Ernst Hardt
Don Hjalmar
Ernst Hardt

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Am kommenden Sonntage bezogen wir inmitten der herbeiströmenden Menge bei herrlichstem Wetter unsere Loge, nachdem Hjalmar Harfagr darauf bestanden hatte, vorher einen beinahe sachverständigen Gang durch die abgedunkelten Ställe zu machen und die Stammbäume der Stiere einzusehen, die sie ja haben, wie bei Ihnen die Rennpferde. Über der Corrida selbst waltete ein Unstern, der eine Reihe der unvorstellbar absonderlichsten Auftritte herbeiführte, denen ich jemals in einem Stiergefecht beigewohnt habe. Der Espada, der mit dem großen Pradilla zusammen auftreten sollte, gleichfalls ein berühmter Fechter, war auf der Herreise plötzlich erkrankt und hatte sozusagen im letzten 126 Augenblick absagen müssen, als Ersatz für ihn war nur ein ›Neuling‹ aufzutreiben gewesen, der erst vor kurzem die Stierfechterschule in Sevilla verlassen und inzwischen nur wenige Kämpfe hinter sich gebracht hatte.

Nachdem die beiden den Einmarsch anführenden wunderbaren arabischen Hengste wieder aus der Arena gefegt waren, schleuderte Pradilla seinen edelsteinbesetzten Atlasumhang mit wunderbarem Schwunge auf der aristokratischen Schattenseite der Tochter des Marqués de Heredia wie ein durch die Luft kreisendes riesenhaftes Ahornblatt in ihre Loge hinauf, während Bambito, so hieß der junge Stierfechter, zu den Marschklängen beinahe tänzelnd, die Sonnenseite entlangging, da ihm ja vor allem daran gelegen sein mußte, die Gunst des Volkes zu erringen. Aber unbedacht genug suchte er sich in einer sehr hoch gelegenen Loge seine Schöne aus und unternahm es, ihr seinen für einen solchen Flug noch allzu unbeschwerten Umhang hinaufzuschleudern und, obwohl die Auserwählte sich mutig tief aus der Loge beugte, um seinen Mantel gewissermaßen in der Luft zu erangeln, vermochte sie ihn dennoch nicht zu erreichen, er wirbelte sich um die Pfosten einer um ein Stockwerk tiefer gelegenen Loge und mußte ihr von dort, durch fremde Hände entweiht, heraufgereicht werden, damit sie die bunte seidene Huldigung, wie es der Brauch verlangt, über ihren Schoß breiten und sie dort bis zum Ende der Corrida für den drunten kämpfenden Verehrer ihrer Schönheit aufbewahren könne. Da ihr Aufspringen und Vorbeugen ihre Schönheit vor aller Augen sichtbar gemacht hatte, galt der Beifall der Sonnenseite denn auch nicht so sehr dem 127 ungeschickten Wurfschützen als ihrer anmutigen Schönheit.

Inzwischen hatte der erste Stier, aufgeregt einstürmend, die Arena betreten. In jedem Abschnitt des folgenden Kampfes setzte Pradilla seine Truppe mit meisterlicher Ruhe und Überlegenheit an, und als es zum Endkampfe kam, wirkte das Gefecht zwischen ihm und dem mächtigen Tiere wie ein Wunder, welches auf die Uneingeweihten den Eindruck machen mußte, als spiele ein Bändiger auf große Art mit einem eigens für diesen Auftritt abgerichteten Tiere. Tanzend, als folge er selbstvergessen und hingegeben einer nur für seine Ohren hörbaren Musik, fügte sich der Stier den Weisungen der scharlachenen Muleta, die ihn bald nach rechts und bald nach links riß, ihn verhalten, ihn zögern, ihn springen ließ und ihn schließlich in kleinen, achtsamen Schritten, als sei sein ganzer schwerer Körper in ein unsichtbares Netz eingefangen, um die hochaufgerichtete Gestalt Pradillas Kreis auf Kreis zu beschreiben zwang, aber nichtsdestoweniger hatte man das Empfinden, als folge nicht nur der Stier den Bewegungen des Fechters, sondern auch der Fechter in seinem Schreiten, Zögern, Verhalten, Einlenken und in dem Abfangen der bisweilen zustoßenden Hörner einem fremden Willen, der ihn ebenso sehr lenkte, wie der seine den Stier zu lenken schien. Während dieser über alles Maß spannenden und erregenden Minuten hatte Don Hjalmars Hand, die meinen Unterarm umklammert hielt, sich immer fester zusammengezogen, und schließlich flüsterte er mir aufgeregt mit verhaltenem Atem zu, daß sich jetzt dort dicht vor unseren Augen das rätselvolle Geheimnis einer 128 mystisch zu nennenden Selbstentäußerung zweier Wesen offenbare, zu der emporzuklimmen vor allem indischen Mönchen bisweilen vergönnt sei. Das Ich Pradillas sei jetzt voll und tief in den Stier und das Ich des Stieres ganz in Pradilla hinübergeglitten. Zwischen ihnen bestünde in diesem Augenblick keine Zweiheit mehr, und vielleicht nicht einmal mehr das Bewußtsein, daß sie gesonderte Existenzen seien, Mensch und Tier seien eins geworden und tanzten als zwei Glieder einer Einheit, zugleich jedoch verführe, verlocke und überrede Pradilla seinerseits die mit ihm verschmolzene Tierseele während des Tanzes zu einem willigen Tode. Er glaube kaum, daß Pradilla in diesem Zustande des Ineinanderversunkenseins noch irgendetwas mit seinem Verstande bewußt vollführe, sondern er handele wohl ganz ohne Bewußtsein mit einer Folgerichtigkeit, die keine Bewußtheit je zu erreichen vermöchte. In keinem Falle würde der Stier sich nun noch einmal auflehnen können, und so geschah es denn auch. Der Sturz des Tieres in den Tod vollzog sich wie der letzte abschließende Tanz-Schritt des großen kunstvoll gestuften Reigens. Das Atemschöpfen der tausendköpfigen Menge war hörbar wie ein einziger Atemzug, der nach dem Erleben eines Mysteriums ins Leben zurückführte. Dann brach der Sturm los.

