Ernst Hardt
Don Hjalmar
Ernst Hardt

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Am anderen Morgen kam ich nicht allzufrüh an Deck. Die Biskayabucht hatte ihr großes Antlitz aus den düsteren Unterweltschleiern der Nacht in die Sonne erhoben. Aus der blendenden Flut des Lichtes und der Farben rings hüpften mir kleine fröhliche Winde entgegen, die mit allem spielten, was irgend in der Luft hing. Die Matrosen hatten den sonnigen Morgen benutzt, um auf dem Vorderdeck nebelnasse Kleider und frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. All das flatterte und knatterte wie Fahnen bunt durcheinander. Unser Schiff, das Meer, der Himmel, ja selbst die Sonne sahen, wenn anders der Ausdruck erlaubt sein kann, 51 wie frisch gescheuert aus. Eine verjüngte Welt blinkte, funkelte, glitzerte und strahlte rings um mich, ganz erfüllt von lustigem Mutwillen und schnellem Leben. Das Zeitmaß der Daseinsmusik war in ein sprühendes Prestissimo hoher Flöten und Geigen übergesprungen.

Mit blanken Augen, die Mütze im Genick, schoß der erste Offizier auf mich zu. Nachdem er mir lebhaft die Hand geschüttelt, sagte er, es sei schade gewesen, daß ich mich schon so früh schlafen gelegt. Zwischen dem »Alten« und dem Norweger habe es in einem vielleicht brenzlichen Augenblick wiederum so etwas wie ein religiöses Duell mit sehr spitzigen Klingen gegeben. Wäre dem Schiffe irgendetwas zugestoßen, würden die Matrosen den Norweger wohl zunächst einmal ins Wasser geworfen haben. Nichtsdestoweniger hätten Herr Harfagr und der Kapitän, als es endlich aufklarte, einander umständlich die Hand geschüttelt, und der Kapitän habe dem Norweger versichert, er sei ungeachtet aller Vorbehalte, die er gegen ihn zu machen habe, trotzdem ein ganzer Kerl und überdies beinahe ein Seemann. Der Norweger habe dröhnend gelacht und behauptet, der »ganze Kerl« an ihm sei eine bewußte Spiegelfechterei, der Seemann hingegen eine Art Blutspuk, der sich von Zeit zu Zeit ohne sein Zutun melde. Unverbesserlich wie ein mutwilliger Schuljunge habe er dann hinzugefügt: was zum Beispiel sein Seemannstum angehe, so wisse er durchaus nicht genau, ob all die vielen Schiffsunfälle, von denen man in den Zeitungen lesen könne, schlechten Kapitänen oder schlechten Schutzengeln in die Schuhe zu schieben seien. Er jedoch würde sich jedenfalls immer mehr an die Kapitäne als an die 52 Schutzengel halten, und so habe er denn für seine Reise den »Christian Broberg« ausgewählt, weil sein Kapitän den Ruf genieße, immer ganz genau zu wissen, wann der Kapitän und wann der Schutzengel auf dem Schiffe das Kommando zu führen habe, ein Ruhm, den der Kapitän übrigens bei der verruchten Begegnung mit dem Fliegenden Engländer durch den bewunderungswürdigen, blitzschnellen Kurswechsel glänzend gerechtfertigt habe. Darüber hinaus aber sei der Kapitän des »Christian Broberg« beinahe sogar ein guter Doggenzüchter, was er um seines Diego willen gar nicht hoch genug veranschlagen könne. Mit einem lustigen kleinen Stoß in die Weiche des Kapitäns sei der Norweger dann, laut vor sich hinsingend, breitbeinig davongegangen. Jetzt schliefen sie beide. Er jedoch wolle sich erst nach dem Frühstück »hinhauen«.

Der frische Morgenwind, der die Welt so blank geputzt, schien im Davonwehen die zusammengerollten Nebel hoch in den blauen Himmel hinaufgetragen zu haben. Dort schwammen sie jetzt als mächtige, gebirghafte Ballungen aus schneeiger Watte, die, wie ein Schwamm Wasser saugt, sich ganz voll gesogen hatten mit dem strahlenden Lichte des gereinigten Raumes. Die blendende Weiße der Watteberge war auf den Gipfeln und auf den der Sonne zugekehrten Hängen und Abstürzen wie mit geschmolzenem Gold übergossen. Ich legte mich auf eine Bank nieder und schaute in den weißen Wattebrand hinauf, der, kaum merkbar sich umformend, sehr langsam durch die Bläue des Himmels fuhr. Ich fühlte mich selig eingehüllt in die warme Strahlengloriole, in der rings um mich das Blau des Himmels, das Gold der Sonne, das Weiß der 53 Wolken und das Grün des Meeres ineinander verschmolzen waren.

Obwohl über meinem schweifenden Auge nichts als unendliche Weite und nichts als unendliches Licht war, erspürte mein Blick, vom Himmelsrande aufwärts gleitend, dennoch Unterschiede der Dichtigkeit und der Färbung, die dem aufschwingenden Raume eine abtastbare, ihn mit der Erde fest verbindende Gestalt gaben. Die große blaubrennende Kuppel schien ebenso sehr gegen das Unendliche abzuschließen wie den Sinn in seine unbegrenzten Lichtfernen hinaufzulocken. So hielt sich denn mein Gefühl wie ein großer Vogel in der Schwebe zwischen einer Lust zur Erde, die wahrhaft in Herrlichkeit durch den Raum fuhr, und jener niemals völlig abwesenden, aber stets ein wenig schmerzlichen Sehnsucht, die unser Sinnen allnächtlich zwischen die Sterne hebt. Ich fühlte mich gewissermaßen zwischen Himmel und Erde. – Da hauchte über mein Gesicht wie ein Schwall, voll und sehr weich ein Luftrieseln hin, das ganz erfüllt war vom Dufte junger Thymianblüten, wie er den Berganreitenden von den kahlen Hängen südlicher Gebirge entgegenschlägt. Mit diesem unsagbar lieblichen, wie aus den Poren der Erde frühlingshaft aufgebrochenen und auf das große Wasser hinausgetragenen Dufte überkam meinen Körper eine heimliche Rührung und eine so heiße Zärtlichkeit, daß er sich in seinen Fibern dehnte, als wolle er liebend ein Geliebtes umfangen. Ich schloß meine Augen und verkapselte mich gewissermaßen tief in eine gedankenlos glückliche Erdenhörigkeit. Da die Wasser unter mir ohne brausenden Schaum sich hoben und senkten, kam fast der Schlaf, um sich über mein Bewußtsein zu legen. 54

Ein Lachen Hjalmars weckte mich. Er trat zu mir heran, weiß in weiß, so als habe er die Einfahrt in den Süden mit einer der Himmelsbreite angepaßten Hochzeitstracht feiern wollen. Ich sagte ihm, daß das ganze Meer nach jungem Thymian dufte. Ja, wir führen nahe der Küste dem Tajo zu.

