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II.
Das Leben im »Goldnen Roß«.


Die Zeit vergeht so schnell, und man lernt so geschwind, wenn man jung ist. Schon im Hochsommer war Marie bedeutend mehr »auf ihrem Platz,« als im Anfang. Sie hatte auch reichliche Uebung, denn zur Sommerszeit war das »Goldne Roß« sehr besucht. Nun stand sie hinter dem Büffett, ebenso elegant gekleidet, wie Lina und Charlotte es jemals gewesen, und dennoch war ihre Mutter daheim nicht vergessen worden. Und da die Trinkgelder so reichlich flossen, hatten sich natürlich auch ihre Gefühle abgestumpft, so daß es ihr nun nicht mehr schwer fiel, sie anzunehmen. Nur einmal, als ein durchreisender Herr, der sich einige Tage in der Stadt aufhielt, sehr viel von seiner Zeit im »Goldnen Roß« zubrachte und gern mit der hübschen Kassirerin scherzen wollte, ihr ein Fünf-Kronenstück auf den Tisch legte, als er seinen Kaffee und sein Glas Cognak bezahlte, sie dabei mit zudringlichen Blicken betrachtete und flüsterte: »Das ist für Sie, Fräuleinchen!« stellte sie sich, als wenn sie ihn nicht verstanden hätte, und gab ihm heraus.

»Seien Sie so gut, Kindchen!« sagte er und lehnte sich mit seinem rothglühenden Gesicht ganz nahe zu ihr hinüber.

Da trat sie mit blutrothem Antlitz zurück, schob ihm die Silbermünzen hin und sagte:

»Bitte, behalten Sie!

Es ist immer einige Zeit erforderlich, ehe ein reines Mädchen dergleichen versteht, und noch einige Zeit, ehe sie den Muth bekommt, zu beweisen, daß sie es versteht. Aber die Erfahrung hatte Marie gelehrt, daß Schüchternheit nichts dabei taugte, wenn sie sich wehren wollte, und gerade ihr bestimmtes Wesen hatte bereits rings um sie eine Mauer gegen alle Aufdringlichkeiten derer, die öfter das »Goldne Roß« besuchten, errichtet. Jetzt waren es eigentlich nur noch die Fremden, die bisweilen eine stille Courmacherei versuchten. Aber der alte Gastwirth war nicht recht damit zufrieden. »Nicht so verdrießlich sein gegen die Gäste, Mariechen! – Puh, puh – sie müssen sich hier gemüthlich fühlen. Sehen Sie – puh – sie meinen es ja nicht so schlimm, und in jedem Falle, wenn man einmal den Platz hinter dem Büffett im ›Goldnen Roß‹ angenommen hat – puh puh – lohnt es nicht, die Gräfin zu spielen – das ist kurz und gut meine Meinung!« –

Marie schluckte den Zorn und die Thränen hinunter. Es war also mit ihrem Platz die Verpflichtung verbunden, sich beleidigen zu lassen, ohne seinen Zorn zu verrathen? Gut, dann wollte sie auch das versuchen, sie wollte versuchen, den Zorn unter Scherz und Lachen zu verbergen, und trotzdem auf ihrer Hut sein.

Eines Abends kurz darauf kam der große, dicke, kupferrothe Oberlehrer Anker (der in Mathematik unterwies), lustig gestimmt durch eine frohe Kneiperei, wo man Bier und anderen Getränken zugesprochen hatte, und drängte sich zu den Regalen hinten im Büffett hinein, indem er nach einer Cognakflasche suchte mit seinem Namen darauf, die hier »aus Lottens Zeit« her noch stehen müßte. Er kam mit seinem keuchenden, stark nach Alkohol duftenden Munde dem Gesicht Marie's ganz nahe und fragte, »ob die Kleine vielleicht in Liebesgedanken seine Flasche verbummelt hätte,« faßte sie schließlich freundlich um und sagte, »aus dem Cognak machte er sich nichts, wenn sie ihn nur ein wenig Nektar und Ambrosia von ihren rothen Lippen naschen lassen wollte.«

