualvollen Schmerzes aß, eilte Marie zu ihm hin und rief:

»Aber mein Gott, Herr Andersson, Sie haben ja Pfeffer auf Ihrer Milch!«

Da blickte er empor, sah sie mit seinem schönsten Blick an und flüsterte:

»Seien Sie still! Ich wollte nichts sagen, weil Sie es waren, Fräulein, die mir die Pfefferdose vorsetzte.«

Und als die Zeit des Sommers und der sauren Milch vorbei war und der Herbst und Weihnachten und der Februar mit seinem Marientag kam, sandte er, durch das Mißgeschick der Anderen gewarnt, seine Blumenhuldigung direkt auf ihr Zimmer hinauf, zusammen mit einer hübschen Blumenkarte mit folgenden stattlichen Versen, bei denen ihm Redaktionssekretär Malmen, der schon lange nicht mehr rivalisirte – edelmüthig geholfen hatte und deren Ton möglicher Weise etwas weniger feurig und deutlich geworden wäre, wenn nicht die beiden Herren an dem gedächtnißreichen Tage, an dessen Abend sie dichteten, den ganzen Tag hindurch gründlich das »Schützenfest« gefeiert hätten:

»Wie viel uns auch selige Tage geworden –
Weiß einen ich schöner, als alle zumal –
Ein Tag, so kurz hier im kalten Norden,
Im Winter, mit Schnee über Berg und im Thal.
Doch sommerhold dünkt mich der Tag, wie Sie,
So lange er trägt Ihren Namen, Marie!

Mein schüchterner Mund wagt kaum es zu deuten,
Was tief mein warmes Herze rührt;
Doch schwör' ich mitten unter den Leuten,
Die Verehrung für Sie zum »Goldrosse« führt:
Daß der der Treue vergisset nie,
Der mit Blumenduft Ihnen naht, Marie!

Und wenn Sie, holde, bewunderte Maid,
Meines Herzens Gefühle wollten verstehen,
So würden in meiner Brust alle Zeit
Ihre schönen Augen geschrieben sehen
Mit Feuerschrift in ew'ger Harmonie
Den einz'gen, unlöschbaren Namen: Marie!«

Am Tage darauf kam Herr Andersson sehr zeitig zum Frühstück, um die Wirkung seiner Huldigung zu beobachten. Marie ging ihm sogleich entgegen, verneigte sich, dankte und sagte, sie hätte gerade in diesen Tagen gehört, daß in Kopenhagen ein Professor wohne, der sehr tüchtig wäre bei Herzleiden, und da der Herr Kassirer davon so sehr geplagt würde, wie er ihr geschrieben hätte, sollte er nicht zögern, dorthin zu reisen.

Herr Andersson blickte sie mit bekümmerten, stummvorwurfsvollen Augen an und tröstete sich damit, daß er an demselben Abend draußen in der dämmrigen Anpflanzung, einem Geschäftsreisenden, der bei der Abrechnung Marie sein »süßes Mäuschen« genannt hatte, eine schallende Ohrfeige gab. Unter denjenigen, die der schönen Kassirerin niemals eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen schienen, war ein Kontorist Lund, ein dreißigjähriger Mann von herkulischer Figur und von heiterem, jugendlichen Aussehen, einem Gesicht, dessen viele Unregelmäßigkeiten man über seinen herzensguten blauen Augen vergaß. Herr Lund sprach an dem Büffett niemals ein Wort mehr, als es durchaus nothwendig war; er war immer höflich und freundlich, aber so von seinen Freunden in Anspruch genommen, daß er für die »schöne Kassirerin« niemals einige Bemerkungen übrig hatte.