In seiner Hand hielt Hjalmar ein Wasserglas, dessen Öffnung er mit einem Taschentuche zugebunden hatte. Auf meine Frage, was er da mit sich herumtrage, erwiderte er: in seiner Kabine seien Fliegen gewesen, die ihn gestört hätten, er habe sie daher eingefangen und in sein Zahnputzglas gesperrt. Diese dänischen Fliegen wolle er, sobald wir näher der Küste führen, aussetzen, um den Stamm der baskischen Fliegen rassemäßig zu verwirren. Der Gedanke an die Aufregung der Insektenforscher, falls sein Züchtungsversuch gelänge, bereite ihm bereits heute ein ungeheures Vergnügen. Ein solcher Einbruch einer fremden Fliegenart in die iberische Halbinsel habe übrigens eine Reihe ganz wunderbarer menschlicher Vorspiele gehabt, die ich, falls ich ihn nach Malaga begleitete, in Andalusien zu studieren, gute Gelegenheit finden würde. Ich würde mir ja aus der Bibel, aus assyrischen Urkunden, aus dem Dichter Hesiod, dem Geographen Strabo und dem Geschichtsschreiber Titus Livius schon eine ungefähre Vorstellung wenigstens von den wesenswichtigen menschlichen Fliegenhochzeiten auf der spanischen Halbinsel gebildet haben. (Ich hatte nicht die mindeste Ahnung von alledem.) Von den Urfliegen, den Iberern, wolle er nicht sprechen, denn man könne nur durch Rückschlüsse zu einer Meinung über sie gelangen. In jedem Falle sei um das Jahr der Geburt Jesu Christi der Geograph Strabo 55 in Spanien bei einem Könige zu Besuch gewesen, der sich der Silberne genannt und an seinem Hofe noch iberische Greise gehegt habe, wie man es mit aussterbenden Tieren ja auch heute in geeignetem Gelände zu tun versuche. Diese sehr gebildeten und allgemein verehrten Greise hätten dem jung emporgekommenen königlichen Silberling vor allem und über alle Maßen durch die Erzählungen Achtung eingeflößt, die sie, sobald er es nur wollte, und manchmal auch, wenn er es nicht gerade wollte, unaufhörlich über die sechstausend Jahre alten Sitten, Gesetze und Blutbräuche ihres, des iberischen Volkes vorbrachten, und die sie selbst noch immer mit dem allergrößten Stolze erfüllten. – Dieser iberische Urstamm, von dem eben noch diese Greise übrig geblieben, sei aber, geschichtlich nachweisbar, nacheinander verhochzeitet worden mit den Kelten, den Phöniziern, den Phokern, den Karthagern, den Römern und den Westgoten, so daß man sich billig fragen dürfe, was denn an jenen iberischen Greisen zur Zeit der Geburt Jesu Christi außer ihrem Glauben an ihre sechstausendjährige Geschichte selber noch iberisch gewesen sei. Wie ich ferner sicherlich auch wisse (ich hatte im voraus nicht die mindeste Ahnung davon), habe der Geschichtsschreiber Titus Livius ungefähr um die gleiche Zeit die Bewohner Andalusiens »Turditani« genannt. Dieser Name schlösse in seinem Klange alle stolze und stelzige Zierlichkeit, Anmut und Zärtlichkeit ein, die etwa das deutsche Wort »Turteltaube« ausstrahle. Die Geschichtsschreibung sei jedoch, vielleicht aus Deutschfeindlichkeit, dem Titus Livius in der Namengebung nicht gefolgt, sondern habe als Bezeichnung das harte und farblose Wort »Tartesser« 56 aufgenommen. Jene liebenswürdigen und vor allem anmutigen Turditani oder Turteltauben habe nun genau um sechshundert Jahre vor dem Geschichtsschreiber Titus Livius ein wagemutiger, aus Marseille gebürtiger »Erdumtrottler« besucht (welche Verdeutschung er mir für das ebenso häßliche angelsächsische Globetrotter anböte). Dieser Reisende nun habe an den Turditani neben den schon erwähnten Eigenschaften der Zierlichkeit, Anmut und Zärtlichkeit, welches noch alles Wesenszüge auch der heutigen Andalusier seien, vor allem aber einen Charakterzug hervorgehoben und gerühmt, welcher die Turditani seinem Dafürhalten nach den Turteln noch ähnlicher mache. Der Reisende spräche nämlich von ihrer uneingeschränkten und leidenschaftlichen Friedensliebe. Diese große, wie ich gleich sehen würde, die Jahrtausende überdauernde Friedfertigkeit müsse zweifellos nach dem Vererbungsgesetz des österreichischen Priesters Mendel als die vorherrschende Eigenschaft der Urväter des Volkes, also der Iberer, angesprochen werden. Einzig und allein diese Eigenschaft könne die schon erwähnte, aufeinander folgende Unterjochung des Urvolkes der Iberer durch die Kelten, die Phönizier, die Phoker, die Karthager, die Römer, die Westgoten und aus jüngster Zeit nun gar die Unterjochung durch die Araber begreiflich machen, welcher semitische Stamm bekanntlich Südspanien in der unvorstellbar langen Zeit von acht Jahrhunderten beherrscht habe. Dieses prachtvolle Volk habe auf europäischer Erde gewißlich nicht nur aus seiner Kunst die Alhambra in Granada, den Alkazar in Sevilla und in der ganzen Welt den magisch-verschlungenen Fugensatz seiner Ornamentik, aus seiner Wissenschaft 57 am Himmel einige Sternennamen wie den Atair im Sternbild des Adlers und den Aldebaran im Sternbild des Stieres, in der spanischen Sprache die tiefen Kehllaute des Arabischen und in den spanischen Kehlen die braune arabische Schwermut des Gesanges, sondern doch vor allem in lebendigen Leibern sein leibliches und seelisches Blut zurückgelassen, das eben nach sieben Jahrtausenden zusammen mit dem Blute der Iberer, der Kelten, der Phönizier, der Phoker, der Karthager, der Römer und der Westgoten endlich und bisher letztlich die reine und bezaubernde Rasse der Andalusier hergestellt habe. Aber all diese Eindringlinge würden sicherlich vergessen haben, Fliegen mitzubringen, so daß sein dänischer Schwarm zuversichtlich noch auf die echten und unvermischten iberischen Fliegen stoßen würde. Obwohl das blanke, blitzende, mutwillige geistige Sprudeln, das an diesem Morgen des Lichtes und der lustigen Winde aus Hjalmar hervorbrach, etwas Berückendes und den geistigen Atem Versetzendes an sich hatte, gestand ich ihm dennoch, freimütig auflachend, daß ich ihn für verrückt hielte.

»Sie werden gut daran tun«, erwiderte er ernst, »an dieser Überzeugung festzuhalten. Meine Verrücktheit wird Sie stets weniger enttäuschen als meine Vernunft.« Mit diesen Worten schob er das geknüpfte Taschentuch vom Rand des Glases, und die kleinen schwarzen Reiter kletterten an die Luft. Mochte es nun sein, daß der Thymianduft der Erde sie stärker anlockte, als die vom Lande heranhauchende Luft ihnen entgegenwirkte, jedenfalls verließen sie, einer nach dem anderen, landwärts das Glas und das Schiff den perlmutterfarbenen Bergen zu, die sich fern vor unseren Augen dehnten. 58 Hjalmar, der sich auf die Lehne meiner Bank gesetzt hatte, schaute ihnen nach wie Jungens dem Rauch nachschauen, den sie mit wichtiger Miene aus der kalten und leeren Tabakspfeife des Vaters in die Luft geblasen haben. Er sagte dabei etwas auf norwegisch, das ich nicht verstehen konnte.

Mich kam ein Zweifel an, ob die kleinen Geschöpfe, die ja nur für sehr kurze Zeit im Blickfeld unserer Augen blieben, denn wirklich den Flug in die ungewisse Fremde wagten, oder ob sie sich etwa nur, um es befreiten Tauben gleichzutun, auf einen Kreisflug um den heimischen Schlag einließen, um dann von ihrem Stammesgefühl und dänischen Patriotismus getrieben, achtern auf ihre große schwimmende Kemnate verstohlen zurückzukehren. Da ich dem Wikinger seine Züchterträume jedoch nicht stören wollte, behielt ich meinen Argwohn für mich.

Seit dem gestrigen Abend hatte ich den Wunsch, Hjalmar etwas über sein Gespräch mit dem Kapitän zu sagen, und so nahm ich denn dieses unser erstes Zusammensein wahr und sagte: »Darf ich Ihnen ebenso offen wie freimütig gestehen, daß ich mich gestern bei Tisch über Sie geärgert habe? Warum wollten Sie unseren Kapitän . . « Hjalmar unterbrach mich auffahrend: »Ich weiß alles, was Sie mir sagen könnten und vielleicht mit Recht sagen wollen. Aber sehen Sie, immer wenn jemand kommt und mir erzählt, Gott sei auf ihn zugetreten und habe zu ihm gesagt: ›Gestatten Sie, Herr Kapitän Rognald Götsche, daß ich mich Ihnen vorstelle und zu erkennen gebe, ich bin der liebe Gott‹, so werde ich, ohne daß ich es hindern kann, sehr böse. Nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich über Gott und die Möglichkeit unseres Wissens von ihm 59 etwas wirklich Kluges sagen gehört, und das kam aus dem Munde eines zehnjährigen Mädchens.« Hjalmar schwieg. Ich sah ihn erwartend an. Schließlich fuhr er fort: »Ihre Mutter malte mich, und Monika saß auf einem Tritt im Atelier und kleidete eine ihrer großen Puppen an. Plötzlich fragte sie: ›Mama, können wir, solange wir leben, wissen, wer Gott ist?‹ Ihre Mutter setzte gerade mit höchster Sorgfalt ein Licht in mein linkes Auge und erwiderte: ›Nein, Monika, solange wir leben, können wir es nicht wissen.‹ Monika fragte sofort: ›Aber wenn wir tot sind?‹ Die Mutter trat ein wenig von der Staffelei zurück, um das in mein Auge gesetzte Licht zu prüfen, und erwiderte: Ja, mein Kind, wenn wir tot sind, werden wir es wissen.‹ Nach einer geraumen Weile, Monika streifte ihrer Puppe gerade ein Kleid über, fragte sie versonnen: ›Nicht wahr, Mama, wenn wir tot sind, sind wir doch ganz Seele?‹ Die Mutter erwiderte: ›Gewiß, mein Kind, dann sind wir ganz Seele.‹ Nach einer Weile Nachdenkens sagte Monika mit großer trauriger Entschiedenheit: ›Dann werden wir also niemals wissen, wer Gott ist!‹ Sowohl Monikas Mutter wie ich fuhren mit einigem Erstaunen zu ihr herum und sahen sie fragend an. Monika wurde rot und sagte leise und ein wenig verdrossen: ›Wenn wir nach dem Tode ganz Seele sind, haben wir doch keine Neugierigkeit mehr.‹ Sehen Sie, das hätte Angelus Silesius nicht tiefer sagen können.«

