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8.

Der erste Teil meiner Lebenserinnerungen nähert sich seinem Abschluß. Ehe ich den Vorhang zum letzten Akt aufgehen lasse, seien mir noch ein paar thematische Leitsätze als Introduktion gestattet. Mein Leben war bis zu dem eben erreichten Punkt meiner Erzählung, im Sommer 1888, ein buntes, vielfach verflochtenes und verästeltes Nebeneinander, Nacheinander von Eindrücken, Empfindungen, Erfahrungen, Ereignissen gewesen, wie sie Kindheit und Elternhaus, Schulzeit, Universitätsjahre – scheinbar ziellos, planlos und ohne tiefere Bedeutung – auf meinen Weg streuten. Um im Bilde zu sprechen: Es war wie ein reich entwickeltes Flußnetz auf einer Landkarte anzusehen, dessen Fortsetzung und Abschluß aber erst auf einem nächsten und übernächsten Blatt enthalten ist. Man erblickt ein Gewimmel von Linien und Strichen, von Quellen, Bächen, Flüßchen und Flüssen, die nebeneinander her, aufeinander zu und wieder voneinander weg laufen und deren eigentliches, letztes Ziel und Streben unübersichtlich, ja unerkennbar bleibt. Schlägt man aber dann das folgende Kartenblatt auf, so gewinnt plötzlich das eben noch so unklare Bild seinen tieferen Sinn, seine wahrhafte Bedeutung, indem jene Linien und Striche sich als die vielgliedrigen Maschen und Adern eines großen, einheitlichen Stromnetzes erweisen, das alle seine Wasser ihrer fernen Bestimmung, dem Weltmeer, entgegenleitet.

An einer solchen Umbruchsteile zwischen zwei Kartenblättern des Lebensatlas befinde ich mich im Augenblick. Und ich schwanke fast, ob das folgende letzte Stück überhaupt noch auf das erste Kartenblatt gehört oder nicht richtiger schon auf das zweite. Mag es denn hier als ein Anhang zum ersten stehen und damit zum zweiten Teil überleiten, wie das ja auch wieder in Atlanten üblich ist. Allerdings entspringt aus dieser Zwischen- und Zwitterstellung auch die Notwendigkeit, den Maßstab – um im kartographischen Bilde zu bleiben – größer zu nehmen, das Erlebte mehr summarisch zu fassen, weil es sonst seiner Fülle zu viel würde. Ich muß mich daher in dem Bericht über die nächsten Jahre bis zum Erfolg meiner »Jugend« 1893 auf die Wiedergabe nur des Wesentlichsten, nur der wenigen Hauptlebenslinien beschränken und alles übrige, zumal was die reiche Porträtgalerie der gerade um diese Zeit in mein Leben tretenden Charakterköpfe anbetrifft, für den zweiten Teil meiner Erinnerungen aufheben. Die meisten dieser meinem Wege sich nähernden Lebensläufe sollten ihre Bedeutung für mich ohnehin erst in etwas späterer Zeit gewinnen und finden damit von selbst ihren Platz im zweiten Band. Mit ein paar Ausnahmen allerdings: nämlich da, wo Persönlichkeiten innerhalb der behandelten Zeit bereits wieder vom Schauplatz abtreten und später gar nicht mehr auf der Bühne sind.

Der Sommer 1888 war buntfarbig und vielgestaltig. Mit der Doktorpromotion, die sich noch mit Thesen und Antithesen, in Rede und Gegenrede zwischen meinen Opponenten und mir, mit dem ganzen feierlich-lateinischen Zeremoniell des Mittelalters vollzog, hatte meine Studentenzeit geschlossen. Am vorletzten Tage in München erlebte ich das grotesk-phantastische Schauspiel der Elefantentragödie. Man beging die Hundertjahrfeier des Geburtstages Ludwigs I. (geb. 1786), die wegen der Königskatastrophe um zwei Jahre verschoben worden war. Ein großartiger Festzug bewegte sich durch die Straßen der Stadt und hatte unzählige Tausende auf die Beine gebracht. Im Zuge befanden sich indische Elefanten, auf denen Kunstreiterinnen saßen. Es waren aber auch feuerspeiende Drachen da, nämlich nach damaligem Geschmack als Fabelwesen verkleidete Maschinen, die gehörige Dampfwolken aus ihren »Nüstern« bliesen. Als in der Ludwigstraße der Festzug umkehrend sich selbst begegnete und die Elefanten jener dampfenden Vorzeitkollegen ansichtig wurden, ergriff sie ein panischer Schreck, und sie gingen mit ihren unglücklichen Reiterinnen durch. Ein paar von diesen kamen um. Ich selbst stand am Rande der Ludwigstraße, in der Nähe des Karl-Theodor-Palais, und sah von meiner etwas erhöhten Treppenstufe, wie die Tausende sich plötzlich niederduckten und mit einem einzigen Schrei sich in Bewegung setzten. Es war, wie wenn ein Sturmstoß jäh über ein Ährenfeld hinfegt. Ich hatte gerade nur so viel Zeit, dieses Bild in mich aufzunehmen, als auch ich mitgerissen wurde. Aber hiervon und von den folgenden Augenblicken weiß ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in der Fürstenstraße, wenigstens hundert Meter von meinem Platz entfernt, in einem unbeschreiblichen Getümmel von Halbwahnsinnigen. Ich konnte von Glück sagen, daß mir nichts geschehen war. Viele waren verunglückt. Die Elefanten abenteuerten noch den ganzen Tag in der Stadt herum. Einer von ihnen trat unversehens durch die Tür eines einstöckigen Herbergenhäuschens in der Au, als gerade die nichtsahnende Familie beim Abendbrot saß, und hob auch gleich den Türrahmen mitsamt dem Dach aus, benahm sich aber im übrigen gesittet, wie man es ja auch von Elefanten verlangen kann.

Lebenshungrig und aufgewühlt, wie ich nach der wissenschaftlichen »Ochserei« der letzten Semester war, trat ich eine Reise ins Gebirge und nach Italien an. In großen Fußmärschen kam ich über Schliersee, Bayrisch-Zell, Kufstein ins Inntal voran, war dabei in Gedanken viel in und um Berlin, floß auf eine ungewohnte Weise von Versen über, zechte an einem regenschweren Abend in der einsamen Wirtsstube des Brennerposthauses mit einem geheimnisvollen Fremden, der vortrefflich deutsch sprach und mir beim sechsten Viertel des roten Tirolers anvertraute, daß er ein italienischer Offizier und zu geheimen Vermessungen für den Kriegsfall hier sei; sah auf der Talferbrücke in Bozen das lachende Etschtal im schwimmenden Lichtblau, dahinter das Tor Italiens sich öffnen; erblickte auf dem Verdeck des Gardaseedampfers – es war ein trüber, schwüler, drückender Augusttag – die Gestalt Paul Heyses ragend und einsam, vom schwarzen Mantel umflossen, die Augen in die grünblaue Flut geheftet, ein Pilger, auf den Spuren Goethes dahinziehend; drang bis nach Mailand vor und fand, daß es bis auf die andersartige Tönung der Häuser und der Menschengesichter auch Hannover hätte sein können; arbeitete mich auf meinen zwei tüchtigen Beinen über den Splügenpaß ehrlich wieder nach Norden zurück; besuchte im Schwäbischen meinen alten Freund Christaller, der nun doch seinen (vorläufigen) Frieden mit dem Konsistorium gemacht und Pfarrer geworden war, aber er duldete nicht, daß ich ihn predigen hörte; sprach in Stuttgart bei Fräulein Julie Marschalk, der Opernsängerin, und ihrer gerade dort weilenden Nichte Lisbeth vor und traf mit dem Blätterfall des einziehenden Herbstes endlich wieder in Berlin ein, wo ein liebendes Herz meiner wartete.

Mein Lebensplan hatte sich in diesen bunten und beflügelten Wochen zum unabänderlichen Entschluß gehärtet, auf jede Gefahr hin die literarische, die dichterische Laufbahn einzuschlagen. Mit den Meinigen in Güttland hoffte ich schon fertig zu werden, wenn nur erst der Erfolg für mich sprechen werde. Und an dem – wozu war ich dreiundzwanzig Jahre alt! – zweifelte ich nicht, so ungewiß auch im Augenblick die Zukunft erschien. Meine Eltern hatten mich, wie natürlich, darüber befragt, aber ich vertröstete sie damit, daß man mir Zeit lassen müsse. Eines oder das andere werde schon herauskommen, darauf könnten sie sich verlassen. Es war keine kleine Probe, auf die ich sie stellte, aber es mußte nun einmal sein. Da die Umstände ihnen erlaubten, mir auch weiter die Mittel zu geben, die ich brauchte, so fanden sie sich drein. Ich aber habe ihnen hier meinen Dank dafür abzutragen.

Ich nahm mir Lützowstraße 100 ein besseres Zimmer, wie es einem jungen Doktor und angehender Schriftsteller zustand, und traf Anstalten, mich in den literarischen Sattel zu schwingen. Bis ich wirklich im Sattel saß, sollten noch mehr als vier Jahre vergehen. Ich hatte schon in München mit dem Verlag von Hinricus Fischer in Norden (Ostfriesland) wegen meines »Emporkömmlings« angeknüpft. Dort war von meinem Altersgenossen Fritz Lienhard ein Erstlingsdrama »Naphtali« erschienen, durch das ich aufmerksam wurde. Es war natürlich ein Kommissionsverlag, der sich schamhaft verschleierte, indem er nicht die Zahlung der Druckkosten, sondern nur die Abnahme einer bestimmten Anzahl von Exemplaren verlangte. Ich ging auf den Handel ein, mein Buch wurde gedruckt und erschien. Es dürfte noch in jenem Winter 88 zu 89 gewesen sein.

