Friedrich Hebbel
Judith
Friedrich Hebbel

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Öffentlicher Platz in Bethulien

Viel Volk. Eine Gruppe junger Bürger, bewaffnet

Ein Bürger
(zum andern)
Was sagst du, Ammon?

Ammon
Ich frage dich, Hosea, was besser ist: der Tod durchs Schwert, der so schnell kommt, daß er dir gar nicht die Zeit läßt, ihn zu fürchten und zu fühlen, oder dies langsame Verdorren, das uns bevorsteht?

Hosea
Wenn ich dir antworten sollte, müßte mir der Hals nicht so trocken sein. Man wird durstiger durchs Sprechen.

Ammon
Du hast recht.

Ben
(ein dritter Bürger)
Man kommt so weit, daß man sich selbst wegen der paar Blutstropfen beneidet, die einem noch in den Adern sickern. Ich möchte mich anzapfen wie ein Faß.
(Steckt den Finger in den Mund)

Hosea
Das beste ist, daß man über den Durst den Hunger vergißt.

Ammon
Nun, zu essen haben wir noch.

Hosea
Wie lange wird's dauern? Besonders, wenn man Leute wie dich unter uns duldet, die mehr Viktualien im Magen als auf den Schultern tragen können.

Ammon
Ich zehre vom Eigenen. Das geht keinen was an.

Hosea
In Kriegszeiten ist alles allgemein. Man sollte dich und deinesgleichen dahin stellen, wo die meisten Pfeile fallen. Man sollte überhaupt die Unmäßigen immer vorausschieben; siegen sie, so braucht man nicht ihnen, sondern den Ochsen und Mastkälbern zu danken, deren Mark in ihnen rumort; kommen sie um, so ist auch das ein Vorteil.
(Ammon gibt ihm eine Ohrfeige)
Glaube nicht, daß ich wiedergebe, was ich empfange. Aber das merk' dir: wenn du in Gefahr kommst, so erwarte nicht von mir, daß ich dir beispringe. Ich trag's dem Holofernes auf, mich zu rächen.

Ammon
Undankbarer! Einen prügeln, heißt, ihm einen Panzer aus seiner eigenen Haut schmieden. Die Ohrfeige von heute macht dich unempfindlich gegen die, welche dich morgen erwartet.

Ben
Ihr seid Narren. Zankt euch, und vergeßt, daß ihr gleich den Wall beziehen sollt.

Ammon
Nein, wir sind kluge Leute; solange wir miteinander hadern, denken wir nicht an unsre Not.

Ben
Kommt, kommt! Wir müssen fort.

Ammon
Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, wenn wir dem Holofernes öffneten. Den, der das täte, tötete er gewiß nicht!

Ben
So tötete ich ihn.
(Sie gehen ab)

(Zwei ältere Bürger im Gespräch)

Der eine
Hast du wieder einen neuen Greuel vom Holofernes gehört?

Der andere
Freilich.

Der eine
Wie treibst du's nur auf? Aber erzähl' mir doch!

Der andere
Er steht und spricht mit einem seiner Hauptleute. Allerlei Heimlichkeiten. Auf einmal bemerkt er in der Nähe einen Soldaten. "Hast du gehört," fragt er den, "was ich sprach?" – "Nein", antwortet der Mensch. "Das ist ein Glück für dich", sagt der Tyrann; "sonst ließe ich dir den Kopf herunterschlagen, weil Ohren daran sitzen!"

Der eine
Man sollte glauben, man müßte leblos niederfallen, wenn man so etwas vernimmt. Das ist das Niederträchtigste an der Furcht, daß sie einen nur halb tötet, nicht ganz.

Der andere
Mir ist die Langmut Gottes unbegreiflich. Wenn er einen solchen Heiden nicht haßt, wen soll er noch hassen?
(Gehen vorüber)

(Samuel, ein uralter Greis, von seinem Enkel geführt, tritt auf)

Enkel
Singet dem Herrn ein neues Lied; denn seine Güte währet ewiglich!

Samuel
Ewiglich!
(Er setzt sich auf einen Stein)
Samuel dürstet. Enkel, warum gehst du nicht und holst ihm einen frischen Trunk?

Enkel
Ahn, der Feind steht vor der Stadt! Wieder vergaß er's!

Samuel
Den Psalm! Lauter! Was stockst du!

Enkel
Zeuge von dem Herrn, o Jüngling; denn du weißt nicht, ob du ein Greis wirst! Rühm ihn, o Greis; denn du wurdest nicht alt, um das zu verhehlen, was der Barmherzige an dir getan hat!

