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»Daß Sie soviel von den Kleinen halten ...«

Jetzt zeigte sich noch eine Schwierigkeit, an die Jenny bei ihrem Streben, sich im Dienste anderer ihren Unterhalt zu verdienen, nicht gedacht, auf die aber Bruder Karl trotz seiner geringeren Lebenserfahrung hingewiesen hatte, als es sich um die Stelle bei J. A. Larsson handelte. Die fünf Monate auf dem Comptoir der Firma J. A. Larsson und das, übrigens sehr gute Zeugnis von dieser Stelle, kosteten sie einen vorteilhaften Platz, zu dem sie sonst Aussicht gehabt hatte. Man konnte und wollte es sich nicht denken, daß ein Mädchen aus »wirklich guter Familie« eine solche Stelle hätte annehmen können.

Durch Schaden klug geworden, schickte Jenny das nächste Mal, als es sich um einen Platz handelte, das Larssonsche Zeugnis gar nicht ein. Alles schien auch gut zu gehen, aber als gerade der Zuschlag erfolgen sollte, kam ein Brief, der die Unterhandlungen unter nichtssagenden Vorwänden abbrach. Man konnte sich beinahe an den fünf Fingern abzählen, daß die Betreffenden von der fünfmonatlichen Stellvertretung für Lotte gehört haben mußten.

Wieder vergingen einige Monate voller Angst und Unruhe, der Juli war zu Ende, und Jenny hatte sich schon darin gefunden, wenigstens bis zur gewöhnlichen Herbstumzugszeit stellenlos bleiben zu müssen. Sie versuchte es mit Handarbeiten, ging auch umher und bot sich zum Abschreiben an, und es gelang ihr auch wirklich, sich in einer Woche damit die Summe von – 1 Krone 75 Öre zu verdienen.

Verstimmt und müde kam Jenny eines Abends von einer fehlgeschlagenen Entdeckungsreise nach Kopierarbeiten nach Hause und hörte, als sie ihren Hut auf dem Vorplatze anhängte, eine Stimme, die ihr so bekannt vorkam. Und als sie die Thür öffnete, flog ihr eine kleine Gestalt um den Hals, küßte sie lachend und weinend zugleich und rief dabei: »Jenny, Jenny!«

Spätere Erfahrungen hatten Jenny Frau Granboms Anhänglichkeit vielleicht noch mehr schätzen gelehrt, als es in der Zeit, da sie die lebhaften Ausbrüche derselben täglich genoß, der Fall gewesen war. Sie schloß ihre ehemalige Herrin nun zärtlich in die Arme und rief aus: »O, Alma, welche Freude! Wie geht es jetzt mit Euch auf Bjelkåsa!«

»Ach, so so la la. Ein wenig schlechter als bei deiner Abreise natürlich. Wir können uns jetzt kein junges Mädchen halten.«

Während dieser zärtlichen Scene hatte Mama durch immer nachdrücklichere Püffe einmal über das andere versucht, Jennys Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich löste sich Jenny aus der langen Umarmung und sah, daß noch ein Besuch im Zimmer war.

Es war ein großer, kräftiger Mann; nach dem Gesichte und den noch jugendlichen Augen zu urteilen, mußte er in seinen besten Jahren sein, aber das kohlschwarze Haar war an den Schläfen ergraut, der üppige Schnurrbart fast weiß, und ein leidender, sorgenvoller Ausdruck lag in den großen dunklen Augen, über denen die Stirn so gefurcht war wie die eines Greises.

Ein mattes Lächeln teilte seine dünnen Lippen und ließ ein Gebiß sehen, weiß und gleichmäßig wie das eines Jünglings, und verbreitete ein bißchen Sonnenschein über die beängstigend düstern Züge.