Marie sah ihn wie alle Anderen kommen und gehen, sie guckte ihm, ebenso wie Lina und Charlotte, nach, wenn er als der anerkannt gewandteste Radfahrer von Naalköping blitzschnell draußen in der Allee mit seinem Zweirad davonsauste, sobald der Frühling gekommen war und dieses moderne Beförderungsmittel wieder in Gebrauch genommen wurde. Sie lauschte auf die Erzählung der anderen Herren von Lund's Thaten im Turnklub und von seiner riesenhaften Stärke, und sie nahm seine 10 und 20 Oerestücke wie die aller Anderen an.

Herr Lund war ein sehr mäßiger Mann. Fast alle übrigen Herren hatten irgend einmal mit wankenden Knieen und stammelnder Zunge bei der Kasse gestanden, Lund dagegen niemals. Da kamen eines Tages ein paar Freunde zu ihm zum Besuch aus einem Orte, wo er mehrere Jahre gewohnt hatte. Da ließ er gründlich draufgehen, bestellte ein feines Mittagessen mit Wein, oben auf einem der kleinen Zimmer, und hielt lange Berathungen mit dem alten Lindberg, um etwas recht Prächtiges zusammenzustellen.

Das Mittagessen zog sich recht lange hin, und die alten Freunde ließen sich die Getränke gut schmecken. Der Abend verfloß unter Scherz und Lachen. Zum Souper vermochten sie nichts weiter mehr zu genießen, als Champagner und Austern. Es kam durchaus nicht jeden Tag vor, daß im »Goldnen Roß« Champagnerflaschen knallten. Wenn Marie von dem, gleich unter dem Büffett befindlichen Weinkeller, mit einer solchen heraufkam, blieb jeder Einheimische am Büffett stehen und fragte ehrfurchtsvoll: »Für wen soll die sein?« und ging nicht eher fort, als bis er Bescheid bekommen hatte.

Die Stunden vergingen, und es nahte die Zeit heran, daß das Lokal geschlossen werden sollte. Es war eine viertel- und schon eine halbe Stunde darüber. Drohungen mit der Polizei wurden mit Hohnlachen beantwortet. Alte gewöhnliche Scenen, und nur insofern merkwürdig, als der sonst so gemüthliche Herr Lund der allerschlimmste dabei war. Lina und Charlotte gingen zu Bett, und Marie war ganz allein, als die fremden Gäste die Treppen heruntergepoltert kamen und Lund zum Büffett hintaumelte. Marie fuhr voll Schrecken über sein blutrothes Gesicht und seine sonst so frohen und milden Augen zurück, die jetzt geradezu funkelten und knisterten. Er erhielt seine Rechnung und bezahlte. Da beugte er sich plötzlich vor, sah ihr gerade in's Gesicht, schlang seinen Riesenarm um ihren Hals und preßte seine fieberheißen, nach Liqueur und Cigarren duftenden Lippen fest, fest auf ihren Mund. –

Sie war wie versteinert, stand, ohne sich zu rühren, da und stützte sich auf das Büffett, nachdem er durch einen heftigen Stoß von ihr vor die Brust ein paar Schritte zurückgetaumelt war. Er selbst schien über sein Unterfangen ganz erstaunt und starrte ihr in's Gesicht. Der Blick, den sie ihm zuwarf, machte ihn nahezu nüchtern, und dann trollte er sich davon, indem er einige unverständliche Worte vor sich hinmurmelte.

Marie zitterte wie im Fieberfrost. Mechanisch ordnete sie die Flaschen auf den Regalen für den folgenden Tag, löschte das Gas aus und stieg zu ihrer Kammer hinauf. Sie hatte ein Gefühl so unendlicher Demüthigung, daß niemand auf der ganzen Welt den Schimpf würde verstehen können, der ihr zugefügt war. Herr Gott, war denn etwas so gefährliches dabei, eine Büffettmamsell umzufassen und zu küssen? Gab es denn wirklich eine, die dergleichen nicht ausgesetzt war?