Samuel
(zornig)
Hält der Brunnen nicht mehr so viel Wasser, als Samuel braucht, wenn er zum letztenmal trinken will? Kann der Enkel nicht schöpfen, ob der Mittag gleich heiß ist?

Enkel
(sehr laut)
Schwerter halten den Brunnen bewacht, Speere starren, die Heiden haben große Gewalt über Israel.

Samuel
(steht auf)
Nicht über Israel! Wen suchte der Herr, als er Wellen und Winden Macht gab über das Schifflein, daß es hinauf- und hinunterflog? Nicht den, der am Steuer saß, noch sonst einen anderen: den trotzigen Jonas allein, der ruhig schlief. Vom sichern Schiff trieb er ihn in die tobende Meerflut hinein, aus der Meerflut in des Leviathans Rachen, aus dem Rachen des Untiers durch die Klippen der Zähne in den finstern Bauch. Aber, als Jonas nun Buße tat, war der Herr da nicht stark genug, ihn noch aus dem Bauch des Leviathans wieder zu erretten! Stehet auf, ihr heimlichen Missetäter, die ihr in euch selber schlaft, wie Jonas schlief; wartet nicht, bis man das Los über euch wirft; tretet hervor und sprecht "Wir sind's", damit nicht der Unschuldige vertilgt werde mit dem Schuldigen!
(Er faßt seinen Bart)
Samuel schlug den Aaron; spitz war der Nagel, weich war das Hirn, tief war Aarons Schlummer in seines Weibes Schoß. Samuel nahm des Aaron Weib und zeugte den Ham mit ihr, aber sie starb vor Entsetzen, als sie das Kind erblickte, denn des Kindes Haupt trug das Zeichen des Nagels, wie des Toten Haupt, und Samuel ging in sich und kehrte sein Angesicht gegen sich selbst!

Enkel
Ahn! Ahn! Du selbst bist Samuel, und ich bin der Sohn des Ham!

Samuel
Samuel schor sich das Haupt und stellte sich vor seine Tür und harrte der Rache, wie man des Glückes harrt, siebzig Jahre und länger, bis er seine Tage nicht mehr zu zählen vermochte. Aber die Pest ging vorüber, und ihr Atem traf ihn nicht, und das Elend ging vorüber und kehrte nicht bei ihm ein, und der Tod ging vorüber und rührte ihn nicht an. Die Rache kam nicht von selbst, und er hatte nicht den Mut, sie zu rufen.

Enkel
(Er führt ihn auf die Seite)
Komm! Komm!

Samuel
Aarons Sohn, wo bist du, oder seines Sohnes Sohn, oder sein Bruder, daß Samuel den Stoß eurer Hand nicht fühlt, noch den Tritt eurer Füße? "Auge um Auge," sprach der Herr, "Zahn um Zahn, Blut um Blut!"

Enkel
Aarons Sohn ist tot, und seines Sohnes Sohn, und sein Bruder, der ganze Stamm!

Samuel
Blieb kein Rächer? Sind dies die letzten Zeiten, daß der Herr die Sünde aufgeschossen stehenläßt und die Sicheln zerbricht? Wehe! Wehe!
(Der Enkel führt ihn ab)

(Zwei Bürger)

Erster
Wie ich dir sage, nicht allenthalben fehlt's an Wasser. Es gibt Leute unter uns, die sich ncht allein vollsaufen, sondern die sich sogar täglich mehrere Male waschen.

Zweiter
Oh, ich glaub's. Ich will dir doch etwas vertrauen. Mein Nachbar Assaph hatte eine Ziege, die in seinem Gärtlein lustig weidete. Ich sehe gerade ins Gärtlein hinab, und mir wurde jedesmal zumute wie einer schwangeren Frau, wenn ich das Tier mit seinen vollen Eutern erblickte. Gestern ging ich zu Assaph und bat ihn um ein wenig Milch. Als er mir's abschlug, griff ich zum Bogen, tötete die Ziege mit einem raschen Schuß und schickte ihm, was sie wert ist! Ich tat recht, denn die Ziege verleitete ihn zur Hartherzigkeit gegen seinen Nächsten.

Erster
Von dir konnte man den Streich erwarten! Du hast ja schon als ganz kleines Kind eine Jungfrau zur Mutter gemacht!

Zweiter
Was!

Erster
Ja! ja! Bist du nicht der Erstgeborne?
(Gehen vorüber)

(Einer der Ältesten tritt auf)

Der Älteste
Hört, hört, ihr Männer von Bethulien!
(Das Volk versammelt sich um ihn)
Hört, was euch durch meinen Mund der fromme Hohepriester Jojakim zu wissen tut!

