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Eine wirklich feine Familie.

Die ökonomische Abmachung, welche Hauptmann Tornberg mit Jenny getroffen hatte und die darauf hinzielte, sie auch für das plötzliche Verlieren ihrer Stelle zu entschädigen, war für sie so vorteilhaft, daß sie eifrig dagegen protestiert hatte. Doch da hatte er ihr auf eine Weise geantwortet, die ihr zu verstehen gab, daß er eine endgültige Weigerung als ein Mißtrauen in die Aufrichtigkeit seiner freundlichen Absichten ansehen würde, und da ließ sie ihn denn alles nach seinem Willen ordnen.

Wieder ging es heim zur Mama, diesmal aber nicht auf einen langen Besuch, denn durch Bekannte ihrer Bekannten war Jenny schon, ehe sie Käköping verließ, mit einer Herrschaft in Unterhandlung getreten, die sich in ihren eigenen Briefen »eine wirklich feine Familie« nannte, und da mußte man es ja glauben.

Das Mutterauge sieht scharf, und Jenny war erst ein paar Tage zu Hause gewesen und hatte nicht viel von Georg Tornberg zu sprechen brauchen, als die Mama ihrem lieben Mädchen auch schon ansah, wie es mit ihr stand. Emmy war den ganzen Tag mit ihrer Arbeit auswärts beschäftigt, aber auch sie würde schließlich vielleicht die Veranlassung zu der Wehmut, die über dem ganzen Wesen »der großen Schwester« lag, herausgefunden haben. Es vergingen jedoch nur ein paar Wochen, als Jenny auch schon wieder abreiste, um ihre neue Stelle bei der Baronin Drakensvärd auf Drakebo anzutreten. Als sie beim Abschied in den Armen der Mutter lag, flüsterte Frau Högfeldt:

»Nicht einmal eine Mutter darf an allen Wunden in den Herzen ihrer Kinder rühren. Aber Mama sieht, daß ihr Töchterchen noch eine neue Bürde zu tragen hat. Gott stärke dich und helfe dir, geliebtes Kind!«

Einsam, entlegen, wie zwischen die Wacholderbüsche herniedergeschneit, lag die kleine Eisenbahnstation, die Drakebo zunächst lag. Der Inspektor und zwei andere Beamte waren allein auf dem Perron, als der Zug einfuhr. Hier würde es nicht schwer werden, das Drakeboer Fuhrwerk zu finden.

Aber das wurde es doch, denn auf dem Platze hinter dem Bahnhofsgebäude stand nur ein altes häßliches, mageres Pferd mit einem schlechten Bauerwagen von uralter Form, dessen Korb direkt auf den Achsen ruhte und nur unter dem Bocke, über den die Zügel nachlässig geworfen waren, eine Feder hatte. Endlich öffnete sich ein Fenster, hinter dessen anderem Flügel auf einer schmutzigen Pappscheibe »Bier und Kaffee« gedruckt stand, und ein rotgesichtiger, angetrunkener Knecht steckte den Kopf heraus und sagte:

»Ist Sie vielleicht Barons neue Haushälterin?«

Ohne eigentlich zu verstehen, was ihn die Sache anging, antwortete Jenny bejahend, und da trat der Fragende aus der Thür und sagte:

»Dann fahren wir nun wohl. Hat Sie Sachen?«

Jeder Stoß während der mehrstündigen Fahrt auf dem besonders einfachen Fuhrwerk machte es Jenny klar, wofür die wirklich feine Familie auf Drakebo ein Wirtschaftsfräulein ansah, und als sie dort ankam, war sie sehr mürbe im Leibe und demütig in der Seele.

Drakebo präsentierte sich als ein nicht gerade übermäßig schöner, aber großer und altertümlicher Herrensitz mit einem kolossalen, weißen, zweistöckigen Hauptgebäude mit defektem Dache und einer doppelten Lindenreihe um den geräumigen Hof, auf dem eine Menge Stein- und Rasenbänke standen.