Ich mußte über dieses kindliche Wort nachdenken, und dabei überfiel mich ein Erinnern an die grenzenlose Verhüllung der Welt während der eben durchlebten Nacht, und so sprach ich Hjalmar von den Schrecken, die sie mir eingeflößt hätte, nicht 60 etwa aus bloßer Lebensangst. Er sah mich erstaunt an: »Ach, Sie vermeinen bisweilen auf dieser Erde nicht im Nebel zu fahren? Welch eine unschuldige und beneidenswerte Sinnestäuschung! Seit mehr als einem halben Jahrhundert können wir Europäer eigentlich nur eines mit ganzer Sicherheit wissen, nämlich daß wir des Tages und des Nachts im Nebel fahren. Nur der vorsokratische Grieche und der gotische Mensch hatten noch ein Licht um sich und in sich, dem sie trauen konnten! Nennen Sie mir doch einen Begriff, eine Vorstellung, ein Wissen, einen Glauben, mit dem wir aufgewachsen sind und der inzwischen nicht vernebelt worden ist! Gott, Raum, Zeit, Unendlichkeit, Ewigkeit, Stoff, Kraft, Körper, Leben  . . « Ich schaltete ein: »Unsere Wissenschaft . . « Er fiel mir ins Wort: »Von unserer Wissenschaft vernebelt worden sind. Vielleicht hat jedes morgendliche Licht das Vernebeln an sich. Ich sage also kein Wort gegen unsere Wissenschaft, woran Ihnen zu liegen scheint. Ich sage nur, daß alle großen anscheinenden Sicherheiten, nach denen der Mensch in anderen Zeitaltern seinen Sinn und seine Sinne zutraulich orientieren konnte, für uns unsicher, neblig und fragwürdig geworden sind.

Sie freuten sich gestern nacht, als Ihnen aus der Unendlichkeit des Raumes wie eine unumstößliche Sicherheit des Alls, in das wir gehören, die Wega entgegenleuchtete. Unsere Wissenschaft jedoch hat diesen Stern und alle anderen Sterne zu Gespenstern gemacht, denn erst nach x-hundert oder x-tausend oder x-millionen Jahren werden Sie mit Sicherheit feststellen können, ob gestern abend dieser oder jener Stern noch leibhaftig am Firmament lebte, oder ob Ihr Auge nur von seinem Licht getroffen wurde, 61 das ihn selbst um x-hundert, x-tausend oder x-millionen Jahre überlebt hat. Ihr unendlicher Raum, in dem Sie zusammen mit der Sonne und den Sternen ins Unendliche zu fahren wähnen, ist auf eine ganz verdrießliche Art endlich geworden, denn von welchem Punkte des Himmels aus Sie sich auch immer via Unendlichkeit gradlinig in Bewegung setzen, Sie werden eines Tages mit Ihrem Fuß wieder den Punkt streifen, von dem Sie ausgegangen waren. Der Raum ist eine gekrümmte, tief in sich selbst gefangene Endlichkeit geworden wie eine übergroße Apfelsine. Sie liegen jetzt mit dem wohligen Gefühl größter Sicherheit auf der Festigkeit Ihrer Bank, Sie täuschen sich, mein verehrtes Kind, Sie liegen gewissermaßen auf einem kribbelnden Ameisenhaufen, der immer schneller kribbeln wird, je höher die Sonne steigt und die Bank wärmer heizt. So ungewiß und unmeßbar gestern nacht der Ablauf der Zeit für uns auch geworden war, so gewiß erlebten wir in ihr das wahre Wesen der Zeit, was wir sonst so nennen, ist eine dumme Konvention unserer Meßapparate.

Als Sokrates eines Sommerabends auf dem Markte zu Athen die Diogeneslaterne seiner Vernunft ansteckte, versanken die herrlich gewissen Gestalten der alten Götter im Nebel, und inzwischen sind auch unsere Götter herangekommen. Die klarste und hellste Zeit zur Orientierung war für uns spät geborene Europäer ohne alle Frage noch das dunkle Mittelalter, da konnte man noch zutraulich zum lieben Gott gehen, seither hat die Wissenschaft sogar noch die Hexen vernebelt, so daß man auch sie nicht mehr recht für wahr halten will! Wissen Sie übrigens, wie viele ihrer man unter 62 dem Segen des Heiligen Vaters verbrannt hat? Ihrer neun Millionen mußten zum Heile der Menschheit in Flammen aufgehen. Die letzte in dem freien Lande der Schweiz, nachdem Goethe bereits achtundzwanzig Jahre vorher eines natürlichen Todes gestorben war. Das war doch noch etwas, jetzt ist es doch einfach scheußlich. Was fängt meine arme Seele mit der Gewißheit an, daß es nichts gibt, was schneller sein könnte als das Licht, und daß man es wiegen kann wie einen Stein, ja daß man mich mit Licht, falls man genügend viel davon nach mir würfe, sogar zu Tode bringen könnte wie mit einem Kieselstein. Als heute früh die liebliche Eos ihre Rosenfinger durch das Bullauge in meine Kajüte streckte und mir zärtlich das Haar streichelte, spürte meine griechische Seele etwas anderes vom Licht und wurde dadurch beseligt. Ich war bis zur Anbetung verliebt in sie, während mich das Wissen, mit Licht totgeschlagen werden zu können, einfach zum Schaudern elend macht . . . Hier auf dem Dampfer sind wir einsame und vereinzelte Meermenschen und darum glücklich zu preisen. Aber gehen Sie mit Ihren Gedanken tief in unsere Sozietät auf das feste Land hinüber. Sie schaukelt doch noch in den gleichen Seilen, die vor hundertundfünfzig Jahren achthundertundfünfzig Millionen Menschen getragen haben, inzwischen sind es eine Milliarde achthundert Millionen geworden. Die Seile werden reißen, mein Lieber. Und dann gibt es eine Art Sabbath mit neuen Teufeln und neuen Hexen, wider die die Nebel der Wissenschaft nichts werden ausrichten können, denn diese Wirklichkeit wird allzu barbarisch und handgreiflich sein. Könnte nicht auch geschehen, daß der große Luzifer seinem 63 Partner, dem großen Herre Gott gelegentlich das Recht abtrotzte, auch seinerseits einen eingeborenen Sohn auf die Erde zu entsenden, um nach dem Rechten zu sehen? Wie würde sich dieser Teufelssproß einen Spaß daraus machen, eine vorgetäuschte apokalyptische Reiterei anzuführen, deren sich die Menschheit nach ihrem grausigen Vorüberzug schämen würde, da es nur jämmerliche apokalyptische Buschklepper gewesen, die die Welt in Trümmer gelegt und gebrandschatzt haben. Sehen Sie, das einzige, was uns armen Vorgeborenen im Augenblicke bleibt, das ist das Tuten im Nebel. Wie Sie aus unserer Literatur wahrnehmen können, bereitet es sogar Vergnügen. Auch ich werde einmal ein solches Tutebuch schreiben. Freuen Sie sich inzwischen ruhig weiter an der scheinbaren Nebellosigkeit dieses herrlichen Tages. Ich beneide Sie!«