Das wußte sie nicht, und das war ihr auch ganz gleich. Sie wußte nur, daß sie selbst, so arm sie auch war, und trotz ihres Alters von bald 25 Jahren niemals die Lippen eines Mannes auf den ihrigen gefühlt hatte. Und nun in dieser schimpflichen Weise! Ein Mann, der kein Mann mehr war, ein sinnlos Berauschter! Sie steckte den Kopf, so tief sie konnte, in ihre kleine Waschschüssel hinein und rieb die Lippen, bis das Blut hervorsickerte. Pfui, pfui!

Und während sie Stunde für Stunde wach lag und an das dachte, was geschehen war, fühlte sie voll Entsetzen, daß der Zorn doch nicht das stärkste Gefühl in ihrem Herzen war. Nein, es war Trauer, richtige, wehevolle Trauer. Und das war ja auch ganz begreiflich. Sie war ja zu alt, hatte zu viel gehört und gesehen, um einem Kuß gegen ihren Willen, eine allzu überspannte Bedeutung beizumessen. War sie nicht noch ebenso gut, nachdem sie ihn fortgewaschen hatte, wie man einen Schmutzfleck abwäscht? Ja wohl. Und dann brach sie in ein unaufhaltsames Schluchzen aus. Sie fragte sich selbst, ob sie denn ganz verrückt wäre, und dachte darüber nach, welche Empfindung sie gehabt haben würde, wenn sich ein Anderer so gegen sie vergangen hätte? Und nun wurde ihr die Sachlage allmählig klar. Sie fühlte, bei jedem Anderen, den sie kannte, hätte die Kränkung, wüthender Zorn, ja richtiger Haß, jedes andere Gefühl verdrängt; aber auf ihn vermochte sie nicht so zornig zu sein, wie sie wollte, und doch hätte ihr keiner, keiner so wehe thun können, wie er.

Wie hatte er sich nur so still und heimlich in ihr Herz hineinschleichen können, ohne daß sie es selbst ahnte? Ein Kuß von ihm – ihr Köpfchen träumte von diesem Kuß, wenn er unter anderen Verhältnissen gegeben wäre, während dieser große, blonde, knabenhafte Kopf ruhig an ihrer Wange geruht und die klaren, blauen Augen liebevoll in ihre eigenen hineingeblickt hätten, wenn sie seinem Stande angehört und das Recht gehabt hätte, ihn lieben zu dürfen, ohne es bereuen zu müssen. – Ach! War das wirklich die Liebe?

Als Herr Lund am folgenden Tage erwachte, waren ihm die meisten Erinnerungen an den frohen gestrigen Abend entschwunden, aber lebhaft, klar und unabweisbar standen ein paar tief dunkelblaue Augen mit einem Ausdruck der Angst und des Zornes vor ihm. In dem Blick lag etwas mehr, als bloß abweisende Verachtung. Lag überhaupt Verachtung darin? Nein, in dem Blick war etwas Trauriges und Erschrecktes, etwas Unbeschreibliches, das ihn, den alten, verständigen Mann mit dem Monatsabonnement im »Goldnen Roß«, dazu veranlaßte, ganze zwei Tage in's »Rathhaus« zu gehen und dort à la carte zu essen. Er machte sich ernstliche Vorwürfe wegen dieser thörichten Kinderei. Er benahm sich ja wie ein gezüchtigter Schuljunge. Aber was Teufel war ihm auch eingefallen? Er, der all' solches Gethue haßte und außerdem Demokrat war, nicht nur, wie es so schön heißt, bis in die Fingerspitzen, sondern sogar bis in's Herz hinein, sodaß er Rücksicht auf Frauen in einer Stellung zu nehmen pflegte, welche ihnen gegen andere junge Männer nur einen geringen Schutz zusicherte. Er war wie verrückt gewesen, das Blut floß wie Feuer in seiner Brust, der Boden wankte unter ihm, und ihn dünkte, sie wäre das süßeste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. An einem kalten Dezemberabend zwischen 5 und 6 Uhr schlich er zum Büffett hin und bat um eine Cigarre, in einem Tone, als hätte er eine Gräfin um die Rose an ihrer Brust gebeten; als er sie bezahlte, schlug er die Augen nieder und flüsterte:

»Können Sie mir verzeihen?«

Sie antwortete ihm nicht, aber der Blick, den sie auf ihn richtete, verwirrte ihn, er war schüchtern und traurig, aber es lag kein Zorn, kein Abscheu darin, sondern etwas Zaghaftes, Scheues und Weiches, etwas, das er niemals früher in einem Frauenauge bemerkt hatte.

Auch abends aß er dort, und am folgenden Morgen kam er wieder hin und dann war er wieder der Alte. Als wenn nichts geschehen wäre? Nein, er fühlte, es lag etwas Wunderliches in der Luft, etwas Drückendes, aber zugleich Lockendes, und nach einiger Zeit ertappte er sich darüber, daß er sich von einer Mahlzeit zur anderen sehnte in einer Weise, die mit seinem guten Appetit nichts zu schaffen hatte, so daß eigentlich die Stunden, die er nicht im »Goldnen Roß« verbrachte, ein bloßes Vegetiren waren, und er nur lebte, wenn er in der Nähe Mariens weilte.

Er begann mit ihr zu plaudern, achtungsvoll und fast in einem Ton, dessen wirkliche Achtung völlig verschieden war von den eigensinnigen Versuchen einiger anderer »Löwen« von Naalköping, mit der schönen Kassirerin »Salon zu bilden«. Im Anfange wurde sie bis über die Ohren roth, dann aber klopfte ihr Herz nur schneller, wenn er kam, aus Freude über die Worte, die er sagen würde, Worte, die sie nachts, wenn sie droben in ihrer kleinen dumpfen Kammer lag, hin und her drehte und an denen sie gleichsam mit einem Herzenshunger nagte, der mit jedem Tage wuchs. Eines Abends waren sie wieder nach der üblichen Schlußzeit ganz allein. Die letzten Gäste hatten sich entfernt. Lina und Charlotte hatten ihren Schlafraum aufgesucht, da nichts mehr zu serviren war; nur Marie stand auf ihrem Posten, um von dem letzten Gast das Geld in Empfang zu nehmen, und der letzte Gast war er.

Marie fiel keines ihrer gewöhnlichen Schlagworte für die säumigen Herren ein, weder: »Sie werden vom Schutzmann aufgeschrieben werden, der draußen auf- und abgeht« noch: »Finden Sie es nicht nützlich, in der Nacht zu schlafen?« Sie wußten beide, wie es um den Andern stand, ohne daß sie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Nun stand er hier vor dem Büffett und neigte seinen Kopf, seinen großen blonden Kopf ganz nahe zu dem ihrigen hin. Aber wie anders jetzt, als damals. Nun strahlten seine klaren blauen Augen vor Zärtlichkeit, und sie fürchtete nichts anderes, als daß sie selbst ihre stürmenden Gefühle nicht würde bändigen können.

Es wurde auch jetzt nicht viel gesprochen, keine Erklärung abgegeben, kein Gelübde empfangen. Aber von diesem Augenblick an waren sie im heimlichen Einverständniß miteinander.

Was war seine Absicht? Das wußte er selbst nicht. Hätte ihn jemand gefragt, ob er Marie etwas Böses zufügen wollte, würde er den Flegel zu Boden geschlagen haben; hätte ihn jemand gefragt, ob er die schöne Kassirerin vom »Goldnen Roß« zu heirathen beabsichtigte, würde er besorgt und unruhig geworden sein. Er war eine ehrliche, einfache Natur, die sich durch die Ereignisse treiben ließ.

Und in ihrem Köpfchen herrschte ein vollständiges Chaos. Sie wußte nur, daß sie sich unendlich glücklich darüber fühlte, ihn zu sehen und ihn reden zu hören.