Bambito kämpfte gegen den zweiten Stier ein wenig überhitzt und bisweilen allzu unvorsichtig, da er jedoch ein schöner schlanker Bursche voll tänzerischer Anmut war, ließ ihm sogar die Sonnenseite manchen kleinen Kunstfehler ungerügt durchgehen, und da ihm beim Endkampf der stürmisch mit großer Kühnheit angesetzte Todesstoß ohne Wiederholung 129 gelang, umbrauste ihn ein Beifall, der dem Jubel, den Pradillas völlig entgegengesetzte Kampfesweise geerntet, kaum nachstand.

Im Gefecht mit dem zweiten Stier forderten die Zuschauer sowohl auf der Sonnen- wie auf der Schattenseite, wie es großen Fechtern gegenüber ja stets geschieht, Pradilla solle seinem Stier die letzten zwei der sechs Banderillos eigenhändig setzen. Sie kennen die jedesmal eintretende Spannung und Neugierde, mit welchem neuen Einfall, mit welchem neuen Kunststück der Espada diesem Verlangen wohl entsprechen wird. Pradilla zögerte sichtlich. Er mochte an die Lage denken, in die zwangsläufig Bambito geraten mußte, denn man würde ihm die Ehre des gleichen Verlangens erweisen und ihn nicht etwa mit einem Verzicht kränken wollen. Pradillas bedachtes Zögern steigerte den Wunsch der Zuschauer zu unbedachter Raserei. Unmerklich zuckte Pradilla mit den Schultern, und wir Vornsitzenden konnten sehen, daß er ein heftiges Wort vor sich hinsprach, dann aber ließ er sich aus einer Loge einen Holzstuhl herunterreichen und stellte ihn, während die Capadores den Stier zum Rande der Arena abdrängten, der Capa schwingenden tänzelnden Schar gegenüber vor das letzte Drittel des Ringes zu Boden und setzte sich selber, die Banderillos in Händen, auf die äußerste Stuhlkante nieder. Dann hieß er die Capadores den Stier freigeben und sich hinter seinem Rücken in das letzte Drittel zurückziehen.

In der großen, nun gewissermaßen leeren Arena blieben der kleine sitzende einsame Pradilla und der große stehende einsame Stier einander gegenüber. Die abertausend Menschen hielten den Atem 130 an, die abertausend Fächer, welche bisher unaufhörlich wie festgebundene weiße Tauben geflattert hatten, kamen zur Ruhe, ihr Flirren und Surren verstummte mit einem Schlage, und in dieser tiefen regungslosen Stille hörte ich Hjalmar Harfagr leise neben mir stöhnen: ›Dios mio‹, und in der Tat, was Pradilla auch immer vorhaben mochte, es war das kühnste Unterfangen, das ich bisher in einer Corrida gesehen hatte. Selbst der Stier schien erschrocken zu sein, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Da hob Pradilla seine Arme, die langen bebänderten Stäbe in Händen, hoch in die Luft empor, senkte und hob sie wieder und mußte so zu dreien Malen tun. Dann aber, als balle ein brauner Sturmwind sich jäh zusammen, raste, aus dem Stand aufspringend, der Stier, mit den Augen kaum zu erfassen, in gerader Linie durch die leere Arena auf Pradilla zu, senkte schon im letzten Drittel des Ansturms den mächtigen gehörnten Kopf über den Boden und fuhr dergestalt wie ein abgefeuertes Geschoß auf die sitzende Gestalt zu. Im letzten Bruchteil der letzten Sekunde, in dem die Stierhörner noch außerhalb seines Körpers waren, stemmte sich aufstehend Pradillas Gestalt auf ihr linkes Bein, schwang das rechte, auf der Sohle des linken Fußes sich drehend, über das zustoßende Gehörn, bohrte während dieser Drehung die beiden Hakenstäbe in den niedergebeugten stürmenden Nacken, und während die Stierhörner krachend in das Holz des Stuhles fuhren, und es mit aufrasendem Kopf zersplittert hoch in die Luft schleuderten, schritt Pradilla ruhig und unversehrt der heraneilenden Schar der Capadores entgegen und verlor sich in ihr, während sie den über seinen Fehlstoß unwilligen und 131 fast erstaunten Stier in ihre Mitte nahmen. Den ihn umbrausenden Orkan der von allen Zentnerlasten der Bangigkeit erlösten, in überseliger Begeisterung tobenden Menge nicht beachtend, ließ sich Pradilla von einem seiner harrenden Fechter den Degen und das rote Tuch zum Endkampf reichen, in welchem er, innerlich vielleicht doch ein wenig erregt, den Stier erst mit dem zweiten Stoß zu Boden bringen konnte.

In dem darauffolgenden, von Bambito zu führenden Kampfspiel ertönte, nach den zwei ersten von den Banderilleros mit tänzerischem Mutwillen spielerisch, aber dennoch sicher gesetzten Stäben das Begehren, die Hände des jungen Espadas möchten das Setzen des letzten Paares übernehmen, nur in vereinzelten Rufen, in die sich hie und da sogar Widerspruch mischte. Die Schöne, über deren Schoß des jugendlichen Fechters Mantel gebreitet lag, rief laut in die Arena hinab: ›Tu's nicht, Bambito.‹ Aber Widerspruch erzeugt nun einmal Widerspruch, und so ergötzte sich die Sonnenseite denn eine Weile lang in einem vergnüglichen Meinungskampf zwischen bedachter Vernunft und rücksichtslosem Verlangen. Don Hjalmar raunte mir zu, daß immerhin doch ein paar Christen in der Arena anwesend zu sein schienen. Aber schon setzte Bambito dem Für und Wider entschlossen ein Ende, indem er seine Hand, Stille gebietend, gegen die Sonnenseite erhob, an die Lattenzäunung trat und sich von einer der dicht dahinter sitzenden Mantillaträgerinnen ihr Halstuch erbat. Es wurde ihm über die Latten gereicht. Mit diesem kaum eine Elle im Geviert messenden blutrot funkelnden Seidentuch ging er in die Arena zurück, legte es auf den gelben Sand, zog 132 seine Tänzerschuhe aus, stellte sie daneben, trat mit beiden aneinander gepreßten Füßen auf die Mitte des Taschentuch-großen Teppichs und ließ sich die Banderillos reichen. In der nun wiederum die Menge bannenden Stille hörte man einzelne geflüsterte Worte sehr deutlich: Was er nur tun wolle? Unsinnig sei er! Bambito gab den Capadores ein Zeichen, den Stier frei zu lassen. Und nun stand auch er einzeln und einsam dem vereinzelten Tier scheinbar mit der Absicht gegenüber, ihm die Stäbe zu setzen, ohne auch nur die Füße vom Boden zu lösen. Der Augenblick war so voller Spannung, daß Heredia in seiner Präsidentenloge aufgesprungen war.