Natürlich war die Welt danach nicht um ein Haar anders als vorher. Wenn ich mir dies in meinem jugendlichen Vorwitz eingebildet hatte, so war ich um eine Enttäuschung reicher. Keine der Bühnen, denen ich das Drama zugehen ließ, gab eine Antwort. Nur das Lessingtheater, das damals gerade eröffnet worden war, erteilte kurzen Bescheid, daß das Stück nicht geeignet sei. Oskar Blumenthal, der Begründer und Direktor des Theaters, hatte ihn eigenhändig unterschrieben. Meine Stimmung war schwer und dunkel. Ich war gerade zu Schopenhauer gekommen und las viel darin. Die schlechteste und tragischeste aller Welten! Ich war sehr in der Laune, meinem erhabenen Landsmann beizustimmen und seine bissige Menschenfeindschaft zu teilen.

In diesen finsteren Tagen klopfte ein fremder junger Mann bei mir an und stellte sich als Emil Strauß vor. Er kam aus Köln, stammte aber eigentlich aus dem Badischen und sprach auch mit alemannischem Anklang. Ein gemeinsamer Kölner Bekannter hatte ihn zu mir geschickt. Er war groß, hager, hatte ein langes schmales Gesicht, charaktervoll durchgebildete Züge und eine hohe edle Stirn. Alles an ihm war nach innen gedrängt, zeugte von Geistigkeit, Versonnenheit, Bildung. Der Besucher gefiel mir gleich sehr gut, wir wurden schnell vertraut. Er war von einer erstaunlichen Belesenheit, zumal in der neueren und neuesten Literatur, so daß ich mir ziemlich armselig gegen ihn vorkam. Ich entdeckte auch manche Sonderlingszüge bei ihm, eine gewisse lebenssektiererische, abseitige Art, die meiner Natur fremd war und mit der ich mich erst abfinden mußte.

Nachdem wir ein paarmal zusammengewesen waren, empfahl ich ihn an Max Marschalk und seine Familie. Strauß ging hin und freundete sich mit dem Bruder wie mit den Schwestern unerwartet rasch an. Ich erlebte hier wieder das gleiche Phänomen, wie es mir schon in meiner Kindheitsfreundschaft mit Egon und Edgar begegnet war: wenn zu einem schon bestehenden Freundespaar noch ein Dritter hinzutritt, so pflegt das Gesetz der Wahlverwandtschaft dahin zu wirken, daß einer der beiden Freunde verdrängt wird, indem der andere sich von dem hinzutretenden Dritten stärker angezogen fühlt. So war es auch in meinem Fall mit Marschalk und Strauß. Als ich diesen zu jenem wies, hatte ich sie im Grunde beide verloren, obwohl dies erst nach Jahren wirklich in Erscheinung trat.

Wie Marschalk durch mich mit Strauß, so war eben um diese Zeit, wenn nicht schon etwas früher, ich durch Marschalk mit Dehmel bekannt geworden; nur mit dem Unterschied, daß wir beide, Dehmel und ich, zu keiner engeren Verbindung miteinander gelangten. Unsere Naturen waren und blieben einander wesensfremd, obgleich wir eine Zeitlang öfter in einem literarischen Zirkel zusammentrafen. Dehmel war, wenn ich nicht irre, Burschenschafter gewesen. Sein Gesicht wies mehrere kräftige Durchzieher auf und machte einen, wenn ich so sagen soll, verwetterten Eindruck. Man merkte sofort, daß sein Träger ein Kerl war, der mit Tod und Teufel auf Du und Du stand. Wenn man ihn dann seine Rhythmen vortragen hörte, so war es, als wenn schweres Artilleriefeuer auf die Zuhörer niederprasselte. Und jede Versbombe war ein Treffer und zündete. Mir wollte es schon damals scheinen, daß Dehmels Lyrik die Erfüllung und Vollendung dessen war, was Conradi gewollt, erstrebt und zuletzt doch nicht erreicht hatte: nämlich die Synthese von Gedankenschwere und Erdnähe, von hohem Ideenflug und unterirdischer Liebesbrunst, in einem hohepriesterlichen Brokatgewand des Verses, des Rhythmus dahinschreitend. Auch Dehmel war eine lodernde Flamme, wie Conradi es gewesen war. Aber diese Flamme brannte in der Seele des preußischen Förstersohnes gleichsam wohlgesichert, hinter Gitter und Metallglas, und war ein prachtvolles Schauspiel, auch für ihn selbst. Der andere, der Buchhandlungsgehilfe aus Dessau, verbrannte an der seinigen. Dehmel war damals noch Versicherungsbeamter und litt sehr unter dem Joch. Auch vor ihm, wie vor Strauß, wie vor mir selbst und manchen anderen, die bald meinen Weg kreuzen sollten, erhob sich die gleiche bange Schicksalsfrage: Sollten wir es wagen? Reichte es aus, um das Leben daranzusetzen? ...

An einem Sonntagmorgen, gegen Ende Februar 1889, rief mich die Rohrpostkarte einer befreundeten Pflegerin an das Sterbebett meiner Großmutter. Diese ruhelose und merkwürdige Frau, die Mutter meines Vaters, von der in diesen Blättern öfters die Rede gewesen ist, war vor einem Jahr nach Berlin gezogen und wohnte in der Großen Hamburger Straße, unweit des Hackeschen Markts. Es sollte die letzte Station ihrer unsteten Erdenreise sein. Sie war schon seit längerer Zeit von einem unheilbaren Übel befallen; dennoch traf mich die Nachricht von ihrem bevorstehenden Ende ganz unerwartet. Ich eilte so rasch wie möglich von der Lützowstraße nach dem Stadtzentrum und kam noch zur rechten Zeit, um sie ihren letzten Seufzer aushauchen zu sehen und ihr die Augen zuzudrücken. Ich wachte die Nacht hindurch im geöffneten Zimmer neben dem Sterbezimmer und muß bekennen, daß es eine furchtbare Einsamkeit neben der Toten und, trotz meiner damaligen materialistischen Weltanschauung, eine der aufregendsten Nächte meines Lebens war. Aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, es allein mit mir durchzufechten. Als in der winterlichen Morgenfrühe des nächsten Tages meine Eltern und die Oheime eintrafen, brachen meine Nerven zusammen. Kein Wunder! Ich las zu dieser Zeit auch Dostojewskijs Raskolnikow. Es war zu viel auf einmal. Meine Großmutter ruht in Berlin, auf dem Liesenkirchhof in der Chausseestraße.

Max Marschalk und seine Schwestern hatten ein photographisches Atelier Ecke Friedrich- und Jägerstraße eröffnet. Unten im Hause war das vielberufene Café National, wo die feinere Demi-Monde verkehrte. Die Geschwister hatten es mit ihrem Geschäft nicht leicht, da es ja erst eingeführt werden mußte. Für den Anfang rekrutierte sich die Kundschaft vornehmlich aus dem Bekanntenkreise. Wir dienten eigentlich alle mehr oder weniger als Versuchskaninchen. Wir sind damals so oft photographiert worden wie niemals wieder im Leben. Die Wildente von Ibsen, mit ihrem photographischen Milieu, war gerade neu und beherrschte die öffentliche Diskussion. Es gab manche Ähnlichkeit zwischen den beiden Ateliers.

Ich ging oft hin, traf dort Strauß, Leistikow nebst seinem jüngeren kaufmännischen Bruder sowie andere Bekannte und brachte auch Binder in die Gesellschaft. Er hielt sich seit einiger Zeit in Berlin auf, studierenshalber, ohne daß ein Fortschritt ersichtlich war. Sein kleines ererbtes Vermögen schwand rasch dahin, wie das Flämmchen einer Lampe, der das Öl ausgeht. Er sah den Augenblick herannahen, wo es zu Ende sein würde, und beschloß, durch das Marschalksche Beispiel angefeuert, ebenfalls Photograph zu werden. Ich glaube fast, daß zu diesem Entschluß auch die schönen Augen der Schwestern beigetragen haben, denn Binder wollte seine photographische Lehrlingszeit nirgendwo anders absolvieren als im Marschalkschen Atelier. Er ging eine Zeitlang dort ein und aus.

Emil Strauß schwärmte sehr für frühmorgendliche und für Nachtspaziergänge. Sie lagen wohl in der Zeit und in der Stimmung der jungen Generation. Auch mir war der Zug nicht fremd, wie sich ja auf dem Nachtmarsch nach Griebenau erwiesen hatte. Aber gegen den Fanatiker Strauß war ich doch nur ein Waisenknabe auf diesem Gebiet. Er steckte auch Marschalk und dessen Schwestern mit seiner Leidenschaft an, so daß die Nachtausflüge Mode in unserem Kreise wurden. Man pilgerte nach dem Grunewald, noch lieber nach den noch halb unentdeckten Jagdgründen der östlichen Umgegend von Berlin: Köpenick, Grünau, Friedrichshagen, Erkner, Grünheide.

Eines Tages, der Frühling war schon ins Land gezogen, erzählte Strauß uns von einem jungen Dichter, der eine epische Dichtung »Promethidenlos«, von starkem Talent zeugend, geschrieben habe und in Erkner eine Villa bewohnen solle. Hieß Gerhart Hauptmann. Man könne ihm wohl einen Besuch abstatten, vielleicht als Abschluß eines dieser Nachtausflüge. Marschalk war dafür; ich hielt mich zurück. Einige Zeit verging. Da vernahm ich von den beiden die Kunde, daß die Unternehmung vonstatten gegangen und geglückt war. Der Dichter des »Promethidenloses«, bis dahin noch in den weitesten Kreisen unbekannt, hatte die beiden übernächtigen und verstaubten Ankömmlinge auf das liebenswürdigste empfangen, mit seiner Familie bekannt gemacht und ihnen sogar sein eben vollendetes Drama vorgelesen. Der Eindruck war außerordentlich gewesen.