Auf der Treppe zum Hauptgebäude stand ein kleiner alter Herr, mit hohem, gerade nicht übertrieben reinem Kragen und einem feinen, altmodischen, verblichenen Anzuge, und beschattete mit der Hand die Augen; er sah verwundert auf das alte Pferd, das steifbeinig auf den Hof kam, bis er die stattliche Equipage erkannte und in die Worte ausbrach:

»Ah, jaso, Sie sind es! Bitte, thun Sie ganz, als ob Sie zu Hause wären!«

Darauf wandte er sich nach der Halle zurück, rief »Christine« und ging fort, ohne weiter von Jenny Notiz zu nehmen.

Ein dienstbarer Geist kam – vermutlich »Christine« – und begann ohne Einleitung, während des Herunternehmens der Sachen vom Wagen:

»Mamsell muß bis morgen mit der alten Mamsell zusammenschlafen, denn die alte Mamsell ist noch nicht abgeholt worden.«

Dann führte sie Jenny durch die Mädchenkammer und das Anrichtezimmer in ein kleines Nest, das an die Küche und an die Speisekammer stieß, und als sie die Thür öffnete, schlug der Eintretenden dumpfe, warme, von Terpentin und Kampfer gesättigte Luft entgegen.

Es war ein kleines Loch mit schmutzigen Tapeten, defekten Stühlen und einem Schlafsofa, dessen Bezug voller Flecken war. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Feldbett, in dem ein altes, augenscheinlich sehr krankes weibliches Wesen ruhte, das halb angekleidet war und sich bei Jennys Eintritt mit den Worten aufrichtete:

»Entschuldigen Sie, Liebe, Gute, daß ich noch hier bin. Meines Bruders Fuhrwerk kommt nicht vor morgen, und es riecht hier so von meinem Liniment, das ich der Schmerzen wegen gebrauche, und ich kann das Lüften nicht vertragen, aber morgen reise ich.«

Jenny trat freundlich näher und faßte die Hand der Alten.

»Bitte, sprechen Sie nicht so, liebes Fräulein. Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich hier eindringe, doch es scheint sich hier kein anderer Platz für mich zu finden.«

»St... st... nicht ›Fräulein‹, meine Liebe. Mein Name ist Boström, Helene Boström, aber ich habe ihn beinahe vergessen, denn hier sagen alle ›die alte Mamsell‹.«

Jenny erstickte beinahe, und während sie das, was sie zunächst und am nötigsten brauchte, auspackte, legte sie ein paarmal die Hand auf den Fensterhaken, um ein bißchen Luft zu schaffen, dann aber unterließ sie es wieder im Gedanken an ihre alte Vorgängerin; sie wußte ja, daß viele solche arme Leidende einen frischen Luftzug für todbringend halten.

»Ihro Gnaden haben nach Mamsell gefragt,« rapportierte Christine.

Es war ein altmodisches Haus mit verblichener Pracht und fadenscheiniger Eleganz, durch welches Jenny ging, um der Gnädigen zum erstenmale ihre Aufwartung zu machen. Und als sie schließlich diese Gnädige selbst erblickte, fand sie eine zusammengeschrumpfte Greisin von ungefähr 70 Jahren mit Wangen, die so runzlich waren, wie die Schale eines alten überreifen Apfels, eisgrauem Haar und braunen, nadelspitzen Augen. Im Zimmer befanden sich ebenfalls die drei Baronessen Drakensvärd von unbestimmtem Alter, zwei untersetzt, klein und ihrer Mutter ähnlich, die dritte groß, grobknochig und blond (wenn man sich artig ausdrücken will, in der Küche wurde sie jedoch der »rothaarige Teufel« genannt).

Jenny verneigte sich tief, und diese vier auf sie gerichteten Augenpaare gaben ihr das Gefühl, als hätte sie schon etwas verbrochen. Die Gnädige that ihren Mund auf, redete und sagte:

»Willkommen! Hier meine Töchter, Högfeldt: Baronesse Annie, Baronesse Laura und Baronesse Julie, und ich hoffe, daß Högfeldt sich nach ihnen gerade so gut richtet, wie nach mir.«

Jenny hoffte es auch.