Bambito hatte seinen Abstand von dem Stier bei weitem kürzer bemessen als Pradilla, und als er nun gewahrte, daß die Tieraugen seinen Körper fest in ihren Blick nahmen, spannte er die schmiegsame Gerte dieses schlanken Körpers mit Hüften und Leib in einem Bogen seitlich nach rechts weit über das Tuch hinaus, und als der Stier nach dem kürzeren fast sprunghaften Anlauf mit den Hörnern nach diesem Leibe stieß, stieß er ins Leere, denn die Gerte war über den anderen Rand des Tuches hinausgeschnellt und hatte mit dem gleichzeitigen schmerzhaften Einbohren der Stäbe den zustoßenden Nacken noch um ein weiteres Zweifingerbreit abgedrängt. Der mit seinem ganzen Körper in leere Luft einfahrende Stier war so erbost, daß er im Rücken Bambitos ziegenhaft bockend mit den Hinterbeinen wütend ausschlug und so das Starren der verzauberten Menge zu einem laut ausbrechenden Gelächter erlöste. Schon umringt von den Capadores, raste der Stier, immer von Neuem bockend und hin- und herspringend davon. Bambito trat von 133 dem winzigen Teppich in seine Schuhe zurück und brachte das kleine Tuch, von Beifall, Segensrufen und lautem Lachen umtost, der Besitzerin zurück, die es verzückt zuerst an ihr Herz und dann an ihre Lippen drückte. Der Junge müsse nicht nur an sich selber, sondern auch wahrhaft an Gott glauben, denn sonst hätte er dergleichen nicht zu unternehmen wagen können, sagte Hjalmar Harfagr aufatmend. ›Er ist wirklich noch sehr jung und ohne große Erfahrung‹, erwiderte ich. Als Bambito dann mit dem Degen in der Hand den Endkampf aufzunehmen begann, hinkte er ein wenig, und bald sah man, daß der weiße Strumpf seines linken Beines sich rot und immer röter färbte. Das Hin und Her seiner Schritte um den sich wider die Überredung durch die Muleta sperrenden Stierkopf zeichnete seltsame purpurne Arabesken in den gelben Sand. Diese unheilvollen Linien offenbarten nur allzu deutlich, daß Bambitos tollkühnes Kunststück mißlungen war. Ein Horn des Stieres mußte den fortschnellenden Schenkel noch gefaßt haben. Besorgt blieben die Capadores in seiner Nähe. Der letzte Fechtgang dauerte lange. Inmitten des betretenen Schweigens, das jede Verwundung eines Toreadors herbeiführt, gelang Bambito schließlich der Todesstoß.

Pradillas dritter und letzter Kampf vollzog sich unter ungeheurer Erregung der Zuschauer. Er brachte einen Toten. – Wie es bisweilen vorkommt, durchschaute der Stier von Anfang an das Blendwerk der ihm angebotenen Capas und griff immer wieder, oft in überraschenden, blitzschnellen Wendungen, die Körper an, welche zu ihrem Schutze die Capas schwangen. Zu wiederholten Malen konnten die 134 Fechter im Wettlauf mit dem Stier nur durch den Sprung über das Lattenrund seinen Hörnern entgehen. Zuguterletzt erreichte er durch einen außergewöhnlich hohen Sprung den sich über die Bretter schnellenden Körper des Capadors noch in der Luft, durchbohrte an der Spitze des hohen Sprunges den Rücken des Fliehenden und fiel, den Körper auf den Hörnern, auf die zusammenstürzenden Latten herab. Die Sektoren wurden gesperrt, der Stier wieder in die Arena getrieben, und der wohl schon in der Luft zu Tode gekommene Fechter fortgetragen. Pradilla hatte große Mühe mit diesem unbändigen, unerwartet und blitzartig in unvorhersehbaren Richtungen zuspringenden Tier, das sich beharrlich dagegen sperrte, auf eine der Kunstregeln einzugehen und unter ihrem fortwirkenden Zwange nachzugeben. Der Stier brachte einundzwanzig Pferde zu Tode, von denen er eines zusamt dem eisengepanzerten Picador im Sattel über seinen ganzen Körper warf, so daß Pferd und Reiter erst weit hinter seinem Schwanze zu Boden rasselten. Ein Teil der Zuschauer auf der Schattenseite verlor die Nerven, wie man bei Ihnen zu sagen pflegt, und verlangte, daß die Kühe hereingelassen und der Unhold lebend abgeführt werde. Wild und wütend schreiend widersprach die Sonnenseite. Aber auch Pradilla widersprach, doch er mußte viermal den Stoß ansetzen, wobei zweimal sein Degen von dem zuspringenden Stier weit im Bogen fortgeschleudert wurde, und erst beim fünften Stoß kam der Stier zu Boden und empfing dann, da er nicht mehr zum Fortsetzen des Kampfes sich erheben wollte, den Gnadenstoß mit dem Dolch.

Der sechste und letzte Stier gehörte wiederum dem 135 Degen Bambitos. Der verwundete Espada hinkte nicht mehr, sondern er humpelte. Sein rechtes Bein war oberhalb des Knies mit einem dicken Verband beschwert. Eng umdrängt von seiner Truppe erwartete er in der Tiefe der Arena den Eintritt des Stieres durch das gegenüberliegende Tor.