Sie war beinahe im Begriff, in Thränen auszubrechen, aber dann hätte es einen schönen Skandal gegeben; man durfte ja nicht verdrießlich sein gegen die Gäste, und so begann sie schallend zu lachen, entschlüpfte seinen rothen, warmen, fettigen Händen in das Lokal hinaus, ließ ihn allein hinter dem Büffett zurück und rief: »Ach wie freundlich, Herr Oberlehrer, daß Sie für ein Weilchen meinen Platz einnehmen wollen, da kann ich ja ein bischen hinausgehen und ein wenig frische Luft schöpfen! Ich habe hier den ganzen Tag eingesperrt gestanden. Adieu, Adieu! Vergessen Sie nicht, daß Dr. Hansson zwei kleine Pilsener bekommen hat!«

Man ist in Bezug auf Humor in Naalköping nicht gerade verwöhnt. Die »Naalköping-Post« hat wegen ihres kleinen Formats keinen Platz dafür, und die Anderen haben keine Zeit dazu; daher ertönte ein schallendes Lachen vom Tisch der Schullehrer, und von nun an umkreiste Oberlehrer Anker das Büffett in weiteren Sphären, als früher.

Marie hatte bisweilen die Untugend, nachzudenken und zu grübeln. Sie war ja nun auch volle 24 Jahre alt und ein verständiges Mädchen. Und dann dachte sie daran, wie unbegreiflich verschieden doch das Maß von Achtung war, das man ihr, dem Wirthshausmädchen, schenkte und den jungen Damen aus den Familien in Naalköping, aber wie fürchterlich schlecht es ihr doch gehen würde, wenn sie nicht mehr Haltung bewies und besser Acht gäbe auf ihr Benehmen, als einige dieser vortrefflichen jungen Damen, denen sie zufälliger Weise ein klein wenig hinter die Maske geguckt hatte.

Einmal hatten Stadtkämmerer Lindstams ein kleines Mittagessen im »Goldnen Roß« für sich und eine bekannte junge Dame gegeben, welche zufälliger Weise zur Stadt zum Besuch gekommen war. Als Marie mit dem Dessert auf das Zimmer hinaufgekommen war, hatte Frau Lindstam sich für ein paar Augenblicke entfernt gehabt, und das feine Fräulein lag in den Armen des Kämmerers, und sie küßten sich, als wenn es kein Ende nehmen sollte. Als sie dann nach Hause gingen, besah sich Marie die junge Dame genau durch das offene Fenster. Gott, wie stolz und würdig und imponirend sie aussah. Wie hatte es nur jemand wagen können –?

An einem heißen Julitage hatte die wenig zahlreiche, aber muntere Jugend des »Geselligkeitsvereins,« den es damals in der Stadt gab, eine Ruderpartie mit einer darauf folgenden kleinen Abendfestlichkeit im »Goldnen Roß« veranstaltet. Eine ältliche, vergnügungslustige und wenig strenge Wittwe gab die nothwendige Tugendwächterin ab, und es ging oben in dem kleinen Saal sehr lebhaft zu. Eines der jungen Mädchen stand in einem der kleinen Zimmer am Fenster und aß von ihrem Dessert. Außer ihr befand sich nur noch einer der flotten Ruderer im Zimmer. Und dann guckten sie einander in die Augen. Plötzlich sieht sie sich um, nimmt ein kleines Stückchen Torte auf den Dessertlöffel und steckt es schnell in seinen Mund und dann ein zweites Stückchen mit demselben Löffel in ihren eigenen. –

Nun muffelten sie so vergnügt und sahen einander an, still, Kopf an Kopf, mit sichtlichem Genuß über ihren feinen, delikaten Einfall. Marie wußte, daß dieses Fräulein mit einem Herrn aus einer andern Gegend des Landes verlobt war. Er war neulich in Naalköping gewesen, und da hatten sie eines Abends in einer der Lauben des »Goldnen Rosses« Hand in Hand und Auge in Auge gesessen.

Und nachdem sie dieses und vieles Aehnliche gesehen hatte, meinte sie, daß Gott es doch sehr ungerecht eingerichtet habe, wenn er dem einen so vieles ungestraft hingehen ließe und es dem anderen so schwer und mühevoll und undankbar gemacht hätte, für seinen guten Ruf zu kämpfen.

