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Elftes Kapitel.

Während Kapitän Carroll auf der schmutzigen Landstraße der Mission Perdida zuritt, bemerkte er in der vor ihm liegenden Landschaft verschiedene Veränderungen, welche mit dem Einfluß der winterlichen Regenzeit nichts zu thun hatten. Durch die Felder und längs der Straße zogen sich die alten, halb mit Wasser gefüllten Gräben hin, aber daneben befanden sich frisch aufgeworfene Dämme und Durchstiche, und die Köpfe einer langen Reihe dicker, hölzerner Schwellen bezeichneten die Linie der Eisenschienen, welche erbarmungslos das üppige Weideland der Mission durchschnitten. Die ganze Bedeutung der hier vorgegangenen Umwandlung erkannte er jedoch erst, nachdem er die Thalschlucht hinter sich gelassen hatte. Ein schnelles Heranrollen aus der Ferne und eine leichte Dampfwolke, die hinter dem Weidengebüsche aufstieg, welches zu seiner Rechten die Felder begrenzte, verrieten ihm, daß die Eisenbahn schon im Betriebe war. Der junge Mann faßte sein erschrecktes Pferd fest im Zügel und strich – in der unklaren Empfindung etwas verloren zu haben – mit der Hand über Stirn und Augen. Nur vier Monate lang war er fortgewesen, und schon fühlte er sich fremd und vergessen.

Mit einer gewissen Erleichterung lenkte Carroll endlich von der Landstraße in den Heckenweg ein. Hier war alles unverändert; nur das welke Laub der Eichen und Sykomoren lag ringsum verstreut. Nachdem er sein Pferd im Stallhofe einem Reitknecht übergeben hatte, wendete er sich nicht dem Patio zu, sondern ging über den Rasenplatz nach der langen Veranda. Der Regen tropfte schwer von ihren Epheuranken nieder und versprühte zwischen dem wirren Geäst der Schlingpflanzen, das die Säulen umwand, während der Schritt des jungen Mannes ein dumpfes Echo weckte, als ob der Anbau des alten Hauses völlig leer und verödet wäre. Die regelmäßigen Gruppen von Eibenbäumen und immergrünen Eichen, welche zur Sommerzeit den blendenden Glanz eines sechsmonatlichen Sonnenscheins angenehm gemildert hatten, schienen jetzt im Alleinbesitz des Gartens zu sein, und die Abenddämmerung, die der Regen noch dunkler machte, schien aus jedem Winkel hervorzulauern.

Der Diener, der in altmodischer Höflichkeit dem Gaste die »Schlüssel und Einrichtung« dieser Abteilung des Hauses zur Verfügung gestellt, teilte ihm mit, daß ihn Doña Maria vor dem Diner im Salon empfangen würde. Carroll wußte, wie schwer es war, die herrschende Etikette zu durchbrechen, hoffte jedoch auf Marujas Hilfe – obwohl ihm die Sitte verbot, sich bei ihr melden zu lassen. So legte er nur den nassen Ueberrock ab, und folgte dem Diener in das prächtige Zimmer, das für ihn in Bereitschaft gesetzt war. Die Dunkelheit und Stille des großen Gebäudes, die während der Sommerhitze so wohlthuend wirkten, bedrückten ihn unter diesem finsteren Regenhimmel. Er trat ans Fenster und sah in die kreuzgangähnliche Veranda hinaus; eine schwermütige Weide, die an der Ecke der Stallgebäude stand, schien verzweiflungsvoll die Hände zu ringen. Erheiterung suchend wendete sich der Kapitän dem Feuer zu, das wie ein Votivlichtchen in dem weiten Kamine flackerte, zog einen Stuhl herbei und setzte sich.

Trotz seiner Liebesungeduld und Erwartung kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem zurück, was er eben erfahren hatte, und es währte nicht lange, bis der Rachegeist des ermordeten Doktors das ganze Haus zu verdunkeln und zu erfüllen schien. – Carroll war eben bemüht, sich dieses Gefühls zu erwehren, als leise Schritte im Gange seine Aufmerksamkeit erregten. Konnte das Maruja sein? Der Kapitän sprang auf und seine Augen hefteten sich auf die Thür.

Die Fußtritte verklangen, die Thüre blieb geschlossen; aber ein Pförtchen in einer dunklen Ecke des Zimmers, das Carrolls Augen entgangen war, drehte sich leicht in den Angeln und Pereo, der Majordomo, trat über die Schwelle.

Kapitän Carroll war mutig von Natur und zur Selbstbeherrschung erzogen: dennoch erstarrte ihm das Blut bei dieser Erscheinung, die gleichsam eine Verkörperung seiner widrigen, nicht zu bannenden Gedanken war. Unwillkürlich hatte er nach dem Dolchmesser in seiner Brusttasche gegriffen, aber als sein Blick auf das graue Haar und das runzlige Gesicht des alten Mannes fiel, ließ er die Hand wieder sinken. Pereo hatte jedoch, mit der schnellen Beobachtungsgabe des Wahnsinns, die Waffe bemerkt und rieb sich mit boshaftem Lachen die Hände.