Nachdem der Stier eingetreten war und seine Augen nach den im abgedunkelten Stalle verbrachten Tagen in der Grelle des Sonnenlichtes ihre Sehkraft wiedergefunden hatten, wandte er sich kurz entschlossen mit der offenbaren Absicht um, den gähnenden Brand der farbenumfunkelten Arena augenblicklich wieder zu verlassen. Da er nach seiner Kehrtwendung das Tor bereits geschlossen fand, blieb er, das Hinterteil der Arena zugewandt, regungslos vor dem Holze stehen. Der ausbrechende ungeheure Lärm des rings erdröhnenden Gelächters ließ ihn völlig unberührt. Er scharrte nur mit dem rechten Vorderhuf im Sande, stieß leise mit den Hörnern gegen die Torplanken und gab ein gedämpftes, gleichsam in einem tiefen Keller eingefangenes Brüllen von sich. Der Lärm und das Lachen rings hinter ihm verdoppelten sich.

Die ersten Minuten nach dem Eintritt des Stieres sind ja für alle Stierfechter von größter Spannung und Bangigkeit erfüllt, die erst verfliegt, nachdem sie das Wesen des Tieres in allen seinen Besonderheiten erkannt und die Künste ihres Fechtertums auf seine Eigentümlichkeiten haben einstellen können. Bambito schickte zwei Capadores zu dem rätselhaften Stier hinüber, um ihn versuchen zu lassen. Von rechts und von links auf ihn zuschreitend, gelangten sie mit ausgebreiteten Capas fast bis dicht neben seinen Kopf. Da drehte sich der Stier um und 136 schritt, ohne die Capadores im geringsten zu beachten, langsam in die Arena hinein und auf die Gruppe der dort seiner harrender Fechter zu. Sie stoben auseinander und umringten das Tier lockend und tänzelnd mit ihren geschwungenen Mänteln. Der Stier achtete ihrer nicht. Seine Haltung war ein herzbeklemmendes Rätsel, das vielleicht alle Tücken unvorhergesehenen Wütens und Stürmens in sich barg. Aber wie dreist und immer dreister die Capadores ihm auch zu Leibe gingen, er wollte mit ihnen nun einmal nichts zu tun haben. ›Wahrhaft ein Philosoph‹, flüsterte Don Hjalmar mir zu. Bambito befahl den Einritt der Picadores. Der Stier nahm nur ein Pferd verdrossen an und ließ es sich dann mit der dabei gemachten Erfahrung genügen. Er verweigerte mit größter Entschlossenheit alle anderen Pferde, den Lanzenspitzen der Picadores in unbeirrbarer Ruhe und eben solcher Geschicklichkeit ausweichend. Der Unmut der Zuschauer steigerte sich zum brausenden Hohn. Bambito geriet in Verzweiflung, fast schreiend befahl er das Setzen der Stäbe. Die Bandarilleros konnten sie wie Nadeln in ein Kissen stechen. Nach dem zweiten Paare verlangte die Sonnenseite stürmisch das Feuer. Bambito befahl es. Als die zischenden funkensprühenden Schwärmer auf dem Tierrücken sich entluden, fing der philosophische Stier an, umherzustoßen und zu toben. Er durchstürmte die Arena in nicht vorauszusehenden Richtungen, unberechenbar um sich stoßend, nicht wie ein kämpfendes, sondern wie ein gehetztes Tier. Nun schrieen die Zuschauer außer sich gebracht nach Bambito, daß er den Kampf zu Ende bringen solle. Mittlerweile aber hatte man einer großen Verwirrung und Bestürzung, welche 137 die Schar der hin- und herwogenden Capadores befallen, deutlich gewahr werden können. Botschaften über den Lattenzaun wurden eilig im Vorbeigleiten hinübergerufen, von dorther zurückkommende Antworten schnell erlauscht und weitergegeben, und schließlich wurde für jedermann gewiß, daß Bambito, den schon eine geraume Zeitlang niemand mehr in der Arena gesehen hatte, völlig unauffindbar geworden war. Der Stier hatte auf vorerst noch undurchsichtige Weise seinen Espada verloren oder ihn auf eine besondere, ihm allein eigentümliche Art in die Flucht geschlagen. Heredia in der Präsidentenloge bekam die Botschaft und erhob sich, und mit einem Male wurde es nun für die ganze Sonnenseite und für die ganze Schattenseite zu einer unumstößlichen Gewißheit: dort unten tobte ein sozusagen herrenloser Stier, der keinem Degen mehr unterstand, und damit war der seltene, der einmalige, der große Augenblick für alle Amateure der Stierfechterkunst gekommen. Wie man bei Feuerwehrübungen die Feuerwehrmänner hohe Holzwände herauf- und herabklimmen sieht, so kletterten, glitten, rutschten jetzt auf allen Seiten in dem großen Rund über die Brüstungen, an den Pfosten der Logen und ihren Seitenwänden entlang, die Begeisterten erdwärts, fielen wie Tropfen in die Arena herab, drängten sich als dunkle, wild gestikulierende Farbflecke durch das Hin und Her der bunten Capadores, vorbei am tosenden Stier, stießen und drängten einander, stolperten, fielen, überkugelten sich, sprangen wieder auf, stürmten vor die Präsidentenloge und schrieen, ein jeder für sich bittend und seine Kunst preisend, der Gobernador möge ihm, ihm, ihm gestatten, den herrenlosen Stier 138 zu töten. Rings im Kreise raste das Publikum, trampelnd und Hände klatschend, in Beifall und Wonne. Der Präsident jedoch befahl die Wache der Stadtsoldaten in die Arena mit dem schroffen Befehl, die Begeisterten daraus zu entfernen. Der Einsturm der uniformierten Ordnungshüter in das menschendurchquirlte Rund steigerte den allgemeinen Wirbel um ein beträchtliches. Verstohlen schoben sich zivile Füße oder sich schnell bückende Körper vor den Lauf der uniformierten Beine, und so fiel denn bald hier, bald dort ein Stadtsoldat zu Boden, sprang auf, lief zunächst seinem fortrollenden Helm nach, stürmte weiter, und bisweilen stürmte dicht hinter ihm auch der Stier, und hinter dem Stier, nach seinem Schwanze jagend und greifend, Halbwüchsige und Erwachsene, und plötzlich, mir blieb der Atem stehen, tauchte zwischen all den laufenden, stolpernden, springenden, fallenden Beinen, mitlaufend, mitstolpernd, mitspringend, sich überkugelnd, blitzartig vom Stier angenommen, aber stets schneller als er, vor seiner Schnauze einhertänzelnd oder sich unter seinen Leib duckend, bald bellend, bald kleffend, bald heulend, ein kleiner weißer Hund auf, wohl das größte Verbrechen in einer Arena während des Gefechtes.