Aber Marie hatte unrecht. Der Bacchustempel ist für die moralischen Ansteckungskeime dasselbe, wie die Epidemien für die körperlichen; thut man nicht recht, mehr Achtsamkeit und strengere Desinfektion von der Krankenwärterin, als von der Arbeiterin draußen auf dem Felde zu verlangen? Der Tempel des Alkohol ist für die Sünde, was das Feuer für die Pulvermühle ist; thut man nicht recht, größere Achtsamkeit von der Pulverarbeiterin, als von dem Dienstmädchen im Privathause zu fordern?

Aber wenn Marie am Tage nach einer Gesellschaft in der Stadt hörte, wie die eingeladenen Herren die Damen, die dort gewesen waren, Revue passiren ließen, dann beneidete sie sie nicht. Mit größerer Geringschätzung konnte wohl kaum von Lina oder Charlotte gesprochen werden, obgleich diese, weiß Gott! sich manchmal »gründlich los ließen«.

»Singt von des Studio fröhlichen Tagen!« ertönte es keck und jugendfrisch, aber wenig wohllautend unter die schattigen Laubkronen des »Goldenen Rosses« hinauf an einem der ersten Tage, nachdem Marie ihre neue Stellung angetreten hatte. Weiße Mützen Entsprechen den rothen »Fuchs«mützen in Deutschland. erglänzten auf dem Wege, und man legte schnell und lustig auf den großen Saal Beschlag, um die zukünftige Erlösung vom Schulzwange und die bevorstehende akademische Freiheit zu feiern.

Noch drei Abende vorher hatten die meisten von diesen Jünglingen mit hinuntergezogenen Civilmützen, emporgeschlagenen Rockkragen und voll Angst, daß sie gesehen werden könnten, sich hergeschlichen und einen kleinen Raum in der oberen Etage bestellt, sich angetrunken und ihre Lehrer in einer Weise kritisirt, daß es Marie, welche die Herren mit dem Nothwendigen versah, förmlich davor grauste, daß die Schullehrer solch' fürchterliche Tyrannen sein könnten.

Heute Abend dagegen waren die Lehrer eingeladene Gäste, sie wurden vom Primus mit dem Glase in der Hand begrüßt, und man dankte ihnen herzlich für all' die liebevolle Sorgfalt, für all' den ungesparten Lehreifer, dessen sich die jungen Leute, wohin sie auch in der Welt kommen würden, mit dauernder Erkenntlichkeit erinnern wollten, aber auch mit bangender Wehmuth. Und der Rektor dankte und bezeugte, diese Schüler wären ganz außergewöhnlich tüchtige und gut geartete gewesen; er könnte sich nicht entsinnen, während seines zwanzigjährigen Rektorats jemals bessere gehabt zu haben, und er sagte ihnen aus vollem, warmem Herzen lebewohl, spendete ihnen seine besten Glückwünsche zur Fortsetzung ihrer Studien und zu einer recht erfolgreichen Ausnutzung der akademischen Freiheit, und wünschte ihnen Glück und Freude bei den Studien, wie im Leben.

Als die jungen Stimmen dann immer lauter zu werden begannen, zogen sich die Lehrer zurück, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, durch das nothwendige Zuschauen und Anhören von etwas, gegen das sie hätten einschreiten müssen, wozu sie aber nicht mehr die Macht besaßen, etwas von ihrer Würde zu verlieren. Nur der jüngste Hilfslehrer, der noch kein akademisches Examen absolvirt hatte und erst vor drei Jahren ein neugebackener Student geworden war, wie die Gastgeber des heutigen Abends, ließ seine gegenwärtige Würde und die alten Erinnerungen in ein behagliches Chaos zusammenfließen, betrank sich, stieß brüderlich nach rechts und links an, schlief darauf in einem Winkel ein und wurde schließlich von seinen neugewonnenen Brüdern nach Hause getragen. Und die Träger sangen noch mehr von »des Studio fröhlichen Tagen« und fragten das schlummernde Naalköping im gräßlichsten Falsett: »Wer denkt wohl unsers Bruders nicht?« Aber von der während neun Jahren mühsam eingepaukten klassischen Bildung gewahrte man in diesem Falle nichts, außer daß die jungen Leute fleißig mit den Beinen römische Zehnen machten. Aber Marie, die mehrere Monate darüber getrauert hatte, daß ihr kleiner Bruder, der einen so »guten Kopf« hatte und so schöne Zeugnisse aus der fünften Klasse nach Hause gebracht hatte, durch die Armuth gezwungen wurde, einen Platz als Laufbursche in einem Eisenladen anzunehmen, meinte, daß diese abendlichen Scenen gleichsam ihren Gram ein wenig gelindert hätten.