»Nun, liebe Alma, bist du vielleicht so gut, mich vorzustellen ...«

»Liebe Jenny, dies ist mein Vetter, Georg Tornberg, Hauptmann bei den Pionieren. Du hast sein Bild sicher bei uns zuhause im Album gesehen. Und dies, Georg, ist meine liebe, teure, böse Jenny. Und ich sagte Georg gleich, ein besseres Mädchen als dich könnte er auf der ganzen Wel ...«

»Aber Alma, Alma ...« unterbrach der Hauptmann seine kleine Cousine und erklärte selbst, kurz und abgemessen, daß ihm der Tod kürzlich die Gattin entrissen und Alma ihm gesagt habe, er könne sich glücklich schätzen, wenn Fräulein Högfeldt sich seines Hauses und seiner beiden armen Kleinen annehmen wollte ...

Als er so weit gekommen war, wandte er sich plötzlich ab und blickte lange starr aus dem Fenster. Als er dann wieder zu Alma und Jenny trat, war die Falte auf der Stirn noch tiefer als vorher und seine Augen schimmerten feucht.

Der Gehaltsfrage und den sonstigen Bedingungen wurde nur flüchtige Aufmerksamkeit geschenkt. Alma schlug alles darauf Bezügliche vor und zwar zu Jennys großem Vorteile, und schon am folgenden Abend saß Jenny in Hauptmann Tornbergs Hause in Kåköping, einer kleinen Stadt an der Eisenbahn.

Es war eine kleine, feine Häuslichkeit, aber in ganz anderer Art als Framnäs. Überall verspürte man Geschmack und Sinn für Gemütlichkeit und die liebevoll ordnende Hand einer liebenden Frau. Die Kinder, Franz und Ellen, sechs und acht Jahre alt, waren liebenswürdig und gut erzogen, beide kleine Lichtelfen, die kaum einen Zug vom Vater hatten. Aber als Jenny das große, schöne Bild über dem Schreibtische des Hauptmanns gesehen hatte, wußte sie, wem sie ähnelten und warum die Augen des Vaters sich bei ihrem Anblicke so oft mit Thränen füllten. Die Wunde war ja noch so frisch, erst sechs Wochen.

Als der Hauptmann am Abend in das Eßzimmer trat und Jenny hinter dem Stuhle an der Thür zum Anrichtzimmer stehen sah, fuhr er zurück und es sah aus, als kostete es ihn große Willensanstrengung, sich am Tisch niederzulassen. Er blickte sie immer wieder flüchtig an und öffnete den Mund zur Hälfte, als wollte er etwas sagen, schwieg aber.

Er brauchte es auch nicht zu sagen. Mit echt weiblichem Instinkte fühlte Jenny, daß sie zufällig den Platz der Dahingeschiedenen gewählt hatte, und dieser blieb von nun an stets leer stehen.

»Ich bin ein schlechter Gesellschafter für Sie, Fräulein Högfeldt,« hatte er schon am ersten Tage gesagt. »Ich bin ein gebrochener Mann, der sich nie wieder aufraffen wird, und mein Haus ist ein düsterer Platz, den keiner meiner Freunde mehr besucht. Ist es Ihnen möglich, sich irgendwie Abwechselung zu verschaffen oder haben Sie hier Bekannte, so steht Ihnen mein Haus zur Verfügung, wenn Sie nur versuchen wollten, hier so lange wie möglich auszuhalten.«

Und sie hielt erstaunlich gut aus. Ihr Sinn hatte nie nach Vergnügen gestanden und woher hätte sie auf Elgarås auch solche Ansprüche bekommen sollen? Sie befand sich in der friedlichen Stille wohl und obgleich sein Gram ihr Mitleiden erweckte, drückte er sie nicht nieder. Um ihre vielen freien Stunden auszufüllen, unterrichtete sie die Kinder.

»Das brauchen Sie nicht, Fräulein, ich dachte Franz im August bei dem Lehrer anfangen zu lassen, der Ellen die Anfangsgründe beigebracht hat,« sagte der Hauptmann.

