Ernst Hardt
Don Hjalmar
Ernst Hardt

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Ich möchte von einem Manne erzählen, mit dem ich vor sehr vielen Jahren nur wenige Tage zusammen gewesen bin, und dessen Erscheinung und Wesen in meiner Erinnerung dennoch durch mein ganzes, künftiges Leben hin ebenso lebendig geblieben ist wie vielleicht meine erste Begegnung mit dem Meere, mit dem Gebirge oder mit den großen Absonderlichkeiten unter den Pflanzen und unter den Tieren, die in fremden Gegenden zu Hause sind.

Hjalmar Harfagr stammte von der Nordküste Skandinaviens her, aus jener äußersten Gegend, in der auf tausend Meter im Geviert bisweilen ein ganzer Mensch lebt.

Er hatte seine Knabenzeit mit dem einen Fuß im blaugrünen Wasser des Meeres und mit dem anderen in der braunen Ackerkrume wie ein Fischer und wie ein Bauer verbracht; denn die Gerechtsamen seines väterlichen Gehöftes reichten ebenso weit auf das nordische Meer hinaus, wie sie über die schmale, schwarzbraune Niederung hinweg die Berge hinaufklommen und endlich zwischen den Vogelnestern in den rostigen Schrunden der Felsen an die azurblaue Gerechtsame Gottes stießen.

Seine Hände hatten von Kindheit auf am Pfluge gelegen, Pferdeleinen gehalten, Segel gestrafft, Netze geflochten und den Steuerholm stampfender Kutter gegen seinen Leib gepreßt, und sie waren davon breit und sehr schwer geworden.

Eines schönen Tages hatte Hjalmar dann, nachdem er ein Jahr zuvor von der oberen Schule der Stadt zurückgekehrt war, den väterlichen Hof verlassen, um in Deutschland Philosophie zu studieren. Als ich mit ihm zusammentraf, war er mit zwei sehr großen und schweren Koffern nach einem 6 fast arabischen Süden unterwegs, nach Andalusien nämlich.

Ich begegnete ihm als dem einzigen Passagier auf dem dänischen Zehntausendtonnen-Frachtdampfer »Christian Broberg«, der von Kopenhagen nach Malaga fuhr.

Hjalmar Harfagr sollte von dort nur in einer hölzernen Kiste fortgelangen, die kleiner als jeder seiner Koffer war und in einer zweiten Kiste aus Zink stand, welche auf dem Nordbahnhof in Paris abhanden kam, nachdem sie auf dem Südbahnhofe bereits unstatthaft lange vergessen worden war.

Sowohl in die Holzkiste wie in den blechernen Kasten war auf Wunsch seiner Eltern über seinem Antlitz eine Glasscheibe eingelassen, welche beide durch einen gemeinsamen Schieber freigelegt werden konnten.

Da ich selbst zu der Zeit, in der Hjalmar zu Tode kam, nicht in Malaga war, habe ich sein einbalsamiertes Antlitz durch diese Scheiben nicht mehr erblickt, sondern mein Gedächtnis hat seine lebendige Erscheinung aus den Tagen bewahrt, in denen ihn mein Inneres, wenn sich mein Denken mit ihm beschäftigte, unwillkürlich den Wikinger nannte.

Alles an diesem Wikinger war blond, aber nicht von jener strahlenden und sieghaften Blondheit, an die man beim Aufklingen der Bezeichnung, die ich ihm beigelegt, vielleicht denken mag, sondern von einer Blondheit, welche durch Jahrhunderte zu oft und zu lange der heißen Sonne der Fjorde und Winden ausgesetzt gewesen war, die vom Eise herkommen. Diese wehende Lauge aus Brand, Eis und Salz hatte alle Kraft und alle Wärme aus seiner Blondheit gezogen, so daß sein Haar, seine moosigen Brauen, seine 7 Wimpern und die Haare auf seinen Armen und seinen Händen dem Felle glichen, das man zuweilen an jungen Eisbären sieht.

Auch das nordische Blau seiner Augen mochte in den Augen seiner Vorfahren einst fest und strahlend gewesen sein, seinen Blick jedoch hatte das Meer ausgespült, es haftete nur noch so viel Farbe in ihm, als man auf den Augäpfeln griechischer Statuen in dem Augenblick findet, in dem sie der Spaten aus der dunklen Erde befreit, in der ihre weißen marmornen Leiber nach den tosenden Schrecken des Untergangs Jahrtausende lang still und unberührt geruht haben.

Hjalmar Harfagr war sehr groß, ja man hätte sich versucht fühlen können, zu sagen, er sei für seine Größe etwas zu groß gewesen. Alles an ihm war schwer. Man merkte es den Bewegungen seiner Arme an, daß sie seine Hände gewissermaßen mit Aufbietung von Muskelkraft tragen mußten, und gleicherweise schien es seinem Körper einige Mühe zu bereiten, den einmal gehobenen Fuß wieder auf die Erde zu setzen, ohne daß er zu Boden kam, wie das Gewicht in der Hand eines Athleten, der den Zuschauern anzudeuten wünscht, daß es zweihundert Pfund gewesen, mit denen er gehantelt habe.