»Bitte, sorgen Sie dafür, daß das Souper präcise neun serviert wird.«

Mit dem Glockenschlage neun stand das »Souper« auf dem Tische, ein einfaches Abendessen, wie es nach der Aussage der alten Mamsell zu sein pflegte, und herein trat der alte Baron mit einem vierzigjährigen männlichen Abbilde der »blonden« Baronesse Annie. Dies war der junge Baron, der Sohn und die Stütze seines Vaters bei der Bewirtschaftung von Drakebo, nachdem verschiedene männliche Versuche die juristischen Examina in Lund zu machen an natürlichen Hindernissen gescheitert waren.

Als die Baronin hereinkam, warf sie einen Blick auf die Tafel, so majestätisch, als handelte es sich um ein Hochzeitsdiner für hundert Personen, nickte und sagte:

»Es ist gut.«

Jenny verneigte sich dankbar hinter dem Stuhle, hinter den sie sich gestellt hatte, als die Übrigen an ihren Platz getreten waren.

»Ja, liebe Högfeldt, es ist nun in Ordnung,« sagte die Baronin und ihre Stimme klang ungeduldig.

Keiner setzte sich.

Da – endlich verstand Jenny; sie sollte nicht mit bei Tische essen ...

Mit Weinen im Halse stürzte sie aus dem Eßsaale, ergriff ihren Hut in der Halle und eilte in den Garten.

Wohl wußte sie, daß es vornehme Häuser gab, in denen die »Stütze« niemals ihren Fuß unter den herrschaftlichen Tisch setzen durfte, aber daß es so auf Drakebo herginge, hatte sie nicht geahnt. Jenny hatte gemeint, daß die achtungsvollen und lebenden Zeugnisse von ihren früheren Stellen (das Larssonsche hatte sie nicht vorgezeigt) ziemlich genau die Stellung angaben, die ihr im Hause zukam, ohne daß sie eigens die Bedingung stellen brauchte, wie ein Mitglied der Familie angesehen zu werden. Und dann dies »Mamsell« und »Högfeldt, Högfeldt«, als wäre sie ein Kutscher oder Bedienter! In den Briefen hatte doch »Fräulein« gestanden, dessen erinnerte sie sich genau, und ihr Herzenskummer hatte sie überdies vergessen lassen, sich näher nach ihrer neuen Herrschaft zu erkundigen. Und das nun, da sie so fest entschlossen gewesen war, so lange wie möglich auf derselben Stelle zu bleiben! Sie hatte ja noch nicht ein einziges mehrjähriges Zeugnis, und das sah schlecht aus!

In der Nacht wurde der Geruch des Liniments wirklich unerträglich. Sie hörte, daß die alte Mamsell wach war, und fragte:

»Liebe Mamsell Helene, darf ich die Küchenthür ein ganz klein bißchen aufmachen?«

Die alte Mamsell glaubte, es wäre vielleicht nicht gefährlich, da man ja in den Hundstagen und die Küche fest verschlossen sei.

Darauf wurde ein wenig geplaudert.

Die alte Mamsell war seit der Hochzeit des alten Paares, also 42 Jahre im Dienste der Familie gewesen. Aber nun hatten ihre schrecklichen Gliederschmerzen sich so verschlimmert, daß sie zu ihrem Bruder ziehen mußte, der eine kleine Pachtung in dem angrenzenden Kirchspiele hatte.

»Die Herrschaft ist schrecklich ›reell‹ gegen mich gewesen, und ich bekomme nun sozusagen eine kleine Pension. Fünfzig Kronen.«

»Monatlich? Das ist nicht wenig!«

»Sind Sie verrückt, Mädchen? Jährlich, versteht sich.«

Am nächsten Tage fuhr die alte Mamsell in einem Wagen ab, der vielleicht nicht viel besser war als der, mit welchem Jenny geholt worden war, den aber liebevolle Hände mit vielen Decken und Kissen belegt hatten, und als die Alte nickend die Allee hinunter fuhr, um nie wieder nach Drakebo zurückzukommen, war es Jenny beinahe, als müßte sie sie beneiden.