Assad
(ein Bürger; seinen Bruder Daniel, der stumm und blind ist, an der Hand)
Gebt acht, der Hohepriester will, daß wir Löwen sein sollen. Dann kann er um so besser Hase sein.

Ein anderer
Lästere nicht!

Assad
Ich lasse keine Trostgründe gelten, als die ich aus dem Brunnen schöpfen kann.

Der Älteste
Ihr sollt gedenken an Moses, den Diener des Herrn, der nicht mit dem Schwert, sondern mit Gebet den Amalek schlug. Ihr sollt nicht zittern vor Schild und Speer; denn ein Wort der Heiligen macht sie zuschandn.

Assad
Wo ist Moses? Wo sind Heilige?

Der Älteste
Ihr sollt Mut fassen und gedenken, daß das Heiligtum des Herrn in Gefahr ist.

Assad
Ich meinte, der Herr wolle uns schützen. Nun läuft's darauf hinaus, daß wir ihn schützen sollen!

Der Älteste
Und vor allem sollt ihr nicht vergessen, daß der Herr, wenn er euch umkommen läßt, euch euren Tod und eure Marter in Kindern und Kindeskindern bis zum zehnten Glied hinab vergüten kann!

Assad
Wer sagt mir, wie meine Kinder und Kindeskinder ausschlagen? Können's nicht Bursche sein, deren ich mich schämen muß, die mir zum Spott herumlaufen!
(Zum Ältesten)
Mann, deine Lippe zittert, dein Auge irrt unstet, deine Zähne möchten die klingenden Worte zerreißen, hinter denen sich deine Angst versteckt. Wie kannst du den Mut von uns verlangen, den du selbst nicht hast? Ich will einmal im Namen dieser aller zu dir reden. Gib Befehl, daß die Tore der Stadt geöffnet werden. Unterwürfigkeit findet Barmherzigkeit! Ich sag's nicht meinetwegen, ich sag's dieses armen Stummen wegen, ich sag's wegen der Weiber und Kinder!
(Umstehende geben Zeichen des Beifalls)
Gib Befehl, augenblicklichen, oder wir tun's ohne deinen Befehl.

Daniel
(reißt sich von ihm los)
Steiniget ihn! Steiniget ihn!

Volk
War dieser Mann nicht stumm?

Assad
(seinen Bruder mit Entsetzen betrachtend)
Stumm und blind. Er ist mein Bruder. Dreißig Jahre ist er alt und sprach nie ein Wort.

Daniel
Ja, das ist mein Bruder! Er hat mich erquickt mit Speis' und Trank. Er hat mich gekleidet und ließ mich bei sich wohnen! Er hat mich gepflegt bei Tag und bei Nacht. Gib mir die Hand, du treuer Bruder.
(Als er sie faßt, schleudert er sie, wie von Entsetzen gepackt, von sich)
Steiniget ihn, steiniget ihn!

Assad
Wehe! Wehe! Der Geist des Herrn spricht aus des Stummen Mund! Steiniget mich!
(Das Volk verfolgt ihn, ihn steinigend)

Samaja
(ihnen bestürzt nacheilend)
Was wollt ihr?
(Ab)

Daniel
(begeistert)
"Ich komme, ich komme", spricht der Herr; "aber ihr sollt nicht fragen, woher! Meint ihr, es sei Zeit? Ich allein weiß, wann es Zeit ist!"

Volk
Ein Prophet, ein Prophet.

Daniel
"Ich ließ euch wachsen und gedeihen wie das Korn zur Sommerzeit! Meint ihr, daß ich den Heiden meine Ernte überlassen werde? Wahrlich, ich sage euch, das wird nimmermehr geschehen!"
(Judith mit Mirza erscheint unter dem Volk)

Volk
(wirft sich zu Boden)
Heil uns!

Daniel
"Und ob euer Feind noch so groß ist, so brauche ich doch nur ein Kleines, um ihn zu vernichten! Heiliget euch! heiliget euch! Denn ich will wohnen bei euch und will euch nicht verlassen, wenn ihr mich nicht verlaßt!" –
(Nach einer Pause)
Bruder, deine Hand!