Es wäre unrecht von mir, wollte ich sagen, der Wikinger sei fett gewesen. Aber sein Fleisch war nicht fest, und ohne daß es an bestimmten Teilen seines Körpers mit besonderer Vorliebe angesiedelt gewesen wäre, wodurch wir gemeinhin den Eindruck der Dicke oder der Fettheit empfangen, trug er eben doch, ohne dick oder fett zu sein, auf den Knochen seiner Schultern, seiner Arme, seiner Hände und seiner Schenkel etwas zu viel Fleisch. Ich brauche kaum 8 noch zu sagen, daß Hjalmar sich im allgemeinen sehr langsam bewegte. Man hätte seine leibliche Existenz vielleicht am besten eine große Bedächtigkeit des Fleisches nennen können.

Ich war zwei Stunden nach Mitternacht in Plymouth an Bord des »Christian Broberg« gekommen, hatte am anderen Morgen mein erstes Frühstück noch in meiner Koje liegend erhalten und betrat dann gegen zehn Uhr die große Gemeinschaftskajüte des Dampfers, um mich zusammen mit dem Kapitän und dem ersten Offizier, und falls es außer mir noch einen Passagier an Bord geben sollte, auch mit ihm des herrlichen, großen, dänischen Frühstückes aus tausend und einem Gange zu erfreuen.

Rings um diese mit poliertem Mahagoniholz getäfelte Kabine lief ein breites Wandsofa, dessen Sitze und lose Rückenkissen mit dunkelrotem Samt bezogen waren. Der Tisch stand, den ganzen Raum durchquerend, im hinteren Rechteck dieses Sofas. Vor der freien Tischseite waren vier gepolsterte Drehstühle durch ihren einzigen Säulenfuß fest mit dem Boden verankert. Über den Rückenkissen der Breitseite des Sofas lief ein Wandspiegel von Querwand zu Querwand, und da Hjalmar Harfagr mit dem Rücken zur Kajüte auf einem der Drehsessel dem Spiegel gegenüber saß, geschah es, daß ich bei dieser unserer ersten Begegnung seine Erscheinung nicht unmittelbar von Angesicht zu Angesicht, sondern vielmehr in diesem Spiegel erblickte.

Der Kapitän stellte mich seinem ersten Offizier und Hjalmar vor, nannte mir ihre Namen und fragte mich dann, ob ich lieber mit dem Rücken zum Raume auf einem der Drehsessel oder auf dem Sofa 9 sitzen wolle? Von den Sesseln aus könne man schneller hinausgelangen, fügte er lächelnd hinzu. Ich sagte, daß ich lieber auf dem Sofa sitzen möchte, um mich nicht unwillkürlich immer im Spiegel sehen zu müssen. Diese Bemerkung veranlaßte Hjalmar, seinen Blick aus dem Spiegel, in dem er mich bei unserer Vorstellung angesehen hatte, fortzunehmen und sich langsam nach mir umzuwenden.

Der Kapitän ließ mich nun an seinem Sofasitz am Kopfende des Tisches vorbei an die Breitseite des Sofas hinter den Tisch treten, so daß ich übereck neben ihm und neben dem auf dem Sofa sitzenden Offizier, Hjalmar Harfagr jedoch gegenüber zu sitzen kam. Auf der über den Tisch hinauslaufenden Polsterbank des Sofas lag rechts vom Kapitän und links von Hjalmar ein schlafender Hund, der nicht geruht hatte, meinem Eintritt die geringste Beachtung zu schenken. Ingeborg war ein weißliches, durch seine Häßlichkeit auffallendes Tier, unter dessen männlichen oder weiblichen Vorfahren sich aller Wahrscheinlichkeit nach wohl ein Terrier befunden haben mußte. Die zweifelhafte Erscheinung Ingeborgs wurde durch den Zustand äußerster guter Hoffnung, in dem sie sich befand, keineswegs anmutiger oder begreiflicher gemacht.

Während des Frühstückes konnte ich nichtsdestoweniger bald feststellen, daß das Herz des Kapitäns an Ingeborg mehr hängen mochte als an irgendeinem anderen Wesen, das sich auf dem Schiffe befand. Der Kapitän aß weder von der Rollwurst, noch von dem rohen, noch von dem gekochten Schinken, noch von den Sardinen, noch von den Anschovis, noch von den harten Eiern, noch von den roten Lachsscheiben, noch von dem 10 durchwachsenen Speck, ohne der dabei kaum aufwachenden Ingeborg ein Stückchen von einem jeder dieser Leckerbissen aufzunötigen, und als er später die Kajüte verließ, goß er sogar etwas von der süßen, dickflüssigen Büchsensahne in seine Untertasse und stellte das flache Schüsselchen neben die Schnauze Ingeborgs auf das Sofa nieder, damit sie später davon trinken könne; denn als er fortging, schien sie dazu nicht mehr willens oder nicht mehr imstande zu sein.