»Aber dies ist gerade die Zerstreuung, deren ich bedarf, und die ich mir auf Ihren eigenen Wunsch verschaffen sollte, Herr Hauptmann. Ich habe keine Erzieherinnenkenntnisse, aber das Wenige, das ich weiß, habe ich gründlich gelernt, und vorläufig brauchen die Kinder noch keine andere Lehrerin, wenn Sie mir das Vertrauen schenken wollen.«

»In dem Falle bin ich Ihnen dankbar, daß ... daß ich keine Fremde hier im Hause zu sehen brauche,« antwortete er.

Ein Tag nach dem anderen ging dahin, und sie schienen Jenny schneller als je zu verfließen. Hätte ihr reines Gemüt auch nur die geringste Erfahrung von dem weltbesiegenden Gefühle gehabt, das stärker als jedes andere Mann und Weib zu einander hinzieht, so würde sie das »Warum« bald gefunden haben. Aber sie hatte in unserer Zeit der Kinderliebschaften und Courmachereien fast fünfundzwanzig Jahre zurückgelegt, ohne daß das Gesicht oder die Stimme eines Mannes ihr Herz hätte schneller schlagen lassen, und ihre Gedanken waren nie in den arkadischen Gefilden umhergestreift.

Und daher merkte sie nicht, daß neue aufkeimende Gefühle sich dort hineinstahlen, wo das Mitleiden den Weg gebahnt hatte, und daher wußte sie selbst nicht, daß sie das Leben nach den kurzen Augenblicken im Lauf des Tages bemaß, wo sie ihn bei den Mahlzeiten sah, ihn, um den sich alle ihre Gedanken in immer engeren Kreisen zu drehen begannen.

»Ich bin so glücklich, liebe Emmy, und befinde mich hier so außerordentlich wohl, aber jetzt gerade denke ich seit einigen Tagen soviel an Euch und bin beinahe ein wenig verstimmt, auch wird mir die Zeit ein bißchen lang. Ich werde mir doch nicht eine Krankheit geholt haben; hier grassiert das Nervenfieber.« So schrieb sie an die Schwester und war sich selbst vollständig unbewußt, daß der Wechsel ihrer Stimmung seinen Grund darin hatte, daß Hauptmann Tornberg vierzehn Tage auf Dienstreisen war.

Das Weihnachtsfest kam immer näher und machte Jenny viel Kopfzerbrechen. Sie sah ja sein Herz bei allem, was die Erinnerung an die Vergangenheit lebhafter erweckte, stärker bluten, und wann konnten sie wohl stärker auf ihn einstürmen als am Weihnachtsabend. Wie sollte der Heiligabend hier im Hause gefeiert werden? Dies war schon seit dem Oktober Jennys große Frage. Wären nicht die Kinder gewesen, würde sie, soweit es sie selbst betraf, ihn aus eigenem Antriebe spurlos vorübergehen lassen. Aber das Kinderherz ist ein wunderliches, undankbares, kleines Ding. Die Mutter, die draußen in der Erde schlummerte und einst ihr Alles gewesen war, war nun von Franz und Ellen fast vergessen, und wenn Ellen sich einmal der »Mama« erinnerte, beruhigte sie sich gleich wieder bei der Erklärung, daß Mama nun im Himmel sei. Aber an den Weihnachtsabend erinnerten sie sich alle beide und Jenny hatte nicht das Herz, ihnen ihre Freude ganz zu rauben.

Daher blieb sich das ganze Haus im übrigen an diesem großen Abende gleich, nur im Kinderzimmer stand ein kleiner, ganz kleiner Tannenbaum, und Jenny hatte kleine Gaben für die Kinder von ihrem eigenen Gelde gekauft für den Fall, daß der Vater es nicht thun würde. Hier sollten sie ihr Bißchen versteckte Weihnachtsfreude haben, und wenn das liebevolle Mutterauge durch die zerrissenen Wolken hätte blicken können, würde es sich nicht daran trüben, daß das kurze Gedächtnis der Kinderherzen Freude und strahlende Augen schon so bald, nachdem die Mama von ihren Kleinen gegangen, wieder zuließ.