»Und was wird der Inhalt Ihres Buches sein?«

Hjalmar lachte: »Ich werde mich wie Nostradamus aufs Prophezeien verlegen!«

»Und was werden Sie prophezeien?«

»Ich werde prophezeien, daß es dem Menschen vorbehalten ist, alle Kräfte und alle Gewalten des Himmels und der Erde zu erkennen und zu ergründen, zu bemessen, einzudämmen, zu entfesseln, zu lenken und zu wandeln, je nach seinem Willen und nach seinem Bedarf. Er wird aus Sand Gold und aus Steinen Brot machen können, er wird aus Wüsten blühende Gärten zu schaffen vermögen, es wird in seine Macht gegeben sein, aus sich eine Art Gott zu machen, um den Traum vom Paradiese und von der Glückseligkeit auf Erden, die der Mensch von seinem Urbeginn an geträumt hat, zu verwirklichen, aber dennoch wird er scheitern, weil er unter seinen 64 vielen wissenschaftlichen Methoden die eine nicht entdecken wird, das von Grund auf Böse seines Wesens dem von Grund auf Guten in seinem Wesen zu unterjochen. Er wird aus sechs Karat seines Hasses nicht drei Karat Liebe, aus sechs Unzen seiner Bosheit nicht drei Unzen Güte, aus sechs Gran seiner Tücke nicht drei Gran Barmherzigkeit und aus sechs Lot seiner Rache nicht drei Lot Vergebung machen können, und so wird sein Haß, seine Bosheit, seine Tücke und sein Rachegelüst die Allmacht, die er sich über die Stoffe, aus denen die Welt besteht, errungen hat, letztlich darauf verwenden, ihn selber, als den armseligen, ohnmächtigen Wicht, als der er angetreten, zusamt der Kugel, auf der er lebt, ruhmlos ins Nichts zu zerstäuben.«

»Und auf welchen Tag und welches Jahrhundert wird Nostradamus diesen feigen Untergang anzusetzen belieben?« fragte ich.

Hjalmar lachte auf und rief: »Hebe dich weg von mir, Satanas! Inzwischen will ich mich doch aber schnell noch einmal um Diego kümmern, denn ich habe ihn schimpflicherweise heute noch nicht besucht. Leben Sie wohl!« Mit diesen Worten stand Hjalmar auf und ließ mich allein.

Ich blieb auf meiner Bank liegen und sann über all das nach, was Hjalmar Harfagr vorgebracht hatte. Und wie meine Hand im nächtlichen Nebel vermieden, das Geländer der Treppe zu berühren, weil mein Auge mißtrauisch geworden, so widerfuhr es meinen Hacken und meinem Gesäß jetzt plötzlich, daß sie sich, der Worte Hjalmars von ungefähr eingedenk, mit unwillkürlichem Druck fester auf den kribbelnden Ameisenhaufen preßten, als den meine Bank zu bezeichnen es ihm gefallen hatte. Als ich 65 mir dieses unwillkürlichen Mißtrauens meines Fleisches bewußt wurde, mußte ich laut auflachen.

»Worüber lachen Sie?« rief mir Hjalmar zu, der mit Ingeborg auf Deck zurückgekehrt war.

»Sie haben es fertiggebracht, daß ich eben die Festigkeit des Ameisenhaufens, auf dem ich liege, unwillkürlich einer Probe zu unterwerfen versuchte«, erwiderte ich.

»Ein kleines Hochofenfeuer unter die schmiedeeiserne Lehne, auf die Sie Ihren Nacken gelegt haben, und die Ameisen würden schnell genug unter ihm sogar davonlaufen«, sagte er im Vorübergehen.

Ingeborg liebte Hjalmar. Obwohl sie schwer an der Nahrung für ihre drei Jungen trug, versuchte sie bei jedem Schritt, mit ihren Vorderpfoten an seinen Waden hinaufzuklimmen. Er ließ seine Hand herabhängen, so daß sie wenigstens von Zeit zu Zeit mit der Spitze ihrer kleinen Schnauze seine Finger berühren konnte. Die Liebe dieses kleinen Muttertieres war eine Gewißheit in der Welt, der sich der große Hjalmar wirklich vertrauend hingeben durfte.

Mein Blick wanderte von der Spitze eines der besonnten Wattegipfel hinauf in den Raum, und ich versuchte, mir vorzustellen, daß nach Verlauf einer Ewigkeit seine gradlinig gewollte Bahn unweigerlich diesen Wattegipfel wiederum schneiden mußte, eine Fahrt, die alle von ihr berührten Orte des Raumes als eine endliche Unendlichkeit in sich einschloß, und legte ich dem Strahl meines Auges die höchst mögliche Geschwindigkeit, die Geschwindigkeit des Lichtes bei, so dauerte diese Fahrt um die Unendlichkeit die kürzeste mögliche Ewigkeit, während eine 66 Schnecke für die gleiche Bahn die längste mögliche Ewigkeit gebrauchen würde. In diesem Gedankenspiel erbaute sich mir der Raum zu einem grandiosen Gebilde aus magnetischen Kugeln empor, über deren Oberflächen die Planeten groß dahinrollten, und mir fielen die Blätter ein, die ich als Knabe aus lauter Entzücken über meinen ersten Zirkel närrisch genug mit unzähligen Kreisen von einem gleichen Radius bedeckt hatte.

Hjalmar, der Ingeborg zu ihren Kindern zurückgebracht hatte, setzte sich wieder zu mir. »Sehen Sie«, sagte er, »ich habe aus den Nebeln nur einen Ausweg gefunden! Der Mensch ist das einzige Tier der Erde, welches weiß, daß es ist. Ich versuche jeden Tag, mich wach für einige Minuten in einen Zustand zu versetzen, in dem ich nicht mehr weiß, daß ich bin. Je länger es mir gelingt, diesen Zustand auszudehnen, desto glücklicher bin ich. Dieses Glück ist so groß, daß es sogar alle biologischen Funktionen in mir steigert. An solchen glückhaften Tagen muß ich mich zweimal rasieren! Wahrhaftig«, fuhr er nach einer Weile fort, »unser Leib gehört mit allen seinen Gelüsten noch immer ganz ins Neandertal, unser europäisches Gehirn aber werden die Amerikaner bald in ihren Museen ausstellen, unsere armen Seelen hängen schon lange goldgerahmt an den Wänden ihrer viereckigen Paläste.«

»Sie sind nicht sehr glücklich, Hjalmar Harfagr«, sagte ich leise.

»Muß es denn nicht jeden vernünftigen Menschen mit unablässiger Empörung erfüllen«, erwiderte er, ohne daß ich wissen konnte, ob seine Worte eine Erwiderung auf meine leise Bemerkung sein sollten, »daß wir zu irgendwelchen 67 Experimentierzwecken aus dem All in dieses abscheuliche irdische Kältelaboratorium verbracht wurden, in dem wir lauter Grenzzustände der Materie bei lächerlichen sechzig Grad plus oder minus erleben und selber leben?«

»Welche Temperatur würde Ihnen denn angenehm erscheinen?« fragte ich.

»Sie haben die Wahl zwischen dreitausend bis zwölftausend Grad an den Sternoberflächen oder vierzig Millionen Grad in den Sternkernen«, erwiderte er. »Sie würden dort ein völlig bewußtloses, aber ideales Gas von einer von uns nicht herstellbaren Luftleere oder von der Dichte des Wassers oder der Dichte des Platins sein, je nach Ihrer Wahl unter den sechstausend uns näher bekannten Sternen . .  Was jedoch Ihre Meinung über meinen Gemütszustand angeht, so haben Sie vor allem zur Zeit recht, denn ich kann doch unmöglich auf diesem Zehntausendtonnendampfer solange bleiben, bis ich meinen Diego von seiner Mutter trennen darf, so werde ich mich also meinerseits wohl oder übel für Wochen von ihm trennen müssen, und das macht mich in der Tat kreuzunglücklich.«

Hjalmar stand wiederum auf, um fortzugehen. Aber zum ersten Male seit unserer Begegnung reichte er mir seine große schwere Hand.

