Ernst Hardt
Don Hjalmar
Ernst Hardt

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Nicht zu meiner Schande, sondern gewissermaßen zu meiner Genugtuung über das gesunde Ausgleichsvermögen meines Körpers und meiner Sinne habe ich zu gestehen, daß ich am nächsten Morgen die Stunde des gemeinsamen Frühstücks verschlief. Als ich die große Kajüte betrat, war niemand mehr dort, das Geschirr außer dem meinen war schon fortgeräumt, der einladende Reichtum der Frühstückstafel jedoch stand rings um meinen Teller aufgebaut, und kaum hatte ich mich niedergesetzt, brachte mir der Steward eine große Kanne dampfenden Kaffees für mich allein. Meine Eßlust verriet, wie sehr ausgeruht ich war. Nachdem ich dann den Kapitän auf der Brücke begrüßt und eine verständnisvoll lachend zurückgewiesene Entschuldigung über meine Verspätung vorgebracht hatte, ging ich über den Dampfer, um nach Hjalmar Harfagr zu suchen. Er lag am Schiffsschnabel im gerollten Ankertau und las in einem Buch. Unseres Begrüßungsgesprächs eingedenk, machte ich mich davon, ohne ihn anzusprechen.

Gottes große Herrlichkeit war prangend um mich aufgebaut. Ich setzte mich in die Sonne und genoß es, zu sein und zu atmen.

Nach Ablauf etlicher Stunden oder Ewigkeiten trat Hjalmar Harfagr zu mir und setzte sich neben mich: »Sie schlafen ja wie ein Held«, sagte er. »Ich habe schon die Sonne aufgehen sehen.« Eifrig fügte er dann hinzu: Diego finge bereits an, sich zu entwickeln. Vor allem der Velasquezfleck auf seiner 28 Pfote sei über Nacht erstaunlich gewachsen. Da seine Mutter im übrigen eine vollkommene Dame sei, habe Diego die allerbesten Erbaussichten.

Ich fragte Hjalmar, welche Eigenschaften seinem Dafürhalten nach notwendig seien, damit das Wesen der vollkommenen Dame zustande käme?

»Maß und Gemessenheit, Zurückhaltung und Abstand und die blutmäßige Unmöglichkeit, eine der drei immer schändlichen, das heißt schändenden Sünden zu begehen.«

»Und welche Sünden sind das?«

»Lügen, Stehlen und gedehnter Giftmord. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Anstand Ingeborg gestern gewimmert hat, während sie Diego gebar. Und haben Sie sie etwa schon einmal bellen hören?«

Auf Hjalmars rechter Hand unterhalb des Mittelfingerknöchels fleckte ein olivfarbenes Muttermal seine helle Haut. Er hatte das Mundstück seiner Pfeife hineingedrückt und drehte sie nach rechts und nach links, als sei sie ein Bohrer oder ein Korkenzieher. Mich kam ein Lächeln an, und ich fragte ihn, ob dieses Muttermal etwa ein Vatermal sei und schon die Hand seines Vorfahren Rurik gefleckt habe? Hjalmar erwiderte, man könne das nicht genau wissen, da der König Rurik weder von Velasquez noch von sonst jemandem gemalt worden sei. Abgesehen von diesem Fleck aber sei seine Abstammung ziemlich gesichert. Während die Römer damals schon jahrhundertelang geröstete Fischlebern in einer Tunke aus Salbei und jungen Oliven gegessen, hätten seine Vorfahren um die gleiche Zeit noch Renntierfleisch mit den Fingern zerrissen und roh verschlungen, und während die Römer zu 29 ihrem Zeitvertreib Statuen gemeißelt und Bilder gemalt, wären seine Vorfahren bestenfalls kegeln gegangen. Nichtsdestoweniger hätten seine Rassevorderen die Küsten des Frankenreiches erobert, Aachen, Köln, Metz, Mainz, Paris geplündert und niedergebrannt, seien in England, Island und Grönland an Land geklettert und ebenso in Unteritalien und in Rußland. Amerika hätten sie vierhundert Jahre vor Kolumbus entdeckt. Sein Vorfahr, der König Rurik, ob er nun das gleiche Muttermal an der rechten Hand gehabt habe oder nicht, sei der Begründer der russischen Kolonie gewesen. Einige seiner Söhne jedoch hätten noch zuviel Seehundsblut in den Adern gehabt, um auf dem Acker zu bleiben. Sie seien nach einem Umwege, der zwei Jahrhunderte angedauert, nach Norwegen gekommen und dort dann für immer ans Land gekrochen. Und seit dieser endgültigen Vertauschung der Wasserwoge mit der Erdscholle habe ihre Geschichte in ihm ihr unrühmliches Ende gefunden. Er sei kein Seefahrer und auch kein Bauer mehr, sondern ein Bauernjunge, der Philosophie studiert habe und jetzt nach dem Süden fahre, da es ihm oben zu kalt geworden sei. Ich fragte, warum er denn gerade der Seßhaftigkeit seiner näheren Voreltern einen so großen Teil der Schuld an seinem Philosophiestudium beimesse? Er erwiderte, seine Vorderen, die Seefahrer, hätten die Frauen aller Völker, aller Stämme, aller Zonen an sich gerissen, und in ihren Kindern ihr Blut sich untertan gemacht oder das ihre in diesen Kindern mit dem Blute der Frauen vermischt oder es dem Frauenblute sogar untertan werden lassen, und so sei ein Volk entstanden, das zwar keiner reinen Rasse zugehört, aber Rasse 30 gehabt habe. Nachdem sie seßhaft geworden, seien sie langsam sozusagen eine reine Rasse geworden, aus der alle Kraft des Ursprünglichen verdunstet sei, wie aus einem alten Faß das Aroma des Weines verdunste, wenn es nicht aufgefüllt wird. In ihm seien gewissermaßen nur die Gespenster seiner Rasse zurückgeblieben, und wenn die spukten, könne er in seiner eigenen Seele das Gruseln erlernen. Sobald man aufhöre, sich mit dem Außen der Welt zu begnügen, sondern anfange, sie von innen erfassen zu wollen, sei es eben aus! Mit diesen Worten stand er auf und ging schnell mit breitgesetzten Beinen auf dem stark schlingernden Schiff wie ein Seemann davon.