Schon am Morgen lag eine gewisse Angst und Unruhe über dem Wesen des Hauptmanns. Er fürchtete sich augenscheinlich vor Weihnachten, hatte aber keine Anweisung geben wollen, wie man sich dazu zu verhalten habe. Doch als das Mittagsessen ohne das schwedische National-Weihnachtsgericht, »die Tunke« und andere Extraspeisen vorübergegangen war, ging er in sein Zimmer und kam mit einigen kleinen Paketen wieder.

»Ich sah den kleinen Tannenbaum durchs Fenster, Fräulein Högfeldt, und konnte mir denken, daß Sie die Kinder nicht vergessen hatten, obwohl Sie es mir ersparen wollten ... danke! Papa hat seine Kleinen auch nicht ganz vergessen, aber ... ich will nicht da hinausgehen ...«

Und darauf nahm er Rock und Hut und ging den altgewohnten Weg zum Kirchhofe, wo er länger als gewöhnlich verweilte. Und als er wieder nach Hause kam, zündete er die Lampe und die beiden Schreibtischlichter an und stellte sie so, daß der Schein von den Weihnachtslichtern des Einsamen scharf und klar auf das Bild derjenigen fiel, die vor einem Jahre das Haus an diesem Tage mit Freude und Sonnenschein erfüllt hatte.

Im Dienste, draußen unter den Menschen, ja an seinem eigenen Tische, an dem er einer Fremden einen Platz hatte einräumen müssen, mußte er seinen Schmerz beherrschen, und in der letzten Zeit waren seine Gedanken auch durch viele Arbeit in Anspruch genommen worden. Aber jetzt am Weihnachtsabende, allein, ganz allein, wollte er in seinem Kummer schwelgen, wollte mit dem geliebten Bilde als Altar Weihnachten feiern.

Stunde auf Stunde verrann, und die Uhr hatte schon acht geschlagen, als er plötzlich zusammenfuhr, als ob er sich einer Sache erinnerte.

Er ging ins Eßzimmer. Es war leer, obwohl die Hängelampe brannte.

Er zog die Glocke.

»Bitten Sie Fräulein Högfeldt, herzukommen.«

»Liebes Fräulein, ich wollte Ihnen auch gern ein Weih ... eine Kleinigkeit geben. Entschuldigen Sie die Form der kleinen Gabe. Ich wußte nicht, was Sie sich wohl wünschen könnten und so ... ja, es wird mir jetzt so schwer, mir etwas auszudenken ...«

Dann rief er die Kinder, küßte beide lange und innig, reichte Jenny die Hand und sagte gute Nacht.

Sie öffnete das Briefcouvert, das er ihr überreicht hatte. Ein liberales Geldgeschenk in neuem, ungefalteten Papiergeld, ohne eine Zeile, ohne ein Wort! Für die Kinder hatte er doch sowohl eine Puppe wie ein Pferd gekauft!

Jenny stieg das Blut in die Wangen und sie fühlte sich noch einsamer als vorher. Sie kehrte in die Kinderstube zurück, wo lauter Jubel herrschte.

Hauptmann Tornbergs Freunde und Bekannte hatten sich nach der ersten großen und allgemeinen Teilnahme an dem so plötzlichen Tode seiner jungen, geliebten Gattin, etwas zurückgezogen. Ein tief sorgender und wirklich gebrochener Mensch ist im allgemeinen keine angenehme Gesellschaft, und unsere Freunde handelten gern nach dem überdies auch vollkommen richtigen Grundsatze, daß es am besten sei, den Trauernden in Frieden zu lassen. Doch so um Neujahr herum begannen sie sich zu erkundigen, ob Freund Tornberg sich denn nicht wieder aufraffen wollte, damit er wieder für diese Welt zu brauchen sei. Man sprach bei ihm vor und plauderte ein Stündchen, hin und wieder kam eine Einladung und man versuchte ihn »loszueisen.« Doch nach einiger Zeit wurde er in Ruhe gelassen und für vollständig »unmöglich« erklärt.