Samaja
(zurückkehrend)
Tot ist dein Bruder! Du hast ihn getötet! Das war dein Dank für all deine Liebe! Oh, wie gern hätt' ich ihn gerettet! Wir waren ja Freunde von Jugend auf! Was aber konnt' ich ausrichten gegen so viele, die deine Torheit verrückt gemacht hatte. "Nimm dich Daniels an!" rief er mir zu, als mich sein brechendes Auge erkannt. Ich leg' dir dies Wort als ein glühendes Vermächtnis in die Seele!
(Daniel will sprechen und kann's nicht; er wimmert. Samaja zum Volk)
Schämet euch, daß ihr auf den Knien liegt; schämet euch noch mehr, daß ihr einen edlen Mann, der es mit euch allen wohl meinte, gemordet habt! Ha, ihr verfolgtet ihn so wütend, als könntet ihr in ihm eure eigenen Sünden zu Tode steinigen! Alles, was er hier gegen den Ältesten, nicht aus Feigheit, sondern aus Mitleid mit eurem Elend, vorbrachte, war zwischen uns heute morgen verabredet; dieser Stumme saß dabei, zusammengekauert und teilnahmslos, wie immer; er verriet seinen Abscheu mit keiner Miene. –
(Zum Ältesten)
Alles, was mein Freund verlangte, verlang' ich noch: schleuniges Öffnen der Tore, Unterwerfung auf Gnad' und Ungnade. –
(Zu Daniel)
Nun zeige, daß der Herr aus dir sprach. Fluche mir, wie du dem Bruder fluchtest!
(Daniel, in höchster Angst, will reden und kann nicht)
Sehet ihr den Propheten? Ein Dämon des Abgrunds, der euch verlocken wollte, entsiegelte seinen Mund, aber Gott verschloß ihn wieder und verschloß ihn auf ewig. Oder könnt ihr glauben, daß der Herr die Stummen reden macht, damit sie Brudermörder werden?
(Daniel schlägt sich)

Judith
(tritt in die Mitte des Volkes)
Lasset euch nicht versuchen. Hat es euch nicht gepackt wie Gottesnähe und euch in heiliger Vernichtung zu Boden geworfen? Wollt ihr es jetzt dulden, daß man euer tiefstes Gefühl der Lüge zeiht?

Samaja
Weib, was willst du? Siehst du nicht, daß dieser verzweifelt? Ahnst du nicht, daß er verzweifeln muß, wenn er ein Mensch ist?
(Zu Daniel)
Reiß dir die Haare aus, zerstoß dir den Kopf an der Mauer, daß die Hunde dein Gehirn lecken; das ist das einzige, was du noch auf der Welt zu tun hast! Was gegen die Natur ist, das ist gegen Gott!

Stimmen im Volk
Er hat recht!

Judith
(zu Samaja)
Willst du dem Herrn den Weg vorschreiben, den er wandeln soll? Reinigt er nicht jeden Weg dadurch, daß er ihn wandelt?

Samaja
Was gegen die Natur ist, das ist gegen Gott! Der Herr tat Wunder unter den Vätern; die Väter waren besser wie wir. Wenn er jetzt Wunder tun wollte, warum läßt er nicht regnen? Und warum tut er nicht ein Wunder im Herzen des Holofernes und bewegt ihn zum Abzug?

Ein Bürger
(dringt auf Daniel ein)
Stirb, Sünder, der du uns verleitet hast, uns mit dem Blute eines Gerechten zu beflecken!

Samaja
(tritt zwischen ihn und Daniel)
Niemand darf den Kain töten! So sprach der Herr. Aber Kain darf sich selbst töten! So spricht in mir eine Stimme! Und Kain wird's tun! Dies sei euch ein Zeichen: lebt dieser Mensch noch bis morgen, kann er seine Tat einen ganzen Tag und eine ganze Nacht tragen, so tut nach seinen Worten und harret, bis ihr tot hinsinkt oder bis euch ein Wunder erlöst. Wo nicht, so tut, was Assad euch sagte: öffnet die Tore und ergebt euch. Und wenn ihr im Druck eurer Sünden nicht zu hoffen wagt, daß der Herr das Herz des Holofernes rühren wird, so legt Hand an euch selbst; tötet euch untereinander und laßt nur die Kinder am Leben; die werden die Assyrier verschonen, denn sie haben selbst Kinder oder wünschen, Kinder zu haben. Macht ein großes Morden daraus, wo der Sohn den Vater niedersticht, und wo der Freund dem Freunde dadurch seine Liebe beweist, daß er ihm die Gurgel abschneidet, ohne sich erst bitten zu lassen.
(Faßt den Daniel bei der Hand)
Den Stummen nehm' ich in mein Haus.
(Für sich)
Wahrlich, die Stadt, die sein Bruder retten wollte, soll nicht durch seine Raserei zugrunde gehen! Ich will ihn in eine Kammer einschließen, ich will ihm ein blankes Messer in die Hand drücken, ich will ihm in die Seele reden, bis er vollbringt, was ich im Namen der Natur und als ihr Prophet vorausverkündet habe. Gott Lob, daß er nur stumm und blind ist, daß er nicht auch taub ist.
(Er geht mit Daniel ab)

Volk
(durcheinander)
Warum gehen uns die Augen so spät auf! Wir wollen nicht länger warten. Keine Stunde! Wir wollen die Tore öffnen. Kommt!