Während des Frühstücks fragte der Kapitän den Wikinger und mich, aus welchen Gründen wir für unsere Reise nach dem Süden seinen langsamen und doch einigermaßen unbequemen Frachtdampfer den vielen bequemen und schnellen Passagierschiffen vorgezogen hätten, die den Süden ansteuern. Da Hjalmar Harfagr, was er die ganze Zeit über getan hatte, wiederum tat, nämlich schweigend weiter zu essen, erwiderte ich, daß ich eigentlich am liebsten immer auf einem Segelschiff reisen würde, in jedem Falle aber die großen schwimmenden Gasthäuser, die auf dem Meere eine Fortsetzung des Land-, ja des Großstadtdaseins zu erkünsteln versuchten, recht eigentlich haßte. Während ich dieses sagte, hob Hjalmar Harfagr die unergründliche Helligkeit seiner wasserhaften Augen von seinem Teller und schickte sie in mein Gesicht hinüber, dann überzog ein zögerndes, seltsam anmutendes Lächeln sein großes Gesicht, und sich dem Kapitän zuwendend, ließ er nun zum ersten Male seine Stimme hören. Als Äußerung seiner ragenden und quellenden Leiblichkeit wirkte sie in ihrer unnachahmlich zarten Musikalität über alle Maßen sonderbar. Hjalmar sagte, er seinerseits reise, sofern es ihm seine Zeit 11 nur irgend erlaube, stets auf Segelschiffen, sei seine Zeit aber beschränkt, zum mindesten auf einem Frachtdampfer, da man auf ihm der einzige Passagier zu sein und zu bleiben fast immer einige Aussicht habe.

Nach einem Augenblick der Verblüffung mußten der Kapitän und der erste Offizier und schließlich auch ich über Hjalmars unbeabsichtigte oder beabsichtigte Grobheit lachen; denn kein Kind hätte mit unschuldigerer Miene und ehrlicherem Ton eine bewußte Bosheit oder unbewußte Ungeschicklichkeit liebenswürdiger vorbringen können. Im gleichen Augenblicke jedoch verdüsterte sich des Wikingers Gesichtsausdruck, als glitte eine Wolke darüber hin, und er fügte mit seltsam verhaltenem Ingrimm hinzu: vor allem aber liebe er es nicht, zu betrügen, er sei nämlich nie und nimmer ein Passagier, sondern äußerlich und vor allem aber auch innerlich im eigentlichsten Sinne eine Last und Fracht, der Kapitän möge ihn nur einmal wiegen lassen! – Wie sein Ton und sein Gesicht es hatten fertig bringen können, daß uns dreien mit einem Schlage das Lachen vergangen war; vermöchte ich nicht zu sagen, jedenfalls versicherte ich einigermaßen betreten und beinahe entschuldigend, wie aufrichtig ich es bedauern würde, durch meine Anwesenheit seine Hoffnung auf eine einsame Fahrt zunichte gemacht zu haben. Die Wolke in Hjalmars Gesicht verflog und ließ ein vergnügtes Leuchten hervorbrechen: »Aber Sie leiden doch an der Seekrankheit und verbringen die meiste Zeit in Ihrer Kabine, da bedeutet es doch nicht viel, daß Sie an Bord sind.«

Nun mußten der Kapitän, sein erster Offizier und auch ich wirklich hell auflachen: noch einmal 12 befände er sich in einem bösen Irrtume, erwiderte ich ihm, ich sei nicht, wie wahrscheinlich er, schon in Kopenhagen an Bord gekommen, sondern erst in der letzten Nacht in Plymouth, hätte also bei der wahrscheinlich stürmischen Durchquerung des Kanals nicht, wie er angenommen zu haben scheine, seekrank in meiner Koje gelegen, übrigens sei ich bisher noch niemals auf einer Reise seekrank geworden.

Hjalmar Harfagr wandte mir nun sein Gesicht voll zu und ließ zehntausend Sonnenwärmen darin aufstrahlen: »So wird man sich also von Zeit zu Zeit sehen und mit einander sprechen«, sagte er. »Vielleicht wird es uns beiden Freude machen! Ich hatte bereits so großes Mitleid mit Ihnen empfunden! Die Seekrankheit ist nämlich ein scheußlicher Todeskampf, ohne die endliche Erlösung zur Seligkeit. Auch ich bin auf dem Meere niemals seekrank, dafür jedoch fast immer an Land!« Mit diesem merkwürdigen Wort schob der Wikinger seine Hand, die etwas von der Flosse eines Seehundes und zugleich etwas von der Tatze eines jungen Eisbären an sich hatte, quer über den Tisch zu mir hinüber und legte sie warm und gut über meine erstaunende Hand.

Es mag sein, daß der Wind- und Wetterwechsel in der Stimmung des Norwegers die beiden Seeleute und auch mich etwas verlegen und versonnen gemacht hatte, jedenfalls ging unser Frühstück zu Ende, ohne daß wir noch viele Worte miteinander gesprochen hätten, vor allem Hjalmar Harfagr sagte nichts mehr.

Als der Kapitän und der erste Offizier uns dann allein gelassen hatten, stand der Wikinger auf und setzte sich neben Ingeborg auf das Sofa, nachdem 13 er das Sahneschüsselchen vorsichtig und umständlich auf den Tisch zurückgestellt hatte. Mit gewichtigen Worten setzte er mir auseinander, daß kein Gefühl den Menschen so sehr in Irrtum verstricke wie das Gefühl der Liebe. Das könne ich ausgezeichnet an dem Verhalten des Kapitäns Ingeborg gegenüber beobachten. Er überfüttere das Tier ganz unverantwortlich! Auf echt dänische Art leichtfertig sei es jedoch, den Hund nach dem Essen nicht spazieren zu führen, das erfordere die Gesundheit an sich, und der Zustand, in dem sich das Tier nun einmal befände, mache Bewegung zu einer Pflicht, der um ihres eigenen Heiles willen keine werdende Mutter sich entziehen dürfe. Er würde den Hund daher ein wenig an Deck spazieren führen.