Mit Jenny sprach er beinahe nie über etwas anderes als über die Kinder, und nur dann wohl einmal einige andere Worte, wenn er meinte, ihr für alles, was sie seinem Hause war, seinen freundlichsten Dank ausdrücken zu müssen.

Sie fing an sich in seine Gewohnheiten einzuleben, sie wußte, was er that und suchte die Art seiner Arbeit zu verstehen. Sie las es in seinem Gesichte, wenn seine Bürde ihn schwerer als gewöhnlich drückte und sie errötete über sich selbst, als sie sich dabei ertappte, daß sie den kleinen Franz ausfragte, was Papa so lange auf dem Kirchhofe thäte und das Kind sie mit großen, verwunderten Augen ansah und antwortete: »Weint.«

Er ging an den Winterabenden so spät zum Grabe, daß er annehmen konnte, niemand mehr auf dem Kirchhofe zu treffen; manchmal nahm er die Kinder mit, manchmal ging er ohne sie. Ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stand Jenny an einem kalten Februarabende draußen auf dem Totenacker und sah ihn vor dem Grabhügel knieen. Erst da fühlte sie brennende Scham, so in der Entfernung zu stehen, um ihm nachzuspionieren. Doch sie stand wie festgenagelt und konnte sich nicht losreißen. Er war nun einsam, und sie konnte sein Schluchzen hören. Da erhob er sich und that einige Schritte, dann aber wandte er sich wieder um, fiel nieder und drückte sein Gesicht auf die Erde. Er küßte das letzte, kalte Bett der Geliebten. So wie er das Gitter hinter sich hatte, eilte Jenny zum Grabe und kniete am selben Platze wie er. Und dort wurde ihr auf einmal klar, wie es mit ihrem Herzen stand. Sie lag lange ganz still. Dann löste sich ihre innere Angst in Thränen auf, sie streichelte leise den weißen, kalten Marmorsockel und flüsterte: »Verzeihe mir, du schöne, glückliche Tote! Wie gern möchte ich hier unten ruhen, beweint von ihm!« –

Jetzt, nachdem sie ihr Herz erkannt hatte, kam eine gewisse Gezwungenheit über Jenny, sobald sie mit Georg Tornberg zusammen war. Ihre Gefühle, die ihr mit jedem Tage mehr zum Bewußtsein kamen, erschreckten sie; sie kam sich wie eine Tempelschänderin an dieser Stätte der Trauer und des Verlustes vor und bewachte in seiner Gegenwart ängstlich jeden Blick, jeden Tonfall. Er merkte die Veränderung, deutete sie jedoch natürlich falsch, glaubte, daß Jenny es in dieser düstern Umgebung nicht aushalten könne, und beunruhigte sich über den Gedanken, sie vielleicht für sein Haus zu verlieren. Und als er eines Abends in den Saal kam und Fränzchen auf Jennys Schoß sitzen sah, trat er zu der Gruppe, strich dem Knaben, der die Arme fest um Jennys Hals gelegt hatte, über das blonde Haar und flüsterte: »So ist's recht, mein Junge suche du Tante Jenny festzuhalten. Dein armer, trauriger Papa macht ihr das Leben gewiß gar zu trübe, und sie fängt vielleicht schon an, sich von hier fortzusehnen?«

Da machte sich Jenny vorsichtig von dem Ärmchen des Knaben los und blickte Tornberg mit großen, forschenden Augen an.

»Glauben Sie das wirklich, Herr Hauptmann?«

»Ich wage es nicht zu glauben, aber ich fürchte es mitunter, und könnte man sich wohl darüber wundern, Fräulein Högfeldt?«

»Ja, dann, Herr Hauptmann, bitte ich Sie zu glauben, daß ich mich nirgends so zufrieden gefühlt habe wie hier.«

»Danke!« erwiderte er und drückte ihr warm die Hand.