Josua
(ein Bürger)
Wer war schuld, daß wir uns nicht demütigten wie die übrigen Völker? Wer verführte uns, daß wir die schon gebeugten Nacken trotzig emporhoben? Wer hieß uns in die Wolken blicken und die Erde darüber vergessen?

Volk
Wer anders als Priester und Älteste?

Judith
(für sich)
O Gott, jetzt hadern die Unseligen mit denen, die sie aus nichts zu etwas machten! –
(Laut)
Seht ihr im Unglück, das euch trifft, nur eine Aufforderung, es euch durch Gemeinheit zu verdienen?

Josua
(geht unter den Bürgern herum)
Als ich vom Zug des Holofernes hörte, da war mein erster Gedanke, daß wir ihm entgegengehen und seine Gnade erflehen sollten. Wer unter euch dachte anders?
(Alle schweigen)
Warum kam Holofernes? Nur, um uns zu unterwerfen; hätte er die Unterwerfung auf der Hälfte des Weges angetroffen, er hätte den ganzen nicht gemacht und wäre umgekehrt, denn er hat genug zu tun. Dann säßen wir jetzt in Frieden und labten uns an Speis' und Trank; nun ist unser kümmerliches Leben nichts als eine Anweisung auf alle Martern, die möglich sind.

Volk
Wehe! Wehe!

Josua
Und wir sind unschuldig, wir haben nie getrotzt, wir haben immer gezittert. Aber Holofernes war noch fern, und Älteste und Priester waren nah und bedrohten uns! Da vergaßen wir die eine Furcht über die andere. Wißt ihr, was? Wir wollen Älteste und Priester aus der Stadt heraustreiben und zum Holofernes sagen: "Da sind die Empörer." Mag er sich ihrer erbarmen, so ist's gut; wo nicht, so wollen wir doch lieber um sie klagen als um uns selbst!

Volk
Wird das uns retten?

Judith
Das ist, als ob einer mit dem Schwert, womit er sich nicht zu verteidigen vermag, den Waffenschmied, der es ihm gab, ermorden wollte.

Volk
Hilft es wohl?

Josua
Wie sollt' es nicht? Kopf ab heißt's, nicht Fuß ab oder Hand ab.

Volk
Du hast recht! Das ist der Weg!

Josua
(zu dem Ältesten, der den Auftritt ernst angesehen hat)
Was sagst du dazu?

Der Älteste
Ich würde selbst dazu raten, wenn's helfen könnte. Ich bin heute gerade dreiundsiebzig Jahr alt geworden und möchte wohl zu den Vätern eingehen; auf ein paar Atemzüge mehr oder weniger kommt's nicht an. Zwar glaube ich ein ehrliches Grab verdient zu haben und möchte lieber in der Erde als im Magen eines wilden Tieres ruhen; doch wenn ihr meint, daß ich für euch alle genugtun kann, so bin ich bereit. Ich schenk' euch diesen grauen Kopf; macht aber schnell, damit der Tod euch nicht zuvorkomme und das Geschenk hohnlachend in eine Grube hineinwerfe. Nur einmal erlaubt mir noch, diesen Kopf, der nun euch gehört, zu brauchen. Nicht von mir allein, von allen Ältesten und allen Priestern ist die Rede. Wollt ihr euch, bevor ihr zu opfern beginnt, nicht die Mühe nehmen, die Opfer zu zählen?

Judith
(wild)
Das hört ihr an und schlagt nicht an eure Brust und werft euch nicht nieder und küßt dem Greis die Füße? Bei der Hand fassen möcht' ich jetzt den Holofernes und ihn hereinführen und ihm selbst das Schwert schleifen, wenn es stumpf würde, ehe es jeden dieser Köpfe abgemäht hätte!

