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Neuntes Kapitel.

Der Nachricht, daß Dr. West seine Besitzung an Mrs. Saltonstall cediert, war die noch viel erstaunlichere Neuigkeit gefolgt, daß er sie auch zur Erbin seines gesamten Vermögens – wie es sich nach Abwickelung aller seiner sonstigen Verpflichtungen herausstellen würde – eingesetzt hatte. Dies Vermächtnis war gemacht: »in Anerkennung der großen praktischen Begabung Doña Marias, ihrer wandellosen Zuverlässigkeit während seines Geschäftsverkehrs mit ihr, und als Beweis des Vertrauens, der Achtung und unvergänglichen Wertschätzung des Testators«.

Trotz der Verwunderung, welche diese Verfügungen hervorriefen, wurde nach der ersten Ueberraschung die Thatsache im allgemeinen als ebenso natürlich wie passend anerkannt. Es gab sich dabei wieder einmal jener eigentümliche Zug kund, nach welchem man die Vereinigung zweier großer Vermögen immer und ohne Bedenken gut heißt, eine Verbindung zwischen arm und reich aber stets der schärfsten Beurteilung unterwirft und sie selbstsüchtigen Beweggründen zuschreibt. Wäre Mrs. Saltonstall anstatt einer reichen, eine arme Witwe gewesen, vielleicht Dr. Wests Haushälterin anstatt seine Geschäftsfreundin, das Testament würde unbarmherzig kritisiert, wenn nicht gar rechtlich angefochten worden sein – eine Anordnung aber, welche das ganze Thal von San Antonio in eine Hand brachte, schien vollkommen berechtigt. Ja, mehr als das: einige unbestimmte Gerüchte über die früheren unklaren Verhältnisse des Doktors ließen diese ungemein praktischen Verfügungen in betreff seines Vermögens außerordentlich achtungswert erscheinen und wohl geeignet, ihm Verzeihung für etwaige jugendliche Unregelmäßigkeiten zu sichern.

Noch tiefer war der Eindruck, den die Sache auf die Seitenlinien der Familie Guitierrez, sowie auf die Dienerschaft und den sonstigen Anhang hervorbrachte. Die Traditionen des edlen Hauses schienen plötzlich ganz andere geworden. Ein weibliches Mitglied hatte, anstatt den Besitzstand zu verringern, denselben im Gegenteil bedeutend vermehrt. Der Fremde und Eindringling war gerupft worden, das Fatum der Mission Perdida war verwandelt, der Fluch Koorotoras zum Segen umgeschlagen und der Prophet und Nachkomme des alten Häuptlings, Pereo, der Majordomo, wandelte unter den gewöhnlicheren Leuten einher, wie von einer Atmosphäre abergläubischer Verehrung und scheuer Achtung umgeben.

Pereo nahm diese Anerkennung seiner Macht zuweilen mit einem großthuerischen Stolze auf, zu welchem jeder andere als ein spanischer Diener unfähig gewesen wäre – zu anderen Zeiten zeigte er, diesen Beweisen von Respekt gegenüber, eine gewisse finstere, peinliche Unsicherheit des Verständnisses, eine Art schreckhafter Verwirrung, die nur dazu diente, seinen Ruf als unbewußter Seher und Zauberer noch fester zu begründen.

»Du siehst,« sagte Sanchez zu der halb und halb zum Unglauben geneigten Faquita, »er weiß von seiner Macht selbst nicht mehr als ein Kind, und das eben ist der Beweis dafür.«

Doña Maria allein teilte diese Ansicht über Pereo nicht und als der Vorschlag gemacht wurde, daß ein Fest, eine Feier des Ereignisses unter dem alten Birnbaume auf dem indianischen Grabhügel begangen werden sollte, war ihr Unwille so groß, daß die Zeugen desselben sich lange daran erinnerten.

»Nicht genug, daß wir früher durch diesen verrückten Heiligen lächerlich gemacht worden sind,« sagte sie zu Maruja, »man will auch noch das Andenken unseres hingeschiedenen Freundes beleidigen, indem man seine Großmut zu einem Triumphe des blödsinnigen Vorfahren Pereos macht. Man hätte doch glauben sollen, daß die Gebeine des Coyoten und Koorotoras zur Ruhe gekommen wären, nachdem das Geschwätz deiner Familie (es war immer die Gewohnheit Doña Marias gewesen, von »der Familie« so zu sprechen, als ob nur Maruja mit ihr verwandt sei) über meinen armen Freund ein Ende gefunden hat. Pereo soll froh sein, wenn ich das Grab seines Urvaters nicht zerstören und den alten Birnbaum nicht umhauen lasse, denn wenn, wie der Ingenieur sagt, die Mission Perdida durch eine Zweigbahn mit dem neuen großen Schienenwege verbunden werden soll, so schließe ich mich ganz seiner Meinung an, daß es am vorteilhaftesten und mit dem geringsten Verluste von Land verbunden sein wird, wenn wir sie über jenen Platz führen. Es ist der unkultivierteste Teil des Parkes und liegt gerade im rechten Winkel.«

»Das wirst du nicht zugeben, Mama!« rief Maruja, welche plötzlich eine ganz neue Seite in dem Charakter ihrer Mutter entdeckte.