Ich sah ihn erst bei der Hauptmahlzeit wieder, die um sechs Uhr eingenommen wurde. Nachdem der Steward die Suppenteller vor uns niedergesetzt hatte, faltete der Kapitän für einen Augenblick seine Hände und sah unbewegten Auges auf sie nieder.

Es wäre falsch gewesen, diese bis zur Gewohnheit des Tischgebetes wache Frömmigkeit unseres Kapitäns dem Umstande zuzuschreiben, daß in ihm noch ein Hugenotte spukte, von dem er abzustammen glaubte, oder daß er mit der Tochter eines Pfarrers verheiratet war. Es gibt weder einen hohen noch einen niederen Seemann, der nicht auf die eine oder die andere Weise ein wenig fromm wäre. Es scheint zu sein, daß man sich auf dem Meere mehr als zu Lande in die Güte oder in den Zorn der Hände Gottes ganz gegeben fühlt, auch mag das wunderbare Kaleidoskop, zu dem auf See unter der steigenden und der sinkenden Sonne und zu allen Mond- und Sternenstunden das Weltall in ewigem 31 Wechsel sich formt, der Flachheit eines nicht Gott bezogenen Allgefühls allzu mächtig entgegenwirken.

Als Hjalmar der frommen Haltung des Kapitäns gewahr wurde, und ihre Ursache begriff, blähte sich sein Gesicht in einer Art froschhaften Empörung, und er sagte unvermittelt schroff und kurz: »Es gibt keinen Gott!«

Die überraschende Ungezogenheit Hjalmars wirkte zunächst wie ein Knall, der für einen Augenblick betäubte und starr machte. Als ich aus meinem Erschrecken aufwachte, fühlte ich das kippende Auf und Nieder der Kajüte stärker als vorher, sah, daß der Kapitän aufgestanden war und hörte seine Stimme laut sagen: Er wünsche, daß an Bord seines Schiffes derartige Äußerungen nicht getan würden, er würde sich auch niemals herablassen, über dergleichen Anschauungen zu streiten. In jedem Falle aber möge Herr Harfagr wissen, daß Gott ihm persönlich den Beweis seines Daseins gegeben habe! – Und mit diesen entschiedenen Worten schickte sich der Kapitän an, die Kajüte zu verlassen.

Hjalmar, alles Blut in seinem hellen Gesicht, stand ebenfalls aufrecht und in einem Nu hatten seine langen schweren Arme die ein wenig untersetzte Gestalt des Kapitäns fest umschlungen, und wie ein gutartiger, aber schlauer Junge, der seine Mama gekränkt hat und ihr abbittet, brachte er nun innig, aufrichtig und ernst hervor: »Mein lieber Kapitän, Sie haben mir heute einen Hund geschenkt, auf den ich stolz bin und um dessenwillen ich Sie immer liebhaben werde. Sie dürfen im Leben niemals mehr mit mir böse werden. Ich glaube aufrichtig, daß ich dessen nicht wert wäre. Was nun aber den Beweis 32 vom Dasein Gottes angeht, mit dem Sie begnadet zu sein glauben, so müssen Sie wissen, daß ich in die Welt fahre, wie es meine Vorfahren einst zu anderen Zielen getan haben, um einen Beweis vom Dasein Gottes zu erjagen. Es ist also Ihre Gottes- und Menschenpflicht, mir zu verzeihen, sich wieder ruhig auf Ihr Sofa zu setzen und uns den Ihnen gewordenen Beweis vom Dasein Gottes zu erzählen. Wir sind doch Männer, die schon den Mut haben könnten, ihre Erlebnisse und ihre Gedanken mit einander auszutauschen. Bitte, bitte, lieber Kapitän . .  es wäre sonst ja, als wollten Sie jemandem, der Durst hat, ein Wasser verweigern, um das er Sie bittet.«

Hjalmar hatte mit einer so wirksamen Jungenhaftigkeit gesprochen, daß der gutmütige Kapitän unwillkürlich zögerte, und schon wurde er von den mächtigen Armen Hjalmars, der zugleich das Gesicht des Kapitäns zwischen seine großen Handflächen genommen hatte, auf das Sofa zurückgedrückt. Dann setzte sich auch Hjalmar. Meinen Fuß, den ich mit einiger Wucht gegen sein Schienbein gestoßen hatte, schien er nicht gespürt zu haben. Jetzt aber stand der erste Offizier auf, holte seine Mütze vom Haken und verließ die Kabine.

Wir anderen warteten.