Wie Diego, der allerdings zum mindesten zweimal täglich an ihr vorbeigeführt wurde, es fertig gebracht hatte, in der Arena aufzutauchen, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Aber zur gleichen Zeit wie meine Augen hatten ihn auch die Augen Don Hjalmars erblickt. Schon war er nicht mehr an meiner Seite. Drunten durch den tobenden Wirbel schob sich seine riesige Gestalt, teilte das kreiselnde Hin und Her, griff zwischen den tänzelnden Füßen nach 139 Diego, nahm ihn auf den Arm, blieb hoch aufgerichtet stehen und drohte mit grimmig erhobener Faust dem vor seinem Wuchs nun scheinbar klein gewordenen Stier, welcher wie verwundert gleichfalls stehen geblieben war, vielleicht weil er noch niemals zuvor eine so gewaltige Menschengestalt erblickt hatte. Wie ein zornig emporgetürmter, michelangelesker nordischer Moses überragte Don Hjalmar einen ergötzlichen Augenblick lang das rings um ihn strudelnde Gewoge unterirdischer Gnomen. Dann erscholl erregt die Stimme Heredias, er wolle Stiere töten sehen und nicht Hunde oder Menschen, und er befahl den Einmarsch der Guarda Civil. Vor ihrem harten Tritt und harten Griff ordnete und lichtete sich der Kreis, die Begeisterten verschwanden, die Stadtsoldaten rückten ab, der mittlerweile müde gehetzte Stier, der seinen gehaßtesten Feind auf Erden, den kleinen weißen Hund, nicht mehr sah, hielt im Rasen inne, und die Capadores konnten Atem schöpfen. Tapfer hatten sie ihr Leben eingesetzt, um Leben zu schützen. Durch diese Windstille schritt nun ruhig Pradilla heran, der, wie man an der Bühne sagen würde, wohl schon zum Abschminken in seiner Garderobe gewesen und dort von den Ereignissen unterrichtet sein mochte, trat vor die Loge des Präsidenten und bat um die Erlaubnis, seinerseits den überzähligen, nicht seinem Degen unterstellten Stier töten zu dürfen.

Erlöst dankte ihm Heredia für seinen Einsatz, mit dem Pradilla allerdings einen tief verwurzelten Aberglauben herausforderte, der in der Stierfechtergilde und dem ihr nahelebenden Umkreis die Gemüter beherrscht. Wer den Kampf mit einem Stier auf sich nimmt, für den er nicht bezahlt wird, 140 der stirbt durch diesen Stier. So ward denn das kaum herabgebrannte Feuer rings von Neuem entfacht, wild geschrien hallten Warnrufe herab, beschwörende Bitten, bange Prophezeiungen, an denen Pradilla seine große Beliebtheit hätte ermessen können, aber er wehrte sie fast ärgerlich ab. Und dann stand plötzlich, heftig auf ihn einsprechend, ein vielleicht vierzehnjähriger Junge vor ihm. Von der Sonnenseite tönte es hernieder: ›Sein Bruder! Sein Bruder! Ja, hör auf ihn, Pradilla! Denk an deine Mutter! Denk an deine Schwester! Denk an Juana! Tu's nicht! Hör auf ihn!‹ Während die Capadores den großen und den kleinen Bruder mit ihren Mänteln vor dem Stier schützten, der infolge des neuen Lärmes wieder erregt geworden war, umklammerte der Knabe mit seinen Armen die Arme und den Leib des großen Bruders, der schon Degen und Scharlach in Händen hielt, und brach in Tränen aus. Da stampfte der Espada zornig mit dem Fuß auf den Boden und rief mit lauter Stimme in das tobende Warnen und Mahnen der Sonnenseite hinüber: ›Aber ich bin doch Pradilla!‹

Wie abgeschnitten erstarben die Zurufe, der Knabe gab die bewaffneten Arme des Bruders frei, Pradilla faßte ihn mit dem die Muleta tragenden Arm unter und führte den willig, ja lächelnd Zuschreitenden mit sich vor den Kopf des Stieres, senkte das Tuch, und des Treibens wohl endlich grausam müde, folgte der Stier willig der scharlachenen Aufforderung und bot der Degenspitze seinen Nacken dar. Pradilla konnte den Griff der Waffe zwischen den Hörnern in der Hand behalten, während der Stierkörper in die Knie brach und dann vollends tot zu Boden kam. 141