Ich war inzwischen ebenfalls von meinem Platz aufgestanden und hatte mich auf die andere Seite von Ingeborg niedergesetzt. Zuweilen zuckte es in ihrem geblähten Leibe sehr heftig, oder er wurde von leichten Wellen durchrollt, auf deren Kuppen sich die harten gläsernen Haare ihres Felles jedesmal borstig aufrichteten. Ihr Atem strich gleichmäßig schnaufend durch ihre Nüstern, nur jeder siebente oder achte Atemzug blieb einen Augenblick länger als die übrigen in der Lunge zurück, um dann lauter und wie ein kleiner Seufzer durch die Nüstern zu entweichen. Hjalmar beugte sich über sie und strich mit seiner großen Hand von der Schnauze aufwärts über ihren kleinen Kopf. Ingeborg hob ihre schwarze Lippe in die Höhe, so daß man ihr Gebiß mit den erstaunlich großen Zähnen sehen konnte, vor allem der mächtige Reißzahn schien in den Kiefer eines anderen, eines sehr großen Hundes zu gehören. Der Wikinger sagte leise und zärtlich: »Sie lächelt im 14 Traum«, während ich der Meinung zuneigte, sie mache ihn durchaus nicht ohne Hintergedanken auf die Beißfähigkeit ihrer Zähne aufmerksam. Aber vielleicht ist es schwierig, ja fast unmöglich, den Ausdruck eines nicht menschlichen Gemütes ins Menschliche umzudeuten. Hjalmar jedenfalls wiederholte die streichelnde Liebkosung seiner großen Hand, und jetzt klappte Ingeborg, ohne ihren Kopf zu heben, die Augenlider in die Höhe, schob ihre Augäpfel nach aufwärts und schaute so mit einem gewissermaßen schiefen, im Grunde vielleicht undeutbaren, wie ich jedoch meinte, kühl-gefährlichen Blick zu Hjalmar empor. Er bat sie nun, sich mit einer zungentänzerischen Lust am Klange der Vokale der dänischen Sprache bedienend, in herzlichen Worten, mit ihm an Deck hinaufzukommen, da dies gesund für sie sei. Ingeborg hob zwar den Kopf, schob jedoch sowohl das linke weiße wie das rechte braune Lid bis zur Hälfte über den unheimlich verdrehten Blick ihrer dunklen Augen und schien in dieser Stellung weiterzuschlafen. Der Wikinger holte nun vom Tisch ein Stück Zucker, entledigte sich seines Leibgurtes, knüpfte umständlich und sachkundig eine Schlinge hinein, die sich nicht zuziehen konnte, streifte sie Ingeborg über den Kopf, hielt ihr den Zucker unter gleichzeitigem sanften Rucken des Riemens vor die Nase, und auf diese Weise gelang es seiner halb lockenden, halb drohenden Geduld, das faule Ruhebedürfnis Ingeborgs nach einer geraumen Weile zu besiegen. Sie wälzte sich schließlich vom Sofa herab. Mit einem von Güte und Triumph gewissermaßen geschwollenen Rücken schritt die mächtige Gestalt des Wikingers schwer und langsam mit der verdrossenen 15 Ingeborg, die ihre Pfoten seitlich breit über den Rand ihres geblähten Leibes hinaus zu Boden setzte, die steile Treppe zum Deck hinauf.

Nach den wenigen Stunden morgendlichen Schlafes, die ich gehabt, und nach dem reichlichen Frühstück befiel mich eine große Müdigkeit. Ich legte auf dem Wandsofa zwei der roten Samtkissen übereinander, meinen Kopf herauf und mich selbst ganz auf das Sofa und muß wohl sehr bald, von den langsam stärker werdenden Dünungen gewiegt, fest eingeschlafen sein, denn ich habe Hjalmars und Ingeborgs Rückkehr nicht mehr wahrgenommen.

Als ich wieder erwachte und mich bewegte, hörte ich Hjalmars Stimme, die mir ebenfalls aus liegender Stellung und zwar unterhalb meiner Füße herzukommen schien. Der Wikinger fragte mich, ob ich ihm eine große Gefälligkeit erweisen wolle. Er habe sich nach einem durchaus gelungenen und gesunden Spaziergange mit Ingeborg unterhalb meiner Füße auf das Sofa niedergelegt, und da Ingeborg sich nicht mehr von ihm habe trennen wollen, habe er sie, damit sie bei der wachsenden Schaukelei auf den Biskayadünungen nicht hinunterfalle, zwischen sich und die Kabinenwand in das Innere seines Rockes gelegt, und dort habe sie nun, während er wohl eingeschlummert sei, zwei kleinen weißlichen Geschöpfen, die, soweit er es beurteilen könne, wohl wie sie gleichfalls der Gattung der Hunde zuzurechnen sein möchten, das Leben gegeben. Da aber vielleicht noch ein drittes oder gar viertes oder gar fünftes, denn Ingeborg käme ihm durchaus noch nicht völlig erlöst vor, zu erwarten sei, wage er nicht, sich zu bewegen. Es sei aber eine unbedingte Notwendigkeit für ihn, an sein Taschentuch zu gelangen, da er sich 16 die Nase schnauben müsse. Er könne das Tuch mit seiner eignen freien Hand nicht erreichen und bäte mich daher um die Liebenswürdigkeit, da ich ja nun erwacht sei, es aus seiner Tasche zu ziehen und ihm zu geben. Ich stand auf und trat zu ihm. Er hatte den wahrnehmbaren Tatsachenbestand richtig angegeben, nur daß zu den zwei hundeähnlichen Wesen, von denen er gesprochen, inzwischen noch ein drittes gekommen war. Zugleich sah ich aber auch, daß der lange, schwere Mensch sich mit einer großen, behutsamen Mütterlichkeit auf der äußersten Kante des Sofas in einer gewissermaßen bänglichen Schwebe hielt, um Ingeborg, die sich nicht mehr von ihm hatte trennen wollen, und ihren Kindern so viel Raum übrig zu lassen, als nur irgend in seinem Vermögen stand. Ich gab ihm sein Taschentuch.