In jener Zeit war mir ein Buch in die Hände gekommen, das vor nicht langem erschienen war. Es hieß »Papa Hamlet« und war eine Sammlung von Skizzen und Szenen. Der Verfasser nannte sich Bjarne P. Holmsen. In Wirklichkeit war es eine Kompagniearbeit von Arno Holz und Johannes Schlaf, die sich in kluger Ausnutzung der deutschen Ausländerei, insbesondere der damaligen skandinavischen Mode, jenen norwegisch klingenden Namen beigelegt hatten. Dieses Büchlein ist gleichsam die Magna Charta des »konsequenten Naturalismus« geworden, wie die Bewegung von da ab hieß. Man kann die stilistischen Formeln und Grundsätze, von denen Holz und Schlaf im »Papa Hamlet« ausgingen, nachträglich als einen Irrweg bezeichnen: daß sie von unabsehbarer Bedeutung für unsere Literatur geworden sind, ist nicht zu bestreiten. Auch auf mich hat das Büchlein, namentlich im Handwerklichen, im Technischen, im Formalen des dramatischen Dialogs, revolutionierend gewirkt. Arno Holz kannte ich bereits aus seinem »Buch der Zeit«, »Liedern eines Modernen«. Dieser Moderne kam merkwürdigerweise ursprünglich von Geibel her, mit dem ich auch meinerseits gut bekannt war, da ich einst in Marienburg meine Abiturientenrede über ihn gehalten hatte. Schlaf war ein neuer Name für mich. Er sollte mir bald vertraut werden.

Im Juniheft 1889 der »Gesellschaft« erschien ein äußerst ausführlicher »Berliner Brief« von mir, worin ich mich mit Ibsens »Frau vom Meere« auseinandersetzte. Die Aufführung des Werkes war kurz vorher im Königlichen Schauspielhaus in Berlin gewesen. Mein Aufsatz ergriff mit Wärme die Partei des damals noch vielbefehdeten großen »Magus des Nordens«. Er hatte auch eine ganz unerwartete Wirkung für mich persönlich. Als ich mich nämlich zwei Monate später, im August 1889, in Paris zur Weltausstellung befand und in der Rue Monge ein Studentenzimmer bewohnte, erhielt ich dorthin jenes Drama des Promethidenlos-Dichters, das er Strauß und Marschalk bei ihrem improvisierten Besuch vorgelesen hatte. Es trug den Titel »Vor Sonnenaufgang« und enthielt auf dem ersten Blatt eine sehr schmeichelhafte Widmung für mich, die auf jenen Aufsatz in der »Gesellschaft« Bezug nahm. Ich besitze das Buch mit der Handschrift von Gerhart Hauptmann noch heute und bin stolz darauf.

Mein Aufenthalt in Paris war nur von vierzehntägiger Dauer. Was mir unter all den mich bestürmenden Eindrücken am meisten auffiel und mir bis heute in Erinnerung geblieben ist, das war eine Beobachtung volkspsychologischer Art: eben dieses französische Volk, das doch ein Jahrhundert lang von einer Staatsumwälzung zur andern geschritten war und eine nicht zu überbietende politische Wandelbarkeit gezeigt hatte, – es schien mir in allen Fragen der Sitte, der Lebensgewohnheiten, der gesellschaftlichen Überlieferung von einem ebenso extremen Beharrungstrieb, von einem erstaunlichen Konservativismus beherrscht zu sein. Als höchst charakteristischen äußeren Ausdruck dieser altväterischen Beharrlichkeit erblickte man damals noch allenthalben in Paris den traditionellen Zylinder, den selbst die wildesten Kunstrevolutionäre von Montmartre oder von Montparnasse trugen. Er versinnbildlichte gleichsam die Synthese von Revolution und Tradition im französischen Charakter. Der Kriegsruf des Boulangismus war noch kaum verstummt. In allen Gesprächen, die ich mit Pariser Bekannten, durchaus einsichtsvollen jungen Leuten, führte, vernahm ich doch den Unterton der in der Tiefe grollenden Revanche-Idee.

Mein Zimmernachbar in der Rue Monge war ein junger serbischer Doktor, so gegen Ende zwanzig. Er erzählte mir, daß er als Angehöriger der Radikalen Partei aus Serbien verbannt und zum Tode verurteilt sei. Das sei dort so üblich, bedeute aber nichts. In einigen Jahren werde er Minister in seinem Vaterlande sein. Er gab mir seine Karte und ich merkte mir seinen Namen: Dr. Wesnitsch. Ich verfolgte von da ab die Zeitungen, sobald wieder einmal ein Umsturz in Serbien war. Dr. Wesnitsch hat Wort gehalten. Eines schönen Tages, Mitte der Neunzigerjahre, fand ich ihn auf einer neuen serbischen Ministerliste als Minister des Auswärtigen vor. Bald darauf war er wieder zum Tode verurteilt, aber auch neuerdings in Sicherheit. Seine weltgeschichtliche Rolle sollte jedoch erst kommen. Er war serbischer Gesandter in Paris, als der Große Krieg ausbrach, und hat damals das Seinige dazu getan, was ihn freilich nicht hinderte, sich nachher als großen Deutschenfreund vorzustellen. Wesnitsch ist vor einigen Jahren eines natürlichen Todes gestorben, nachdem ihm die vorhergegangenen Todesurteile nichts hatten anhaben können.

Ich hatte schon von Paris aus mich bei Hauptmann bedankt und ihm geschrieben, welch ein starkes und zwingendes Erlebnis sein Werk für mich war. An einem schönen Septembersonntag folgte ich seiner Einladung nach der Schlüterstraße in Charlottenburg, wo er damals wohnte. Jene erste Begegnung mit dem Manne, der schon binnen kurzem die führende Erscheinung unserer jungen Generation werden sollte, ist mir aus verschiedenen Gründen unvergeßlich geblieben. Zunächst war es Hauptmanns Persönlichkeit selbst, die mich sofort in ihren Bann zog. Es strahlte schon zu jener Zeit, als sein Name doch noch im Dunkel war, die unverkennbare Aura des außergewöhnlichen Menschen von ihm aus. Sein charaktervoller Kopf mußte sich unbedingt jedem einprägen, wenn er auch noch kaum an den Goethischen Typus gemahnte. Seine heute allbekannte Maske – das Wort richtig verstanden – hat erst eine spätere Zeit herausgearbeitet. Besonders angenehm wirkte sein Organ, die leichte schlesische Färbung seiner Sprache. Sie gab allem, was er oft stockend, jedoch voll Bedeutung und Tiefsinn sagte, den liebenswürdigen, gewinnenden Unterton. Ich werde auf meine Beziehungen zu Hauptmann, die an jenem Tage begannen und in immer herzlicherer Form sich bis heute fortgesetzt haben, noch im zweiten Teil zu öfteren Malen zurückkommen, so daß ich mich hier auf diese kurze Schilderung meines ersten Eindrucks beschränke.

Es war aber auch noch jemand bei diesem Abendessen in der Schlüterstraße zugegen, der – wenn auch nicht gleich, so doch später – entscheidend in meine Laufbahn eingreifen sollte und mir darum jenes Zusammensein unvergeßlich gemacht hat. Dieser Mann war Otto Brahm, dessen Namen ich nicht lange vorher unter einem mich aufs stärkste beschäftigenden Aufruf zum erstenmal gelesen hatte. Mit einer kleinen Zahl anderer, damals noch kaum bekannter Persönlichkeiten – ich nenne nur Maximilian Harden – hatte Brahm in jenem Aufruf zur Gründung einer »Freien Bühne« aufgefordert, die dem zeitgenössischen dramatischen Schaffen sowie der Entdeckung junger Talente den bisher nicht vorhandenen Spielraum bereiten sollte.

Wie hätte also ein junger angehender Dramatiker, als den ich mich doch fühlte, nicht mit höchster Spannung auf jedes Wort einer so wichtigen und ausschlaggebenden Persönlichkeit Bedacht nehmen sollen! Der kleine Mann mit dem bartlosen gelblichen Angesicht, wie von verschrumpeltem Leder, erging sich in einer Fülle von teils witzigen, teils kaustischen, teils imponierend klugen Bemerkungen, die seine Unterhaltung höchst amüsant machten, freilich auch öfters zum Widerspruch herausforderten. Ich behielt ihn aber für mich, sowohl aus angeborener Schüchternheit als auch aus Respekt vor dem reiferen und älteren Mann. Brahm stand zwar erst Anfang der Dreißig, konnte aber ebenso gut für vierzig gelten. Sein Gesicht hatte etwas Zeitloses, aber nicht nach der Jugend, sondern nach dem Alter hin. Die beiden Männer hatten wichtige Dinge zu bereden. Es handelte sich darum, ob die »Freie Bühne« »Vor Sonnenaufgang« zur Aufführung bringen solle oder nicht. An jenem Abend wurde sie beschlossene Sache. Auch Brahm war zum erstenmal bei Hauptmann, so wie ich. Man kann wohl, in Hinsicht auf das damals inaugurierte Lebensbündnis zwischen den beiden Geistern, ohne Übertreibung sagen, daß es eine historische Stunde war.

Auf dem gemeinsamen Heimweg von Charlottenburg nach der Leipziger Straße zeigte sich Brahm sehr unbefangen und aufgeknöpft gegen mich, wie er denn überhaupt eine besondere Vorliebe für junge, geistig bewegte Menschen hatte. Er fragte mich nach meinem Tun und Treiben, nach meinen Lebensumständen, nach allem möglichen, und lud mich dann in die damals vielbesuchte Weinstube »Stadt Athen« in der Leipziger Straße ein. Er war als Hamburger gewissermaßen ein geborener Feinschmecker, liebte besonders Austern und bestellte sich ein Dutzend, wovon er mir etliche auf den Teller legen wollte. Ich mußte ablehnen, ich hatte noch niemals Austern gegessen, wodurch ich sofort sehr merklich in seiner Achtung sank. Er hielt mich daraufhin, wie er mir später einmal gestand, für einen armen Schlucker, der sich so etwas noch nie hatte leisten können. Wer weiß, wenn ich damals Austern gegessen hätte ...?! Ich wage mir die Konsequenzen für meine literarisch-theatralische Laufbahn nicht auszudenken! Aber vorbei ist vorbei! Wir unterhielten uns jedoch trotz meines Fiaskos auch weiter ganz gut und gingen erst spät auseinander. Er hatte mir versprochen, mein Stück, den »Emporkömmling«, zu lesen, und ich schickte ihn ihm natürlich schon am nächsten Tage. Aber die Austern! Die Austern! Brahm wies nach einigen Wochen das Stück für seine »Freie Bühne« ab; es ist auch bis heute unaufgeführt geblieben. Mein erster Sprung auf die Bretter sollte sich auf einem anderen Wege vollziehen als auf dem über meinen Eintagsgönner Brahm.