Vielleicht fing ich es ein wenig unbeholfen an, im Erdreich seines Wesens gewissermaßen festen Fuß fassen zu wollen, bisher jedenfalls hatte er die Scholle, die meine Sohle mit einigem Druck berührte, noch jedesmal mit einem Lächeln voller Spott und Vergnüglichkeit fortgeschoben oder fortgleiten lassen, ohne mir irgend auf ankerfesteren Boden hinüber zu helfen, und es lagen nun doch nur 68 noch so wenige Stunden in seiner Nähe vor mir. – Unser Dampfer näherte sich einem kleinen, wenig bekannten spanischen Hafen unweit der portugiesischen Grenze, in dem er, was Hochseedampfern selten genug widerfuhr, eine Fracht zu löschen hatte. Dieser Umstand war die Veranlassung zu meiner Fahrt gerade mit dem »Christian Broberg« gewesen, denn hier wollte ich an Land gehen, um in der Nähe des Hafens die neuerlich ausgegrabenen Fundamente einer frühen römischen Tempelanlage zu besichtigen. Dieses getan, führte mich der wissenschaftliche Zweck meiner Reise nach Nordafrika. Dort waren unlängst Höhlenzeichnungen noch unbekannter Herkunft entdeckt worden, welche ich sehen wollte. Von der afrikanischen Küste plante ich dann, nach Griechenland überzusetzen, um zur Vollendung einer archäologischen Arbeit nördlich des Korinther Golfes an baulichen Überresten aus sehr früher Zeit eine Reihe von Untersuchungen auszuführen. Und erst nachdem ich diese Arbeiten hinter mich gebracht, konnte ich nach Spanien zurückkehren, wo ich für einige Wochen in Malaga zu bleiben beabsichtigte. Zwei Jahre zuvor war ich neun Monate lang in dieser Stadt nicht nur zu Gaste, sondern recht eigentlich ansässig gewesen. Einer Äußerung Hjalmars hatte ich nun entnehmen zu können geglaubt, daß auch er für eine längere Zeitspanne in Malaga sich aufzuhalten beabsichtige, und so beschloß ich denn noch im Verlauf des heutigen Tages meine und seine Scheu vor der Erörterung persönlicher Lebensumstände zu überwinden und zu sagen und zu erkunden, welchen Plänen mein und sein Leben in der nächsten Zukunft unterworfen war oder sein sollte. 69

Ich weiß nicht, warum die Ausführung meines einfachen Vorhabens mich Hjalmar Harfagr gegenüber heikel oder schwierig dünkte, ich mußte mich, als er sich von ungefähr wieder zu mir gesetzt hatte, gewissermaßen dazu zwingen. Zu meiner Verwunderung ließ er meine Eröffnungen über meine Vorsätze einsilbig passieren, er unterbrach sie nur dreimal mit der gleichen kurzen Frage nach dem Grunde meines angekündigten Handelns. Nachdem ich ihm die Veranlassung für mein bevorstehendes Anlandgehen, für meinen Aufenthalt in Nordafrika und für meine Pferdereise durch Lokris und Phokis aufgezählt hatte, ruhten seine hellen Augen in namenlosem, ja, beinahe schreckensvollem Staunen auf meinem Gesicht, dann kam das ihm eigene vergnügte Lächeln, in dem ebenso viel Spott wie Mitleid zu wohnen schien, in alle Flächen und Falten seines gewichtigen Antlitzes, und er sagte: »Ah, Sie gehören also zur Zunft derer, die aus den Eingeweiden der Vergangenheit die Offenbarungen der in uns versteckten Gottheit zu enträtseln suchen?« »Wie Sie es auch immer nennen mögen!« erwiderte ich lachend. »Was mich angeht«, sagte er dann, »so will ich meinerseits versuchen, wie ich Ihnen schon gesagt, diesen gleichen Offenbarungen für die nächste Zukunft, ich meine damit das nächste halbe Jahrhundert, das Horoskop zu stellen. Dieses vergnügliche Unterfangen wird mich wohl den Winter über, ja vielleicht bis in den kommenden Sommer hinein in Malaga an irgendeinem Schreibtisch gefesselt halten. Sie finden mich und Diego also dort vor, sobald Sie hinkommen.«

Ich erzählte ihm nun, daß ich ein gleiches vor zwei Jahren getan, in Malaga auf einem Hügel über der 70 Stadt im Hause eines spanischen Malers gewohnt, dort ungewöhnlich gut aufgehoben gewesen sei und außerdem in diesem Maler, Federico Ferrandiz mit Namen, der in München und Paris studiert und sich in seiner Kunst inzwischen einigen Ruf erworben, einen guten Freund erblicken dürfe. Ob ich ihm an diesen einen Brief mitgeben und so eine Verbindung zwischen ihnen herstellen solle? Hjalmar Harfagr sah mich mit geschlitzten Augen an und fragte: »Ist er ein Landsmann von uns?«

Diese seine Frage verwirrte mich augenscheinlich so sehr, daß er sofort hinzusetzte: »Ich meine, hat er die gleiche Heimat wie Sie und ich?« Das Erstaunen in meinem Gesicht mußte wachsen, denn der Wikinger sagte nun nicht heftig, sondern höflich und entschuldigend: »Verzeihen Sie, ich drücke mich scheinbar unverständlich aus. Einer der Hellsichtigsten unter Euch Deutschen hat die erschütternde Erkenntnis gehabt und ausgesprochen, daß in unseren Zeitläuften die Barbaren nicht mehr waagerecht über die Grenzen eines Landes einbrächen, sondern senkrecht aus dem Schoße des eigenen Volkes in die Höhe stiegen. Ist Ihr Maler nun ein solcher aus der Tiefe emporgetauchter iberischer Barbar oder ist er ein Europäer wirklich griechischen Ursprungs, ich meine das in seelisch-geistiger Beziehung natürlich.«

»Da Sie mich zu dieser gesitteten Gattung der europäischen Lebewesen zu zählen scheinen«, sagte ich innerlich belustigt, »so muß ich Ihnen antworten, daß ich niemals eine Schwierigkeit darin gefunden habe, mich mit Federico Ferrandiz auch über ferne und letzte Dinge so gut zu verständigen, daß ich es neun Monate lang mit ihm und bei ihm auszuhalten 71 vermochte und mich darauf freue, ihn wiederzusehen.«

Hjalmar stand auf: »Dann will ich diesem Manne Ihren Brief gerne persönlich aushändigen. – Übrigens bin ich gründlich bestürzt, daß Sie schon morgen abend nicht mehr an Bord des ›Christian Broberg‹ sein werden, und dieser Umstand ärgert mich so sehr, daß ich einige Not zu haben scheine, mich mit ausreichender Unmittelbarkeit verständlich zu machen.« Mit diesen Worten ließ mich der Wikinger allein.

Ich vermag nicht genau zu erklären, aus welchem Grunde nach diesem Gespräch zwischen mir und Hjalmar bei unserer Wiederbegegnung eine gewisse scheue Einsilbigkeit sich bemerkbar machte, gewissermaßen eine Traurigkeit, für die wohl auch er keinen Grund anzugeben vermocht hätte. Jedenfalls glitten unsere Blicke auseinander, wenn sie sich zufällig begegneten, und bei Tisch hörten wir fast wortlos den Gesprächen der Offiziere zu, ohne daran teilzunehmen. Vielleicht waren wir alle beide jedoch auch nur von jenem dumpfen Zustand erfaßt worden, der nach den ersten Tagen einer Seereise Denken und Gemüt des Landmenschen zu überkommen pflegt.

Die Seeleute mochten inzwischen innere und äußere Muße gefunden haben, sich in ihre mit an Bord gebrachten Zeitungen zu vertiefen, denn ihre Gespräche drehten sich um die darin ausführlich erörterten Zeithändel, in denen irgendwelche kriegerischen Verwicklungen auf dem Balkan, und in anderen Ländern sogar tiefgreifende Revolutionen drohend sich anzukündigen schienen. Besonders diese als äußerst wahrscheinlich angesprochenen 72 sozialen Umwälzungen erregten die Seeleute sehr heftig.