Nachdem sich Hjalmar vorsichtig die Nase geschnoben hatte, fragte er mich, ob es Ingeborg wohl sehr kränken würde, wenn er den Versuch mache, selbstverständlich unter Zurücklassung seines Rockes, sich aus der liegenden Stellung aufzurichten und vom Sofa zu entfernen. Ich versicherte ihm, daß es meiner Meinung nach Ingeborg keinesfalls kränken würde, und so bat er mich denn, ihm auch bei dem schwierigen Geschäfte des Aufrichtens noch behilflich zu sein.

Es wurde in der Tat ein schwieriges Geschäft! Was die gütige Seele des Wikingers unter meiner Hilfe mit seinem schweren geräumigen Leibe anstellte, um bedächtig und umsichtig seine Arme aus den Ärmeln seines liegenbleibenden Rockes zu befreien, erinnerte mich an die Schaustücke der Entfesselungskünstler, welche ihre Gliedmaßen unversehrt aus den engsten Umstrickungen lösen, ja, der Wikinger 17 brachte es fast bis zu jener erstaunlichen Leistung auf diesem künstlerischen Gebiete, durch welche die Lehrlinge in der Zunft der Taschendiebe den Meisterbrief erwerben. Um ihn zu erringen, müssen sie nämlich einer angezogenen Puppe, deren Kleider über und über mit kleinen, waagerecht abstehenden Stahlfedern benäht sind, an deren in die Luft hinausragenden Enden winzige Glöckchen hängen, zu Leibe gehen und aus allen ihren Taschen alle darin verborgenen Gegenstände hervorziehen, ohne daß auch nur ein einziges Glöckchen ein einziges Mal anklingt.

Nachdem Hjalmar sich befreit hatte, setzte er sich neben seinen Rock, in dem Ingeborg und die drei kleinen neuen Wesen auf dem Sofa lagen. Er sprach für eine Weile nicht mehr. Aus der zur Seite gedrehten und übergebeugten Haltung seines schweren Oberkörpers und seinem versonnenen Schweigen schien sich mir etwas wie ein Gewölbe aus Schutz und Wärme über die bebenden und unaufhörlich sich regenden kleinen Geschöpfe zu türmen, die soeben erst jene tiefste Geborgenheit verlassen hatten, deren jedes Lebendgeborene auf dieser Erde jemals teilhaftig ist, und deren schützende Wände ihre kleinen strampelnden Beine und ins Leere tretenden Pfoten noch immer zu suchen schienen. Ingeborg fuhr selig und unermüdlich mit ihrer roten Zunge über die rosig weißen Leiber ihrer Jungen, aber von Zeit zu Zeit glitt ihre Zunge auch über die im Bereich ihres Kopfes aufgestemmte Hand Hjalmars, und wiederum vermochte ich nicht zu deuten, ob sie ihn in den Umkreis ihrer neuaufgebrochenen Liebe einbezogen habe, oder ob sie seine Hand einfach für ein viertes größeres Junges hielt, dem sie 18 das Leben gegeben. Ich wollte irgendeine Art Rührung, in die mich die närrische Liebesemsigkeit der kleinen Wöchnerin versetzt hatte, verscheuchen und sagte lächelnd: »Fast könnte man um ihrer Glückseligkeit willen auf Ingeborg neidisch sein!«

»Ihre Kinder, die aus dem großen Unterseits des Lebens plötzlich zu uns emporgetaucht sind«, sagte Hjalmar nach einer Weile, »fühlen sich dank ihrer geschlossenen Augen noch nicht ganz auf dieser Welt. Während ihre Gliedmaßen sich tastend und drückend in einen unbegrenzten Raum versetzt fühlen, umfängt ihr Gesicht für eine Weile noch die enge Finsternis des Mutterleibes. Die Lichtfülle hingegen, ja, der Lichtwahnsinn, welchen die Augen eines neugeborenen Kindes mit einem Schlage erleben, trägt später aus den Tiefen des Unterbewußtseins, welches nichts vergessen kann, in die menschliche Phantasie jenen wunderbaren Traum von der Auferstehung des Fleisches in den Lichtfluten der himmlischen Herrlichkeit. Die Tiere haben kein Jenseits!« Um so beängstigender sei es daher, fuhr er fort, sich vorzustellen, daß einem jeden von diesen drei kleinen Geschöpfen nun nach seiner Geburt ins Irdische, ohne den Traum von einer Erlösung gleich uns Menschen, ein unentrinnbares Schicksal vorbehalten sei, ein blasses oder ein brennendes, eines, in dem das Leid die Lust oder die Lust das Leid überwiege, mit dem einen übergroßen Unterschiede nur, daß wir Menschen uns wenigstens einbilden könnten, mit unserem Willen unser Schicksal einigermaßen zu lenken und zu bestimmen, während diese armen Tiere, die nicht mehr in der Wildheit der Natur ihr Leben zu behaupten hätten, gewissermaßen ihr Geschick einzig und allein von 19 außen empfingen, und deshalb würde er Tierquälerei mit dem Tode bestrafen.