Vor der Arena erwartete mich Hjalmar Harfagr. Diego hing, die Vorderbeine nach rückwärts über seine Schultern gelegt, an seinem Halse. Der farbig funkelnde und glitzernde Strom der Menge glitt an der Riesengestalt Don Hjalmars wie an einem steinernen Brückenpfeiler vorbei. Sobald er mich erspäht hatte, schob er sich an meine Seite. Er war sehr aufgeregt und sprach deutsch zu mir. Unter allen Umständen müsse er Pradilla kennen lernen. Ich sah ihn verwundert an. Ob ich mir denn nicht bewußt sei, daß wir soeben etwas ganz Unerhörtes erlebt hätten. Gewißlich, erwiderte ich, sei Pradilla ein großer Fechter . .  Davon spräche er im Augenblicke nicht, ob ich ihm denn in irgendeinem Lande irgend einen Mann, einen Staatsmann, einen König, einen Künstler, einen Philosophen, einen Narren, einen Wissenschaftler oder wen immer sonst zu nennen wüßte, der allgemeinen tosenden Widerspruch und sogar den Widerspruch der eigenen Familie kraft seiner Geltung durch die bloße Nennung seines Namens zum Verstummen zu bringen vermöchte, wie Pradilla es soeben vollbracht? Mit einem solchen Manne müsse er unweigerlich sprechen . .  Und was nun gar den Stierfechter angehe, so möchte er sich in Sonderheit mit ihm über eine bestimmte Richtung in der indisch-chinesischen Mystik unterhalten. Ob ich ein solches Gespräch vermitteln könne, andernfalls würde er es auf eigene Faust versuchen, Pradilla irgendwo in Malaga aufzufinden. – Es sei einigermaßen schwierig, hielt ich, zwischen Lachen und Staunen schwankend, Don Hjalmar entgegen, einen spanischen Stierfechter mit einem Ausländer in Berührung zu bringen. Sie stemmten sich dem fast alle widerwillig entgegen. 142 Vielleicht eigne Pradilla nicht eine so schroffe Haltung. Er sei in Malaga mit einer bürgerlichen Witwe entfernt verwandt und pflege jedesmal nach seinem Auftreten in einer malagenensischen Corrida mit einigen von ihr zusammengeladenen Gästen aus dem Volk den Abend in ihrem Hause zu verbringen. Ich selbst sei dort des öfteren mit ihm zusammengetroffen. Die Gastgeberin sei einmal meine Kinderfrau gewesen, und so stände ich auf vertrautem Fuße mit ihr und wolle ihr gern sein Verlangen unterbreiten. An dem Grade ihrer Bestürzung würde ich ermessen können, ob die Erfüllung seines Wunsches angebracht sei oder besser unterbliebe. In jedem Falle würde sie eine kluge und sichere Entscheidung treffen und uns zustimmendenfalls für den heutigen Abend zusammen einladen, vorausgesetzt, daß Pradilla sie wiederum mit seinem Besuche beehre. Er möge getrost mit Diego nach Hause gehen, in der Zeit bis zum Abendbrot würde ich mit einer Ablehnung oder mit einer Einladung heimgekehrt sein. Don Hjalmar war noch so aufgeregt, daß er plötzlich italienisch mit mir sprach, mich ›gentillissimo‹ nannte und dann mit Diego auf der Schulter in wilden Schritten davonstürmte.

Meine alte Rosita, die von meinem nordischen Hausgenossen schon gehört hatte, überwand in ihrem guten Herzen, vor allem wohl mir zuliebe, ihre anfänglichen Bedenken schneller, als ich erwartet, und so betraten denn Don Hjalmar und ich um die neunte Abendstunde ihr Haus.

In einer fast leeren Stube standen Stühle im Kreise, darauf saßen junge Mädchen und junge Männer. Einige Guitarren gingen reihum, und die jeweiligen Sänger und Sängerinnen vergnügten sich damit, 143 einander aus dem Stegreif zusammengefundene Verse zuzusingen, hinter deren Wortschleiern sich oft recht nackte Gefühle verbargen, und wohl auch diese oder jene Liebeszwistigkeit zum Austrag kam. Dies ist bei uns eine sehr beliebte Art der Geselligkeit im eigentlichen Volke, und sie gefällt sich auch darin, das Kommen und Gehen der Gäste nicht mit jenen störenden förmlichen Vorstellungen und Begrüßungen zu begleiten, die in gehobeneren Kreisen nun einmal üblich und vor allem bei Ihnen in Deutschland oft so lästig sind. So kümmerte sich denn auch niemand um uns, als Dona Rosita Hjalmar und mich in der Tür willkommen hieß. Im Gegenteil, das große Aufsehen, das Don Hjalmars Erscheinung hervorrief, wurde mit feinem Gefühl geflissentlich hinter einer gesteigerten Munterkeit der mutwilligen Liederscherze und dem sie begleitenden beifälligen Gelächter verborgen. In dem der Tür gegenüberliegenden Kreisbogen der Stühle waren deren vier freigelassen. Ich begriff, daß sie Pradilla, der Wirtin und uns beiden vorbehalten waren. Don Hjalmar sagte meiner guten Rosita viele spanische Artigkeiten, neckte sie mit mir und mich mit ihr und offenbarte auch bei dieser Gelegenheit wiederum, was ich an ihm stets nicht nur als Geistes-, sondern vor allem als Herzensgegenwärtigkeit so gern empfunden habe. Aber während er sprach, verschluckten seine Ohren gewissermaßen die wie Spielbälle durch die Luft geworfenen Verseinfälle. Dona Rosita geleitete uns zu unseren Stühlen, und wir setzten uns. Währenddessen sang eine noch sehr kindliche Schöne ihrem ihr gegenüber sitzenden Verehrer einen Vers zu, mit dem sie ihn für irgendeine Untat schmeichlerisch und nicht 144 ganz ohne Tränen um Verzeihung zu bitten schien. Der also Angeflehte jedoch sprang von seinem Stuhle auf, entriß ihr die Guitarre und erwiderte vor ihr stehend mit einem zornig gesungenen Verse, den Don Hjalmars Gedächtnis voller Verzückung aufbewahrt und später so oft vergnügt wiederholt hat, daß auch ich ihn behalten habe. ›Schweig, deine Liebe gleichet dem Hund / der läuft, wohin man ihn pfeift. / Die meine ist wie ein Stein / der bleibt, wohin man ihn stellt!‹ Zweifellos, wir waren in eine kleine, sich dramatisch zuspitzende Auseinandersetzung geraten. In diesem nämlichen Augenblicke nun tauchte Pradilla in der Zimmertüre auf. Während sich alle von den Stühlen erhoben, eilte ihm Dona Rosita entgegen, und ich und Don Hjalmar folgten ihr auf den Fersen. Nachdem sie den Stiere tötenden Helden begrüßt hatte, winkte sie Hjalmar Harfagr heran und sagte, daß dies ein junger norwegischer Ritter sei, der das Verlangen geäußert, Pradilla zu begegnen und daß sie es gewagt habe, diesem Wunsche zu willfahren.