»Gut, gut, gut!« flüsterte er schnell, mit seltsamer, tonloser Stimme. »Das wird's thun! – das wird's thun! Da Sie Soldat sind, wissen Sie auch, wie man's zu gebrauchen hat! ... Ja, es gibt eine Vorsehung!« Dabei erhob er die Augen zum Himmel und fügte dann hastig hinzu: »Gehen Sie mit! Gehen Sie mit!«

Carroll trat auf ihn zu; er war allein, einem zweifellos Wahnsinnigen gegenüber, der trotz seiner Jahre Kraft genug besaß, einen Mord zu begehen, und aller Wahrscheinlichkeit nach, wie der junge Mann sich jetzt sagte, einen solchen bereits begangen hatte. Dennoch legte er ruhig die Hand auf Pereos Arm, sah ihm ruhig in die Augen und fragte:

»Ich soll mitgehen ... wohin Pereo? ... ich bin eben erst angekommen.«

»Das weiß ich wohl!« flüsterte der alte Mann, indem er heftig mit dem Kopfe nickte. »Ich war eben dabei, den beiden nachzuschleichen, als Sie angeritten kamen, nun habe ich ihre Fährte verloren. Aber wir werden sie schon wieder aufspüren ... nicht wahr, Kapitän? Kommen Sie, gehen Sie mit!« Dabei bewegte er sich langsam nach rückwärts und deutete mit der Hand nach dem Pförtchen.

»Wen sollen wir aufspüren, Pereo?« sagte Carroll beschwichtigend. »Wen suchen Sie denn?«

»Wen ich suche?« fragte der Alte, indem er mit der Hand über die runzlige Stirn strich und für einen Augenblick zu stutzen schien. »Wen ... nun, wen anders als Doña Maruja und die kleine schwarze Katze ... ihre Zofe Faquita.«

»Aber warum sollen wir sie suchen? Warum ihnen nachspüren?«

»Warum?« rief Pereo mit einem plötzlichen Ausbruch leidenschaftlicher Heftigkeit. »Das fragen Sie? – Weil die beiden wieder zu einem Stelldichein gehen ... wieder mit ihm zusammentreffen wollen ... hören Sie wohl, mit ihm ... dem Coyoten!«

Ein schwaches Lächeln der Erleichterung spielte um Carrolls Lippen.

»So, mit dem Coyoten!« sagte er.

»Jawohl, mit dem Coyoten!« wiederholte der alte Mann in vertraulichem Flüstertone. »Mit dem Coyoten ... aber nicht mit dem großen ... verstehen Sie wohl, der ist tot, tot, tot! ... der kleine aber lebt noch ... an dem sollen Sie thun, was ich – Pereo ... hören Sie mich an ...« hier sah er sich flüchtig ringsum, »was ich, der gute alte Pereo an dem großen gethan habe! Ja, ja, es gibt eine Vorsehung, kommen Sie!«

Von den entsetzlichen Gedanken, die sich bei dieser Eröffnung in Carrolls Seele kreuzten, behielt einer die Oberhand: Der elende, keiner Verantwortung fähige Greis, der da vor ihm stand, beabsichtigte irgend ein Verbrechen und Maruja war davon mit bedroht. Der junge Mann nahm sich nicht Zeit, über einen anderen Verdacht, den die Rede Pereos in ihm erweckt hatte, nachzudenken, sondern faßte schnell einen Plan für sein Verhalten.

Die Glocke ziehen und Pereo den Händen der herbeieilenden Dienerschaft zu überliefern, hieß gleichzeitig das Geheimnis des Wahnsinnigen preisgeben – wenn er wirklich ein solches besaß. Außerdem war zu fürchten, daß er sich in toller Wut frei machte, oder in völlige Schwachsinnigkeit verfiel, so daß nichts mehr von ihm zu erfahren war. – Das einzig Richtige schien demnach, auf sein Verlangen einzugehen, ihm zu folgen und sich auf den eigenen Mut, das eigene Geschick zu verlassen, um weiterem Unheil vorzubeugen.

Der klare Blick des Kapitäns heftete sich auf Pereos unruhvolle Augen, und ohne jede sichtbare Erregung sagte er:

»Lassen Sie uns gehen ... so schnell als möglich. Sie werden das Aufspüren besorgen, das weitere aber, guter Pereo – vergessen Sie es nicht – müssen Sie mir überlassen.«

In dieser Mahnung, die zu Pereos Beruhigung dienen sollte, lag ein gewisses Etwas, das dem jungen Manne weh that, während die Augen des Alten in befriedigter Leidenschaft aufleuchteten.