Josua
Der Älteste sprach klug, sehr klug. Widersetzen konnt' er sich nicht, das sah er; da gab er sich denn drein und auf eine Weise – ich wette, wenn die Lämmer sprechen könnten, es würde kein einziges geschlachtet. –
(Zu Judith)
Gewiß hat er dich nicht allein gerührt.

Judith
Widersetzen konnt' er sich nicht, aber er konnte euren schlechten Plan doch zuschanden machen, er konnte sich töten! Und er griff krampfhaft nach dem Schwert, ich bemerkt' es wohl und trat ihm näher, um ihn zu hindern; aber gleich brach's wie innerer Sieg aus seinem Angesicht hervor, er zog die Hand, wie beschämt, zurück und blickte nach oben.

Der Älteste
Du denkst zu edel von mir. Nicht mir selbst galt das, es galt dem da!

Volk
Dein Rat ist schlecht, Josua, wir wollen dir nicht folgen!

Judith
Habt Dank!

Josua
Aber darauf, daß die Tore geöffnet werden, besteht ihr doch? Bedenkt, daß ein Feind, dem ihr öffnet, nie so grausam sein kann wie einer, der sich selbst öffnen muß! –
(Zum Ältesten)
Gib Befehl. Wegen meines Vorschlags will ich dich um Verzeihung bitten, das heißt morgen, wenn ich dann noch lebe.

Judith
(zum Ältesten)
Sag nein!

Der Älteste
Ich sage ja, denn ich sehe selbst nicht, woher uns Hilfe kommen soll.

Achior
(tritt unter das Volk)
Öffnet, nur erwartet keine Gnade vom Holofernes. Er hat geschworen, das Volk, welches sich ihm zuletzt unterwerfen würde, von der Erde zu vertilgen, daß auch seine Spur nicht bleibe. Ihr seid die letzten.

Judith
Das hat er geschworen?

Achior
Ich stand dabei. Und ob er seinen Schwur halten wird, mögt ihr daran erkennen: Er ergrimmte über mich, als ich von der Macht eures Gottes sprach, und sein Zorn ist Tod. Aber, statt mich niederzuhauen, befehl er, wie ihr wißt, daß ich zu euch geführt werde. Ihr seht, so wenig zweifelt er an eurem Untergang, daß er den Mann, den er haßt, und dessen Kopf er mit Gold aufwiegen will, aus der Hand gibt, weil er sich an ihm erst dann rächen mag, wenn er sich zugleich an euch rächen kann. Und so fern ist ihm jeder Gedanke an Gnade, daß er für seinen Feind keine härtere Strafe auszusinnen weiß, als diejenige ist, die er euch zugedacht hat!

Volk
Es soll nicht geöffnet werden. Wenn wir durchs Schwert umkommen wollen, so haben wir ja selbst Schwerter!

Josua
Lasset uns eine Zeit bestimmen. Alles muß ein Ende haben.

Volk
Eine Zeit! eine Zeit!

Der Älteste
Lieben Brüder, so habt noch fünf Tage Geduld und harrt der Hilfe des Herrn!

Judith
Und wenn der Herr nun noch fünf Tage länger braucht?

Der Älteste
Dann sind wir tot! Will der Herr uns helfen, so muß es in diesen fünf Tagen geschehen; wir werden ohnehin ihr Ende nicht alle erleben!

Judith
(feierlich, als ob sie ein Todesurteil spräche)
Also in fünf Tagen muß er sterben!

Der Älteste
Wir müssen das Äußerste tun, um uns nur noch so lange zu halten. Wir müssen das Opfer des Herrn, den heiligen Wein und das Öl, unter uns verteilen! Wehe mir, daß ich einen solchen Rat geben muß!

Judith
Ja, wehe dir! Warum rätst du nicht lieber ein anderes Äußerstes?-
(Zum Volk)
Ihr Männer von Bethulien, wagt einen Ausfall! Die kleinen Brunnen liegen dicht an der Mauer; teilt euch in zwei Hälften; die eine muß den Rückzug und das Tor decken, während die andere in Masse anstürmt; es kann gar nicht fehlen, ihr bringt Wasser herein!

Der Älteste
Du siehst, keiner antwortet.

Judith
(zum Volk)
Wie soll ich das verstehen!
(Nach einer Pause)
Doch, es freut mich. Wenn ihr nicht das Herz habt, es mit ein paar hundert Soldaten aufzunehmen, so werdet ihr noch weniger so vermessen sein, die Rache des Herrn herauszufordern und eure Hand frevelnd nach der Speise des Altars auszustrecken!