Hjalmar warf plötzlich in das Hin und Her ihrer Meinungen den langsam gesprochenen Satz:

»Die Herren scheinen der Auffassung zuzuneigen, daß Kriege mit glücklichem Ausgange an lange im voraus gehegte und gepflegte Wesensvoraussetzungen des angreifenden Volkes gebunden sind. Ich jedoch hege die Überzeugung, daß dies mit sozialen Umwälzungen in weit höherem Maße der Fall ist. Gewonnene Kriege sind in der Geschichte häufig, gewonnene Revolutionen hingegen äußerst selten. Es gibt Völker, in denen der Aufruhr nicht nur die fördersame Hefe, sondern auch die Jauche zum Gären bringen würde. Sie stiege zuerst an die Oberfläche, übernähme die Führung und Leitung des ganzen Prozesses, entstellte und vergiftete Seelen und Hirne der gesamten Nation und risse sie in Entartung und Verfinsterung bis zum schmählichen Untergange.«

Dieser Versuch Hjalmars, das Gespräch aus Vordergründlichem in Grundsätzliches zu wenden, schien dem politischen Eifer der Offiziere nicht zu behagen, denn sie unterließen jegliche Erörterung des vorgebrachten Einwurfs, um wiederum in die von den Zeitungsmännern an die Oberfläche gehobenen Spannungen und Strömungen der politischen Tageswässer zu entgleiten. Der Wikinger stürzte plötzlich seinen Kaffee und seinen Likör hinunter und sagte zu mir: »Wollen wir an Deck flüchten und diese geharnischten Gemüter allein beieinander lassen? Ihre Pfeifen und Zigarren, meine Herren«, fügte er lachend hinzu, »könnten die Welt übrigens wahrhaftig in allerlei Brände stecken, falls der 73 europäische Zunder wirklich schon so gehäuft und ausgetrocknet sein sollte, wie die Zeitungen vorgeben, aber ich glaube, die Zeit des großen Feuerwerkes ist noch nicht gekommen. Sein Ausbruch jedoch wird niemanden so sehr überraschen wie gerade unsere Zeitungen.« Mit diesen Worten verließ Hjalmar die Kajüte, und auch ich stahl mich hinter ihm die Treppe zum Deck hinauf.

Gewaltig stand die Nacht über dem Schiff. Der von allen feuchten Schleiern gereinigte Raum ließ die Gestirne so groß und funkelnd erscheinen, wie man sie in manchen Nächten im Hochgebirge zu Gesicht bekommt. Im Osten lag der schwarze Sammet der Himmelswölbung hart und unvermittelt auf dem Silberglanz des Meeres, im Westen war der Kuppelrand grün getönt und schien aus Glas zu sein, hinter dem noch der Docht einer verlöschten Kerze glomm. Und obwohl unsere Lungen in der rauchigen Kabine sehr nach Luft und Kühle gedürstet hatten, wagten wir noch nicht, tief zu atmen, und traten unwillkürlich mit leisen Sohlen auf die Holzplanken, denn die Nacht und Pracht der Gestirne über uns war sehr groß.

Der Wikinger legte sich auf eine Bank und schaute in den Himmel hinauf, ich setzte mich neben seine großen dunkel aufragenden Füße nieder. Nach einer geraumen Weile fragte er: »Wissen Sie in dem flirrenden Feuergewimmel Bescheid?«

»Nicht allzu genau«, erwiderte ich, »und Sie?«

»Wie eine verliebte Frau in ihrem Schmuckkasten!« sagte er leise vor sich hin.

Wir schauten beide eine Weile still hinauf und hin und her, dann fragte ich, mit der Hand zum Himmel deutend: »Der große Stern dort ist doch der Sirius?« 74

»Ja«, erwiderte Hjalmar. »Seine Exzellenz treiben es heute besonders arg. Bald schlägt er mit seiner blauen an seine rote und bald mit seiner roten an seine blaue Fackel, daß die Funken stieben. Ich bilde mir nämlich ein, daß dort oben der alte Goethe sitzt, aber nicht so abgeklärt und unbewegt, wie der Eckermann ihn Euch hat aufbinden wollen, sondern funkelnd und dämonisch, wie er in Wirklichkeit war. Blau, rot und grün stiebt er zornig seine ewige Lehre ins Dunkel hinaus: ›Ehrfurcht vor jeglichem über uns, Ehrfurcht vor jeglichem um uns, Ehrfurcht vor jeglichem unter uns!‹ Die Astronomen reihen den vergleichlosen Sirius in die Gruppe der Sterne erster Größe, aber sie geben wenigstens zu, daß er der hellste Stern am Himmel sei. – Blicken Sie dort höher hinauf, noch höher, ich meine das Lichtquirlen und Funkenzittern genau über uns. Ist es nicht, als umhege wer mit seinen zur Schale geformten Händen aufsprühende, auftanzende, regenbogenfarbene, diamantengeschliffene Töne und Klänge?«

»Ja«, sagte ich, »ich sehe die Sterne! Wie nennt man sie?«

Hjalmar lachte leise: »Das soll das Haar der Berenike sein! Befremdlich, nicht wahr? Die Dame lebte zweihundertundfünfzig Jahre vor Christi Geburt und war mit dem ägyptischen König Ptolemäus Euergetes verehelicht. Sie schnitt sich ihr vermutlich schönes Haar ab, sandte es aber nicht, wie weiland die große französische Ninon ihrem zeitweilig Geliebten in einem Weidenkorbe zu, sondern die fromme Dame weihte es den Göttern und die transportierten es flugs in den Himmel hinauf.«

»Sie scheinen mit dieser Deutung des Sternbildes 75 nicht einverstanden zu sein«, sagte ich lächelnd. »Weiß Gott nicht!« erwiderte Hjalmar. »Schließen Sie die Augen und lauschen Sie, anstatt zu schauen.« Und leise summte er mit immer neuem Entzücken bald diese, bald jene Melodie aus Mozarts Figaro vor sich hin. »Tönt es so nicht groß, süß, erhaben und zärtlich von dorther in alle Ewigkeiten hinein?« fragte er.

»Haben Sie dergestalt den ganzen Sternenhimmel für sich umbenannt?« fragte ich.

»Einigermaßen«, erwiderte er. »Lachen Sie nicht darüber. Was bedeuteten mir anders schließlich die Gaskugeln dort oben mit ihrer verschieden heißen Glut, ihrer verschiedenen Dichte, ihren verschiedenen Entfernungen an Lichtjahren und ihren Namen, die ihnen dieser oder jener kühle Kopf zu geben beliebt hat. Auf meine Art habe ich gewissermaßen meinen eigenen Himmel voller Bedeutsamkeit für mein Erdendasein und kann mir zudem über der Berenike Haar und gar über die Zwillinge ins Fäustchen lachen.«

»Und wo hängen Ihre Philosophen?« fragte ich ihn mit wirklich großer heiterer Neugierde.

Der Wikinger richtete sich auf und hob seine große Hand: »Die alten Herren wollen Sie sehen? Schauen Sie dort die an ihren Enden nach oben gehobene Girlande aus hellen, kalten, festen, leidenschaftslosen Feuern, in ihrer Mitte hängt gewichtig und schwer und wunderbar das hellste der erhabenen kristallenen Lichtgebilde.«

»Das dürfte dann wohl der große Grieche sein,« fragte ich vergnügt. »Bravo!« erwiderte Hjalmar. »Die Astronomen nennen diesen Stern Gemma, dem ganzen Lichtmal des europäischen 76 philosophischen Denkens am Nachthimmel der Welt haben sie jedoch wenigstens die immerhin bedeutsame Bezeichnung ›Die Krone‹ verliehen.« Hjalmar legte sich wieder auf den Rücken, und schweigend verloren wir uns beide in den Anblick des ewig unbegreiflichen Brandes der Himmelsfeuer. Nach einer Weile sagte der Wikinger: »Wie schön ist übrigens Euer deutsches Wort ›Balsam‹. Fühlt man sich heute abend nicht versucht, von den unendlichen balsamischen Gefilden der Sternennacht zu sprechen? Wissen Sie, warum mich dieser Anblick jedesmal wirklich mit großem Trost und großer Zuversicht erfüllt? All diese Sterne kreisen dort droben doch nicht von ungefähr, es sind ihrer sechstausend, die allein unser bloßes Auge erkennen kann, und so viele Menschen, trotz all der Milliarden, die über die Erde gegangen sind, haben sich noch nicht ein Recht erworben, von mir an den Himmel genagelt zu werden. Wir dürfen also getrost der allgemeinen und unserer besonderen Zukunft entgegenleben.«

Plötzlich lachte Hjalmar heiter und ausgelassen auf: »Können Sie dort oben im hellsten und gedrängtesten Geflimmer den völlig lichtlosen, pechschwarzen Beutel erkennen, in den niemals ein Schimmer dringen wird? Das ist der sogenannte Kohlensack. Ihm lege ich oft den Namen desjenigen armen irdischen Kohlensackes bei, über den ich mich hienieden gerade am tiefsten erbost habe.«