Bei offenen, heiteren, warmen Naturen gleicht die Liebe oft einem kurzen, linden, herrlichen Sommer, der sich im Herbst verwandelt, und mit jedem kommenden Frühlinge wieder zum Leben erwachen kann. Und ihr Liebeskummer gleicht einem verheerenden Hagelschauer, auch wohl einem gewaltsamen Wolkenbruche, nach dem die Sonne bald wieder freundlich auf die verwüsteten Felder herablächelt.

Für Jennys ruhige Natur, ihr mehr ernst angelegtes Gemüt, dessen Gedanken nie die gewöhnlichen Gefilde der Mädchenphantasie durchstreift hatten, für sie, deren Lippen nicht einmal beim Spiele von denen eines unschuldigen Knaben oder Jünglings, viel weniger von denen eines Frechen im Raube des Augenblicks berührt worden waren, für sie brachten die neuen Gefühle eine gewaltsame Umgestaltung ihres ganzen Wesens mit sich; sie fühlte sich wie aus jahrelangem Schlafe erwacht, und Jenny aus Elgarås, Jenny auf Bjelkåsa und Villa Framnäs erschienen ihr wie gute Bekannte, mit denen sie freilich auf sehr vertrautem Fuße stand, in denen sie sich selbst aber nicht mehr wieder erkennen konnte.

Dann kamen einige Märztage, in denen ein Ereignis Jenny und Tornberg einander näher führte und sie öfter zusammen sein ließ. Ellen erkrankte an heftigen Gliederschmerzen, und der Vater wich nur von dem Bette seines Lieblings, wenn der Dienst ihn rief. Er liebte die Kinder leidenschaftlich und unverständig; sie hatten den Teil seines Herzens, der nicht mit der Mutter begraben worden war, geerbt, und der sonst so kluge Mann war seinen Kleinen gegenüber so unvernünftig schwach, daß nur Jennys ganze gesunde Vernunft und das eigene glückliche Temperament die Kinder davor bewahrte, durch diese Nachsicht verdorben zu werden.

Stunde auf Stunde saß er am Bette des Kindes, bald ruhig, zärtlich und umsichtig wie eine Mutter, bald außer sich vor Schmerz, wenn Ellen klagte. Dann hielt er sie lange in den Armen und murmelte: »Auch du, auch du! das wird zu viel! das überlebe ich nicht!«

Der Doktor kam und sagte, es sei keine Gefahr vorhanden. Er verordnete Medizin, erklärte aber, daß ein Teil des verdorbenen Blutes durch Aderlaß entfernt werden müsse. Er habe nicht die nötigen Instrumente bei sich, sagte er, und müsse mit dem Zuge fort, aber der Organist, der das Impfen besorge, könnte die Sache ebenso gut machen.

Und der alte Kantor Sandgren kam, aber als Ellen ihn mit Glas und Schnepper erblickte, war sie so außer sich vor Schrecken, daß die Fensterscheiben von ihrem Schreien klirrten. Der Vater und Jenny redeten ihr begütigend zu, aber umsonst, und bei ihrer Schwäche konnte eine solche Aufregung geradezu gefährlich werden.

»Entschuldigen Sie, Fräulein!« rief der Hauptmann, warf den Rock ab und streifte den Ärmel seines Hemdes auf.

»Sieh, mein liebes, kleines Mädchen, nun sollst du an Papa sehen, daß es gar nicht weh thut! Bitte, Herr Kantor! Um das Kind zu beruhigen.«

»Das ist ja Wahnsinn ... das thue ich nicht,« brummte der Alte. Aber er mußte es doch thun, und nachdem Ellen zugesehen hatte, wie Herr Sandgren viele, viele kleine rote, lustige Löcher in Papas Arm gestochen hatte, während Papa mit ihr plauderte und sie liebkoste, ging die Operation endlich vor sich.