Der Älteste
Dies ist nötig, und hundertfältig soll es ersetzt werden. Das andere ist zu bedenklich; ein offenes Tor wäre die Todeswunde der Stadt. Auch David aß die heiligen Brote, und er aß sich nicht den Tod!

Judith
David war ein Geweihter des Herrn. Wollt ihr essen wie David, so werdet zuvor wie David. Esset und trinket, aber heiliget euch erst!

Einer im Volk
Warum hören wir auf die!

Ein anderer
Schäme sich, wer es nicht tut. Ist sie nicht wie ein Engel?

Ein dritter
Sie ist das gottesfürchtigste Weib in der Stadt! Solange es uns wohl ging, saß sie still in ihrem Kämmerlein; hat jemand sie öffentlich gesehen, außer wenn sie beten oder opfern wollte? Aber nun, da wir verzweifeln wollen, verläßt sie ihr Haus und wandelt mit uns und spricht uns Trost ein!

Der vorige
Sie ist reich und hat viele Güter. Aber wißt ihr, was sie einmal sagte? "Ich verwalte diese Güter nur; sie gehören den Armen." Und sie sagt's nicht bloß, sie tut's. Ich glaube, sie nimmt nur darum keinen Mann wieder, weil sie dann aufhören müßte, die Mutter der Bedürftigen zu sein! Wenn der Herr uns hilft, so geschieht's ihretwegen!

Judith
(zu Achior)
Du kennst den Holofernes. Sprich mir von ihm.

Achior
Ich weiß, daß er nach meinem Blut dürstet; aber glaube nicht, daß ich ihn schmähe! Wenn er mit dem erhobenen Schwerte vor mir stände und mir zuriefe: "Töte mich, sonst töt' ich dich", ich weiß nicht, was ich täte!

Judith
Das ist dein Gefühl. Er hatte dich in seiner Gewalt und ließ dich frei!

Achior
Oh, es ist nicht das! Das könnte mich eher empören. Das Blut steigt mir in die Wangen, wenn ich bedenke, wie gering er einen Mann achten muß, den er selbst, die Waffen in der Hand, zu seinem Feind hinüberschickt.

Judith
Er ist ein Tyrann!

Achior
Ja, aber er wurde geboren, es zu sein. Man hält sich und die Welt für nichts, wenn man bei ihm ist. Einmal ritt ich mit ihm im wildesten Gebirg. Wir kommen an eine Kluft, breit, schwindlig-tief. Er spornt sein Pferd, ich greif' ihm in die Zügel, deute auf die Tiefe und sage: "Sie ist unergründlich!" – "Ich will ja auch nicht hinein, ich will hinüber!" ruft er und wagt den grausigen Sprung. Ehe ich noch folgen kann, hat er kehrt gemacht und ist wieder bei mir. "Ich meinte dort eine Quelle zu sehen", sagt er, "und wollte trinken, aber es ist nichts. Verschlafen wir den Durst." Und wirft mir die Zügel zu und springt herab vom Pferd und schläft ein. Ich konnte mich nicht halten, ist stieg gleichfalls ab und berührte sein Kleid mit meinen Lippen und stellte mich gegen die Sonne, damit er Schatten habe. Pfui über mich! Ich bin so sehr sein Sklave, daß ich ihn lobe, wenn ich von ihm spreche.

Judith
Er liebt die Weiber?

Achior
Ja, aber nicht anders wie Essen und Trinken.

Judith
Fluch ihm!

Achior
Was willst du? Ich hab' eine meines Volks gekannt, die verrückt ward, weil er sie verschmähte. Sie schlich sich in sein Schlafgemach und trat plötzlich, als er sich eben ins Bett gelegt hatte, mit gezücktem Dolch drohend vor ihn hin.

Judith
Was tat er?

Achior
Er lachte, und lachte so lange, bis sie sich selbst durchstach.

Judith
Hab' Dank, Holofernes! Nur an diese brauch' ich zu denken, und ich werde Mut haben wie ein Mann!

Achior
Was ist dir?

Judith
Oh, steigt vor mir empor aus euern Gräbern, ihr, die er morden ließ, daß ich in eure Wunden schaue; tretet vor mich hin, ihr, die er geschändet hat, und schlagt die auf ewig zugefallenen Augen noch einmal wieder auf, daß ich drin lese, wieviel er euch schuldig ward! Ihr alle sollt bezahlt werden! Doch warum denk' ich eurer, warum nicht der Jünglinge, die sein Schwert noch treffen, der Jungfrauen, die er in seinen Armen noch zerdrücken kann! Ich will die Toten rächen und die Lebendigen beschirmen. –
(Zu Achior)
Ich bin doch für ein Opfer schön genug?