Mit einer nur allmählich freiwerdenden, seltsam belegten Stimme hub der Kapitän zu sprechen an: »Ich fuhr als junger Kapitän, es war meine erste Fahrt unter solcher Verantwortung, mit einem neu erbauten Schiff durch den Kanal. Die Kompasse differierten noch alle. Seit Kopenhagen hatten wir Nebel. Feuchte graue Watte. In der dritten Nacht, mindestens eine Stunde lang, hörten wir auch nicht 33 eine Schiffssirene mehr! Schließlich mußte ich mir eingestehen, daß ich vom Kurs abgekommen sei und nicht mehr wußte, wo das Schiff lag. Ich hatte fünfundzwanzig Mann Besatzung an Bord, dazu drei Offiziere, zwei Passagiere, meine beiden Kinder und ihre Bonne. Ich ließ abstoppen und loten. Wir hatten noch tiefes Wasser unter dem Schiff, aber die Tiefe geht ja stellenweise über die Riffe hinweg bis an die Felsen der Küste. Meine Offiziere wußten, wie es stand, und auch die Mannschaft wußte es. Der Mann an der Sirene zog dreimal in der Minute dreimal die Leine, als könne ihr verzweifeltes Geheul uns irgendwie helfen. Niemals eine Antwort. Die See ging ziemlich hoch. Einzelne meiner Leute wurden auf dem schlingernden, noch nicht voll geladenen Kasten seekrank. Mein Latein, Herr Harfagr, ging immer mehr zu Ende. Da habe ich dann zu dem gesprochen, der Herr ist über die Erde, denn meine Not war sehr groß. Danach ging ich mit dem Schiff langsam voran. Was sollte ich anderes tun? Nach Ablauf von etwa zehn Minuten vollzog sich vor unser aller Augen etwas, das niemand von uns Seeleuten bisher erlebt hatte, und ich auch niemals später, obwohl ich nun dreißig Jahre zur See fahre, noch einmal erlebt habe. Ganz allmählich hob sich vor uns auf dem Wasser der Nebel, als würde ein Vorhang an einer Schnur emporgezogen, so daß wir den Fahrschaum und die Wellen sehen konnten. Ich stoppte wiederum ab und beobachtete das langsame weißliche Aufwärtsgleiten, das jedoch nur vor und nicht auch seitlich des Schiffes eingesetzt hatte. Die wachsende Klarheit vor uns, in die allmählich etwas Licht vom Himmel her herabsickerte, nahm mehr und mehr zu, und 34 plötzlich standen auf Leinenwurf vor unserem Schiff, hart und fest im Mondlicht, die schroffen Felsen der englischen Küste. Noch wenige Minuten voran und unser Dampfer wäre bei dem herrschenden Seegang an ihnen zerschellt und zerschlagen worden. Ich konnte beidrehen, den Kurs südlich nehmen und mich langsam auf die Kanalroute zurücktasten. Mit dem Aufgang der Sonne bekamen wir klare Sicht.«

Wir drei Männer hatten in einer Art Andächtigkeit regungslos dagesessen und vor uns niedergeblickt, sogar während der Steward die Suppenteller fortnahm und das Hauptgericht auf den Tisch stellte, hatten wir uns nicht bewegt.

In dieser Haltung sagte Hjalmar Harfagr nun sehr langsam: »Der Herr der Erde hatte also für den Kapitän Rognald Götsche mit seiner großen Hand aus dem Himmel herniedergegriffen und an einer Stelle seiner großen Welt wider alles Gesetz die Nebel für den Kapitän Rognald Götsche in die Höhe gezogen!«

Hjalmars Haltung löste sich und er zog eine Schüssel zu sich heran. »Glaubt der Kapitän Rognald Götsche, daß auch die Tiere einen Gott haben?«

Mit dänischer Lebhaftigkeit erwiderte der Kapitän, ja, das glaube er zuversichtlich! Da die Tiere Wesen der Schöpfung Gottes seien, hätten sie genau so einen Gott wie der Mensch. Hjalmar begann, seinen Teller zu füllen: »Denselben gleichen Gott also?«

Der Kapitän stutzte eine Sekunde lang, dann rief er: »Aber natürlich doch, denselben Gott, welchen anderen sollten sie sonst haben? Es gibt nur einen Gott!« 35

»Nun sehen Sie, mein lieber, guter Kapitän«, sagte Hjalmar Harfagr, indem er die Schüssel näher an den Kapitän schob und selber mit gespieltem Gleichmut zu essen begann: »Während Sie in jener Nacht voller Not und Herzensangst zu Ihrem großen Menschengotte beteten und ihn verführen und überreden wollten, in den folgerichtigen Ablauf der Welt, die er geschaffen, zu Ihrem und der Ihren Gunsten mit einem Wunder einzugreifen, zu der gleichen Zeit schwammen um Ihr Schiff armselige, verhungerte Haifische, Männer, Frauen und Kinder, Haifische, von denen es in der Schöpfungsgeschichte heißt: ›Und Gott schuf große Haifische und segnete sie und sprach, wachset und mehret Euch und erfreuet Euch in Eurem Gott‹, und der Älteste von ihnen, der sich in seinem Stolze und gemäß seiner Fähigkeiten für alle anderen verantwortlich fühlte, der sprach zu eben diesem Gotte, den er sich allerdings in seiner Seele wahrlich nicht nach Ihrem, ihm doch sehr verhaßten, sondern vielmehr nach seinem eignen Bilde als einen großen, wunderschönen Haifisch vorstellte, hub an und sprach also: ›In diesem Jahre, Herr, sind die Heringszüge, von denen wir leben, einen anderen Weg gefahren, so daß wir sie verfehlt haben, und auch sonst sind in diesem englischen Gewässer, in das ich mit den Meinen geraten bin, die Fische spärlich. Es ist sehr früh kalt geworden, und sie halten sich alle am Golfstrome, und so ist es gekommen, daß wir großen Hunger leiden und unsere Kleinen kaum noch schwimmen können. Jetzt aber, da ich zu dir bete, Herr, fährt gerade über uns eines von den häßlichen Ungeheuern, die unsere Wasser verunreinigen, darinnen sind fette Menschen, sie müssen etwas sehr 36 Unkluges getan haben, daß sie so dicht vor diese Felsen geraten sind, oder du selber, Herr, hast es um unseretwillen gefügt, daß sie sie nicht gesehen haben, und so bitte ich dich denn in der großen Not unseres Hungers flehentlich, laß doch diesen verdammten Kapitän Rognald Götsche mit seinen fünfundzwanzig Mann, und wen er sonst noch bei sich hat, hier zu Wasser kommen, damit wir alle samt unseren Frauen und unseren Kindern nicht Hungers sterben, sondern am Leben bleiben.‹