»Warum nicht, Kind?« fragte die Witwe Mr. Saltonstalls und die Freundin Dr. Wests in kühlem Tone. »Ich gebe zu, daß es bis jetzt bei deinen kleinen Tändeleien vorsichtig und klug war, die Caballeros – gleich den Gästen jenes Hidalgo, welcher bei seinen Festen ein Skelett mit zu Tische sitzen ließ – durch die Ueberreste Koorotoras und die alte Legende an die Hinfälligkeit und Unsicherheit ihrer Hoffnungen zu erinnern. Nach den letzten Ereignissen aber,« fuhr Doña Maria mit einem leichten Anflug von Bitterkeit fort, »wird man kaum noch an den Fluch glauben, welcher – gleich dem, der unsere Stammmutter Eva dereinst getroffen – auf der Mission Perdida ruhen soll. Du wirst diesen Kapitän Carroll mit dem Rasseln der Knochen Koorotoras kaum noch fernhalten – und, um offen zu sein, Kind, nach der Geschichte mit den Briefen, in welcher er sich so diskret und ehrenhaft benommen, sehe ich auch wirklich nicht ein, warum du ihn fernhalten solltest. Er hat den guten Ruf deiner Mutter in den Händen.«

»Mama, er ist ein Ehrenmann,« gab Maruja zur Antwort.

»Und die sind jetzt so rar, daß man sie schätzen und festhalten sollte. Dies ist meine Meinung, du thörichtes Kind. Der Kapitän ist zwar nicht reich, aber du hast Vermögen genug für zwei.«

»Aber er kam zuerst um Amitas willen her,« entgegnete Maruja in einer gewissen nachdenklichen Verlegenheit, welche Doña Maria als übertriebene Sprödigkeit zu behandeln für gut fand.

»Mit dieser Thorheit wirst du doch weder mich noch dich selbst täuschen wollen, Kind,« fiel sie der Tochter ins Wort. »Du bist alt genug, um die Männer zu kennen, wenn du auch dich selbst vielleicht nicht kennst. Außerdem weiß ich nicht recht, ob ich gegen Amitas Neigung zu Raymond Widerspruch erheben soll. Er ist ein gebildeter, in seinem Fache bedeutender Mensch, der einigen deiner Verwandten von großem Nutzen sein könnte und dessen Beistand auch uns in den technisch geschäftlichen Fragen, mit denen wir es demnächst zu thun haben werden und von denen ich nichts verstehe – ich meine die Mühlen und die Eisenbahn – von unschätzbarem Wert sein würde.«

»Du würdest dir also Schwiegersöhne wünschen, die du zu Geschäftsteilhabern machen könntest?« entgegnete Maruja, welche ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Dann kann ich dir nur sagen, daß Kapitän Carroll in Geschäftssachen so unbehilflich und unerfahren ist, wie nur einer sein kann. Ich glaube, er begeht in solchen Dingen ebenso große Dummheiten als die ist, daß er mich Amita vorzog. So sagte er mir zum Beispiel erst gestern abend, daß er eine Brieftasche Dr. Wests gefunden und dieselbe ohne Zeugen und ohne Empfangsbescheinigung, ganz auf seine eigene Faust Aladin ausgeliefert hat.«

»Eine Brieftasche des Doktors?« wiederholte Doña Maria.

»Ja, aber es ist nichts von deiner Hand darin gewesen,« fuhr Maruja fort. »Danach zu sehen hat der arme Mensch doch Verstand genug gehabt. Indessen ich will dich jetzt nicht um deine Einwilligung und deinen Segen bestürmen, Mütterchen. Ich würde es sogar ertragen, daß Amita vor mir zum Altar träte, wenn deine Geschäftsinteressen es durchaus erheischten. Vielleicht wäre mir dann Kapitän Carroll nur um so sicherer. Nein, Mütterchen, sieh mich nur nicht mit so feilschenden, geschäftsmäßigen Blicken an; mache nur nicht Augen, als ob du Zins auf Zins schlügest. Ich bin gewiß keine von den dummen Aktien deines Anlagekapitals.«

»Du bist ganz deines Vaters Kind, und die heilige Jungfrau weiß, was das sagen will!« rief Doña Maria, während sie die Tochter zärtlich küßte. »Aber geh nun und schicke mir Amita her,« fuhr sie fort, indem sie das Mädchen sanft aus dem Zimmer schob, und als Marujas dieser Maßregelung leicht widerstrebende Schultern hinter der Thür verschwunden waren, setzte sie im Selbstgespräch lächelnd hinzu: »Dies Kind, soll, wie Amita versichert, in Kapitän Carroll dergestalt verliebt sein, daß es weder ißt noch trinkt und daß es – wie Faquita, das dumme Ding, mir einreden möchte – keinen Gefallen mehr an Tand und Putz findet!« Und gleichzeitig Achseln und Augen emporhebend rief sie mit einem gewissen Pathos: »Joseph Saltonstall, die Verantwortung für dies Kind trifft dich – dich allein.«

Vierzehn Tage später bereitete Mrs. Saltonstall ihrer Tochter abermals eine Ueberraschung.