Pradilla, der auf breiten Schultern einen schönen römischen Kopf trägt, sah Don Hjalmar während dieser beinahe höfisch feierlichen Vorstellung mit seinen großen dunklen Augen starr und regungslos an, als wolle er fachmännisch prüfen, ob Don Hjalmar wirklich ein Mensch oder nicht vielleicht eine Art fremdländischer Stier ohne Hörner sei. Meiner hatte sich eine gewissermaßen neugierig gespannte Vergnügtheit bemächtigt, was Don Hjalmar in diesem ungewöhnlichen Augenblick wohl tun und wie sein erstes Wort lauten würde. Er jedoch tat oder sagte gar nichts, sondern schaute mit seinen hellen Augen nur ebenso starr in die scharfen schwarzen 145 Augen seines Gegenüber. Da hob der Stierfechter schließlich, als ob er nun seiner Sache sicher geworden, langsam die Hand und reichte sie gewissermaßen zu Hjalmar Harfagr hinauf. Der Riese ergriff diese Hand und sagte laut, es mache ihn stolz und glücklich, die festeste und tapferste Hand berühren zu dürfen, die zur Zeit in Spanien einen Degen führe, vor allem jedoch habe er einem Manne begegnen wollen, der es vermöchte, nur durch die bloße Nennung seines Namens jeglichen Widerspruch einer tosenden Welt und sogar den Widerspruch der eigenen Familie zum Schweigen zu bringen. Man konnte deutlich sehen, daß Pradilla nicht recht wußte, wie ihm geschah, als er aus einem Munde, der ihm eben noch so fragwürdig erschienen, diese gelassenen und wohlgesetzten spanischen Worte warm ausströmen hörte. Er ließ seine Augen starr über den Kreis der Gäste schweifen und sagte laut, wie anmutig dieser fremde Ritter sei. Dann aber, wie er es bisweilen ja auch in der Arena mit dem Nacken eines gutwilligen Stieres tat, hob er seine Hand hoch zu Don Hjalmars Schulter hinauf, legte sie dort zutraulich nieder und führte so den Riesen mitten durch den beifällig sich regenden Kreis zu den leeren Stühlen hinüber. Die Hausfrau und ich folgten.

Der große Staatsakt war vorüber.

Wir setzten uns alle, Don Hjalmar auf den Stuhl zur Rechten Pradillas, Dona Rosita saß links von dem Fechter und ich wiederum links neben ihr. Im Niedersitzen hatte Pradilla auch mir die Hand gereicht. Schüchtern wurde an einzelnen Guitarrensaiten gezupft, dann spielten und summten alle Gäste gemeinsam leise einen spanischen 146 Stierfechtermarsch. In der darauf folgenden Stille fragte jemand, der mit Pradilla vertrauter zu sein schien, was denn um des Himmels willen mit Bambito geschehen sei? Pradilla erwiderte, der junge Fechter scheine die Arena, während sein Stier sich noch im Rund befand, fluchtartig verlassen zu haben. Das Ehrengericht der Stierfechter würde den Vorfall prüfen und dann entscheiden, ob er weiterhin kämpfen dürfe oder sich den Zopf abzuschneiden habe. – Das Abschneiden dieses kleinen Zopfes, der am Hinterkopf jedes Stierfechters geflochten ist, vollzieht den sinnbildlichen Akt für das unwiderrufliche Ausscheiden des Zopflosgewordenen, denn nun läßt sich das kleine schwarze Polster nicht mehr an seinen Hinterkopf befestigen, das den Fechter bei einem unglücklichen Sturz vor einer Ohnmacht schützen soll, während deren Dauer die Hörner des Stieres ein nur allzu leichtes Spiel mit ihm haben könnten.

›Es wäre schade um Bambito‹, rief jemand.

›Vielleicht würde er niemals aufgehört haben, kühn zu sein, vielleicht aber auch stets um den Tod gewußt und sich daher vor ihm gefürchtet haben‹, erwiderte Don Hjalmar dem Rufer.

Pradilla wandte nun sein Gesicht Don Hjalmar zu und fragte mit einem gewissen Staunen: ›Sie meinen, daß er mit diesem Wissen und dieser Furcht im Leibe niemals ein guter Fechter geworden sein würde?‹

›Ich möchte es glauben‹, erwiderte Don Hjalmar. ›Er würde sich ja niemals bewußtlos dem Reigen haben einfügen können, den sowohl der Fechter wie der Stier mit dem Tode zu tanzen bereit sein muß.‹ Nachdem Pradilla dieses Wort aus Hjalmars 147 Harfagrs Mund gehört hatte, wandte er sich auf seinem Stuhle ganz ihm zu, und sie begannen ein eifriges leises Gespräch miteinander, das ich nicht mehr verstehen konnte. Auch rings der Kreis hatte sich in Gruppen aufgelöst, die wohl die heutige Corrida miteinander erörterten. Da ich auf das Gespräch, das Pradilla und Harfagr miteinander führten, außerordentlich neugierig war, stellte ich mich hinter ihren Stühlen leicht vorgebeugt zwischen sie. Pradilla schien gerade eine Frage Don Hjalmars mit sichtlichem Eifer zu beantworten. Der Eintritt des Stieres in die Arena, sagte er, erfordere von dem den Kampf leitenden Espada den allerschnellsten Einsatz eines klaren und kühlen Verstandes. Der Fechter habe seinen Gegner niemals zuvor gesehen und müsse in wenigen, von Anfang an gefahrerfüllten Augenblicken gewissermaßen die Seele und den Körper des zu bestehenden Feindes ergründen. Die Stiere seien voneinander eben so grundverschieden wie die Menschen. Es gäbe Feiglinge unter ihnen und Tapfere, Langsame und Schnelle, Rechtshänder und Linkshänder, Lustige und Traurige, Wahrhafte und Tückische, Dumme und Kluge, und bisweilen eingefleischte Teufel. Alle diese Wesensarten gelte es, mit klarem Kopf und klaren Sinnen zu erkennen und das eigene kämpferische Können zusamt der erworbenen Erfahrungen auf sie einzustellen. Sobald dann aber der Kampf begonnen habe, löse sich das Erkennen mehr und mehr von den Gedanken und gleite in ein fast unbewußtes Einstellen des eigenen Körpergefühls auf das Wesen des Gegners über. Die Kraft und die Vollkommenheit, mit der sich dieses Zusammenklingen herbeiführen lasse, sei natürlich bei allen Fechtern verschieden, aber 148 ihm allein entspränge alle Kunst und alles Können. Was nun ihn selber angehe, so sei dieser Zusammenklang so stark in ihm, daß er meistens in seinen eigenen Muskeln die Bewegung, den Sprung und alle Wendungen vorausfühle, welche der Stier im nächsten Augenblicke zu machen sich anschicken könnte, so daß ihre Ausführung bereits auf die Gegenwirkung in seinem eigenen Verhalten stoße. Wenn es dann schließlich zu dem eigentlichen letzten Gegenüber käme, seien in ihm wohl überhaupt keine Gedanken mehr.