Achior
Niemand sah deinesgleichen.

Judith
(zu dem Ältesten)
Ich hab' ein Geschäft bei dem Holofernes. Wollt Ihr mir das Tor öffnen lassen?

Der Älteste
Was hast du vor?

Judith
Niemand darf es wissen als der Herr, unser Gott!

Der Älteste
So sei er mit dir! Das Tor steht dir offen!

Ephraim
Judith! Judith! Nimmer vollbringst du's!

Judith
(zu Mirza)
Hast du den Mut, mich zu begleiten?

Mirza
Ich hätte noch weniger den Mut, dich allein ziehen zu lassen.

Judith
Und du tatest, was ich dir befahl?

Mirza
Wein und Brot ist hier. Es ist nur wenig!

Judith
Es ist zuviel!

Ephraim
(für sich)
Hätt' ich das geahnt, so hätt' ich nach ihren Worten getan! Grausam werd' ich gestraft!

Judith
(geht ein paar Schritte, dann wendet sie sich noch einmal zum Volk)
Betet für mich wie für eine Sterbende! Lehrt die kleinen Kinder meinen Namen und lasset sie für mich beten.
(Sie geht auf das Tor zu, es wird geöffnet; sowie sie heraus ist, fallen alle, außer Ephraim, auf die Knie)

Ephraim
Ich will nicht beten, daß Gott sie schützen soll. Ich will sie selbst schützen! Sie geht in des Löwen Höhle. Ein Weib hat gut in die Gefahr gehn. Selbst in der Schlacht; wenn sie tollkühn hineinstürzte: wer folgte nicht? Ich folge; wenn ich sterbe, so sterb' ich ja nur etwas früher als alle die andern. Vielleicht kehrt sie um!
(Ab)

Delia
(tritt in größter Bewegung unter das Volk)
Wehe! Wehe!

Einer der Ältesten
Was hast du?

Delia
Der Stumme! Der furchtbare Stumme! Er hat meinen Mann erwürgt!

Einer aus dem Volk
Das ist des Samaja Weib!

Der vorige Älteste
(zu Delia)
Wie konnte das geschehen?

Delia
Samaja kam mit dem Stummen nach Hause. Er ging mit ihm in die hintere Kammer und riegelte hinter sich zu. Ich hörte Samaja laut reden und den Stummen ächzen und schluchzen. "Was ist's?" denk' ich und schleiche mich an die Kammertür und lauschte hinein durch einen Spalt. Der Stumme sitzt und hält ein scharfes Messer in der Hand, Samaja steht neben ihm und macht ihm schwere Vorwürfe. Der Stumme kehrt das Messer gegen seine Brust, ich stoß' einen Schrei aus und entsetze mich, da ich sehe, daß Samaja ihn nicht in seiner Raserei zu hindern sucht. Aber auf einmal wirft der Stumme sein Messer weg und fällt über Samaja her; er reißt ihn, wie mit übermenschlicher Gewalt, zu Boden und packt ihn bei der Kehle. Samaja kann sich seiner nicht erwehren, er ringt mit ihm; ich rufe um Hilfe. Nachbarn kommen herbei, die Tür, die von innen verriegelt ist, wird eingerannt. Zu spät. Der Stumme hat Samaja schon erwürgt; wie ein Tier wütet er noch gegen den Toten und lacht, da er uns eintreten hört. Als er mich an der Stimme erkennt, wird er still und rutscht auf den Knien zu mir heran; "Mörder!" ruf' ich; da weist er mit dem Finger gen Himmel, dann sucht er das Messer am Boden, hebt es auf, reicht es mir und deutet auf seine Brust, als ob er wolle, daß ich ihn durchstoßen solle.

Ein Priester
Daniel ist ein Prophet. Der Herr hat den Stummen reden lassen; er hat ein Wunder getan, damit ihr an die Wunder, die er noch tun will, glauben könnt! Samaja ist zuschanden worden mit seiner Prophezeiung! An Daniel hat er gefrevelt, durch Daniels Hand hat er seinen Lohn empfangen.

Stimmen im Volk
Hin zu Daniel, damit ihm kein Leid geschehe!

Der Priester
Der Herr hat ihn gesandt, der Herr wird ihn schützen. Gehet hin und betet.
(Das Volk zerstreut sich zu verschiedenen Seiten)

Delia
Weiter haben sie keinen Trost für mich, als daß sie sagen, er, den ich liebte, sei ein Sünder gewesen.
(Sie geht ab)


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