Sie haben, mein lieber Kapitän, Ihren Beweis vom Dasein Gottes nun wohl gerade darin erlebt, daß er Ihre Bitte erhörte und Sie und die Ihren errettete, während er die frommen Haifische, die er nach Ihren eigenen Worten ja auch geschaffen und denen ein sehr frommer und sehr wunderbarer Mann, der heilige Franziskus nämlich, sogar gepredigt hat, um des Kapitän Rognald Götsche willen elendiglich zu Grunde gehen ließ. – Bei Gott«, rief Hjalmar Harfagr nun, »wenn ich je Ursache hätte, mir einzubilden, Gott liebe mich mehr als irgendein anderes Geschöpf seiner Welt, so würde ich sie verlassen, in ein Kloster gehen und aus großem Stolze und aus großer Freude ihm fortan allein dienen! Bisher aber hat Gott in seiner gewaltigen Gerechtigkeit solches noch nicht getan!« Nach diesen mit wilder Heftigkeit ausgestoßenen Worten fuhr Hjalmar vom Tisch auf und lief in seine Kabine.

»Welch ein verzweifelter Mensch!« sagte der Kapitän nach einer Weile.

Es begegnet in der Natur bisweilen, daß ein von uns nicht vorhergesehenes, überraschendes Geschehen plötzlich hereinbricht und uns erschreckt und verwirrt. Aus tiefer Windstille springt eine 37 quirlende Luft auf, wütet sekundenlang, bringt unser Segelboot fast zum Kentern und vergeht dann wieder in der hauchlosen Stille, oder aus dem heitersten Glast eines wolkenlosen Himmels prasseln sekundenlang Regentropfen auf uns hernieder wie kleine kalte Steine und färben die grauen Straßen schwarz, aber schon verdampft die Nässe wieder in der unbewegten Sonne, uns aber bannt noch eine Weile lang ein banger Schrecken. – Erst allmählich wurde mir bewußt, daß ich eben im Verlauf eines Tischgespräches plötzlich den äußersten Notschrei einer Menschenseele vernommen hatte.

Der Kapitän, der zweite Offizier und ich brachten unsere Mahlzeit schweigend zu Ende. Hjalmar kehrte nicht zurück.

Ich begab mich auf Deck. Meer und Himmel lagen im Abend, auf eine Art, deren wunderbare Farbenfeierlichkeit mir fast den Atem benahm. Sie kennen jene großen Ara, deren veilchenhaft blaugrauer Daunenflaum am Kopf, an den Flügeln und an dem langen, bogig herabhängenden Schwanze unter flammend rote und brennend gelbe Federn von fast wollüstiger Pracht sich verliert. Die Welt rings um mich sah so aus, als habe ein solcher Vogel von überirdischen Ausmaßen unter dem hohen grünlichen Himmel auf das blanke Meer sich zum Sterben gelegt. Und während er seine Seele aushauchte und langsam untersank, lösten sich die Farben von seinem Gefieder, verfärbten weich ausfließend die Wasser und wurden von dorther höher und höher an den Himmel hinaufgesogen. Noch erkannte man auf dem mattgoldenen Spiegel die Gestalt des riesenhaften Vogelleibes. Der Kopf lag dort, wo die Sonne vor einer Weile am Himmelsrande verlöscht war, 38 während die gesträhnten Farben des Schwanzgefieders in einem weiten Bogen nach Osten verflossen. Und seltsam: während die Farbenpracht von Scharlach und chinesischem Gelb am Himmel und auf dem Meere mehr und mehr ins Dunkel sich kehrte und verglühend erstarb, schien auf dem Wasser und am Himmel der Rückstand des blaugrauen Rumpfgefieders nicht nur heller zu werden, sondern sich dampfig vom Wasser zu lösen und dunstig vom Himmel herniederzusinken, so als wolle der große Vogelleib, seiner bunten Pracht entkleidet, noch einmal zwischen Himmel und Erde in seinem blaugrauen Flaumgefieder körperhaft erstehen und als ein ungeheurer Phönix mit erhobenen Flügeln durch den Raum dahinfahren. Aber dann verschoben sich diese Bildungen ins Breite und ins Hohe, so daß die fedrigen Dünste des Wassers und des Himmels gestaltlos ineinander überflossen und gleichzeitig auf unser Schiff wie ein graugefärbter Wind einströmten. Und als ich zu der Kommandobrücke hinaufgehen wollte, mußte ich bereits auf die erste Stufe der schmalen Eisentreppe achten, denn wir waren mitten in dichtem Nebel.