»Warum willst du dich nicht der Gesellschaft anschließen, die heute hinüberfährt, um Aladins Wunderpalast zu besichtigen?« fragte sie. »Es würde viel passender sein, wenn du unsere Gäste begleitetest, als daß Amita und Raymond allein mitfahren.«

»Ich habe Mr. Princes Schwelle nicht wieder betreten, seitdem er sich einmal ungebührlich gegen meiner Mutter Tochter benahm,« entgegnete Maruja verwundert.

»Ungebührlich!« wiederholte Doña Maria ärgerlich. »Deines Vaters Tochter sollte doch wissen, daß ein Mensch wie jener Aladin wohl dumm und gemein sein, aber sie nie beleidigen kann. Außerdem, Kind, gibt es Beleidigungen, die zu vergessen vernichtender ist, als ihrer zu gedenken. Solange er sich nicht herausnimmt, sich zu entschuldigen, sehe ich keinen Grund, warum du nicht mitfahren solltest. Er hat sich seit der Geschichte mit den Briefen hier nicht wieder sehen lassen. Ich darf ihm aber nicht Gelegenheit geben, daraufhin unartig gegen mich zu sein, verstehst du? Er ist mir als Geschäftsmann von Nutzen – und du kannst ja Carroll mitnehmen; er wird das begreifen.«

»Carroll will nicht mit,« entgegnete Maruja. »Er sagt nicht, was zwischen ihnen vorgefallen ist – aber ich fürchte, sie sind hart zusammengeraten.«

»Dann ist es um so besser, wenn du allein mitfährst. Man braucht Mr. Prince nicht an den Vorgang zu erinnern. Ich glaube, er wird zu stolz auf deinen Besuch sein, als daß er an etwas anderes denken sollte.«

Maruja, die sich durch die Aussicht, nicht in Carrolls Gesellschaft fahren zu müssen, sichtlich erleichtert fühlte, zuckte die Achseln und willigte ein.

Als an demselben Nachmittage die Gesellschaft an Aladins Palast vorfuhr, störte die Nachricht, daß der gastfreie Eigentümer abwesend sei und erst zu Tische zurückerwartet werde, das Vergnügen in keiner Weise. Wie dem Leser bereits bekannt, kam Mr. Prince seinen Pflichten als Wirt nur sehr unregelmäßig nach und die ausgesprochene Vermutung des Dieners, Mr. Princes Privatsekretär werde sich wahrscheinlich die Ehre geben, die Gäste herumzuführen, erregte kaum das Interesse der Gesellschaft, ja es wurde von Maruja lachend abgelehnt.

»Es ist nicht notwendig, den Herrn zu stören,« sagte sie. »Ich kenne das Haus durch und durch und glaube, ich habe dasselbe schon ein- oder zweimal in Stellvertretung Ihres Herrn gezeigt. Man hat mich sogar,« fuhr sie zu der Gesellschaft gewendet fort, »um meiner Talente als Cicerone willen mit Lobsprüchen überhäuft.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie mit leicht übertriebener Betonung und mit ihrer tiefsten Altstimme hinzu: »Also, meine Damen und Herren, diese Halle, sowie der Hof, in dem wir uns gegenwärtig befinden – eine getreue Nachbildung des Löwenhofes in der Alhambra – wurde binnen vierzehn Tagen aus weißem Tannenholz, Gold und Mörtel mit einem Kostenaufwande von zehntausend Dollar hergestellt. Eine Photographie des Originals hängt an der Wand. Sie werden daraus ersehen, meine Damen und Herren, daß die Nachahmung eine vollkommene ist. Die Alhambra liegt in Granada, einer Provinz in Spanien, welches Land, wie man sagt, in einigen Punkten an Californien erinnert, wo, wie Sie bemerkt haben werden, das Spanische von den alten Ansiedlerfamilien noch jetzt gesprochen wird. Und nun, meine Damen und Herren, überschreiten wir den Stallhof auf einer Brücke, die sowohl in Bezug auf Gestalt wie Größe ein genaues Abbild der berühmten Seufzerbrücke in Venedig ist, welche den Palast des Dogen mit dem Staatsgefängnis verbindet. Anstatt aber, wie ihr großes Vorbild, zu einem schrecklichen Kerker, führt uns diese Brücke nur zu einer neuen Ueberraschung. Erlauben Sie, meine Damen und Herren, daß ich Ihnen voranschreite. Wir öffnen nämlich diese Thür – und – sogleich!« –

Sprachlos blieb sie auf der Schwelle stehen; der Fächer, mit dem sie gestikuliert hatte, entfiel ihrer Hand.

Inmitten eines glänzend erleuchteten Gewächshauses mit goldenen Säulen stand ein junger Mann. Derselbe eilte, als Marujas Fächer auf den kunstvoll getäfelten Fußboden niederfiel, herbei, hob den zierlichen Gegenstand auf und legte denselben in ihre noch immer starre, nur mechanisch zufassende Hand. Von der Gesellschaft, die ihrer künstlerischen Leistung Beifall geklatscht hatte und sich jetzt lachend in das Gewächshaus drängte, bemerkte niemand ihre Aufregung.