»Möge den Kindern Ingeborgs ihr Geburtsdatum ein gutes Vorzeichen sein«, sagte ich. »Es ist heute der erste Sonntag im Monat Mai.«

Hjalmar streichelte Ingeborg und schob behutsam mit dem Rücken seines Mittelfingers den Kopf des einen Hundes, der mit äußerster Vehemenz nach ihrem Leibe drängte, näher zu ihr heran. »Jede Geburt«, sagte er, »ist der Schwebepunkt zwischen einer unvorstellbaren Vergangenheit und einer unvorstellbaren Zukunft irdischen Lebens, denn in dem plötzlich einem Ich verhafteten neuen Wesen ist jene dunkle Vergangenheit ebenso unverloren, wie die Zukunft darin vorbestimmt ist . . « Da die Annahme einer Urzeugung wohl unhaltbar sei, fuhr er fort, so sei eben alles Leben, das da sei, von Urbeginn da, und wenn er auch nicht um Jahrmillionen zurückschweifen und auf die Ähnlichkeit hinweisen wolle, welche diese drei kleinen neuen Wesen in ihrer weißen Quabbeligkeit etwa mit riesenhaften Uramöben hätten, so möge ich aber doch den auffälligen Fleck an der rechten Vorderpfote des kleinen zitternden Körpers betrachten, der der Mutter zunächst läge und bereits zäh versuche, sich aus ihrem Leibe die Kraft zu seiner Fortexistenz zu saugen. Diesen gleichen Fleck an der gleichen Stelle trage auch die riesenhafte Dogge, welche Velasquez neben den Narren seines Königs gemalt habe! Welch rätselvoller Strom der Erbfolge des Lebendigen offenbare sich da also schon in nur drei Jahrhunderten. Durch einige dreißig Hundegeschlechter sei dieser spanische Fleck von der rechten Vorderpfote der Dogge Philipps des Zweiten auf die rechte 20 Vorderpfote dieses dänischen Terriers geglitten. Welch eine Kette unausdenkbarer Hundeschicksale! Einer der Ahnen Königswächter im Escorial zu Madrid, der Nachkomme ein an einem Sonntage im Mai geborenes zitterndes Hündchen auf dem Sofa eines dänischen Frachtdampfers von zehntausend Tonnen! Er werde sich nämlich fortan einbilden und behaupten, daß dieses Hündchen von der Dogge Philipps des Zweiten abstamme, er werde den Kapitän bitten, es ihm zu schenken und aus Verehrung für den großen Diego Velasquez werde er es Diego nennen und alle Überheblichkeit der Rasseforscher würde nichts wider seinen Glauben und seine Behauptung vermögen, denn die Rätsel der Erbfolge, in die gehüllt die Natur durch die Jahrtausende schreite, seien weder nachzuprüfen noch zu lösen.

Ich war noch nicht völlig vertraut mit Hjalmars tragischem Mutwillen, der sich darin gefiel, das Ende eines scheinbar ernsthaft geflochtenen Gedankenfadens, so als habe das alles eben doch keinen rechten Sinn, plötzlich ins Ironische oder Groteske zu verschlingen, gleich wie Kinder mit versonnenem Ernst ein menschliches Antlitz zu zeichnen beginnen und dann mit einem übermütigen Auflachen mitten in das Gesicht anstelle des Mundes einen Tierschnabel setzen. Später lernte ich, daß Hjalmar bisweilen auch mit dem Mutwillen begann, um dann plötzlich in einen sehr ernsthaften, ja tragischen Aufschrei seelischer Not hinüberzuspringen. Jetzt erlaubte ich mir gegen ihn die Bemerkung, daß der Hund Philipps von Spanien allem Anscheine nach zu der reinen Rasse der Doggen gehört habe, während dieses kleine Hundewesen ebenso sicher in etwas wenigstens der Rasse der Terrier zugehören möchte. 21 Hjalmar erwiderte mit einem seltsamen Aufwerfen seines Kopfes, ich möge ihm einen meiner deutschen Philosophen anzuführen erlauben, der den gültigen Satz geprägt habe, daß es nicht auf die Rasse ankomme, der man zugehöre, sondern auf die Rasse, die man habe. Er zum Beispiel gehöre der Wikinger-Rasse des Königs Rurik zu, aber er habe sie nicht, und was seinen Diego angehe, so sei er im Sternbild des Stiers geboren, der Stier aber sei innerlich und äußerlich nichts anderes als eine riesenhafte Dogge mit Hörnern, er werde seinem Hunde jedenfalls das Horoskop stellen und ihn so lange mit rohen Beefsteaks füttern, bis er seelisch zum mindesten eine Dogge geworden sei, und allein darauf komme es an.