Jennys Innere war im heftigsten Aufruhr. Sollte sie sich geduldig in die Stellung fügen, die man ihr angewiesen hatte, oder sollte sie sich dagegen auflehnen, wahrscheinlich auf die Gefahr hin, aufs neue stellenlos zu sein? Als sie vor vier Jahren zuerst in die Welt ging, würde sie sich dem unterworfen haben, jetzt aber trat sie schon sicherer auf. Der Gedanke an die Stellung, die sie in drei Familien eingenommen hatte, machte ihr die Demütigungen in der vierten um so verletzender, und vielleicht wuchs ihr der Mut auch ein bißchen durch das Bewußtsein, dank dem guten Gehalte in Framnäs und Hauptmann Tornbergs Freigebigkeit 450 Kronen auf der Sparkasse zu haben. Nachdem sie ihr Frühstück auf einer Borte in der Speisekammer, ihr Mittagsessen stehend im Anrichtezimmer eingenommen hatte, bat sie die »Gnädige« nachmittags um eine Unterredung unter vier Augen.

»Wünschen Sie etwas besonderes, Högfeldt?«

»Es thut mir leid, Frau Baronin, Ihnen Verdruß zu bereiten, doch ich glaube, es ist am besten gleich gerade heraus zu sagen, daß wir einander beim Abschlusse unseres Kontrakts wahrscheinlich mißverstanden haben.«

»Wie so? 225 jährlich war ja abgemacht?«

»Darum handelt es sich nicht, Frau Baronin. Aber, verzeihen Sie, haben Sie meine Zeugnisse genau durchgelesen?«

»Ja gewiß, nur auf diese hin habe ich Sie angenommen, Högfeldt. Was soll das heißen? Wollen Sie hier schon am zweiten Tage Lärm machen, Högfeldt?«

»Nein, aber ich glaubte, daß Ihro Gnaden aus dem Tone und dem Inhalte der Zeugnisse vielleicht gesehen hätten, daß ich es auf meinen früheren Stellen etwas anders gehabt habe, als es mir hier zugedacht scheint.«

»Ja so, Sie meinen das Zimmer da unten, Högfeldt. Ja, das habe ich Rudolf schon gesagt, nun da wir eine junge, saubere Person ins Haus bekommen, müssen dort neue Tapeten hinein, und dann habe ich noch ein Stück Zwillich, mit dem wir das Sofa und die Stühle überziehen lassen können.«

»Ich danke gehorsamst, das ist recht nötig, aber ich bin, was die Behandlung von seiten der übrigen Familienmitglieder betrifft, ein wenig mehr Achtung gewohnt, als die Herrschaften mir erweisen zu wollen scheinen. Verzeihen Sie, Frau Baronin, aber wenn Sie eine Herrenköchin haben wollten, meine ich, hätten meine Zeugnisse Ihnen abraten müssen.«

»Ich verstehe, Axel hat wieder Annäherungen versucht. Wir mußten unsere frühere Jungfer seinetwegen gehen lassen. Axel ist herzensgut, aber jung und leichtsinnig. Ich danke Ihnen, daß Sie ihn zurückgewiesen haben. Er wird den Versuch nicht wieder erneuern. Ich sehe Sie sind ein braves Mädchen, Högfeldt; und nun sprechen wir wohl nicht mehr darüber.«

Jenny war ganz außer sich, sie bebte vor Zorn und erhob die Stimme, als sie antwortete:

»Ich bin alt genug, Frau Baronin, um mich selbst solcher Beleidigungen, von denen Sie sprechen, zu erwehren. Aber ich bin gewohnt, etwas anders, als eine Jungfer behandelt zu werden, und besonders kann ich noch sagen, daß es niemals meine Absicht gewesen ist, eine Stelle in einem Hause anzunehmen, wo man so unendlich hoch über mir steht, daß ich selbst für die äußerste Ecke am Tische der Familie zu schlecht bin.«

Nun traten die drei Grazien ein.