Es war dieselbe Gestalt und dasselbe Gesicht, mit einem Worte derselbe junge Mann, den sie zuletzt in den Getreidefeldern von San Antonio vor sich gesehen, wo er ihr einen Weg bahnte, indem er rückwärtsgehend die Halme zu beiden Seiten auseinanderbeugte, nur daß er jetzt gekleidet war und aussah, wie ein Mann aus der guten Gesellschaft, der in seiner ganzen Erscheinung sogar über dem flitterhaften Glanze seiner jetzigen Umgebung zu stehen schien.

»Ich glaube, ich habe das Vergnügen, Miß Saltonstall zu begrüßen,« sagte der junge Mann mit einem halb grollenden Seitenblicke, welcher etwas an sein früheres Wesen gemahnte. »Wie ich höre, haben Sie sich gütig erboten, meine Obliegenheiten zu übernehmen; aber ich weiß, Mr. Prince würde nichts weniger als zufrieden mit mir sein, wenn ich mich Ihnen nicht dennoch zur Verfügung stellte. Ich bin sein Privatsekretär.«

In demselben Augenblicke drehten sich Amita und Raymond, durch das Gespräch neugierig gemacht, nach ihm um. Auch sie erkannten auf der Stelle den Mann, welchen sie bei Dr. Wests Begräbnis gesehen hatten. Das allseitige Schweigen wurde drückend, und zwei der hübschesten Mädchen der Gesellschaft drängten sich an Amita heran, um mit halbverständlichem Flüstern zu fragen: »Was gibt es denn da? Wer ist der hübsche, so wütend aussehende junge Mann? Ist das vielleicht die angekündigte Ueberraschung?«

Der Klang dieser Stimmen ließ Maruja ihre kühle Selbstbeherrschung wiederfinden. »Meine Damen,« sagte sie mit einer leichten Bewegung ihres Fächers, »dies ist Mr. Princes Privatsekretär. Aber ich glaube kaum, daß es nötig ist, seine kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen. Gestatten Sie mir, Ihnen zu danken, Sir, für das Aufheben meines Fächers.«

Damit schritt sie, ihn mit einem einzigen Blicke streifend, vorüber, nach dem anderen Ende des Gewächshauses. Als sie sich wieder umdrehte, war er verschwunden.

»Das war jedenfalls eine unerwartete Steigerung der Ueberraschung,« bemerkte Raymond spöttisch. »Hatten Sie das wirklich im voraus arrangiert? Wir begegnen einem malerischen Landstreicher an einem offenen Grabe, darüber vergehen sechs Wochen, dann schreiten wir über die Seufzerbrücke, und – hier werden Sie sehen, meine Damen und Herren! – finden einen Privatsekretär in einem Gewächshause! So etwas kann nur in Aladins Zauberschloß passieren.«

»Machen Sie sich nur immerhin lustig,« sagte Maruja, welche ihre ganze Fassung wiedergewonnen hatte. »Wenn Sie aber wirklich klug und geschickt wären, würden Sie herausbringen, wie alles das zusammenhängt. Sie sehen doch, daß Amita vor Neugier fast stirbt.«

»So lassen Sie uns schleunigst davonfliegen und an die Lösung des Rätsels gehen,« sagte Raymond, indem er Amitas Arm durch den seinigen zog. »Kommen Sie, wir wollen das Orakel in den Ställen befragen.«

Die anderen folgten und ließen Maruja für einen Augenblick allein. Eben wollte sie der Gesellschaft nachgehen, als sie in dem Gange, durch den sie eben gekommen waren, Schritte hörte und bemerkte, daß der junge Fremde nur dorthin zurückgewichen war, um die Gesellschaft fort zu lassen, ehe er sich durch das Gewächshaus, das er jetzt wieder betrat, ebenfalls nach dem anderen Teile des Hauses verfügte. Indem sich Maruja, um ihm zu entschlüpfen, schnell zum Gehen wandte, blieb sie mit den schwarzen Spitzen ihres Oberkleides an den Stacheln eines schlangenartigen Kaktus hängen. Sie stand still und bemühte sich mit fieberhafter Hast, sich loszumachen, aber vergeblich – und schon war sie in ihrer Ungeduld im Begriff, den zarten Stoff zu opfern, als der junge Mann ruhig nähertrat.

»Erlauben Sie mir,« sagte er, indem er sich niederbeugte, »vielleicht habe ich, wenn auch weniger Zeit, so doch mehr Geduld.«

Dabei berührten sich ihre unbekleideten Hände. Maruja gab ihre Bemühungen auf und richtete sich in die Höhe. Der junge Mann fuhr unter dem sanften Feuer ihrer Augen, das – ihm fühlbar – sein Haupt und seinen Nacken traf, damit fort, bis er die unglückliche Falbel befreit hatte.

»So, jetzt ist's geschehen,« sagte er endlich, indem er sich aufrichtete und ihrem Blicke begegnete. Da Maruja keine Antwort gab, fügte er hinzu: »Es kommt Ihnen wahrscheinlich vor, als hätten Sie mich schon einmal gesehen, Miß Saltonstall, und in der That ist es so. Ich fragte Sie einmal morgens, als ich an der Hecke Ihrer Besitzung hinwanderte, nach dem nach San José führenden Wege.«

»Und da Sie wahrscheinlich schon damals nach etwas Besserem ausschauten, was Sie ja auch gefunden zu haben scheinen, so hörten Sie gar nicht auf den Bescheid, den ich Ihnen gab,« entgegnete Maruja lebhaft.