Alles Licht, das noch in der Welt gewesen, wurde nun mehr und mehr von der gestaltlosen dunstigen Feuchte aufgesogen, die, weißlich grau und ohne Regung, unter den herabträufelnden Dunkelheiten des Himmels hing. Die Formen auf dem Schiff, sein Schornstein, seine Masten, seine Deckbauten, die Tag um Tag vor dem geschmeidigen Spiegel des Wassers oder dem fleckenlosen Glasschmelz der Luft wie etwas in die Ferne gerückte, aber um so festere und härter umrissene Körper dem Auge sich eingeprägt hatten, verschwammen jetzt hinter dem 39 feuchten Qualm des Nebels dunkel, nah, und spukhaft ins Übergroße gedunsen. Sie waren so sehr ins Körperlose gelöst, daß man wähnte, durch sie hindurchschreiten zu können wie durch eine etwas dichtere, tintig verfärbte Luft. Meine Hand vermied das Geländer der Treppe, als hätte das Holz unter ihrem Druck sich biegen und wie ein durch die Berührung zerstörter Nebelstreif verfliegen können. Das Maß, der Abstand und die Festigkeit der Dinge um mich waren zu einem schwankenden und schaukelnden Gespenstertanz verschoben, in dessen Mitte auch mein Herz unruhig sich zu regen begann.

Am Himmel, der über meinem Kopfe doch gewißlich noch sein mußte, schien die Dunkelheit der Nacht schneller zu wachsen, denn der grauenvolle Riesenschwamm des Nebels verwischte von Sekunde zu Sekunde wirksamer auch die letzten Tönungen des in die Feuchte ausgelaufenen Schattenaquarells. Eine Art grauverdampfter Nacht wuchs um mich zusammen, so dicht, daß alle Bängnisse des Nichtmehrsehenkönnens mich befielen. Ohne Beistand des ganz verblindeten Auges, das nur den Druck eines kühlen Dampfes auf seiner Wölbung fühlte, mußte der Körper alles Gleichgewicht und die Orientierung in der grauenhaft entleerten Welt, die wahrhaft zu einem Nichts geworden war, allein in sich selbst suchen und finden. Und die sonst so vertraute Schaukelkraft, die ihn durch die blinde Feuchte in immer gleichem Aufstieg und Abfall hoch hinauf und tief hinabschwang, schien ihm sinnlos, tückisch und böse geworden. Er fühlte sich überanstrengt und litt.

So wollte ich denn auf der Treppe, die meine Füße noch unter sich fühlten, einen Augenblick verhalten 40 und ausruhen, da wurde die Eintönigkeit rings um mich, Angst einflößend, von dem hohen Schrillen einer Glocke zerrissen, das sich wie ein Schmerz in mein Ohr fraß und es betäubte. Der groß und dumpf pochende Herzschlag, der den eisernen Leib des Schiffes in ständigem Beben gehalten, setzte aus. Mein Körper fühlte sich nach vorn gestoßen, ich stolperte über die letzte Treppenstufe und stürzte fallend auf die Kommandobrücke hinaus. Aber rechts von mir schnellte aus einem dunkleren Schattenschwaden ein Balken weich vor meine Brust und hielt meinen Sturz auf. Mein Körper fand sich ins Aufrechte zurück. Gleichzeitig brachen im graubraunen nassen Rauch der Finsternis matte Lichtflecken auf und dämmerten wie die Leuchtquallen, die man beim Tauchen bisweilen als milchige Scheine über dem Flaschengrün der Meerestiefe verschwommen sieht. Das Schiff hatte die Maschine gestoppt und zugleich seine Lichter gesetzt.

All mein Gefühl wurde nun allgewaltig eingefangen in eine weltenweite erschütternde Lautlosigkeit, in der ein Wassergleiten, fast zärtlich und leise metallisch klingend, an den Schiffswänden verrieselte.

Unser Schiff hatte mitten auf dem Meere in der grauen Schattenwildnis angehalten. Ohne Regung, auf und ab stieg und fiel der Erdball. Im Raum gab es nichts mehr als eben dieses große grauverdampfte Schweigen, in dem als letzter Laut das Wasserrieseln verklungen war. Und es gab unser eines Schiff, das seinen Atem angehalten hatte wie ein sich duckendes lauschendes Tier.

Die lautlosen Sekunden zerrannen in eine unberechenbare Zeit.

Plötzlich gellte dicht über meinem Kopf ein derart 41 entsetzliches Heulen auf, daß in allen meinen Knochen das Mark erschrak. Wie ein großer Donnerschlag folgte die Stille. Ich hörte in ihr das Klopfen meines eigenen Herzens, ich preßte meine Hände herauf, um den Ton zu ersticken, denn ich begriff wohl, daß mein Schiff, das so gellend laut aufgeschrieen hatte, nun so totenstill war, um mit unbändiger Gewalt, als ginge es um sein Leben, in die dunkle Wüste hinauszulauschen.

Und von eben dem Meere her, dessen Verlassenheit mich vor kurzem noch mit so seltsamer Wehmut erfüllt hatte, schrie es nun zurück. Von rechts und von links, von vorn und von rückwärts, von nah und von fern, echohaft heranhallend wie aus einer anderen Welt, grell heulend, hell fiepend, gläsern singend, dumpf orgelnd, vogelhaft kreischend schrieen Schiffe, die alle gleich uns sich einsam durch die Qual des Nebels kämpften, mit dem Schrei ihrer eignen Herzen aus metallener Kehle Antwort auf den heulenden Anruf unseres Schiffes, das im grauen Nichts stehen geblieben war, um zu lauschen.

Aus dem feuchten Schattenschwaden, der meinen Sturz aufgefangen hatte und der neben mir geblieben war, erklangen jetzt ruhig die Worte: »Drei Steuerbord, einer Backbord voraus, einer achtern.« Ich erkannte die Stimme Hjalmar Harfagrs, und mein Verstand begriff, daß rings im Umkreis unseres Ohres fünf andere Schiffe auf eben dem Wege lebten, auf dem sich unser Schiff eine Bahn durch das Grausen der Nebelwüste erkämpfen mußte.