»Ja, so ist's recht!« rief er aus. »Ich halte mein Wort ... du sollst, wie ich's dir versprochen habe, mit dem kleinen Coyoten machen können, was du willst ... Gewiß, es gibt eine Vorsehung. Komm! –«

Er bemerkte, daß sich Capitän Carroll nach seinem Ueberrock umsah, bemächtigte sich eines an der Wand hängenden Poncho Poncho, wie die Serape eine Art Mantel, welcher aus einer wollenen, mit einem Schlitze zum Durchstecken des Kopfes versehenen Decke besteht. Anm. d. Uebers., warf ihm denselben über und faßte seine Hand.

Carroll hätte diese Art von Verkleidung gern vermieden, aber er hatte nicht Zeit, dieselbe zurückzuweisen, so eilig zog ihn Pereo aus der Pforte, durch welche er eingetreten war, in einen langen, dunklen Gang, der durch den am Parke gelegenen Teil des Neubaues zu führen schien. Während Carroll seinem Führer durch die tiefe Finsternis folgte, war er sich der Gefahr bewußt, die ein plötzlicher Wahnsinnsausbruch desselben, an diesem abgelegenen, von jeder Hilfe entfernten Orte, für ihn haben könnte: aber ohne Zwischenfall kamen sie zu einer Thür, die ins Freie hinaus zu führen schien, denn der Geruch des nassen Laubes schlug ihnen entgegen. Carroll erkannte, daß sie sich am Ende einer abgelegenen Allee, zwischen zwei hohen Hecken befanden; der von Gras überwucherte Weg und die unverschnittenen Büsche verrieten, daß dieser Gang selten betreten wurde. Plötzlich fühlte der Kapitän, der sich dicht an Pereos Seite hielt, daß der Alte zitternd stillstand.

»Sehen Sie!« flüsterte er, auf eine verhüllte Gestalt zeigend, die in einiger Entfernung vor ihnen hinging; »Sehen Sie ... das ist Maruja ... und sie ist allein!«

Mit einer raschen Bewegung schob Carroll seinen Arm unter den seines Führers, so daß er ihn sicher gefaßt hielt, und drängte sich gleichzeitig vor, als ob er die Gestalt deutlicher sehen wollte.

»Es ist Maruja, und sie ist allein!« wiederholte Pereo, vor Aufregung zitternd. »Allein ... und der Coyote ist nicht da!« Er strich mit der Hand über seine, in die Dämmerung hinaus starrenden Augen. »Nicht da! ... aber«, dabei wendete er sich hastig zu Carroll, »das ist eine List ... der Coyote hat sich mit Faquita aus dem Staube gemacht ... Komm! Du willst nicht? ... So geh' ich allein!« und mit der Kraft des Wahnsinns machte er seinen Arm von Carroll los und stürzte fort, den Heckenweg hinunter.

Maruja, die bei seiner Annäherung zu erschrecken schien, glitt seitwärts in die Büsche, während Pereo in wilder Hast an ihr vorüberstürmte. Auch Carroll drängte sich durch die Hecke, ohne weiter an seinen Gefährten oder die unglückliche Faquita zu denken; sein einziges Verlangen war, Maruja den Weg abzuschneiden. Diese hatte jedoch das obere Ende des Rasenplatzes erreicht und eilte darüber hin, nach dem Eingang des Patio. Carroll zögerte nicht, ihr zu folgen, und gab sich Mühe, die kleine, rasch dahineilende Gestalt im Auge zu behalten, die bald hinter einem Gebüsch, bald im wachsenden Abendschatten verschwand.

Trotz aller Anstrengung gelang es ihm jedoch nicht, ihr zuvorzukommen, ehe sie den Patio erreichte, und als es hier geschah, bog sie, anstatt den Hof zu betreten, nach rechts ab und eilte den Ställen zu.

Carroll war ihr jetzt so nahe, daß er sie anreden konnte.

»Einen Augenblick, Miß Saltonstall!« rief er ihr zu. »Ich bin allein ... Sie haben nichts zu fürchten ... aber sprechen muß ich Sie!«

Das junge Mädchen schien ihre Schritte zu beschleunigen, bis sie ein verstecktes Mauerpförtchen erreichte. Hier blieb sie stehen, um in ihrer Tasche nach dem Schlüssel zu suchen; in demselben Augenblicke war Carroll an ihrer Seite.

»Verzeihen Sie mir, Miß Saltonstall ... Sie müssen mich hören. Sie, Maruja, sind außer Gefahr, aber ich fürchte für Ihre Dienerin Faquita!«

Ein leises Lachen antwortete auf seine Rede; die Thür öffnete sich, die zierliche Gestalt verschwand hinter derselben; aber ehe die Pforte sich völlig schloß, hob sie den Spitzenschleier, der ihr Gesicht verhüllte. Bestürzt wich Carroll zurück ... er hatte die lachenden Augen, das kecke Gesicht der kleinen Faquita erkannt.


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