»Ich fand einen Mann – so ziemlich den einzigen Menschen, welcher mir einen uneigennützigen Dienst erwies – denselben, an dessen Grabe ich Ihnen später begegnete. Dann fand ich noch einen Mann, der mir Gutes that und mich hier festhielt, wo ich abermals mit Ihnen zusammentreffe.«

Maruja begann bei dem Gedanken, daß jemand kommen und sie hier bei einander finden könnte, in eine nervöse Unruhe zu geraten. Sie empfand etwas wie unbestimmte Scham – dennoch zögerte sie zu gehen. Die seltsame Anziehungskraft einer halbwilden Melancholie fesselte sie und die vorwurfsvolle Anklage, welche sie in gleicher Weise traf und vor Gericht stellte, wie die ganze übrige Welt, drang in ihr weiches Gemüt ebenso grausam und unbarmherzig ein, wie die Stacheln des Kaktus in das Spitzengewebe ihres Kleides.

Ohne recht zu wissen, was sie that und sagte, stammelte sie, daß sie sich glücklich schätze, mit den erfreulichsten Wendepunkten seines Lebens in einer Art von Zusammenhang zu stehen, und machte dann Miene, sich zu entfernen.

Er nahm diese Bewegung mit einem Seitenblick unter den gesenkten Lidern hervor wahr und fuhr mit einem leichten Anflug von Bitterkeit fort: »Ich würde nicht wieder hier hereingekommen sein, wenn ich nicht geglaubt hätte, Sie wären mit den anderen fortgegangen. Aber ich fürchte fast, Sie haben mich nicht zum letztenmal gesehen. Es war die Absicht meines Prinzipals, Mr. Prince, mich Ihnen und Ihrer Frau Mutter vorzustellen – und ich muß Sie darauf vorbereiten, er wird, wenn Sie bei seiner Heimkehr noch hier sind, wahrscheinlich darauf bestehen und verlangen, daß ich bei Tische erscheine.«

»Vielleicht – Mr. Prince ist mit meiner Mutter befreundet,« entgegnete Maruja. »Aber Sie sind ja uns gegenüber im Vorteil – Sie können jeden Augenblick davonlaufen.«

Das Lächeln, mit dem sie diese Worte begleiten wollte, kam jedoch nicht so schnell und willig zum Vorschein, als in ihrer Absicht gelegen, und sie würde eine Welt darum gegeben haben, ihre Worte zurücknehmen zu können. Aber der junge Mann schien nicht darauf zu achten.

»So ist es,« sagte er ruhig und wendete sich dann ab, wie um ihr Gelegenheit zum Rückzuge zu geben. Maruja machte einige Schritte nach dem Gange hin, blieb aber nochmals stehen. Erst der Klang der sich wieder nähernden Stimmen gab ihr den Mut zu einem plötzlichen Entschlusse.

»Mr. –«

»Guest,« sagte der junge Mann.

»Für den Fall, daß wir uns entschließen sollten, zu Tische hier zu bleiben und Mr. Prince nichts davon gesagt hat, Sie auch meiner Schwester vorzustellen, so werden Sie mir das Vergnügen überlassen, das zu thun.«

Mit einem tiefen Erröten hob Guest die Augen zu ihr auf – aber sie war schon davongeeilt.

Als Maruja sich wieder zu ihrer Gesellschaft fand, mußte die in den Kaktusstacheln verwickelte Spitze als Erklärung ihres Zurückbleibens dienen, und auch ihr schnelles Atmen und Sprechen wurde dieser wichtigen Grundursache zugeschrieben.

»Aber höre 'mal, Maruja,« flüsterte ihr Amita zu, »wir haben von dem Tafeldecker und den Stallleuten alles erfahren. Es ist eine so romantische Geschichte.«

»Wovon sprichst du?« fragte Maruja heftig.

»Nun, von der Geschichte des Tramp.«

»Von dem Privatsekretär aus der Fußbrigade,« bemerkte Raymond.

»Ja,« fuhr Amita fort, »Mr. Prince war so gerührt von seiner Dankbarkeit für den alten Doktor, daß er ihn in San José auskundschaftete und ihn mit hierhernahm. Seitdem hat sich Mr. Prince immer mehr für ihn interessiert – es scheint, daß der junge Mann irgend einen reichen Verwandten in den Vereinigten Staaten besitzt – so daß Mr. Prince um seinetwillen telegraphiert, allerlei Erkundigungen über ihn eingezogen und sogar seinen eigenen Anwalt hinüber geschickt hat, um allen Verhältnissen seines Schützlings nachzuforschen. Aber Maruja, hörst du auch, was ich sage?«

»Ja, gewiß.«

»Du scheinst so zerstreut.«

»Ich bin nur hungrig.«

»So laß uns doch zu Tische dableiben. Man ißt hier eine Stunde früher als zu Hause. Aladin wird dir fußfällig für die Ehre danken. Bitte, thu' es!«

Maruja sah die Schwester mit einer so unschuldig unentschlossenen Miene an, als ob die Möglichkeit des Hierbleibens erst in diesem Moment in ihr aufzudämmern beginne.