»Auf welchen Namen würden Sie denn heute nacht den Kohlensack taufen?«

»Heute nacht habe ich keinerlei Zorn im Herzen, sondern nur eine große Wehmut, und die vergleitet namenlos im hellsten Geflimmer.« 77

Wir sprachen nun beide nicht mehr. Mir war, als hebe sich der Dampfer auf immer höher wachsende Dünungen hinauf, um weich in immer tiefere Wogentäler hinabzutauchen.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich vom Öffnen meiner Kabinentür. Der Kapitän Rognald Götsche trat mit der Nachricht an meine Koje, daß wir Nacht über den Wind im Rücken gehabt, Segel gesetzt und daher sehr beschleunigte Fahrt und eine Knotenzahl hinter uns gebracht hätten, wie sie der »Christian Broberg« zu leisten nur sehr selten bereit sei, wir würden daher beträchtlich früher in den Hafen einlaufen, als vorausberechnet gewesen, ihm sei das sehr recht, denn umso früher könne es aus dem verdammten Nest in See gehen; zwar wisse er nicht, welchen Schwierigkeiten dem Löschen seiner Fracht, die aus verschiedenen großen Maschinen bestünde, entgegenstehen würden und ob neue Fracht ihn im Hafen erwarte, jedenfalls wecke er mich, damit ich mich mit dem Packen meiner Siebensachen später nicht zu hetzen brauchte. Auch würde ich ja wohl in aller Gemächlichkeit meinen Abschied vom dänischen Frühstück feiern wollen.

Obwohl ich mein großes Gepäck bereits am Abend vorher ziemlich vollständig gerichtet hatte, sprang ich dennoch in der hastigen Aufregung aus dem Bett, die uns auf See beim Herannahen des Hafens zu überkommen pflegt, indem wir unseren Fuß wieder auf die vertraute feste Erde setzen wollen. Es war in der Tat noch sehr früh am Morgen. Ich packte meine Koffer zu Ende und ließ sie in der Kabine stehen, damit der Steward sie inzwischen an Deck holen könne. 78

Als ich an Hjalmar Harfagrs Kabinentür vorbeikam, wunderte ich mich, daß sie zu einem Spalt geöffnet stand. Ich nahm an, daß er erwacht sei und sie aufgedrückt habe, damit ich mich von ihm verabschieden möge. Ich öffnete sie daher leise. Ingeborg lag am Fußende des Bettes auf der Decke und hob blinzelnd den Kopf. Der Wikinger jedoch schlief. Ich begriff, daß er seine Kabinentür die Nacht über nur anlehnte, damit Ingeborg zur Erholung von ihren Kindern ihn von Zeit zu Zeit besuchen könne.

Ein schlafendes Menschenantlitz ist entweder ganz im Körperlichen oder ganz im Seelischen untergesunken. Es ist entweder ein fest verschlossenes Buch mit sieben Siegeln oder ein himmelweit geöffnetes, dessen fast leuchtende Schrift sich mühelos entziffern läßt. Das vor mir tief schlafende Antlitz war voller kindlicher Männlichkeit und großer Güte. Durch seinen lichten Himmel wetterleuchteten von Zeit zu Zeit in kurzem Aufzucken Strahlen, die, gewissermaßen in allen Farben des Regenbogens wechselnd, bunt glimmten und schillerten. Es war wie Lächeln, Lachen, Grimmen und Weinen, Regungen, die voreinander zurückwichen oder sich überspielten, um dann wieder in die regungslose Lichtheit des Gesichtshimmels erlöschend einzugehen. Ich weiß nicht, warum mich, während ich dergestalt auf Hjalmars schlafendes Angesicht schaute, ein Gefühl weher Betroffenheit überschlich und zugleich das Bewußtsein, wider seinen Willen zu handeln. Es drängte mich, ihn zu wecken, um ihn wissen zu lassen, daß ich ihn gesehen, aber dann zog ich die Tür wiederum leise bis zum Anschlag zurück und stieg mit einem zwiespältigen Empfinden zur Gesellschaftskabine hinauf. 79

Der Frühstückstisch war für mich gedeckt. Der Steward hatte sich alle Mühe gegeben, ein letztes Mal Ehre vor mir einzulegen und mich dadurch zugleich zu ehren.

Während wir in den Hafen einfuhren, stand ich an Deck. Es war eine seltsame Einfahrt, denn die ziemlich tiefe Bucht wurde zur See hin durch eine schmale, in weitem Bogen vorgetriebene Mole, auf der ein Leuchtfeuer stand, so verengert, daß der Dampfer nur wie durch ein schmales Tor in den Hafen sich schieben konnte, ein waghalsiger Schutz gegen die oft gewaltigen Dünungen des breit heranflutenden Atlantik.

Nachdem wir vor der Einfahrt den Lotsen an Bord genommen, erwartete ich eigentlich bis zum Vertäuen des Dampfers an der Kaimauer von Augenblick zu Augenblick die Gestalt des Wikingers im Morgenlicht auftauchen zu sehen, aber er mochte, wie er es bisweilen tat, die Nacht bis zum Morgendämmer mit einem Buche verbracht haben und nun mit tief fortgesunkenen Sinnen sogar durch das unaufhörlich sich ändernde Stampfen des Maschinenkolbens nicht erwacht sein.

So verabschiedete ich mich denn vom Kapitän und dem wachhabenden Offizier und ging an Land, ohne Hjalmar Harfagr noch einmal gesehen zu haben. Auf dem Wege zum Gasthof tauchte sein schlafendes Antlitz ohne Unterlaß immer wieder vor meinem inneren Gesicht auf, und mir wollte dieses unser Auseinandergehen ohne eigentlichen Abschied allmählich immer seltsamer dünken, als berge es eine Bedeutung, deren Sinn mir einstweilen noch verborgen war.

Im Gasthof besorgte mir der Wirt mit beflissener 80 Hurtigkeit ein mit zwei gut genährten Maultieren bespanntes, etwas klappriges Gefährt, und ich machte mich darin auf den Weg zu dem Landhause des Weinhändlers, dessen Liebhaberei die Ausgrabungen, die ich zu besichtigen hergekommen, zu verdanken waren, und der auch die Hut der gefundenen Stücke in einem kleinen, von ihm gestifteten und neben seiner Villa errichteten Museum übernommen hatte. Mein ungefähres Eintreffen hatte ich ihm am Tage meiner Abfahrt telegrafisch gemeldet, und so wurde ich denn nach beinahe einstündiger Fahrt mit aufgeregter Feierlichkeit und spanischer Grandezza empfangen.

Welch eine seltsame menschliche Erscheinung ist doch jeder echte Sonderling, dessen Leben in der Hingabe an eine Leidenschaft sich vollendet! In der großen allgemeinen Welt weilt er gewissermaßen nur zu Besuch und fühlt sich zu Hause nur in dem Gehege seiner Liebhaberei, woraus sie auch immer erbaut sein mag.

Don José Servedras war eine der seltsamsten und liebenswürdigsten Erscheinungen dieser absonderlichen Menschenart, der ich je begegnet bin. – Einzelne in Hauswände vermauerte antike Bauglieder, hie und dort in der Nähe seines Städtchens von Bauern aus ihren Äckern heraufgepflügte, mit dem Meißel bearbeitete Steine hatten ihn schon in jungen Jahren zu der Überzeugung gebracht, daß eine römische, wenn nicht gar eine griechische Siedlung in der Umgegend seiner Geburtsstadt, geheimnisvoll unter der Erde verschüttet, in unbekannten Tiefen schlummern mußte. Dem mutmaßlichen Orte dieser Siedlung nachzuspüren, wurde dann fortan sein eigentlicher Lebensinhalt, und als er schließlich, 81 vom Finderglück und einigen klugen Mutmaßungen begünstigt, bei ersten Versuchsgrabungen auf die Grundmauern der erhofften Siedlung und ihrer heiligen Bauten stieß, kannte seine stolze Entzückung keine Hemmnisse mehr. Er verwandte sein im Weinhandel erworbenes und sich stetig mehrendes Vermögen dazu, die antike Stätte mustergültig bloßzulegen, den künstlerisch belanglosen Einzelfunden aus römischer Zeit ein Haus zu errichten und in emsigem Studium auf eigene Faust eine Art Altertumskenner zu werden. Für die allgemeine Wissenschaft selbst war die geographische Lage der Fundstätte auf spanischem Boden nicht ohne Interesse und Bedeutung, und so war ich hergekommen, um die Veröffentlichungen, Vermessungen und Datierungen des begeisterten, phantasievollen Autodidakten nachzuprüfen und die Ergebnisse auf festerer Grundlage zu sichern.