»Ist die Person verrückt?« sagte Laura.

»Gott, meine Nerven!« sagte Julie.

»Überfällt Högfeldt dich, Mutter?« fragte die starke Annie und stellte sich in Positur.

»Still, Mädchen! Ja so, das war so schrecklich wichtig?« fragte die Gnädige.

»Nicht für mein persönliches Wohlbefinden, Frau Baronin. Glauben Sie das nicht! Aber meine Stellung, den Dienstboten gegenüber, ist stets eine andere gewesen, als sie es auf die Weise werden muß. Und dann, Frau Baronin, ist man sich selbst auch gewisse Rücksichten schuldig ...«

»Versteht sich, noblesse oblige; kann man sich so etwas denken,« murmelte Baronesse Laura.

»Danke, Baronesse! An dieses Gefühl wollte ich gerade bei – den Herrschaften appellieren. Ich bin ja nur eine arme ›Mamsell‹.«

»Sie können gehen, Högfeldt. Ich werde mit meinem Manne sprechen.«

Jenny, die zitternd und zagend eingetreten war, verstand sich selbst nicht. Sie war während der Unterredung immer kälter und ruhiger geworden und sagte unbeschwert alles, was sie sich vorgenommen hatte. Jetzt hielt sie es für das Beste, das Eisen zu schmieden, so lange es warm war, wandte sich in der Thür noch einmal um und sagte ruhig, aber entschieden:

»Sollten Sie so erzürnt über das, was ich gesagt habe, sein, daß Sie mich nicht behalten wollen, Frau Baronin, so bin ich bereit, sofort abzugehen. Wollen Sie aber meine Dreistigkeit übersehen und mich behalten, so nennen Sie mich, bitte, von nun an Jenny.«

»Ja, die kann so bleiben!« rief Fräulein Julie aus, als Jenny gegangen war.

»Sie that sogar, als könnte sie Französisch!« jammerte Fräulein Laura.

»Sie soll morgen fort!« schrie die große, starke Baronesse Annie.

Aber Jenny kam nicht fort. Die Gnädige und der Baron überlegten die Sache noch einmal, lasen die Zeugnisse der neuen »Wirtschafterin« zusammen durch, riefen die Töchter und Axel herein und hielten Familienrat.

Beim »Souper« sagte die Baronin zu Christine:

»Bitten Sie Mamsell zu Tische zu kommen.«

Mit glühenden Wangen und fast weinend nahm Jenny Platz. Der alte Baron hatte ungefähr dasselbe Gefühl wie der arme Ludwig der Sechzehnte, als man ihm die Jakobinermütze auf das königliche Haupt setzte; der junge Baron aber vergaß sich ganz beim Anblick des hübschen, erregten Gesichtes, reichte Jenny den Brotkorb und sagte: »Bitte, Fräulein!«

So hielt die neue Zeit ihren Einzug in dem alten Drakebo, aber ich möchte nicht gerade behaupten, daß das Abendessen besonders gut schmeckte.

Aber es kam besser. Jenny hatte sich nicht wieder über etwas zu beklagen, und die Familie Drakensvãrd, die gefürchtet hatte, daß Jenny, sobald sie erst im Hause warm geworden wäre, einen »Verdruß über den andern« anstiften würde, sah zu ihrer angenehmen Überraschung, daß sie ein ruhiges mildes Wesen hatte und es »nie an Respekt fehlen« ließ.

Bald darauf wurde der alte Baron schwer krank. Die Kräfte der Baronin reichten nicht zu seiner Pflege aus, und von der Hilfe »der Mädchen« wollte der Doktor nichts wissen.

»Baronesse Annie ist vortrefflich zu brauchen, wenn der Baron umgebettet werden soll, sonst aber wäre es gut, wenn Fräulein Högfeldt so viel wie möglich bei ihm sein könnte, sie hat eine so leichte Hand,« sagte der alte Kreisphysikus.