»Und Clara Wilson vergeht fast vor Sehnsucht, den geheimnisvollen Unbekannten nochmals zu sehen,« fuhr Amita fort. »Bitte, meine kleine Maruja, sage ja!«

Die kleine Maruja ließ einen langen mütterlichen Blick über ihre Schutzbefohlenen hinstreifen.

»Nun, wir werden sehen!« sagte sie endlich.

Mr. Prince zeigte sich, als er eine Stunde später heimkehrte, hocherfreut über die gnädige Annahme seiner Einladung. Er wußte nur zu gut, welche Wichtigkeit die Nachbarschaft dem Umstande beilegte, daß die Erbin der Saltonstalls sich seit einem gewissen Vorfalle – den man jetzt auf die Wirkung des genossenen Weines schob – von seinen Gesellschaften und allen von ihm veranstalteten glänzenden Festen fernhielt. Man betrachtete ihn gleichsam als in Bann gethan – und welcher Art seine Gefühle in Bezug auf die Mutter auch sein mochten, so konnte er doch nicht umhin, die Handlungsweise der Tochter, die ihn rehabilitierte, nach ihrem ganzen Wert zu schätzen. Die Art, wie er die Gesellschaft bewillkommnete, sowie die Vorbereitungen zum Diner, welche er sofort folgen ließ, gingen noch über seine sonstige pomphafte Art und Weise hinaus und entsprachen den fast übertriebenen Beweisen von Hochachtung, welche er Maruja gegenüber zur Schau trug. Der Telegraph, sowie mehrere reitende Boten wurden schnell in Bewegung gesetzt, die Frauengemächer den jungen Damen als Ankleidezimmer zur Verfügung gestellt, und die dienenden Geister übertrafen sich selbst. Die Abendtoiletten Marujas, Amitas und der beiden Misses Wilson – durch den elektrischen Draht von der Mission Perdida herbeikommandiert und durch die schnellfüßigsten Pferde herüberbefördert – befanden sich, nebst den dazu passenden Bouquets eine Stunde vor der Mahlzeit in den Händen der aufwartenden Mädchen. Das Orchester einer Operngesellschaft, welche gerade die nächste Stadt passierte, wurde durch die Sklaven des Zauberringes von ihrem Wege abgelenkt und herüberbeordert, um ungesehen während des Speisens im Musiksalon zu spielen.

»Man möchte sich wirklich in die Finger beißen, um zu wissen, ob man wacht oder träumt,« sagte Clara Wilson zu Maruja, »Es ist ja alles wie in Tausend und Einer Nacht.«

Das Diner war ein Kunstwerk, selbst für diese Heimat der Gastronomie; das Dessert ein Wunder an Fruchtreichtum, selbst für dies Klima, das die Erzeugnisse zweier Himmelsstriche hervorbringt. Maruja, die neben ihrem beglückten Wirte saß, blickte über ein ganzes Beet gelber Rosen zu ihrer Schwester und Raymond hinüber und wurde sich schüchtern der Blicke des jungen Guest bewußt, der am anderen Ende der Tafel, zwischen den beiden Misses Wilson Platz gefunden hatte. – Eine gespensterhafte Erinnerung an sein Aussehen bei ihrer ersten Begegnung kam über sie, während sie ihn heimlich, mit einem Gemisch von Furcht und Neugier, beim Essen beobachtete und sich erleichtert fühlte, als sie sah, daß er Messer und Gabel wie die anderen zu handhaben wußte und daß sein Appetit durchaus nicht an sein früheres Elend erinnerte.

Sein Herr und Meister war es, der die Erlebnisse seiner Vergangenheit heraufbeschwor. Mit einem gewissen Enthusiasmus und der Miene eines Festgebers, dem es vor allen Dingen um die Unterhaltung seiner Gäste zu thun ist, sagte er:

»Sie werden sich kaum denken können, Miß Saltonstall, daß der junge Mann dort unten so ziemlich unseren ganzen Kontinent durchwandert hat – an zweitausend Meilen – war's nicht so? – und nicht besser dazu ausgerüstet, als in diesem Augenblicke. Harry, erzählen Sie doch 'mal, wie die Apache-Indianer Sie beinah aufgefressen hätten – Ihnen dann aber die Freiheit gaben, weil sie in Ihnen eine ebenso gute Rothaut zu sehen glaubten, wie in jedem der Ihrigen ... und wie Sie dann in den Prairien acht Tage lang nichts weiter zu essen hatten, als zwei Zwiebäcke, nicht größer als so.«

Ein Chor von Bitten und erwartungsvollen Fragen folgte der Aufforderung. Der alte Ausdruck des gehetzten Wildes trat für einen Moment in Guests Gesicht, aber als er die Augen erhob, begegnete er den beinahe teilnehmend besorgten Blicken Marujas, welche stumm geblieben war.