Aber was weiter! Wer am Tage nach seinem Abiturienten-Kommers mit Schmerzen erwacht, kann deshalb die Freude der Seinen und der Stolz seines Vaterlandes werden. Der, welcher als Tugendmuster in früher Abendstunde sein Bierglas leert, kann eine große Null werden, gleichwie der Laufjunge des Eisenhändlers ein Taugenichts zu werden vermag und ein Unglückskind der Gesellschaft, aber auch ebenso gut ein Großhändler, Konsul und Ritter aller möglichen Orden.

Ein geistreicher Schriftsteller hat gesagt, daß niemand in den Augen seines Kammerdieners ein großer Mann sein kann. Auch das Wirthshausleben ist zum mindesten für die Stammkunden ein solch' intimer Ort, in dem die Würde erbleicht und die Achtbarkeit verschwindet, wo die Schattenseiten der Charaktere bisweilen unangenehm scharf hervortreten.

Marie fand bald, es tauge nichts, die Naive zu spielen oder sich unkundig zu stellen, wenn sie sich obenauf erhalten wollte, und so hatte man bald in den Junggesellenkreisen von Naalköping eine ganz kleine Blumensammlung geflügelter Worte von ihr: »Die Herren irren sich wohl? Das hier ist ein Speisesaal!« hatte sie einmal einigen jungen Leuten zugerufen, die allzu ausgelassen waren und noch, nachdem alle anderen Gäste sich entfernt, mit einigen im »Goldnen Roß« auftretenden Variétédamen soupirt hatten. »Es ist hübsch, aber nicht an seinem Platz! sagte Marie im »Goldnen Roß« von Herrn Malmen's Bouquet«, wurde ein Schlagwort, seitdem Redaktionssekretär Malmen von Lina den Geburtstag Mariens erfahren und auf das Büffett ein stattliches Bouquet gestellt hatte, welches Marie mit oben erwähnter Motivirung auf Malmen's eigenen Mittagstisch hinüberstellte.

Dem Kämmerer Lindstam fiel es immer schwer, sich auf dem Strich zu erhalten, wenn er sein gewisses Quantum Alkohol zu sich genommen hatte. Als er einmal im Begriff war, zu zahlen, tastete sein unsicherer Arm nach Mariens Hals, indem er seufzte:

»Mein holder Liebling!«

Marie sprang sogleich an's Telephon und bat um die Nummer des Herrn Kämmerers, und nachdem sie bei ihm zu Hause jemand an's Telephon citirt hatte, hörte man, wie sie in unruhigem und eiligem Tone rief:

»Der Herr Kämmerer ist plötzlich im ›Goldnen Roß‹ krank geworden und ruft nach seiner Frau!«

In der bestimmten und resoluten Kassirerin konnten die Abonnenten, die während der Sommermonate abwesend gewesen waren, bei ihrer Rückkehr im Herbst unmöglich das schüchterne, ängstliche, blöde und zögernde Mädchen erkennen, das drei Monate vorher im »Goldnen Roß« aufgetaucht war. Aber einige fanden nun weniger Gefallen an ihr und das sagten sie dem alten Lindberg geradezu. Da faßte sich der alte Gastwirth bekümmert nach dem Kopfe und murmelte:

»Marie – puh – soll – kurz und gut – freundlich sein gegen die Herren – von ihnen lebt man, und der Herr Oberlehrer Anker – hat sehr recht, – puh – puh – wenn er sagt, daß – hm hm – daß der Gast – ja, der Gast Herr ist im Wirthshaus – puh – ja, das ist kurz und gut meine Meinung!«



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