Ende Januar war die schöne Marie, die sonst sicherer und zuverlässiger, als irgend eines der Bürgermädchen von ganz Naalköping, die Grenze zu ziehen wußte, die kein Mann überschreiten durfte, soweit gekommen, daß sie Lund zugesagt hatte, daß er sie um ½ 1 Uhr in der Nacht zu einer einstündigen Schlittenfahrt in dem schönen Herrlinger Walde unter den funkelnden Sternen abholen dürfte. Sie war durchaus nicht blind dafür, was sie damit wagte. Sie hatte Vertrauen zu ihm und auch zu sich selbst, aber die Verwunderung ihrer Kameradinnen, die Möglichkeit, daß der Kutscher, der unten am Hügel bei den Anlagen wartete, sie wiedererkennen könnte, und alle möglichen anderen Besorgnisse, erfüllten ihr Herz mit Angst. Aber sie konnte es ihm nicht abschlagen; und hätte sie es ihm auch abschlagen können, so konnte sie sich selbst diese herrliche Stunde allein mit ihm nicht versagen. Hie und da waren wohl auch durch ihr Herz mißtrauische Gedanken gegen ihn gezogen. Er würde derartiges einer jungen Dame aus guter Familie nicht vorzuschlagen gewagt haben. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich gedemüthigt, und ihr Herz wurde gleichsam zusammengeschnürt. Aber nun wollte sie einmal –.

Sie hörte selbst, wie ihr Herz klopfte, als sie in ihrem neuen, feinen Wintermantel, mit Muff und Boa an der kleinen hinteren Glasthür stand und nach ihm ausschaute. Sie war ein paar Minuten zu früh gekommen, die Angst ergriff sie wiederum, und einen Augenblick wünschte sie, sie läge wieder in ihrem Bett.

Da war er! Leise öffnete er die Thür, und stille schritten sie die Allee entlang; dort unten wartete der Schlitten. Sie zitterte, und es war ihr, als fröre sie.

Unten in den Anlagen ging ein Paar in eleganten Winterkleidern, ein junges Paar, wenn man nach den elastischen, eiligen Schritten urtheilen sollte. Sie kamen offenbar von irgend einer späten Familienfestlichkeit her. Da legte der Cavalier plötzlich die eine Hand auf die Schulter der Dame, um sie zurückzuhalten, während er mit der andern ein paar Knöpfe ihres Mantels zuknöpfte.

»Du armes kleines Ding! Du mußt wegen Deines Schwesterchens sehr in Sorge sein!«

Wie der Ton dieses Unbekannten beschützend zärtlich klang! Es durchbebte Mariens Herz. Auch sie hatte einen Bruder, einen armen kleinen Jungen, der im Winter die Gänge für ein Geschäft besorgte und rotherfrorene Hände hatte und niemals, niemals seine Schwester Marie würde schützen und schirmen können, sondern nur erstaunt seine hellen Kinderaugen unter flachsgelben Locken aufsperren würde, wenn er sie um die Mitternachtszeit hätte in den wilden Wald, allein mit einem fremden Herrn, hinausfahren sehen können.

Sie stammelte und legte die Hand auf seinen Arm und flüsterte:

»Verzeihen Sie mir, aber ich kann nicht, ich will nicht! Es schickt sich nicht. Sie hätten mich niemals darum bitten sollen –«

»Nun, was soll das heißen, Marie? Schnell kommen Sie, Sie frieren!«

»Sie hörten, was ich sagte. Ich folge Ihnen nicht –«

Er umfaßte sie, entschlossen, sie halb mit Gewalt in den Schlitten hineinzuheben Sein Herz klopfte heftig; er war nicht geneigt, um ihrer Laune willen zu verzichten – zu verzichten – – ja, worauf sollte er eigentlich verzichten?