»Vor einiger Zeit,« sagte er, indem er sich wie zur Erklärung an Maruja wendete, »sah ich mich genötigt, Mr. Prince über meine Reise hierher genaue Auskunft zu geben. Dabei habe ich allerlei Einzelheiten erzählt, von denen er glaubt, daß sie für andere Interesse haben könnten; das ist alles. Um mein Leben zu retten, habe ich mich bei einer gewissen Gelegenheit genötigt gesehen, den Indianer zu spielen, habe mit den Rothäuten gelebt und bin etwa vierzehn Tage lang mit ihnen umhergezogen. Hunger habe ich ertragen, wie mancher andere unter gleichen Verhältnissen ... was ist weiter dabei!«

Aber trotz seines unverkennbaren Widerstrebens sah er sich endlich genötigt, dem allgemeinen Verlangen nachzugeben, und begann in einer kurzen, beinahe rauhen, sich auf die nackten Thatsachen beschränkenden Weise einige seiner Reiseabenteuer zu erzählen. Sie wurden dadurch, daß er es widerwillig that – ungefähr in der Art, wie er seines Vaters Fragen beantwortet hatte und in welcher er wahrscheinlich auch auf Mr. Princes Kreuzverhör eingegangen war – nur noch packender. Ihm selbst schien jedoch an dem Eindruck, den er hervorbrachte, nichts zu liegen; er sprach vielmehr mit der mürrischen Miene eines Menschen, den allerlei persönliche Unbill betroffen hat, für welche er Mitgefühl weder verlangt noch erwartet. Hin und wieder erhob er dabei die Augen zu Maruja, sonst blieben sie fest auf seinen Teller geheftet.

»Nun,« sagte Prince, nachdem ein langverhaltenes Aufatmen befriedigter Erwartung seinen Talenten als Unterhaltungs-Kommissär den verdienten Dank gespendet hatte, »was meinen Sie ... wollen wir nun zur Abwechslung, während wir den Kaffee trinken, auf die Geschichten etwas Musik folgen lassen?«

»Es ist, als ob man im Schauspiel wäre,« bemerkte Amita zu Raymond gewendet. »Wie schade, daß Kapitän Carroll, der so genau um Indianer Bescheid weiß, nicht hier war, um dies mit anzuhören. Aber ich hoffe, daß Maruja, die kein Wort davon verloren hat, ihm alles wieder erzählt.«

»Ich glaube nicht, daß sie das thun wird,« gab Raymond trocken zur Antwort, indem er zu Maruja hinübersah, welche – in die Betrachtung ihres chinesischen Tellers vertieft – nicht zu beachten schien, daß der Gastgeber das Aufheben der Tafel von ihr erwartete. Endlich erhob sie den Kopf und sagte in leisem, aber verständlichem Tone zu dem Hausherrn:

»Es muß durchaus ein neues Muster sein; das alte Geschirr hat nicht diese feingezogenen Linien in der Arabeske. Sie haben dies Service wohl für sich machen lassen?«

»Das habe ich,« antwortete der geschmeichelte Prince, indem er den Teller in die Hand nahm. »Was Sie für Augen haben, Miß Saltonstall, Sie sehen wirklich alles.«

»Nur nicht, daß ich die ganze Gesellschaft warten lasse,« gab sie lächelnd zur Antwort, und die eben besprochenen Augen wendeten sich, während sie aufstand, mit einem leichten Abschiedsgruß zu Guest hinüber. Es war der erste Austausch einer sympathischen Regung zwischen ihnen, und machte auf beide den Eindruck, als ob sie sich die Hand gegeben hätten.

Während der Musik fanden allerlei Privatgespräche statt, in deren Verlauf Maruja Mr. Prince sowohl, wie seinen jungen Freund nach der Mission Perdida einlud. Dann ging die ganze Gesellschaft in das Gewächshaus, wo der freigebige Wirt jede Dame aufforderte, sich unter den seltenen exotischen Blumen eine auszuwählen.

Als Maruja die ihrige in Empfang nahm, sagte sie lachend zu Prince: »Werden Sie mich für sehr unverschämt halten, wenn ich um eine zweite bitte?«

»Nehmen Sie, was Ihnen gefällt,« gab Prince galant zur Antwort. »Sie brauchen die Blume nur zu nennen.«

»Das kann ich leider nicht,« erwiderte das junge Mädchen, und zu Guest gewendet fügte sie hinzu: »Es wäre denn, daß Sie mir zu Hilfe kämen ... es handelt sich um die Pflanze, die ich heute morgen betrachtete.«

»Ich glaube, daß ich sie Ihnen zeigen kann,« sagte Guest, in dessen Gesicht eine leichte Röte aufstieg, »aber ich bezweifle, daß sie Blüten hat.« Mit diesen Worten ging er ihr voran, auf den merkwürdigen Kaktus zu.

Aber er hatte eine Blüte – eine prächtige, rote Blume, die aussah wie Blut, das seine Dornen zum Fließen gebracht. Guest brach sie ab und Maruja steckte sie in ihren Gürtel.

»Wie versöhnlich Sie sind,« sagte er mit dem Ausdruck der Bewunderung.

»Das müssen Sie doch wissen!« antwortete sie, vor sich niedersehend.