Und Jenny pflegte ihn liebevoll und unermüdlich, und als der alte Baron nach einem langen, schweren Monate wieder auf die Beine kam, stand Jenny ganz anders mit der Familie. Eigentlich waren sie alle nette, gute Menschen, aber die Zeit war über Drakebo während eines halben Jahrhunderts dahin gerauscht, ohne in den Traditionen des Herrensitzes, noch an der Lebensanschauung der Besitzer zu rütteln. Axels Universitätszeit und die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie alle in ihrem antiken Glanz in der Residenz aufgetreten waren, hatten nicht genügt, die Mitglieder der Familie in die neue Zeit und ihre Anschauungsweise zu versetzen.

Als der alte Baron zum erstenmale nach seiner Krankheit wieder mit bei Tisch essen konnte, wurde eine halbe Flasche weißen Portweins für die ganze Gesellschaft aus dem Keller geholt, und der Baron Drakensvãrd erhob sichtlich gerührt sein Glas und dankte seiner »treuen Pflegerin.« An diesem Mittage schmeckte es Jenny wirklich gut, und die Gnädige klopfte ihr freundlich auf die Schulter und sagte:

»Ihre Mutter muß wenigstens von Familie gewesen sein, nicht wahr, Jenny!«

Jenny lächelte.

»Nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen, Frau Baronin. Mama ist eine geborene Svensson, und ihr Vater war nur Organist.«

»Merkwürdig, höchst merkwürdig,« murmelte der alte Baron.

Ende Juli war Jenny auf ein paar Tage nach Hause gereist, und als sie nach Drakebo zurückkehrte, erschrak sie beim Eintritte in ihr Stübchen, dasselbe ganz mit Webehölzern, alten Spulen und anderen zu einem richtigen Landhaushalte gehörigen Dingen angefüllt zu finden.

»Was soll das heißen, Christine?«

In demselben Augenblicke kam Baronesse Annie die Treppe herunter.

»Ja, Mama meinte, es wäre unrecht, Sie hier unten so unbequem wohnen zu lassen, da wir doch oben vier Fremdenzimmer haben, die nie benutzt werden.«

Und damit faßte sie Jenny ganz vertraulich um und führte sie in ihr neues Zimmer, wo die Stühle und das Sofa keine Zwillichbezüge hatten.

So kam es, daß Jenny, wenn die Herzenswunde nicht beständig geblutet hätte, die drei Jahre, die sie unter diesen Menschen, die ihr anfangs Thränen des Zornes und der Demütigung ausgepreßt hatten, und auf Drakebo verlebte, gar nicht lang gefunden haben würde. Das Leben auf Drakebo war sonst einförmig genug, und wenn diese Einförmigkeit im Sommer durch den Besuch Verwandter oder Bekannter unterbrochen wurde, so hatte Jenny so viel mit den Anordnungen und der Bewirtung zu thun, daß sie nur selten Zeit hatte, »mit dabei zu sein.« Doch sie wurde auf eine Weise vorgestellt, die ihr jedes verletzende Übersehenwerden von seiten der Gäste ersparte, und sie beteiligte sich gelegentlich am Kroketspiele auf dem Hofe; »gewiß nur um ihre Stellung zu heben« bemerkte Baronesse Julie mit einem letzten, kleinen Reste von Verdruß, der doch vielleicht nur davon herrührte, daß Jenny sie gewöhnlich im Spiele besiegte.

Jenny hatte stets versucht, in ihren Briefen nach Hause einen möglichst frohen Ton anzuschlagen, doch an der Wehmut, die sich darunter verbarg, merkte die Mutter, daß das Herz ihrer Tochter eines von denen war, die nicht vergessen, und in den stillen Nächten, wenn Jennys Gedanken weit übers Meer zogen, ergoß sich ein liebendes Mutterherz in innigem Gebete, daß die Zeit die Erinnerung an ihn verwischen möge, der, ohne es zu wissen und zu wollen, das Herz ihres geliebten Kindes so ganz gewonnen hatte.


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