Die Taten der »Freien Bühne« gehören der Literatur- und Theatergeschichte an. Ich brauche sie hier nicht im einzelnen aufzuzählen. Vielverheißend war bereits die Eröffnung mit den »Gespenstern«: Agnes Sorma als Regine Engstrand eine besondere Entdeckung nach der modernen Seite hin, nachdem sie schon vorher im Klassischen viel von sich reden gemacht hatte. Ein Teil des Publikums und der Kritik ging nicht mit, was bei der Natur des Stückes begreiflich war. Die Scheidung der Geister in ein altes und ein neues Lager lag schon von allem Anfang an klar zutage. Am 20. Oktober 1889 kam »Vor Sonnenaufgang« heraus. Ich war am Tage vorher von Güttland, wo ich einige Herbstwochen bei meinen Eltern zugebracht hatte, wieder in Berlin eingetroffen. Auf dieser Reise begleitete mich Ludwig Malyoth, mein alter Freund aus der Münchner Zeit, jener impertinente Ich-Sager aus dem Akademisch-Philosophischen Verein. Er hatte mehrere Jahre am Theater meiner Heimatstadt Danzig gewirkt und wollte jetzt in Berlin sein Glück versuchen. Wir hatten beide auf dieser Fahrt das starke Gefühl, daß eine neue Zeit unmittelbar vor der Tür stehe. Schon am nächsten Tage bewahrheitete sich dies. Die Vorgänge bei der Premiere von »Vor Sonnenaufgang« im Lessingtheater sind bekannt. Ich saß im zweiten Rang und sah, wie unten im Parkett, in der Pause vor dem letzten Akt, eine auffällige Unruhe entstand und plötzlich jemand mit etwas in der Luft herumfuchtelte. Es war die berühmte Geburtszange Castans. Sie brachte die mit Zündstoff erfüllte Atmosphäre zu einer ersten Entladung, aber ihre eigentliche Wirkung kam erst am Schluß. Man klatschte, trampelte, tobte, brüllte, zischte, pfiff, schrie Bravo und klatschte wiederum. Es war ein stürmischer Mißerfolg zufolge den einen, ein sensationeller Sieg nach Meinung der anderen. Jene Mittagsvorstellung der »Freien Bühne« ist nach beiden Richtungen hin von keiner folgenden mehr überboten worden. Hauptmanns Name war mit einem Schlage ebenso berühmt wie umstritten. Einen Monat später hatte in dem gleichen Lessingtheater, nur eben in einer richtigen Abendvorstellung, das Erstlingswerk eines gleichfalls noch namenlosen Autors einen donnernden Publikumserfolg, den der fast einmütige Spruch der Kritik nachher bestätigte. Ein großer Theatraliker war aus der Taufe gehoben: Hermann Sudermann. Sein Erstlingswerk hieß: »Die Ehre.«

Am anderen Abend ließ ich mir von Freund Christaller in der Württembergischen Weinstube, einem kleinen Beisel in der Zimmerstraße, wo wir damals verkehrten, Bericht über das Theaterereignis erstatten. Ich selbst hatte nicht daran teilgenommen. Der Verfasser der »Geistesaristokratie« war von seiner einsamen Pfarre in Uhingen oder Balingen nach der Metropole gekommen und streifte, lebens- und kunsthungrig wie er war, alle Sehenswürdigkeiten und Theater Berlins ab. So war er auch in die Uraufführung von Sudermann geraten und konnte mir von der dramatischen Art des neuen Manns erzählen. Ich nahm in dem bald sich bildenden Parteienstreit: »Hie Hauptmann! Hie Sudermann!« entschiedene Stellung auf seiten des ersteren, wie es nach meinem ganzen Entwicklungsgang nicht anders sein konnte. Unter den Sehenswürdigkeiten, die auf Christallers Programm standen, befand sich seltsamerweise auch der Hofprediger Stöcker. Christallers Ideenwelt war von der Stöckers in Marsweite entfernt, aber der schrullige Schwabe hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, ihn zu sehen. Ich sollte ihn dabei begleiten. Er wollte mich als Theologiekandidaten vorstellen, sich selbst als schwäbischen Pfarrer, der er ja auch war. So werde es schon gelingen. Gesagt, getan. Wir machten uns auf den Weg zu Stöcker und wurden auch wirklich empfangen. Mir schlug doch etwas das Herz, während Christaller seine stillfanatische Unbefangenheit beibehielt. Der berühmte Politiker, eine hochrepräsentative Erscheinung, empfing uns in imponierender Haltung, blieb aber zuerst recht zugeknöpft. Erst als Christaller auf seine sokratische Art einige Fragen stellte, die man als Zustimmung zu Stöckers Programm ansehen konnte, begann dieser Vertrauen zu seinen Besuchern zu fassen und in längerer Rede seiner Feindschaft gegen das herrschende Bismarcksche Regiment höchst eindeutigen Ausdruck zu geben, bis er sich sozusagen beinahe um seinen Kopf geredet hatte. Plötzlich kam ihm dies zum Bewußtsein, er stockte, fing an, uns zu mustern, schöpfte ganz offenkundig Verdacht, stand auf und hieß uns mit einer nicht mißzuverstehenden Gebärde gehen. Es war von einem Hinauswurf nicht sehr zu unterscheiden. Ich bedauerte nachher nicht, es mitgemacht zu haben, hätte es aber nicht gern zum zweiten Male erlebt.

Was Stöcker etwas zu laut vor uns zwei Fremdlingen gedacht hatte, sollte bereits nach Ablauf weniger Wochen zur Tatsache werden: Bismarcks Sturz. Er kam wie ein plötzlicher Donnerschlag über die Welt, soviel auch von Mißhelligkeiten mit dem Kaiser gemunkelt worden war. Mich konnte er, nach dem, was ich von Stöcker gehört hatte, nicht mehr besonders überraschen. Die Menschheit, voran natürlich das deutsche Volk, welches es ja zuerst betraf, hielt für einige Augenblicke gleichsam den Atem an: das erste todesähnliche Schweigen, das auf einen Erdbebenstoß oder auf eine Dynamitexplosion zu folgen pflegt. Als dann die Besinnung wiederkam, brach ein Freudengeheul und Haßgeschrei in der deutschen Menschheit aus, als sei der, der eben schimpflich davongejagt war, der schlimmste Verderber Deutschlands und nicht sein eigentlicher Wiedererwecker gewesen. Mich schüttelte es vor Ekel und Widerwillen, als man wochenlang nichts anderes als diesen Chor der Rachegeister vernahm. Beim Tode Friedrichs des Großen scheint es so ähnlich hergegangen zu sein. Auch sonst sah es nicht rosig aus. Der berüchtigte Influenzawinter von 89 auf 90 hatte seinen Durchzug gehalten. Seit Anfang des Jahrhunderts war diese Krankheit verschollen gewesen. Nicht die ältesten Leute konnten sich auf sie besinnen. Die Ärzte rieten hilflos herum. Die Menschen starben wie die Fliegen im Herbst; besonders die ganz alten und die ganz jungen Jahrgänge fielen der Krankheit zum Opfer.

Ich flüchtete mich in die Arbeit und schrieb mein zweites dramatisches Opus in wenigen Wochen nieder. Es war im April 1890. Nach langem Suchen fand ich den Titel »Freie Liebe«. Ich wußte, daß es ein etwas greller Plakattitel war, aber mir fiel nichts Besseres ein. In meiner Gesamtausgabe führt es jetzt auch den Untertitel: »Szenen junger Leute von 1890.« Dies dürfte am besten Form und Wesen des Stückes umschreiben. Die Technik fußte auf der von »Papa Hamlet« übernommenen Formel möglichster Wirklichkeitsnähe; nur versuchte ich, sie, meiner Natur gemäß, mit einem besonderen und eigenen Stimmungselement zu durchtränken, von dem ich das Gefühl hatte, daß es meine persönlichste Domäne sei. Den Stoff entnahm ich meinen Erfahrungen und Kämpfen der letzten Jahre: in ein kurzes Wort gebracht, meinem Zweiseelentum zwischen Alice und Elise, wie sie im Stück hießen.

Gleich nachdem ich fertig geworden war, las ich auf eine Einladung von Arno Holz das Drama bei ihm vor. Außer dem messerscharfen Holz und dem behaglichen Johannes Schlaf, den beiden damals noch Unzertrennlichen, waren noch Hauptmann, Brahm und wahrscheinlich auch S. Fischer zugegen. Dieser spielte als Verleger und maßgebender geschäftlicher Berater der Freien-Bühnen-Bewegung bereits eine große Rolle; man hörte sehr auf sein Wort. Er war der Verleger von Hauptmann, und der Ehrgeiz von uns Jüngeren strebte natürlich dahin, es Hauptmann gleichzutun und ebenfalls bei S. Fischer zu erscheinen. Ich hatte ihn vor kurzem kennengelernt; er kam mir gleich ungemein kordial und zwanglos entgegen und schien offenbar Gefallen an mir zu finden.