Mit diesen Worten ging Hjalmar in seine Kabine, um sich die Hände zu waschen und einen anderen Rock zu holen, ich aber begab mich zu dem Kapitän auf die Kommandobrücke, denn schließlich war er doch der erste, der von der glücklichen Entbindung Ingeborgs in Kenntnis gesetzt werden mußte. Nachdem ich dieser Botenpflicht genügt hatte, setzte ich mich auf eine Bank auf dem Hinterdeck nieder und schaute in einen vollkommen französischen Himmel, als sei er vom Lande her zu uns herübergeschoben. Er war so leicht und so silbrig verblaut, wie er im Monat Juni die Stadt Paris überschimmert. Aber während dort die Türme der Stadt mit ihren zierlichen gotischen Fingern in ihn hineingreifen, ihn teilen, ihn herabziehen und ihn zu einer heiteren, alles umfangenden Luft machen, die mit prickelnden glasigen Perlen alles Leben verjüngt und die pastellene Silhouette der Stadt vor Daseinsfreude erzittern läßt, hatte hier über der 22 unendlichen metallenen Fläche des geglätteten Meeres seine hohe und ungeteilte Glocke die zwar frauenhaft milde, aber gewaltige Majestät der Himmel Tiepolos. Die Stadt Paris liegt nicht unter, sondern mitten in ihrem Himmel.

Wie der Lebende gemeinhin lebt, ohne den Schlag seines Herzens zu hören, so daß ihm sein eigener Leib wie eine große Stille erscheint, so hört auch der Seefahrer sehr bald den Herzschlag der großen Maschine nicht mehr, die den Dampfer aus all seiner eisernen Totheit ins stetig Stilllebendige erlöst. Das Ohr schläft ein, und die Augen leben. Sie suchen die Weite ab und gleiten auf der Bahn voraus, die das große stille eiserne Tier geführt werden soll. So hat denn auch jeder Klang auf See den doppelten Wert des gleichen Klanges, wenn er auf dem Lande ertönt, und was auf See den Schlummer des Ohres jäh unterbricht, und sei es auch nur ein kleines Geräusch oder ein Wandel in der Gleichförmigkeit des allein im Unterbewußtsein wahrgenommenen Pulsschlages, jagt großen Schrecken ein, als bedeute es das erste Anzeichen einer herannahenden Katastrophe.

Meine Augen lebten über der Nähe und über aller Weite des unermeßlichen Wogens, und obwohl wir doch auf einer vielbefahrenen Straße uns befanden, konnte ich nur fern am Himmelsrande eine einzige Rauchfahne entdecken, aber sie folgte uns weder, noch kam sie uns entgegen, sondern sie kreuzte unseren Weg und verhauchte bald westlich im grünlichen Silberdunst. Ihr Verschwinden erfüllte mich mit einer beklemmenden Wehmut. Vielleicht war es dieses Gefühl, das mich Hjalmar Harfagr vermissen ließ. Ich ging über das Schiff, um 23 ihn zu suchen. Ich fand ihn auf der Ankerwinde sitzend, die Ellenbogen auf dem Schiffsrand, das Kinn auf die Hände gestützt, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen. Als ich zu ihm hintrat, bemerkte er mich nicht. Sein großer schwerer Körper kauerte zwar neben mir, aber es war nicht, als ob etwas Lebendiges in ihm sei. Sein inneres Wesen schien sich ganz in der Ferne zwischen Himmel und Wasser verloren zu haben, so als wohne es dort in einem verwandteren Elemente als in der dunklen Untiefe seines Leibes, der neben mir in den englischen Kleidern eines europäischen Gentleman seine Pfeife rauchte. Ich trat leise von ihm fort und setzte mich um einige Schritte entfernt seitlich hinter ihn auf ein gerolltes Tau.

Plötzlich berichtete mir Hjalmar, ohne sich umzuwenden, mit lauter Stimme, er habe Ingeborg und ihre drei Kinder mit Hilfe des Stewards in die Kajüte des Kapitäns transportiert, wo bereits ein Korb vorsorglich für das Ereignis bereitgestellt gewesen sei. In ihn habe er die Kinder gelegt, natürlich unter Zurücklassung seines Rockes, denn es sei notwendig, daß Diego, den ihm der Kapitän bereits geschenkt habe, unausgesetzt seinen Geruch in der Nase behalte. Mit diesen Worten kam Hjalmar zu mir herüber und setzte sich neben mich auf die Taurolle. Aber sein Blick und sein Wesen gingen bald wieder im Anschaun der Fernen zwischen Himmel und Erde verloren. Nach einer Weile hub er wieder zu sprechen an:

»Jedesmal, wenn ich mich dem großen unergründlichen Leben des Meeres gegenüber finde«, sagte er, »verwundert es mich, daß die morgenländischen Sprachen, die für manche Blumen den Namen der 24 Dreißigblättrigen oder gar der Hundertblättrigen erfunden haben, oder daß vor allem Homer, der dem Meere doch so erkennende und ergreifende Beinamen zu geben gewußt, niemals auf den Gedanken verfallen sind, für das Meer den Namen des Tausendgesichtigen zu wagen, denn wann hätte es je dem Menschen in zwei verschiedenen Augenblicken seiner Meerverbundenheit ein gleiches Antlitz zugewandt? Frührot, Morgen, Mittag oder abendliche Stunde, ein Wehen, ein Wind, ein Dunst, eine Wolke, und schon hat das große Antlitz zu hundert Malen gewechselt, als stünde seinem unergründlichen Zauberwesen auch der unerschöpflichste Reichtum an Ausdruck zur Verfügung, den unsere Sinne wahrzunehmen vermögen. Im Umkreise dieses niemals sich erschöpfenden Spieles tausendfacher Mienen behängt sich der Golf von Biskaya, auf dem wir fahren, wechselnd mit drei, wenn auch stets verschiedenen so doch ausdrucksverwandten Masken seines Urwesens.«