»Ich – wieso?«

»Sie sind zweimal unartig gegen mich gewesen.«

»Zweimal?«

»Ja, einmal in der Mission Perdida, das andere Mal auf der Landstraße nach San Antonio.«

Seine Augen verfinsterten sich und suchten den Boden.

»An jenem Morgen in der Mission war ich ein elender Ausgestoßener und sah in Ihnen nur das stolze, mitleidslose Geschöpf, dessen Schönheit mich zu Boden drückte. Auf dem Wege nach San Antonio aber gab ich den Fächer in die Hände des Mannes, dessen Augen mir sagten, daß er Sie liebt.«

Unmutig warf sie den Kopf zurück.

»Ein längeres Besinnen würde galanter gewesen sein,« sagte sie heftig. »Aber seit wann seid ihr Herren denn so scharfsichtig und rücksichtsvoll? – Glauben Sie, daß jener junge Mann ebenso gefällig gegen Sie gewesen wäre?«

»Ich habe wenig Ansprüche zu machen, die von anderen berücksichtigt werden müßten,« gab er barsch zur Antwort, fügte dann aber in sanfterem Tone und mit freundlichem Blick hinzu: »Sie waren in Trauer, als Sie heute nachmittag ankamen, Miß Saltonstall?«

»Ja, um Dr. West, den Freund meiner Mutter.«

»Die Trauer kleidete Sie so gut.«

»Sie wollen mir etwas Schönes sagen, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Kapitän Carroll besser zu schmeicheln versteht. Er sagte: ›Es wäre nicht nötig, daß ich Trauerkleider trüge, ich brauchte nur meine Augenwimpern auf Halbmast zu senken‹ ... er ist Soldat, wie Sie wissen.«

»Und scheint ebenso witzig wie glücklich zu sein,« gab Guest bitter zur Antwort.

»Sie glauben, daß er glücklich ist?« fragte Maruja, indem sie die Augen zu ihm aufschlug.

Es lag so viel in dieser einfachen Frage, daß Guest dem jungen Mädchen, wie nach Erklärung suchend, in die Augen sah. Was ihm für einen Moment daraus entgegenleuchtete, brachte sein Herz zum Stillstehen.

»Ist er es nicht?« fragte Guest mit gedämpfter Stimme.

»Meinen Sie, daß er wert wäre, es zu sein?« fragte sie dagegen und war selbst überrascht, daß sie es flüsternd gethan hatte.

Beide verstummten; die Stimmen ihrer Gefährten klangen wie aus weiter Ferne herüber, der berauschende Duft der Blüten schien ihre Sinne einzuwiegen; sie versuchten zu sprechen – aber sie konnten nicht! So nahe standen sie sich, daß zwei lange Palmenblätter sie beide verbargen.

Inmitten dieses Schweigens sagte eine Stimme, welche wie die Marujas und doch wieder ganz anders klang, zweimal hintereinander: »Gehen Sie! gehen Sie!« Die Worte schienen aber jedesmal von dem erstickenden Schweigen verschlungen zu werden.

Im nächsten Augenblick wurden die Palmenblätter zur Seite geschoben, die dunkle Gestalt eines jungen Mannes schlüpfte, wie ein geschmeidiges Tier, durch die Büsche und Maruja fand sich, bleich und aufrecht in der Mitte des Hauptweges, im vollen Lichterglanz, ihren herankommenden Gefährten entgegensehend. Sie war zornig und erschreckt, siegesfroh und von Angst durchzittert: Henry Guest hatte sie ohne Grund, Ursache und Veranlassung geküßt und sie – hatte den Kuß erwidert!

Die schnellsten Pferde aus Aladins Stall konnten sie nicht rasch genug, nicht weit genug von diesem Augenblick, diesem Ereignis, dieser Empfindung forttragen. Klug und erfahren, wie sie war, voll Vertrauen auf die Macht ihrer Schönheit, sicher in ihrem Egoismus, geübt, die Schwachheiten anderer zu benutzen, Worte und Thaten der Männer wie der Frauen nach strengem Maße abzumessen, Stellung und Ansehen hochschätzend, gewohnt, mit den hellen Augen des Vaters als echtes Weltkind die praktischen Folgen jeder Abweichung von dem, was Sitte und Herkommen gebieten, deutlich zu erkennen, rief sie sich jetzt doch immer aufs neue die zitternde Glückseligkeit dieses berauschenden Augenblicks zurück. Sie dachte an ihre Mutter, ihre Schwestern, an Raymond und Garnier, an Aladin – sie zwang sich sogar, an Carroll zu denken, aber wieder und wieder mußte sie mit stillem Lächeln die Augen schließen, um noch einmal in den kurzen, entzückenden Traum zu versinken, der damit begann, daß die Lippen Guests die ihrigen fanden, und damit endete, daß diese Lippen sich wieder losrissen. So war es denn kein Wunder, daß – während sie schweigend und dicht verhüllt, das bleiche Angesicht zu dem kalten Sternenhimmel emporgerichtet, in der Wagenecke lag – zwei andere Sterne auftauchten und mit zitterndem Glanze an ihren von Leidenschaft durchbebten Wimpern hingen.


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