Meine Hoffnungen, die ich auf die neue Arbeit gesetzt hatte, waren wieder einmal trügerisch gewesen. Brahm blieb sich konsequent, indem er auch von diesem Stück, das ich ihm für die »Freie Bühne« anbot, nichts wissen wollte. Ich hörte, daß er nach jener Vorlesung bei Holz geäußert hatte, ich sei eine Erscheinung wie Lenz – wie Jakob Michael Reinhold Lenz – und ich werde wohl auch so enden. Lenz hatte zu Moskau im Rinnstein geendet. Ich nahm mir die Prognose nicht sehr zu Herzen, viel mehr die Ablehnung meines Stückes, und wurde im übrigen dadurch auf Lenz gelenkt, was noch bedeutsame Folgen für mich haben sollte. Lenz hatte in Sesenheim Friderike Brion geliebt; hatte sie nach Goethe und unglücklich geliebt, wie es nun einmal in seinen Sternen stand, hinter Goethe einherzuwandeln und ihn doch niemals einzuholen. Ich erfaßte den tieferen Sinn von Brahms Vergleich sehr gut und wußte wohl, wer in meinem Fall Goethe sein sollte. Aber wenn schon jedes Blatt am Baum in Form und Gestalt einmalig ist und so nie wiederkommt, um wieviel »einmaliger« Menschenleben und Menschenschicksal! Also ließ ich es mich nicht anfechten und ging meine Straße fürbaß.

Es gibt ein sehr schönes Gedicht von Lenz, es heißt: »Die Liebe auf dem Lande« und bezieht sich auf Friderike Brion, die von Goethe Geliebte und Verlassene.

Denn immer, immer, immer doch
Schwebt ihr das Bild an Wänden noch
Von einem Menschen, welcher kam
Und ihr als Kind das Herze nahm.
Fast ausgelöscht ist sein Gesicht,
Doch seiner Worte Trost noch nicht.

Im Spätfrühling 1890 besuchte ich noch einmal, zum letztenmal, meinen Onkel Rompf und meine Base Adele im Pfarrhof zu Griebenau. Sieben Jahre waren seit jenem ersten unvergeßlichen Besuch verflossen. Welch eine Welt von Erlebnissen, welch ein Ozean von Gefühlen lag zwischen damals und jetzt! Die Erinnerung vermochte wohl sich von Küste zu Küste hinüberzuschwingen und mit kargem, ärmlichem Wort das damals Erlebte zu wiederholen. Aber nichts konnte den sinnenhaften Zauber von einst zurückrufen und ihn mit dem Atem von heute beseelen. Ich erfuhr auf meine Weise, was Goethe erfahren hatte, als er nach Jahren wieder nach Sesenheim kam und Friderike noch einmal, zum letztenmal, begegnete. Jene Spätfrühlingstage 1890 in Griebenau brachten erst die eigentliche Empfängnisstunde für mein zwei Jahre später geborenes Drama »Jugend«. Ich habe meine Base Adele nie wiedergesehen. Sie ist seit langem nicht mehr unter den Lebenden. Sie starb, ein einsames, älteres Mädchen, im Weltkrieg als eines von seinen unzähligen, stumm duldenden Opfern, und hat ihr letztes Erdenplätzchen in Zoppot gefunden. Auch Onkel Rompf kam nicht zu hohen Jahren. Er starb bereits 1892, also bald nach meinem Besuch. Ich bin der letzte Überlebende unseres Pfarrhofidylls zu Griebenau.

Das große Säkularereignis jener Epoche war Nietzsche. Sein Geist war in seiner körperlichen Wesenheit damals bereits umnachtet. Aber seine unsichtbaren Strahlen drangen bis in die fernsten Bezirke, revolutionierten die Geister, wühlten den Urgrund der Seelen auf und bereicherten unser Sprachgut in Rhythmus und Wortbildung, wie es seit Luthers Tagen nicht mehr geschehen war. Ich denke hier zuvörderst an den Zarathustra, dessen ungeheurer Wirkung ich für einige Zeit ganz erlag. Wie es aber in der Natur aller dieser unsichtbaren Strahlen liegt, deren geheimnisvolle Welt sich erst langsam zu erschließen beginnt: falsch gehandhabt, als Werkzeug von Unberufenen, können sie ebenso großen Schaden stiften wie im umgekehrten Falle unermeßlichen Segen. Auch Nietzsches Wort ist diesem Verhängnis nicht entgangen. Sein Herrenmensch, seine blonde Bestie, um nur ein paar von jenen damaligen falsch verstandenen Modebegriffen zu nennen, haben in den Köpfen der Mittelmäßigen eine heillose Verwirrung angerichtet und sind von der Schar unserer auswärtigen Feinde sogar als politische Argumente gegen uns verwertet worden.

Im Sommer 1890 fuhr ich auf ein paar Wochen nach München. Dort war im Jahre vorher die »Gesellschaft für modernes Leben« gegründet worden. Ihr geistiger Vater war Michael Georg Conrad. Hinter ihm standen Bierbaum, Panizza, Scharf, Schaumberg, Schaumberger, Gumppenberg. Sie alle weisen bereits in den zweiten Teil meines Lebensberichts hinüber. Das gleiche gilt für Frank Wedekind, mit dem ich ebenfalls in jenen Münchner Augusttagen 1890 zum erstenmal zusammentraf. Ich brachte, außer einem Sack voll neuen, sehr folgenreichen Bekanntschaften, auch eine schmerzvolle und peinigende Ischias nach Berlin mit, die ich der vierzehntägigen Münchner Regenperiode zu verdanken hatte. Ich war eine Woche bettlägerig, mußte geraume Zeit am Stock gehen und wurde von allen meinen Bekannten für einen Rückenmarkschwindsuchtskandidaten gehalten, so daß ich es schließlich selber glaubte. Diese Zwangsvorstellung hat dreiviertel Jahre angehalten und mich durch die vollendete Mimikry jener Krankheitssymptome fast zur Verzweiflung getrieben. Und meine arme Frau mit mir. Wie ich es heute übersehe, waren es die ersten drohenden Vorboten eines quälenden Nerven- und Gemütsleidens, das zwanzig Jahre hindurch, wenn auch mit längeren Unterbrechungen, andauern und sich bis zur Unerträglichkeit steigern sollte.

Ich habe soeben meine durch dies alles in Mitleidenschaft gezogene Frau erwähnt, aber noch nichts von meiner Heirat erzählt. Ich hole also das Versäumnis nach. Am 4. Oktober 1890 wurde ich fünfundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter hatte mein Vater sich mit meiner Mutter verheiratet. Offenbar war es auch das mir vorbestimmte Heiratsalter. Bereits seit dem Sommer 1890 trug ich mich mit dem Plan, meine bisherige freie Verbindung mit Luise Heck auch äußerlich zu einer rechtsgültigen und dauernden zu machen. Wir hatten uns jetzt vier Jahre angehört, während welcher Zeit unser beider Wesen immer inniger verschmolzen war. Auch jenes mehrfach erwähnte Zweiseelentum oder wenigstens seine gegenwärtige Erscheinungsform war in den Hintergrund getreten und verblaßt, seitdem ich es mir in der »Freien Liebe« einmal von der Seele geschrieben hatte. Ich besaß trotzdem Klarheit genug gegenüber meiner mir durch Geburt und Schicksal überkommenen Wesenheit, um mich darauf gefaßt zu machen, daß immer wieder Rückfälle in diesen labilen Seelenzustand erfolgen könnten; wie es ja auch chronische Krankheiten gibt, von denen man nicht vollständig geheilt werden kann. Als ich dies; meiner Luise anvertraute, die es aber schon ohnedies wußte, und ihr die Frage vorlegte, ob wir es trotzdem und auf alle Gefahr hin wagen wollten, antwortete sie mit einem lauten und vernehmlichen Ja, wie es sonst vor dem Standesbeamten zu geschehen pflegt. Nachdem solchermaßen das Siegel der Seelen unter unsern Bund gesetzt war, trafen wir die nötigen Anstalten, um ihn auch äußerlich zu vollenden.

Es war wenig genug, was wir fürs erste tun konnten. Wir kauften einen Tisch, ein paar Stühle, die Betten, das Unentbehrliche an Küchengeschirr – alles höchst einstweilig und primitiv –, entliehen auch noch einiges, ein pritschenartiges Sofa und dergleichen, von Malyoths Zimmervermieterin und zogen nach der Kulmstraße 30 ins Erdgeschoß des Hinterhauses. Unsere Trauung fand auf dem Standesamt in der Genthinerstraße statt; ich kaufte mir eine neue Krawatte dazu. Es war im Winter 1890 zu 91. Grimmige Kälte herrschte. Die Hochzeit war klein, aber festlich. Wir hatten sogar einen feisten Rehrücken eingekauft und veritabler Bordeaux floß dazu, den einer unserer Hochzeitsgäste gestiftet hatte, Dedeo Herrmann, der Schwager der bereits damals durch ihre Freundschaft mit Nietzsche berühmten Lou Andreas Salomé. Malyoth, bisheriger Theatermann und vorübergehend in einer Automatengesellschaft tätig, Marschalk, bisheriger Maler und Photograph sowie angehender Komponist, und Binder, früherer Student und vorübergehender Photograph, vervollständigten unsere Hochzeitstafel in der Hinterhauswohnung der Kulmstraße. Wir hatten dort den winterlichen Ausblick auf einen kleinen Hof mit Pferdestall und auf die Geleise der Potsdamer Bahn dahinter, auf denen fast ununterbrochen Züge dahinrollten. In dem kleinen Hof aber vor meinen Fenstern spazierte tagsüber ein großer brauner Gaul herum, der zu dem Pferdestall gehörte und mir öfters freundlich zuwieherte. War es nicht wie ein Gleichnis des eigenen Lebens für den Bauernsohn, der zum Großstädter geworden war: dieses selbstverständliche Beieinander von Pferdestall, wieherndem Gaul und schnaubenden Vorortzügen? Scholle und Schicksal!