Hjalmar sprach ein beinahe schönes und gepflegtes Deutsch, so daß es Freude machte, ihm zuzuhören. Nur selten suchte er nach einem Wort. Seine Art, die Vokale auf skandinavische Weise zu färben, trug etwas Feines, Bedachtes, ja fast Zärtliches in den Klang der Worte.

Da er nicht fortfuhr, fragte ich: »Wie kommt es, Herr Harfagr, daß Sie so gut deutsch sprechen?«

Sein Gesicht überzog sich mit einem breiten Lächeln, und spitzbubenhaft vergnügt erwiderte er: »Kennen Sie das spanische Sprichwort nicht, welches behauptet, daß Spanisch die Sprache Gottes, Italienisch die Sprache des Gesanges, Französisch die Sprache der Frauen, Deutsch jedoch die Sprache der Hunde sei? 25 Nun, mit den Hunden muß man heulen, und wenn man sie liebt, wird man es eben so schön tun, wie man es nur irgend fertigzubringen vermag.«

Mich verwunderte der Freimut seiner versteckt erklärten Liebe zu meinem Vaterlande, da ich aber nichts Rechtes darauf zu erwidern fand, sagte ich: »Als ich Sie unterbrach, schickten Sie sich gerade an, das Urwesen des Golfes zu nennen, auf dem wir fahren, und mir die Masken zu schildern, mit denen er sich wechselnd behängt.«

»Sein Urwesen ist Tücke und Gewalt«, sagte nun Hjalmar. »Die eine Maske hängt heute darüber. Mit bergeshohem, aber sanftem Schwunge gehen die Wasser auf und nieder wie geschmolzenes Glas oder sich krümmendes Erz und verbergen hinter den gespiegelten Farben des Himmels die ihnen innewohnende Gewalttat und Tücke. Die zweite Maske ist schwarzgrauer Sturm und peitschender Regen. Die sich noch höher türmenden und in Abgründen zusammenbrechenden Wassergebirge überstürzen dann das Schiff, reißen es zwischen den aufjagenden und abrasenden Bergen in die Luft hinauf und in die ächzenden Schlünde hinab, als sei das Schiff die halbe Schale einer Kokosnuß. – Aber die dritte Maske ist die schrecklichste. Der Golf stülpt sie abwechselnd sowohl über seine Liebes- wie über seine Haßlarve. Dann vermag man weder die sanft schwellenden auf- und abwiegenden Dünungen noch die gischtigen Ungeheuer, welche die Kokosnuß in die dunkel daherrasenden Wolkenfetzen hinauf und in die klaffenden heulenden Trichterkreisel hinabschleudern, wahrzunehmen, weil eine gespenstisch-grauenvolle Wesenheit wie eine wäßrig verdünnte Nacht entweder die schaukelnde Liebe oder 26 den tosenden Haß des Meeres verschleiert. – Im Rasen der schwarzen Herbststürme hat eine solche blinde Teufelsfahrt durch den Nebel der Biskayabucht nichts Irdisches mehr.«

»Trostreich, daß wir den Golf im Monat Mai durchfahren«, erwiderte ich einigermaßen angerührt von seiner Schilderung.

»Ja«, sagte er aufstehend, »im Monat Mai! Das gemahnt mich an das sonntägliche Frühlingsereignis. Ich muß mich einmal um Ingeborg und ihre Kinder kümmern. Seeleute haben im allgemeinen nur geringe mütterliche Instinkte, weil ihr Beruf immerdar einen ganzen Mann von ihnen verlangt, während ich bisweilen seelische Lust verspüre, selber zu gebären.«

Mit diesen Worten ließ mich Hjalmar auf meiner Taurolle wiederum allein.

Der weitere Ablauf dieses Tages ist nicht allzu deutlich in meiner Erinnerung haften geblieben. Ich kann mich noch entsinnen, vor Tisch auf einem Gange über den Dampfer bei einem zufälligen Blick durch das offenstehende Bullauge der Mannschaftskabine Hjalmar Harfagr mit zwei Matrosen zusammensitzen und Karten spielen gesehen zu haben. Während des Essens kam kein Wort über seine Lippen, und auch meine Unterhaltung mit den Seeleuten – an dieser Hauptmahlzeit nahm auch der zweite Offizier teil – war karg und ohne Bedeutung. Die wenigen Stunden Schlaf in der vorangegangenen Nacht, die frische salzige, den ganzen Tag über geatmete Meeresluft und vielleicht auch meine erste Berührung mit Hjalmar ließ mich sehr früh müde werden, und so ging ich denn nach einer kurzen Versunkenheit in das überirdische Schauspiel 27 des klarbestirnten, seltsam flimmernden Himmelsgewölbes frühzeitig in meine Koje und bin wohl fast augenblicklich eingeschlafen.

 


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