›Ist es aber nicht dennoch bewußter Wille, Don Eduardo, was Ihre Hand mit dem Scharlach und Ihre Hand mit dem Degen lenkt?‹ fragte Hjalmar Harfagr.

Pradilla dachte nach. ›Bewußter Wille?‹ sagte er dann, ›nein, ich glaube es nicht, der Wille wäre zu langsam! Ich verhalte mich wohl wie in einem Traume, in dem ich etwas tue, ohne im voraus zu wissen, daß und warum ich es tun werde. Mein Tun ist ganz mit dem Tun des Stieres verwoben, ich folge ihm, und er folgt mir, wir handeln bewußtlos gemeinsam, als wären wir eines. Erst wenn der Stier tot ist, finde ich zu mir zurück.‹

›Es ist etwas ganz Wunderbares für mich, Don Eduardo‹, sagte nun Harfagr, ›dieses alles aus Ihrem Munde zu hören. Sie bestätigen meine eigene Einfühlung in das Geschehen zwischen dem berufenen Kampfstiere und dem berufenen Fechter und erklären mir das Rätsel meiner Liebe und meiner Bewunderung für den Stierkampf.

Und wissen Sie auch, daß Sie mit der Schilderung Ihres Zustandes beim Endkampf eine tiefe philosophische Lehre bestätigen, die vor hundert und 149 aberhundert Jahren in Indien und in China in den Herzen Buddhistischer Mönche entstanden ist?‹

Pradilla lachte nach einem Augenblick des Stutzens erheitert auf und rief laut: ›Nein, das wußte ich nicht!‹

Auch Hjalmar Harfagr lächelte, fügte dann aber wiederum ernst hinzu: ›Diese Lehre glaubt, daß der Mensch in seine Vollkommenheit eingetreten ist, sobald sein Bewußtsein, sein Herz, seine Seele, oder wie immer Sie es nennen wollen, sich in ihm gewissermaßen verflüchtigt hat und nun seinen ganzen Körper durchdringt wie Wasser einen Schwamm. Es bedarf dann für ihn keines Vorsatzes und keines Willens mehr, um überall seelisch allgegenwärtig zu sein, weil er im Einklang mit der Gesamtheit des Alls steht. – Aber erlauben Sie mir noch eine Frage, Don Eduardo. Sie sagten mir im Beginn unseres Gespräches, daß Sie allmorgendlich in die Messe gehen, und vor jedem Kampf in der kleinen Kapelle niederknien, die sich im Bau jeder Arena befindet. Bei wem ist nun während des Endkampfes Gott, bei Ihnen oder bei dem Stier?‹

Pradilla sah Hjalmar Harfagr lange groß an, dann sagte er leise: ›Gott ist wohl bei uns beiden, mein Ritter.‹

›Auch das habe ich gefühlt‹, rief Don Hjalmar nun sehr lebhaft, ›Gott ist mit seinen Geschöpfen tief in dem Kampf verwoben. Der Mensch, das Tier, Gott und der Tod. Es ist ein großes Geheimnis.‹

Kurze Zeit nach diesen Worten stand Hjalmar Harfagr auf, beugte sich zu Pradilla herab und sagte beinahe stammelnd: ›Ich danke Ihnen mit meinem ganzen Herzen, Don Eduardo. Darf ich nun aber um die Erlaubnis bitten, Sie mit Ihren Landsleuten 150 allein zu lassen?‹ Und als würde er von einer großen Bestürzung gehetzt, eilte der norwegische Riese zur Tür, gefolgt von der erschrockenen Hausfrau. In der Tür fing er sich noch einmal auf, wandte sich um, verneigte sich vor ihr und vor den Gästen und stammelte noch einmal: ›Dank. Ihnen allen danke ich.‹ Dann verschwand er. Ich hatte das Gefühl, ihn allein lassen, ihn nicht begleiten zu sollen und setzte mich neben Pradilla auf den leer gewordenen Stuhl. Aber der Stierfechter war einsilbig geworden, und bald darauf erhob er sich und ging seinerseits fort. Ich begleitete ihn. Aller, die im Zimmer anwesend waren, schien sich eine große Betretenheit bemächtigt zu haben, so als habe sich darin etwas abgespielt, was wir nicht zu erkennen und nicht zu benennen wußten. Unterwegs sprachen Pradilla und ich kaum miteinander. Vor seinem Gasthause blieb er stehen und lachte. ›Ich weiß nun, warum ich jüngst auf eine mir bisher unerklärliche Weise durch den Stier verwundet worden bin. Der dumme warnende Zuruf eines Capadors muß den Stier und mich aus unserer indisch-chinesischen Allversunkenheit zur Unzeit erweckt haben. Grüßen Sie Ihren norwegischen Freund von mir. Er hat ein kluges und anmutiges Herz.‹ Mit diesem Wort reichte mir der tapfere Gottestänzer die Hand und trat in den Gasthof.


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