Frau Luise Halbe 1886

Eine ärmliche und dürftige Umwelt, in der dieses erste Jahr unserer jungen Ehe dahinging. Durfte ich mich beklagen? Ich hatte mich aus freiem Willen in den engen und knappen Lebensrahmen hineingezwängt und mußte mich damit abzufinden suchen. Aber es kamen dunkle Stunden genug. Das Verhältnis mit meinen Eltern, zumal mit meiner Mutter, hatte sich sehr verschlechtert. Sie glaubte nicht an ein dauerndes Glück aus dieser Verbindung und war in tiefem Groll von mir geschieden, nachdem sie bei einem Besuch in Berlin vergebens ihre ganze Überredungskraft aufgeboten hatte, um mich umzustimmen. Lange Jahre sollten vergehen, ehe ich selbst und persönlicher Augenschein sie eines Besseren überzeugen konnten. Mein Vater war trotz alledem nobel genug, mir meinen bisherigen Studentenwechsel zukommen zu lassen. So war wenigstens für das Allernötigste gesorgt. Aber es reichte doch selbst in dem kleinen Haushalt nicht hin und nicht her. Meine junge Frau darbte es sich, ohne es mich merken zu lassen, am eigenen Munde ab, nur damit es mir am früher Gewohnten nicht fehlen möge. Ich litt sehr darunter, da es ja doch unmöglich war, dies alles vor mir zu verbergen.

Ich erkannte, daß ich ohne Brotarbeit nicht durchkommen werde. Aber gerade vor dieser hatte ich mich immer am meisten gefürchtet, in der falschen oder richtigen Meinung (einerlei!), daß sie den Anfang vom Ende meiner dichterischen Arbeiten und Pläne bedeuten werde. Ich experimentierte damals viel herum, schrieb Skizzen, Studien, versuchte mich in rhythmischer Prosa, sammelte Hefte voll Lebensbeobachtungen, trachtete in allem, was ich sah und niederschrieb, nach Wahrheit, Echtheit, Wirklichkeitsnähe, Lebenstreue, und entwarf in monatelanger Arbeit den ausführlichen Plan zu einem großen Entwicklungsroman, der darin vor drängenden Sorgen unangefangen blieb, ein Jahr später von mir wieder aufgenommen wurde und zu einem größeren Bruchstück anwuchs, bis mir schließlich das Manuskript auf einer späteren Reise in Italien abhanden und nie wieder zum Vorschein kam. Aber wenn somit aus dieser Arbeit nichts werden sollte, so war sie dennoch nicht umsonst getan, da doch das Resultat der Arbeit, die Übung im Technischen, die Entwicklung im Handwerklichen, im Formalen mir ja verblieb und fortbildend mir bei späterem Beginnen die Hand führte.

Was jene unvermeidliche Brotarbeit betraf, so war ich auf den Ausweg verfallen, nur rein sachliche und populärwissenschaftliche Schriftstellerei zu betreiben, dafür aber dem Feuilleton als einer gefährlichen und abwegigen Halbkunst, wie ich sie nun einmal ansah, aus dem Wege zu gehen. Ich warf mich auf die damals gerade in Aufnahme kommenden Heilbücher des Pfarrers Kneipp, schrieb lange Aufsätze über Kniegüsse und Wassertreten und wurde dabei für längere Zeit selbst ein erklärter Parteigänger des segensreichen Mannes von Wörishofen. Ein andermal vollführte ich eine ausgiebige Erkundungsreise im Reiche des Porzellans, seiner Geschichte, seiner Erfindung und seiner Bereitung und verdiente mir für damalige Verhältnisse ein hübsches Honorar. So gelang es mir, unser bescheidenes Lebensgefährt auf manchmal recht abschüssigen Pfaden durch das Jahr 1891 durchzukutschieren.

Bereits gegen das Ende dieses Jahres trat die erste bedeutsame Wendung in meinem literarischen Schicksal ein. Wir waren im Spätsommer aus unserem überaus dürftigen Erstlingsheim nach dem damals noch sehr vorörtlichen Friedenau übergesiedelt, wo wir in der Handjerystraße 86 eine hübsche zweizimmrige Mansardenwohnung, also diesmal hoch oben und mit prächtiger Aussicht über die Dächerwelt, gefunden hatten. Im Anschluß daran hatte ich mit meiner jungen Frau eine achttägige Fußreise durch den Harz unternommen, während welcher man in Goslar uns als einem hinreichend verdächtigen Liebespaar um ein Haar das Nachtquartier verweigert hätte. (Aber wir hatten ja unseren Trauschein nicht nur im Herzen, sondern auch in der Tasche und lachten im stillen über den tölpelhaften Portier.) Dann setzte ich mich in Friedenau hin und schrieb, von einem plötzlichen schöpferischen Raptus ergriffen, in zwei Monaten mein Drama »Eisgang« nieder. Wer auf diesen Blättern meinem Weg bis hierher gefolgt ist, dem wird ohne weiteres klar sein, welches das primäre Erlebnis dieses dichterischen Zeugungsakts war: Mein heimatlicher Strom, die Weichsel, und der erschütternde Eindruck ihrer elementaren Gewalten, womit sie meine Kindheitsphantasie aufgewühlt und befruchtet hatte. Indem sich hierzu so etwas wie ein Extrakt der die Zeit bewegenden sozialen Ideen gesellte und ein von mir beobachtetes Menschenschicksal die leibliche Einkleidung und Materialisierung darbot, ward aus dem Ganzen ein lebhaft sprechendes Zeitdokument und ein leidlich gestaltetes Stück Leben. Es ist hier nicht der Platz, näher auf den Inhalt des Stücks und seine Voraussetzungen einzugehen.

Schon im Herbst 1890 hatte sich in der sozialistischen Bewegung eine Klärung und Spaltung der Geister vollzogen. Die intellektuelle Richtung im Sozialismus, die ja vom proletarischen Klassenbewußtsein nie als ganz vollwertig anerkannt worden war, hatte ihren eigenen Weg eingeschlagen und war als Revisionismus in den Parteibann getan worden. Die Führer dieser intellektuellen Heerschar, Bruno Wille, der die volkstümliche Beredsamkeit eines Wanderpredigers mit einem nicht alltäglichen Idealismus und Gedankenreichtum verband, der naturwissenschaftliche, rheinisch-fröhliche Wilhelm Bölsche, der bedachtsame Heinrich und der stürmische Julius Hart, zwei westfälische Eisenköpfe und ihrer Zeit vorauseilende Pfadfinder, der aus dem Kleinbürgertum kommende Wildberger, ein fortreißender Volksredner und bewährter Taktiker, die beiden Akademiker Paul und Bernhard Kampffmeyer – sie alle sahen sich gegenüber dem Bannfluch der orthodoxen Parteirichtung in eine Verteidigungs- und Abwehrstellung gedrängt. Welchen günstigeren Boden hätten sie für sich und ihre Anhängerschaft finden können als die bisher so ganz vernachlässigte Pflege der künstlerischen und kulturellen Lebensgüter! So war unter den Auspizien von Wille, Bölsche, den Brüdern Hart die »Freie Volksbühne« in Berlin gegründet worden und hatte schnell Fuß unter dem arbeitenden Volk gefaßt. Die Kunst dem Volke! So hieß der Werberuf, der weit über Berlin ins Reich hinaus schallte und eine immer wachsende Gemeinde von Hungrigen und Durstigen im Geiste um sein Banner versammelte. Diese »Freie Volksbühne« war es, die am 7. Februar 1892 meinen »Eisgang« im Belle-Alliance-Theater in Berlin aufführte und mich dadurch zum erstenmal auf die Bühne brachte. Schon zu Weihnachten 1891 stand ich mit dieser sehr rührigen und aktivistischen Gruppe in engerer Verbindung und las mein gerade beendigtes Stück in diesem Kreise vor. Ihm gehörten außer den schon Genannten auch noch Fritz Mauthner und Otto Erich Hartleben an. Mauthners philosophische Tätigkeit sollte sich erst in einer späteren Zeit dokumentieren. Man kannte ihn damals nur als äußerst scharfsinnigen Kopf, der an allen Erscheinungen schonungslose Kritik übte, und als den Verfasser der heute vergessenen Parodiensammlung »Nach berühmten Mustern«.

Was Otto Erich Hartleben anbetrifft, so hatte ich schon seit Jahren viel von ihm reden hören. Er war eine der bekanntesten Persönlichkeiten der jungen Literatur, damals noch weniger auf Grund seiner dichterischen und literarischen Arbeiten als durch seinen aufs höchste entwickelten Geselligkeitstrieb und durch einen fast märchenhaften Pilsener Bierverbrauch. Er galt zu jener Zeit in der Öffentlichkeit eigentlich nur als ein phänomenales Kneip- und Kneipengenie. So war er auch mir erschienen, ehe ich persönlich mit ihm in Berührung getreten war. Aber schon bei unserem ersten Zusammensein, dann erst recht in einigen stark verlängerten Nachtsitzungen, kam mir klar zum Bewußtsein, daß jenes allgemeine Urteil über Hartleben doch sehr an der Oberfläche blieb und jedenfalls nur die eine, allerdings die am meisten in die Augen fallende Seite seines Wesens traf. Otto Erich – so hatte er sich selbst als Verfasser früher Lyrik genannt und so blieb er auch später als Liebling der öffentlichen Meinung –, Otto Erich hatte eine Reihe von Appartements der Seele, die nur seinen Vertrauten zugänglich waren, zu denen er keinen von seinen zahlreichen Zechkumpanen zuließ und wo er sich als ein höchst ernsthafter, ja zuzeiten schwermütiger, von seiner ethischen Verantwortung tief durchdrungener Geist gleichsam selbst Audienz gab und sich auch seinen Freunden so zeigte. Dann lernte man den Schwärmer, den Poeten, den streng bildenden Formkünstler im Platenschen Sinne, ja auch den heimlichen Aristokraten in ihm kennen, der wie Prinz: Heinz im tiefsten Grunde nur sein Spiel mit dem ihn umschwirrenden Kneipengelichter trieb.