Im Lichtdämmer des Telegrafen neben mir regten sich nun zwei hellere Flecke, es waren die Hände des Kapitäns Rognald Götsche. Wieder schrillte die Glocke des Maschinentelegrafen, dumpf und gequält 42 gehorchte der Herzschlag des Dampfers. Langsam und tastend stampfte das Schiff ins schwarze Schweigen voran. Innerhalb der Dauer dieses langsamen Vorwärtstastens wurde ich mir mit einem namenlosen Entsetzen bewußt, daß nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit vom Nebel aufgelöst war und zu einem Gespenst sich verschoben hatte, denn geschah es sofort, oder geschah es erst nach hunderttausend Herzschlägen, daß die Dämmerflecke am Gehäuse des Telegrafen sich abermals regten, die Glocke abermals schrillte, und der eiserne Herzschlag wiederum erstarb?

Zum zweiten Male verhielt unser Schiff seinen Atem in der Finsternis.

Um wieviele Meter, um wieviele Meilen hatte der Schneckengang den eisernen Leib, auf dem wir lebten, den fünf anderen eisernen Leibern näher gebracht? Waren es noch fünf? Oder waren es zehn geworden, oder zwanzig? In die neue Stille fing sich nun von ferner her als das erste Mal, ähnlich dem Klange, mit dem die Jäger das Wild locken, das helle, schmerzliche Fiepen. »Achtern, läuft keine zehn Knoten«, tönte es in der Dunkelheit mit der Stimme des ersten Offiziers. Die vier anderen Tiere schwiegen. Wiederum hob sich nun etwas links hinter mir ein hellerer Fleck schnell aufwärts, und über meinem Kopf brach noch einmal ohrbetäubend das entsetzliche Heulen die Nacht entzwei.

In der Stille, die auf diesen langgezogenen Schrei folgte, und die sich spannte wie ein Bogen, dessen Biegefähigkeit von den Fäusten des Verhängnisses geprüft wird, horchten alle Ohren, die im feuchten Dunkel der Brücke lebendig waren, mit der bewußten Kraft in die Finsternis hinaus, mit der das 43 Auge tags in die lichte Ferne schaut, um zu erkennen.

Zuerst antwortete der kreischende Vogel.

»Näher, steuerbord«, sagte die Stimme des ersten Offiziers.

Dann, fast gleichzeitig, links vom Schiff, aber ebenso fern wie bei dem ersten Schrei, das gläserne Singen und das grelle Heulen.

»Der Tenor hat nach backbord gekreuzt, der Heuler hält Kurs«, sagte leise der zweite Offizier.

Nach sekundenlangem ungeduldigem Schweigen fragte wütend die Stimme des Kapitäns: »Wo bleibt der verdammte Orgler?«

Seltsam vergnügt flüsterte Hjalmars Stimme zurück: »Sicher ein Engländer! Die Kerle fahren immer volle Kraft und antworten nie!«

Nach diesem Wort schien es mir, als bücke sich unser Schiff in seinem ängstlich-leidenschaftlichen Lauschen noch tiefer auf das Wasser hinab und verhallte erst jetzt seinen ganzen Atem. Witterte es mit allen seinen Sinnen durch die kühle, undurchdringliche Feuchte nach jenem anderen eisernen Tierleibe, dessen dröhnendes Orgeln wir noch in den Ohren trugen, und der jetzt so tückisch schwieg? – Was tat dieser Leib? – Kroch er auf uns zu, oder duckte er sich und lauschte wie wir, oder raste er unbekümmert heran wie ein irrer Unhold, der die Welt überrennen will? – Die Stille dehnte sich, dehnte sich und wurde zum Strick, der das Herz und die Kehle zusammenschnürte. – Wie würde sie enden? – Mit dem in der Brust ständig vorgeahnten Hexensabbath splitternden Krachens und knirschenden Malmens, mit jenem furchtbaren Orchestertutti aus der Hölle der Materie, in welchem geschundenes 44 und gewürgtes Holz und gemordetes Eisen im Tode verröchelt und auf das das ewige Schweigen der Vernichtung folgt?

Oh du große Bängnis des Nebels auf dem Meere zwischen den schweigenden oder den schreienden Schiffen, niemals mehr wird mein Herz dich vergessen, denn du bist von den großen Menschennöten eine!

»Hoffentlich beten Ihre Haifische nicht gerade unter uns, Herr Harfagr«, ertönte kurz und erregt die Stimme des Kapitäns. – »Nicht beten, Kapitän, aufpassen!« erwiderte Hjalmar.

Der feuchte dunkle Schwaden, in den der Kapitän eingeschlossen war, wirbelte sich nun plötzlich hastig um, blitzschnell glitt ein erregter heller Fleck hinter mir in die Höhe, und mein Schiff, unser schweigendes Schiff, das so lange und so geduldig gewartet hatte, schrie nun, schrie, schrie gellend wie aus berstender Kehle auf, wie einst in der Urwelt die Saurier aufgeschrien haben mochten in der großen Todesstunde, die für sie kam, zu dreien Malen schrie, schrie, schrie es um Antwort in die ewige Finsternis hinaus. Der Schall raste fort, die Uhr maß den Ablauf der Zeit, maß den Weg vom Schrei zum erflehten Gegenschrei! Aus unsäglicher Pein erlösend, erdröhnte mit einem Male, rechts von uns, sehr nahe, sehr laut, sehr selbstsicher der große dumpfe Orgelton. Wie ein Blitz, den man hört, erschrillte unser Telegraf, mächtig sprang der Puls an, und schnell und ruhig erklang das Kommando des Kapitäns: »Zwei Strich nach Ost abfallen.«

Gehorsam änderte das Schiff den Kurs und stampfte, dem verdröhnenden Orgelklange ausbiegend, ins undurchdringlich Unsichtbare voran. 45

Die Stimme Hjalmars fauchte: »Indienfahrer. Hält zwanzig Knoten!«

Hatte das Ohr in der Finsternis gut gehört?

Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, lautlos kroch unser Schiff in den großen grauen naßkalten Rachen des Nebels voran, bis in alle Tiefen erzitterte sein ganzer Leib unter dem mühsamen dumpfen Schlag seines Herzens.

Da tauchten rechts von uns, hoch im Luftqualm, beinahe riesenhaft, zwei verwischte und vertränte Lichtaugen auf und wuchsen. Tief darunter, dort, wo die Schaukelkraft des Wassers wohl sein mußte, streifte eine Kette milchig ausgelaufener Lichtscheiben näher, und ganz vorn, uns zunächst durchschwamm halbhoch ein grünlicher Dunstfleck den wolkigen Qualm. Allmählich wurde seitlich unseres Schiffes die grauverhangene Dunkelheit von einer mächtigeren, fester umrandeten, schwärzeren Dunkelheit verfärbt, und lautlos, aber mit herzbeklemmender Schnelligkeit, riß sie, stetig gleitend, die vertränten Augen, die milchigen Scheiben und den grünlichen Dunst mit sich fort. In seinem dumpfen Orgelton majestätisch sich blähend, raste mit Vollkraft der Schattenriß des englischen Sauriers an uns vorüber. »Welch ein gottloses Biest!« sagte Hjalmar.

Wäre es dem Menschen gegeben, mit dem Begriffe der Ewigkeit und dem Begriffe des Nichts eine Vorstellung zu verbinden, so könnte man sagen, daß das Drama des Nebels auf See, zusammengefügt aus unaufhörlich sich reihenden und fast gleich ablaufenden Szenen, den aristotelischen Gesetzen der Einheit des Ortes und der Einheit der Zeit vollkommener gehorche als irgendein anderes Drama, das 46 wir kennen. Seine Örtlichkeit aber ist das Nichts, in dem alles Licht erstarb, seine Zeiteinheit ist eine Ewigkeit aus Minuten, die kein Gefühl mehr ermißt, seine Charaktere sind Schiffe aus Eisen und aus Holz, die schicksalhaft ihrem Ziele zustreben, und seine Handlung strömt aus dem Urtrieb des Lebendigen, das am Leben bleiben will. Aber dieses gewaltige Drama hat keine Zuschauer, in denen es Furcht und Mitleid erregen könnte, sondern nur Mitspieler, welche, wie die tapfersten Soldaten in der Schlacht, sich fürchten und leiden, denn diese beiden Empfindungen sind dem Körper mehr verhaftet als der Seele. Und so war es denn auch mein Körper, welcher der grausamen Eintönigkeit und der schier endlosen Dauer dieses Dramas nicht stets mit einer gleichen Wachheit der Sinne gewachsen blieb. Er fühlte sich gequält und erschöpft.

Um die Stunde der Mitternacht taumelte ein Wind in den Nebel. Wir spürten zunächst nur eine unbestimmte feuchte Regung, die kühl und salzig über unsere Gesichter strich, dann aber blies uns der Wind, aus Süden kommend, frisch und hart entgegen. Er zerspaltete die hängende Gräue und ballte sie in seltsamen Formen zusammen, die über uns herfegten wie Reiterscharen aus wolkigen Fetzen. Bald waren es fast zierlich sich bäumende Pferde mit wehenden Mähnen und fliegenden Schweifen, bald stampften Elefanten über uns hinweg, deren graue Massigkeit im Augenblick der Berührung sich auflöste und unsere Gesichter mit einer kellerigen, salzigen Kühle streifte, die aus den Tiefen des Weltenraums zu kommen schien.

Es geschah auch, daß ein solcher auf uns einstürmender Reitertrupp vor dem Schiffe plötzlich in die 47 Höhe gerissen wurde und so von unten her fast senkrecht in die Luft emporstürmte, oder wenn seine Bahn bereits eine Strecke vor uns eine höhere Region durchquert hatte, geschah es bisweilen auch, daß eine Kraft von oben her die Gebilde plötzlich über unserem Schiff mächtig niederschlug und so die gewaltigen Schwaden wie eine Attacke herabschießender riesenhafter Vögel aus der Höhe senkrecht auf uns einbrachen, als gälte es, unser Schiff durch all diesen gewichtslosen Luftspuk, der tausende von Zentner zu wiegen schien, in die Tiefen der Wasser zu rammen.

In die Seeleute um mich, und ich rechnete Hjalmar Harfagr seit dem Beginn der Nacht zu ihnen, war mit dem Aufkommen des Windes eine Art Munterkeit gefahren. Ihre Bewegungen schienen mir schneller geworden, und auch die wenigen Worte, die beim Bestimmen der Positionen der rings um uns noch schreienden oder auf unseren Schrei antwortenden Schiffe gewechselt wurden, klangen mir leichter und wie erlöst von dem zähen Bleidruck, der vordem über uns gelastet hatte. Auch schien mir unser Schiff seltener zu verhalten und seltener zu rufen, und erstaunt glaubte ich plötzlich zu fühlen, daß wir schneller fuhren.