Nach einem sehr herrlichen Glase Wein, sehr herrlichen eingelegten Oliven, Ziegenkäse und blütenweißem Brot zeigte mir Don José seinen verwunderlich angelegten und sehr gepflegten Garten, in dem sich hie und da um neu in die Erde gelassene antike Säulenschäfte Efeu, süßduftendes Heliotrop und Passionsblumen rankten, paradiesisch genug, um das Herz des Nordländers mit neidischer Sehnsucht zu erfüllen. Im Hintergrunde des Gartens traten wir dann in das Museum, dessen schlichter und sachlicher Bau meine wachsende Achtung für Don José beträchtlich steigerte. Während seine schlanken hageren alten sonnenverbrannten Hände den Schlüssel in die Museumstür einführten, zitterten sie vor Erregung. Die Zahl und die handwerkliche Arbeit der aufgestellten Bauteile und römischen 82 Torsen, die für Don Josés Augen und sein liebendes Herz alle Schönheit klassischer Bildwerke ausstrahlten, verrieten, daß die römische Siedlung, die er aus dem Schoße der Erde gehoben, immerhin bedeutender und älter gewesen sein mußte, als man zunächst anzunehmen bereit sein konnte. Während ich mit einiger Eile von Stück zu Stück schritt, um mir eine schnelle Überschau zu verschaffen, spürte ich das Aufkeimen einer großen Enttäuschung in Don Josés Seele, der vor jedem seiner Heiligtümer wohl gerne bis zum Abend mit mir verweilt haben würde. Ich beeilte mich daher, ihm zu sagen, daß ich in den nächsten Tagen, nachdem ich mir am morgigen Vormittage das Ausgrabungsgebiet mit den bloßgelegten Fundamenten angesehen, dem Museum alle Zeit zu widmen beabsichtigte. Don José erwiderte mit mühsam gelassen erhaltener Stimme, er habe bestimmt gehofft, daß wir nach einem ausgiebigen Frühstück, zu dessen Bereitung er bereits Auftrag gegeben, meinen Wagen benützen möchten, um zu den Ausgrabungen hinauszufahren, damit ich sie sofort einmal durchschreiten könne, ehe ich meine Einzelstudien darin aufnähme.

Obwohl dieser Plan keineswegs meinen eigenen Absichten begegnete, konnte ich es dennoch nicht über mich bringen, dem alten, in seine ausgegrabene Welt verliebten Herrn eine Absage zu erteilen, und so willfahrte ich denn seiner Ungeduld, mich gewissermaßen im Fluge in den Mittelpunkt seines Lebens zu reißen.

Nach letzten Endes doch allzu schnell vergangenen Stunden in Sonne und Staub hielt mein Wagen in der im Süden kurz bemessenen Scheide zwischen Tag und Dämmerung wieder vor meinem Gasthof. 83 Ich war recht müde geworden und ging schnell in mein Zimmer hinauf, um mir den Wegstaub vom Gesicht zu waschen.

Während ich meine Augen in den nassen, kühlenden Schwamm gepreßt hielt, schlug plötzlich ein Klang an mein Ohr, den ich noch zwischen den Trompeten des Jüngsten Gerichtes wiedererkannt haben würde: der mit dumpfem Dröhnen beginnende und dann in ein betäubendes, ohrzerreißendes Heulen übergehende Klang der Dampfpfeife des »Christian Broberg«, der mich eine ganze Nebelnacht lang erschreckt und gequält hatte. Noch ehe mein Kopf einen klaren Gedanken gefaßt, lief ich mit nassem Gesicht, erst auf der Treppe in meine Jacke fahrend, die Stufen hinunter und auf die Straße hinaus. Der Wirt rief mir nach: »Der große englische Dampfer fährt ab.« Ich lief mitten auf dem Fahrdamm so schnell ich nur irgend vermochte zu dem hinter der ersten Häuserzeile sich öffnenden Hafen hinunter. Wie konnte es geschehen sein, daß der »Christian Broberg« erst jetzt in See ging? Als ich dann den Hafenkai erreichte, hatte der Dampfer schon abgesetzt, ich rief und winkte wild mit den Armen. Hjalmar Harfagrs große Gestalt ragte neben der Gestalt des Kapitäns auf der Brücke empor. Er winkte zurück und rief etwas. Ich konnte es nicht verstehen. Während der Dampfer langsam auf der Stelle zu wenden begann, um die Spitze in die Richtung zur Einfahrt zu kehren, verschwand der Wikinger von der Brücke, und in wenigen Augenblicken tauchte seine Gestalt achtern auf, er beugte sich über die Bordwand, legte seine Hände um den Mund und rief mir zu: »Griechischen Göttern begegnet?« 84

»Ja! In römischen Leibern«, schrie ich zurück. Immer weiter glitt der Dampfer vom Kai. Noch einmal rief Hjalmar etwas durch das Hohl seiner Hände zu mir herüber, aber der Abstand war zu groß geworden, ich konnte seinen Ruf nicht mehr verstehen. Langsam stampfte der Dampfer voran und löste sich mit jedem Kolbenschlage unerbittlicher von mir und der festen Erde.

Da erinnerte ich mich der schmalen Einfahrt an der Spitze der Mole und begann, dorthin zu laufen. Es konnte gut sein, daß ich die Einfahrt zugleich mit dem Dampfer erreichen würde. Es begann bereits sehr stark zu dämmern, und während meines Laufes setzte der Dampfer die Lichter. Ich weiß nicht, warum ich diesen Wettlauf mit dem langsam der Einfahrt zustampfenden Schiffe und dem schwindenden Tage unternahm, aber mir war zumute, als würde ich etwas Unwiderbringliches einbüßen, wenn mir der Wettlauf nicht gelänge. Ich erreichte das Leuchtfeuer in dem gleichen Augenblick, in dem die Schiffsspitze in die Ausfahrt bog. Der Wikinger stand wiederum auf der Brücke, aber der Dampfer fuhr nun mit halber Kraft, und ich erkannte mit einer gewissen Enttäuschung und Bangigkeit, daß ein Ruf von mir zum Schiff hinüber und ein Ruf Hjalmars vom Schiff zur Erde her unser Ohr nicht mehr erreichen, sondern schon unterwegs in der Luft als leerer Schall dahinsterben würde. Auch der Wikinger mußte dies erkannt haben, denn er streckte seinen Arm nur noch hoch in die Luft empor, ich antwortete mit der gleichen Gebärde des Verzichtes, und dann dauerte es nur wenige Augenblicke, und die Umrisse des Dampfers verschwammen tiefer und tiefer im blauen Halbschatten des 85 herabsinkenden Abends. Aus diesem wachsenden Blau nun tönte plötzlich dennoch die Stimme Hjalmar Harfagrs noch einmal an mein Ohr. Sie war gewissermaßen riesengroß, aber seltsam verdumpft und verschoben. Er mußte das Nebelhorn vor seinen Mund gesetzt haben und ahmte nun lang gezogen den schweren schwebenden Gebetsruf nach, der allabendlich von allen arabischen Minarets herabtönt: »La – ilah – ila – 'llah.« Es klang hallend, weit, traurig und ein wenig schaurig zugleich und rührte mich seltsam an. Und während dieser schwermütige Hall mein Ohr traf, sah ich im Geiste hinter dem Mundstück des Nebelhorns des Wikingers von Trauer und von Mutwillen zugleich überstrahltes Antlitz, das sich wahrscheinlich auf diesen Einfall für einen Abschiedsgruß und für das spöttische Verhüllen eines Abschiedschmerzes etwas zugute tat. »Außer Gott kein Gott!«

Bald konnte ich nicht mehr entscheiden, ob die fernen Lichter, die ich sah, noch die Lichter des entgleitenden Dampfers oder auftauchende Sterne am unteren Himmel waren. Das Blau der Nacht hatte die Welt ganz überzogen. Es wurde empfindlich kühl. Langsam schritt ich am Rande des »Wassers in die Stadt zurück. 86

 


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