Mit diesem aristokratischen, signorilen Zug des Bergratssohnes vertrug es sich auch ganz gut, daß er, wenigstens zu jener Zeit, ein strammer Demokrat und Sozialist war, was sich freilich später ändern sollte. Dieser seiner damaligen Parteigesinnung hatte er wohl auch seine Berufung in den Ausschuß und Vorstand der Freien Volksbühne verdankt. An jenem Abend, als ich dort meinen »Eisgang« vorlas und dessen sofortige Annahme erreichte, erlebte ich Otto Erich zum erstenmal in seiner Eigenschaft als unermüdlichen Zechkumpan und nachher in seiner Wohnung in der Karlstraße, wo er mir auf seinem sogenannten Tristanlager ein sehr spätes Nachtquartier bereitete, als dionysisch verschwärmten, heidnisch-antiken Götterjüngling.

Der Erfolg des »Eisgangs« beim Publikum der Freien Volksbühne an jenem Februarsonntag 1892 war stark, einmütig und herzlich. Die Regie des Stückes hatte J. G. Stollberg geführt und auch selbst eine auf Bonhomie angelegte Arztrolle darin gespielt. Eine Lebensfreundschaft begann hier, von der im zweiten Teil noch die Rede sein wird. Zur Aufnahme des »Eisgangs« sei abschließend nur noch erwähnt, daß am nächsten Tage die Berliner Kritik mich teils als eine Hoffnung und als einen der Kommenden rühmte, teils aber auch jämmerlich herunterriß und mir meine offenkundige Talentlosigkeit bescheinigte. Ich brauchte mir also nur auszusuchen, was ich glauben wollte. Aber wenn ich auch heute darüber lächle, so war es doch damals ernsthaft genug für mich.

Bereits einige Wochen vor dieser Premiere, im Januar 1892, hatte ich in Friedenau einen Besuch von Wilhelm Arent, einem der beiden Herausgeber jener einstigen »Modernen Dichtercharaktere«. Arent war ein schöner Mensch, der großen Eindruck auf Frauenherzen machte und fortwährend in Liebesaffären verstrickt war. Er sah mit seinem römischen Antinouskopf wie ein Schauspieler aus und hat später auch diesen Weg eingeschlagen, um dann schon früh im Irrsinn zu enden. Ich hatte ihn durch Marschalk kennengelernt, der einige von seinen Gedichten vertont hatte. Auch ich fand Arents Lyrik sehr schön und von einem manchmal bezaubernden Wohllaut der Melodie. So waren wir in eine angenehme Beziehung gekommen.

Arent forderte mich bei jenem Besuch auf, für den bevorstehenden hundertjährigen Todestag von Jakob Michael Reinhold Lenz einen größeren Aufsatz in Conrads »Gesellschaft« zu schreiben. Er fühlte eine starke innere Verwandtschaft mit dem tragisch geendeten Stürmer und Dränger; ja es war eine von seinen bereits etwas halluzinatorischen Ideen, daß er die Reinkarnation von Lenz sei, nicht nur bildlich, sondern ganz wörtlich genommen, und daß ihm daher natürlicherweise auch die Pflicht obliege, für den Ruhm seines eigenen früheren Ichs, somit eigentlich für sich selbst, das Nötige zu tun. Denn damals war Lenz so gut wie vergessen. Ich erinnerte mich an jene Äußerung von Brahm, worin er mich mit Lenz verglichen, mir auch einen ähnlichen Ausgang vorausgesagt hatte, und beschloß, der Anregung von Arent zu folgen, um auf diese Weise doch nun endlich mit meinem Vorbild und Gleichnis bekannt zu werden. In einigen heißen Tagen und Wochen las ich Lenzens dramatisches Werk und legte meine Eindrücke in einem großen Aufsatz nieder, der dann auch in der »Gesellschaft« erschien.

Auch in Lenzens Leben hatte ja, ich sagte es schon, wie in dem Goethes, Sesenheim eine Rolle gespielt. Auch Lenz hatte, als Nachfolger Goethes, Friderike Brion geliebt. Während mich noch, im Verfolg dieser Vorstellungen und Gedanken, Sesenheim als dichterischer Stoff beschäftigte, stieg unversehens vor meiner Seele die Erinnerung an das eigene Liebeserlebnis in einem anderen Pfarrhof auf. Und durch eine dieser blitzartig sich vollziehenden Metamorphosen der Phantasie ward aus Sesenheim Griebenau für mich. Zwischen der lichten süddeutschen Welt des protestantischen Pfarrhauses im Elsaß und der schwermütigen Atmosphäre des katholischen Pfarrhauses im Osten, zwischen dem Sturm und Drang des sinkenden achtzehnten Jahrhunderts und dem Sturm und Drang des zu Abend gehenden neunzehnten, sprang der Zeugungsfunke der »Jugend«.

Die äußeren Umstände, unter denen sich dies vollzog, sind mir gegenwärtig, als sei es heute. Es war eine Woche nach der Aufführung meines »Eisgangs«. Ich war zum erstenmal auf die Bretter gekommen, hatte Bühnenperspektive, Bühnenwirkung kennengelernt, hatte Erfahrung des Theaters gesammelt, was alles mir bis dahin nur instinktiv bewußt gewesen war. Ich glaubte auf einmal, deutlich das Wesen des Dramatischen zu durchschauen, und wollte sofort an eine neue Arbeit gehen, um die frisch gewonnene Erkenntnis in Tat umzusetzen. Und nicht nur ein naturalistisch getreues Bild der Wirklichkeit sollte es werden; auch keine Armeleute-Malerei, wie sie damals im Zug der Zeit lag. Was ich wollte, wonach ich suchte, war ein zeitloser, seinem Wesen nach unvergänglicher Stoff; war Menschlichkeit im Bunde mit Schönheit, als Gegensatz zu dem die Bühne beherrschenden Grau in Grau.

Von diesem geradezu leidenschaftlichen Trieb in stärkster Weise durchdrungen, saß ich in meinem Arbeitszimmer zu Friedenau am Schreibtisch und sah in jenem merkwürdigen Zustand von Träumerei, Erwartung, Befangenheit aus dem Fenster über die Dächer hinweg. Es war ein Vormittag um die Mitte des Februars. Der Himmel war bedeckt, aber die Wolkenstimmung hatte einen zarten, warmen Schimmer. Etwas verhalten Leuchtendes, ein allererstes Vorfrühlingsahnen lag in der Luft. Blaugrauer Rauch stieg aus den Schornsteinen. Er erschien mir farbiger, freudiger als sonst. Von einem der Nachbarhöfe, über die man hinwegsah, kam der Klang eines Leierkastens. Unzertrennlich war dieser Klang mir verbunden mit Kindheits- und Vorfrühlingsstimmung, denn in der altersgrauen Stadt meiner Schülertage, in Marienburg, tauchten als erste Frühlingsboten die Leierkastenmänner auf, die während des Winters verstummt waren. Ihre Weisen klangen an milden Februartagen, wenn zuerst das zunehmende Licht sich bemerkbar machte, durch die alten Gassen.

Dies alles fiel mir an jenem Vormittag jenes Februartages wieder ein, aber nicht langsam, nicht nacheinander, sondern plötzlich, unvermittelt, gleichzeitig: warme schimmernde Wolkenstimmung, blaugrauer leuchtender Rauch, halb winselnder, halb sehnsüchtiger Leierkastenklang, Goethe, Lenz, Sesenheim, Griebenau, zwei verliebte Menschenkinder, verhangener Frühlingshimmel, eine schwermütige polnische Landschaft.

Neun Jahre lag das menschliche Erlebnis zurück, woran jetzt das Erinnerungsbild anknüpfte. Und mit einem Schlage stand das fertige Drama vor mir da. Denn auch zwei neue Gestalten waren jetzt in das Bild eingetreten, die nichts mit dem Erlebnis zu tun gehabt hatten, aber für den dramatischen Fortgang der Handlung, für die Gegenüberstellung und Kontrastierung, für die Umgestaltung des Idylls zum Drama unentbehrlich waren: die Figuren des Kaplans und des Amandus. Erst sie brachten den dramatischen Sauerteig in das Pfarrhausidyll und vollzogen den Umwandlungsprozeß der erst geplanten Novelle zum Schauspiel. Der dramatische Entwurf war in Kürze da und ich ging an die Niederschrift. Zum ersten Akt brauchte ich vier Wochen, in die auch noch die Vollendung jenes Lenzaufsatzes fiel; zum zweiten Akt waren acht Tage, zum dritten Akt gar nur drei Tage nötig. Am 11. April 1892 war ich fertig. Die beiden letzten Akte hatte ich in Derben an der Elbe, im Hause meines Schwiegervaters, geschrieben, wohin ich mich für ein paar Wochen zurückgezogen hatte. Während des letzten Aktes befand ich mich in einem Zustande vollständiger Auflösung und Exaltation, so daß ich glaubte, meine Nerven würden es nicht überstehen. Aber auch das ging vorüber. Nach Berlin zurückgekehrt, lud ich ein paar von meinen Freunden und Erkannten zur Vorlesung meines Dramas ein. Sie fand im Atelier von Walter Leistikow in der Lützowstraße statt. Wir selbst waren ohne Wohnung, da wir den Sommer über nach Ammerland am Starnberger See gehen wollten. An jenem Abend nahmen, außer Leistikow und seinem Bruder, noch Marschalk, Otto Erich Hartleben und Emanuel Reicher teil. Dieser, der Führer und Meister einer jüngeren naturalistischen Schauspielergeneration, die vor der Tür stand, plante für den Sommer ein Gesamtgastspiel in der bevorstehenden Wiener Theaterausstellung und suchte nach einem modernen Stück dafür. Ich hatte gehofft, daß er mein Drama »Im Pfarrhof«, so hieß es damals noch, annehmen werde, und hatte ihn daher zur Vorlesung gebeten. Aber die Hoffnung trog. Ich erzielte zwar mit meinem Drama eine außerordentliche Wirkung bei allen Versammelten, Reicher miteinbegriffen, aber er entzog sich ihr wieder mit der Behauptung, das alles höre sich zwar sehr schön an, lasse sich aber auf der Bühne nicht spielen. Besonders den zweiten Akt erklärte er für unmöglich. Hartleben ärgerte sich derart über ihn, daß er mir ganz laut über den Tisch weg zurief: »Ach, höre doch nicht auf den Schmierenkomödianten!« Reicher nahm das nicht weiter krumm, blieb aber bei seinem Entschluß.