Da stürmte plötzlich ein wundersames Gebilde von riesenhaften Ausmaßen, halb ein Mammut und halb ein Kamel, auf uns zu. Über seinen schwarzgrau herabhängenden Beinen, deren Zahl das Bewußtsein nicht aufnahm, wölbte sich berghoch ein hellerer Leib, dessen zwei Höcker auf ihren Kuppen einen so weißlichen Schimmer trugen, wie ich ihn seit zwei Stunden nicht mehr gesehen hatte. Dieses wolkige Ungeheuer sprang vor unserem Schiff mit 48 Schleudergewalt zum Himmel hinauf und brach über uns entzwei, als habe eine Sprengung es in Stücke gerissen. Ich war seiner Bewegung gefolgt, und während ich nun in die Höhe starrte, sah ich zwischen zwei auseinander geschleuderten Fetzen seines grauen Leibes eine blauthronende Dunkelheit und mitten in ihr, so hell und funkelnd, daß mein Atem stehen blieb, das süße vertraute Licht eines Sterns. Mit einem Ruck faßte meine Hand nach Hjalmar hinüber und berührte ihn. Auch er mußte hinaufgeblickt haben, denn seine Stimme sagte: »Die Wega in der Leier.«

Auch der erste Offizier mußte hinaufgeschaut haben, er sagte: »Ja, in drei Stunden ist die ganze Schweinerei vorüber.«

Lebte ein Auge an Deck, welches das Licht dieses Sternes nicht gesehen, schlug ein Herz, das sein Funkeln nicht mit der Zuversicht sicherer Rückkehr in die geliebte Welt der Sonne, des Mondes und der Flammenüberzahl der Gestirne erfüllt hatte?

Schon stürmten über unser Schiff wieder die zerfetzten Wolkenreiter, ich aber stahl mich, das Licht der Wega in meinem Herzen, erschöpft und müde unter Deck in meine Kabine.

Mir war, als käme ich aus irgendeiner nassen finsteren Hölle in einen warmen Himmel der Erlösung. Meine Augen sonnten sich in dem gelben Schein der Lampen, die in ihren Doppelringen in dem gleichen Takte gemächlich hin- und herkippten, in dem auch mein Körper geschaukelt wurde. Warm und mild leuchtend, als dränge Sonnenschein aus ihnen hervor, umhegten mich die blanken, braunen, antastbaren Holzwände, die sich nicht verflüchteten, wenn meine Hand sie berührte. Ich streichelte sie. Dann 49 zerrte und schob ich schnell die durchnäßten Kleider vom Körper und kroch in meine Koje. Mein Inneres beruhigte sich allmählich wie Wasser, das langsam in sein natürliches Bett zurückebbt. Ich mußte unwillkürlich an Hjalmar denken, dessen riesige Gestalt noch oben im reitenden Nebel auf der Brücke stand, und verwunderte mich über den Wechsel in seinem Wesen, der mir während der Nacht aufgefallen war. Während er sonst ein wenig breit und sehr bedacht sich auszudrücken liebte, waren im Nebel alle seine Worte kurz, hart und schnell gewesen, und dennoch wie umschmunzelt von einer gewissermaßen diebischen Vergnügtheit. Während wir anderen mit unseren Leibern mir gewissermaßen wie eingeschmolzen in die bleiern schwere Luft erschienen waren, hatte der sonst so schwer und mühsam sich regende Körper des Wikingers in seinen Bewegungen Freiheit und Straffheit, ja beinahe eine fleischliche Lustigkeit bekundet, die ich mir nicht zu deuten vermochte. Es war in all den gefahrschweren, gefahrbeschwerten Stunden eigentlich so gewesen, als ob er ohne Unterlaß einen geheimen Grund in seiner Seele zu einem großen heimlichen Ergötzen empfunden hätte.

Allmählich begann das gleichmäßige Brausen der sich überschlagenden Wogen mich einzuschläfern, und nur wie aus einer anderen Welt noch, vor der ich mich sicher geborgen fühlte, drang das Rufen der nahen oder der fernen Schiffe traumhaft zu mir herab. Im Augenblick, da mein Bewußtsein in den Schlaf hinunterzutauchen begann, sah ich vor dem rosigen Himmel einer indischen Landschaft den Norweger Hjalmar Harfagr und den dänischen Kapitän Rognald Götsche auf dem Rücken zweier 50 ungeheurer Elefanten sitzen und langsam aufeinander zureiten. Hjalmar saß auf einer grünen und der Kapitän auf einer roten Schabracke, welche beide, die grüne mit lastendem Silber, die rote mit lastendem Golde, reich und seltsam funkelnd verbrämt waren. Die Köpfe der Reiter trugen riesige Turbane in den Farben der Schabracken ihrer Elefanten, mit hohen Reiherbüschen und apfelsinenfarbenen Perlen daran, die wie matte Sterne schimmerten. Die Elefanten trugen mit dem Greiffinger ihrer ausgereckten Rüssel jeder eine Laterne vor sich hin, der Elefant Hjalmars ein grünes Steuerbordlicht, der des Kapitäns ein rotes Backbordlicht. Hjalmar, der seine Backen bis zum Zerplatzen aufgeblasen hatte, schwenkte an einer amethystenen Kette ein goldenes Weihrauchgefäß, aus dem bläuliche Wolken quirlend in den rosigen Himmel hinaufstiegen. Der wunderbar süße Ambraduft dieses Rauches war das letzte, was mein Bewußtsein in sich aufnahm, ehe es in den bleiernen Schlaf hinabsank.

 


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