Es gab einen harten Kampf in ihrem Herzen. Der Riesenarm um ihre Taille, seine warmen Athemzüge auf ihrem Schleier magnetisirten sie. Es zog sie zu ihm hin und sie wollte doch nicht folgen. Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf, und sie flüsterte:

»Begreifen Sie denn nicht, daß wir auf einem gefährlichen Wege sind? Seien Sie barmherzig! Haben Sie niemals eine Schwester gehabt?«

Sein Arm ließ sie los, und die Züge seines erregten Gesichtes wurden schlaff. Seine Schwester! Seine liebe Lilian! O, welche Wollust würde es nicht sein, so mit einem schweren tödlichen Schlage dieses Riesenarmes jeden Mann zu Boden zu schlagen, der es gewagt hätte, seine Lilian zu etwas Derartigem, wie dieses, zu zwingen, und wozu er selbst nun ein Mädchen, das so rein war, wie sie, nöthigen wollte.

Langsam gingen sie zum »Goldnen Roß« zurück. In abgebrochenen Sätzen murmelte er, daß er ihr nichts hätte zu Leide thun wollen, daß er sie wahr und aufrichtig liebte.

»Ja, ich habe gemeint, ich hätte es gefühlt und wäre froh darüber gewesen. Aber es kann ja niemals etwas daraus werden, und dieses – dieses ist in jedem Fall nicht der rechte Weg. – Gehen Sie, gehen Sie weit fort und erinnern Sie sich daran, daß Marie niemals etwas Schlechtes von Ihnen denken wird, falls die Zuneigung, die Sie zu mir hegen, nicht, wenn wir geschieden sind, all' das Viele zu besiegen vermag – all' das Viele –«

Sie waren zu der kleinen Hinterthür des »Goldnen Rosses« gelangt. Sie schlug ihren Schleier zurück, und er sah ein leichenblasses, thränenüberströmtes Antlitz voll Anmuth und Schmerz und mit ein paar großen, verschleierten Augen.

Er beugte sich still zu ihr herab und küßte sie. Aber in diesem Kusse lag nichts Beleidigendes und Erniedrigendes. Es war ihr, als sollte ihr Herz auseinanderspringen. Sie hätte rufen und schluchzen, niederknieen und flehen mögen, um ihr Glück festzuhalten. Aber eine Ahnung sagte ihr, daß es unmöglich wäre, und dann schlang sie ihre beiden Arme um seinen Hals und drückte einen Kuß nach dem andern auf seine Lippen, verschwenderisch, ohne Rückhalt, wie der es thut, der nicht gewöhnt ist, die Schatzkammer seines Herzens zu öffnen, wie das Weib, das alle Zärtlichkeit seines Wesens 25 Jahre lang aufgespart und in sich verborgen hat! –

*

Am folgenden Mittag freute sich der Gastwirth im »Rathhause«. Der überall gern gesehene Kontorist Lund war dessen müde geworden, immer im Schnee zum »Goldnen Roß« hinaufzutraben und hatte im »Rathhause« ein Monatsabonnement genommen.

Aber seine Freude war von keiner langen Dauer, denn bereits am 1. April trat Herr Lund eine Stellung in einer andern Stadt an.

Marie Wibom im »Goldnen Roß« hörte lange Jahre nichts von ihm. Als aber im Februar des folgenden Jahres der Marientag herankam, erhielt sie ein kleines Kästchen mit einer Broche in Form einer silbernen Taube mit einem Zweige im Schnabel und einem blauen Emaillering ringsum. Und die Nadel des kleinen Schmuckgegenstandes war durch eine Karte gesteckt, auf welcher Marie las:

*

»Axel's Schwester bittet, ihre aufrichtige Hochachtung und wirkliche Zuneigung Ihnen ausdrücken zu dürfen, obwohl sie Sie wohl niemals kennen lernen wird, aber Sie werden immer in freundlicher Erinnerung bleiben bei

Lilian Lund.«



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