In jedem andern Falle würde Jenny mit ihrer klugen, gesunden Auffassung in einem solchen Schritte nur den thörichten Ausbruch übertriebener Schwäche gesehen haben; hier war es eine Heldenthat und diese unvernünftige Liebe zu seinem Kinde fesselte sie noch mehr an das große, warme Herz, das so vieler Zärtlichkeit fähig war.

Die vielen Stunden an Ellens Krankenlager, Stunden gemeinsamer Angst, Hoffnung und Freude, hatten Jenny in Tornbergs Augen neues Interesse gegeben, und von jetzt an blieb er oft noch ein Weilchen nach dem Mittagessen in gemütlicher Unterhaltung sitzen.

Doch die Schatten wichen nicht, die Trauer verminderte sich nicht. Seine Ehe war eine dieser wenigen gewesen, wo sich nach jahrelangem Sehnen Salami und Sulamith in die Arme gesunken waren, und in der die beiden Flammen zu einer Liebesglut vereinigt, nie auch nur einen Augenblick lang weniger hell geleuchtet hatten.

Eines Tages, zu Anfang Juni, kam er augenscheinlich sehr aufgeregt zu Jenny und bat sie um eine Unterredung. Und dann begann er:

»All mein Kämpfen ist vergebens. Ich kann nicht länger in einer Umgebung leben, wo mich alles an ›sie‹ erinnert ... Wenn etwas imstande gewesen wäre, mir dies zu ermöglichen, so hätten Ihre Sorgfalt, Ihr Zartgefühl und Ihr Takt es gethan. Doch die Erinnerungen erdrücken mich, und ich habe die Pflicht, für meine Kinder zu leben. Ich muß fort von hier, weit fort und habe deshalb ein Anerbieten von einer Gesellschaft angenommen, die eine Eisenbahn in Argentinien baut. Gestern wurde mein Gesuch um Urlaub auf zwei Jahre bewilligt, und in vierzehn Tagen reisen wir, ich und die Kinder. Halten Sie mich deshalb nicht für undankbar, Fräulein Högfeldt, wenn ich nicht länger in einem Hause leben kann, wo Sie doch soviel für mich gethan haben. Natürlich wird unsere Schuld auf dem einzigen Gebiete, wo ich Ihnen Ihre Dienste vergüten kann, zu Ihrer Zufriedenheit geordnet werden, meine Dankesschuld kann ich nie abtragen.«

Ob sie etwas antwortete, wie sie aus dem Zimmer kam, das weiß Jenny noch heute nicht. Doch sie fühlte sich von Sorge wie versteinert und so betäubt, wie nach einem Sturze. Sie hatte sich in diesen letzten Wochen damit beschäftigt, ihr Herzbudget fürs ganze Leben zu machen und einen nach den gewöhnlichen Begriffen für ein erst fünfundzwanzigjähriges Mädchen wenig verlockenden Zukunftsplan entworfen, der ihr jedoch unbeschreiblich schön erschien.

Sie wollte in diesem Hause bleiben, ihm und seinen Kindern ihr Leben weihen, ihm, den sie in seinem Gram altern und verwelken sehen würde, ohne daß ihm auch nur eine Ahnung käme, wie nahe und warm ein Herz für ihn schlug. Sie würde von dem Anblicke seines kummervollen, grauen Hauptes leben, von dem Hören seiner Stimme und einigen gelegentlichen Dankesworten. Und die Kinder würden groß werden und in die Welt gehen, sie aber würde, wenn Gott ihr das Leben ließe, bleiben, und, wenn er alt und von der Welt vergessen würde, wenn die Kinder ein eigenes Heim hätten und der stattliche Hauptmann Tornberg nur ein Schatten seiner selbst sein würde, dann würde sie allein, mit der Maske der dienenden Treue über ihren warmen Gefühlen, bei ihm bleiben, bis der Tod einen von ihnen abriefe.

Und nun ...

Als er sich am Abende zurückgezogen hatte, schleppte sie sich zu seiner verschlossenen Thür und verweilte dort Stunde auf Stunde, ohne Seufzer, ohne Thränen, regungslos und schweigend. Doch wenn es sich hätte denken lassen, daß er in diesem Augenblicke herausgetreten wäre und – seine Arme geöffnet hätte, so würde sie sich ihm ganz hingegeben haben, als Weib, Geliebte oder Sklavin; wenn sie, mit der Gewißheit, morgen verstoßen zu werden, ihm heute nur hätte in die Arme sinken dürfen, so würde die kalte, strenge Jenny Högfeldt ihm gefolgt sein und seine Fußstapfen geküßt haben. Daß er nicht einmal die Frage aufwarf, sie solle ihn begleiten und die Kinder, die so viel von ihr hielten, erziehen?

Sollte sie sich dazu erbieten? Ach, Mutter und Geschwister galten ihr in diesem Augenblicke weniger als nichts!

Aber am nächsten Morgen, nach dem Gethsemane ihrer Liebe, hatte Jenny die Herrschaft über sich selbst wiedergewonnen, und wenn sie später an diese Stunden zurückdachte, schauderte ihr weibliches Gefühl wie vor einem Abgrunde zurück.

Die Tage gingen rasch unter den Vorbereitungen hin, und bald war man zur Reise nach Gothenburg fertig, wohin Jenny die Familie begleiten sollte.

Sie trafen dort am Morgen ein und gingen in den Speisesaal eines Hotels, um Frühstück zu essen.

»Befehlen die gnädige Frau einen Dessertlöffel für den jungen Herrn?« fragte der Kellner, als er sah, wie ungeschickt Fränzchen das schwere Messer handhabte.

Tornberg zuckte wie unter einem Peitschenschlage zusammen, und Jenny wurde blutrot.

Am nächsten Tage sollte der Dampfer, mit dem sie fahren wollten, abgehen, und dieser letzte Tag war schrecklich. Wenn Jenny ihn mit einigen Sachen, die er zur Reise gekauft hatte, ins Hotelzimmer treten sah, zählte sie: »Ein, zwei, drei Male werde ich sein Antlitz noch sehen, und dann morgen ...«

Am Morgen stiegen sie in die Droschke, die sie zum Hafen führen sollte. Der Portier wußte nun ja, in welchem Verhältnis sie zu einander standen, aber der Kutscher drehte sich um und sagte:

»Ihr Mantel schleppt, gnädige Frau.«

Wenn es doch so gewesen wäre! Wenn sie mit ihm verbunden wäre! Wieder überfiel sie ein Gefühl der Schwäche und ihr Herz schrie: »Ergreife seinen Arm und sage, daß du ihn begleiten willst – um der Kinder willen.«

Sein Gesicht war bleich und trug Spuren der größten Erregung, aber an sie, die an seiner Seite saß, verschwendete er kaum einen Gedanken. Er starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Ach, selbst in diesem Augenblick eilten seine Gedanken ganz gewiß zu dem Hügel zurück, der sie verbarg, die sein Alles gewesen war.

Dann standen sie auf dem Decke des Dampfers, und Franz und Ellen hielten Jenny schluchzend fest und drückten die kleinen verweinten Gesichter an ihren hellen Sommermantel.

»Fremde von Bord!«

»Noch einmal Lebewohl und Dank für alles, liebes, gutes Fräulein Högfeldt! Gott segne Sie!«

»Fremde von Bord!«

Da schloß sie die Kinder in die Arme und aus ihrer Brust rang sich ein so angstvoller Schrei, daß die Nahestehenden sich umwandten und sahen, wie sie unter hysterischem Weinen erbebte.

Selbst jetzt hatte sein alles verzehrender Gram seinen männlichen Instinkt so verwirrt, daß er keine Ahnung davon hatte, was in ihr vorging. Aber dieser Gefühlsausbruch erweichte ihn und mit einer Thräne im Auge stammelte er:

»Daß Sie soviel von den Kleinen halten ...«

Sie hatte kaum das Ufer erreicht, als die Landungsbrücke auch schon eingezogen wurde.


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