Ein volles Jahr sollte noch vergehen, ehe meine Hoffnungen auf die Bühne sich erfüllten. Ein Jahr der schwersten Fehlschläge, der schlimmsten Enttäuschungen! Ich kann mit Fug und Recht von meiner »Jugend« sagen (auf den Titel kam ich im Sommer 1892), daß sie eines der abgelehntesten Stücke aller Zeiten gewesen ist. Blumenthal gab mir das Werk zurück mit einem handschriftlichen Begleitbrief, worin unter anderem zu lesen stand, daß ein Bühnenerfolg nahezu ausgeschlossen sei. So ähnlich lauteten die Wahrsprüche auch von allen den anderen Bühnen, die ich im Laufe des Jahres mit meiner Arbeit beglückte. Ich war in einer Stimmung, die von Raserei und Verzweiflung nicht weit entfernt war. Ich sah, wie die anderen, die Gleichzeitigen und Mitstrebenden, sich die Bühne eroberten und große Erfolge errangen. Im Januar 1893 hatte Sudermanns »Heimat« einen stürmischen Erfolg, im Februar Fulda mit seinem »Talisman«, im März Hauptmann mit seinen »Webern«. Aber jetzt war auch die Reihe an mir. Ungeahnt fast schlug meine Stunde.

Bereits im Spätherbst 1892, nach der Rückkehr von unserem beinahe halbjährigen Sommeraufenthalt in Ammerland, hatte ich eine Verbindung mit dem Berliner Residenztheater anzuknüpfen versucht. Sein ebenso geschäftsgewandter wie dekorativer Direktor war seit einigen Jahren Siegmund Lautenburg. Das Theater hatte schon unter seinem Vorgänger Anno einen sehr belebenden und befruchtenden Einfluß ausgeübt, indem es das französische Sittendrama jener Tage nach Berlin importiert und damit wenigstens einen Luftzug frischeren Zeitgeistes in die stockige deutsche Theater-Atmosphäre gebracht hatte. Ich habe hiervon bereits früher gesprochen.

Lautenburg hatte das Theater in einer Krise übernommen und mit dem untrüglichen Blick des Geschäftsmanns sofort erkannt, daß die eigentliche Bestimmung seiner Bühne ihn auf das Amüsierstück, auf das Lustspiel, den Schwank französischer Herkunft und Marke hinweise. Schöne Frauen, prächtige Toiletten, ausgiebige Entkleidungen, glänzende Komiker: das war sein Rezept. Ausgezeichnete Kräfte standen ihm zur Verfügung, so der unübertreffliche Verlegenheitskomiker Richard Alexander, so der in seiner Art ebenso unwiderstehliche Pansa, die Inkarnation aller aus Tonking zurückgekehrten säbelrasselnden französischen Obersten, so der tiefmenschliche, rührende Pagay und manche kleineren Sterne, deren Namen kaum mehr die Theatergeschichte kennt. Daß Lautenburgs Spekulation richtig war, erwiesen die ausverkauften Häuser, die hundert oder zweihundert Wiederholungen von »Madame Bonivard«, »Schlafwagenkontrolleur« und wie sie alle hießen, jene französischen Schwanke, bei denen man vor Lachen schrie.

Aber der Ehrgeiz des unternehmungslustigen Mannes hatte sich an solchen Kassentriumphen auf die Dauer nicht genügen lassen. Sein Sinn stand ihm höher; er trachtete nach literarischen Lorbeeren, nach der Palme des literarischen Entdeckers, des Pfadfinders, des Bahnbrechers. Der junge Ruhm von Brahms »Freier Bühne« ließ ihn nicht schlafen, spornte zur Nacheiferung, zum Wettlauf an. Schon 1839 hatte er mit Ibsens »Wildente« einen ersten Versuch auf diesem Wege gemacht, der die Augen der literarischen Welt auf den neuen »Mann im Osten« gelenkt hatte.

Nach Ibsen kam Strindberg an die Reihe; nach dem Verkünder und Propheten modernen Weibtums sein Gegenpol, der Hasser und Ankläger des Weibes überhaupt, das Weibes als Typus, als Geschlechtswesen an sich. Es war der Strindberg der früheren und mittleren Epoche, den die Welt damals erst kannte, soweit sie überhaupt schon von ihm wußte. Lautenburg, wohl durch Freunde und kluge Berater auf Strindberg und seine damals noch sehr umkämpfte Erscheinung hingewiesen, witterte mit dem ihn eigenen Instinkt sogleich die Möglichkeit einer ruhmreichen literarischen Entdeckung und brachte in einer Sonntagsmatinee Strindbergs »Gläubiger« heraus. Neben der schon aufs beste eingeführten Rosa Bertens als Thekla traten zwei junge, bis dahin ganz unbekannte Schauspieler vor das Berliner Publikum, Josef Jarno als Gustav und Rudolf Rittner als Adolf. Der Eindruck auf das vollzählig versammelte literarische Berlin war ohne Zweifel stark, aber nachher im Widerhall der Presse doch sehr zwiespältig und umstritten. Alles Lob aber galt dem mutigen Direktor, der sich wieder einmal auf dichterisches Neuland vorgewagt hatte.

Lag es für diesen also nicht nahe genug, auf dem betretenen Wege fortzufahren? Was brauchte es mehr, als die Proben für die Sondervorstellung und die nicht allzu hohen Auslagen für diese selbst? Denn an eine Abendvorführung solcher dramatischen Leckerbissen war natürlich nicht zu denken. Man konnte sich seinen literarischen Ruhm schon etwas kosten lassen, aber ein ausverkauftes Abendhaus dafür hinzugeben wäre denn doch ein allzu hoher Preis gewesen. So hatte Lautenburg beschlossen, die Einrichtung der Sonntagsmatinee beizubehalten und es vielleicht auch einmal, wozu ihn natürlich die Presse ermahnte, mit einem deutschen Autor zu versuchen.

Dies war der Stand der Dinge, als durch Mittelsmänner mein Liebesdrama »Jugend« in das Büro des Residenztheaters und schließlich auch in die Hände des Direktors selbst gelangte. Wer diese Mittelsmänner waren, ist mir heute nicht mehr vollständig erinnerlich. War es Ernst von Wolzogen, der damals ebenfalls zum Kreise der »Freien Volksbühne« gehörte und in dessen »Lumpengesindel« dann der Friedrichshagener Kreis sein nicht gerade schmeichelhaftes Konterfei finden sollte? War es Rudolf Rittner, den Lautenburg gerade von Köln nach Berlin verpflanzt hatte und mit dem, als einem damals noch ganz Namenlosen, ich inzwischen bekannt geworden war? Waren es irgendwelche Dritte? Es ist mir schon damals nicht recht zum Bewußtsein gekommen, welche Kräfte eigentlich bei dem sich vorbereitenden »Wunder« (so kann man es im Hinblick auf die nachherigen Folgen wohl benennen!) mit im Spiele gewesen sind.

Wie auch immer! An einem schönen Wintersonntag zu Ende Januar 1893 – Monate waren seit der Einreichung meines Stückes verflossen – erhielt ich einen Brief von der Direktion des Residenztheaters, worin mir in kurzen Worten mitgeteilt wurde, daß mein Stück gelesen und zur Aufführung angenommen worden sei. Über das Wann und Wie werde mir noch Bescheid gegeben werden. Vorläufig sei das Theater noch hinreichend versorgt und bis zur Aufführung werde noch geraume Zeit verstreichen. Ich stürzte mit dem Brief zu meiner Frau ins Zimmer und rief ihr die Freudenbotschaft zu. Aber als wir dann den Brief zum dritten-, vierten-, fünftenmal lasen und auf die vielen Wenn und Aber stießen, mit denen jeder Hauptsatz verklausuliert war, stiegen uns doch sehr ernste Bedenken auf, ob nicht alles nur ein Nebelgespinst wie so oft beim Theater sei.

Einige Tage später machte ich meinen Antrittsbesuch im Residenztheater und wurde zunächst von meinem ostpreußischen Landsmann Paul Block, dem damaligen Dramaturgen, dann auch vom Direktor höchstselbst empfangen. Wie allgemein bekannt sein dürfte, ist es heutzutage leichter auf den Mars zu gelangen, als einer Privataudienz bei einem der Berliner Theatergewaltigen teilhaftig zu werden. Die Tatsache, daß ich als noch wenig bekannter Autor damals sofort Einlaß in das Allerheiligste des Direktors erhielt, beweist, welchen Fortschritt das Bewußtsein der Gottähnlichkeit inzwischen bei den heutigen Berliner Theaterdirektoren gemacht hat. Und doch verfügte der Mann, dem ich an jenem Wintertage zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, über eine nicht alltägliche Dosis von Selbstbewußtsein und äußerem Aplomb. Er ließ es nicht an allen den kleinen Merkmalen eines majestätischen Gottesgnadentums fehlen, um dem vor ihm sitzenden jungen namenlosen Autor zu imponieren und ihm seine Unbedeutendheit recht eindringlich zum Bewußtsein zu bringen.

Ich mußte mir von ihm erzählen lassen, daß der eben auf seiner Bühne laufende Schwank ein Zugstück sondergleichen sei und danach schon wieder ein neues Zugstück mit mindestens hundert ausverkauften Häusern sich in Vorbereitung befinde. Ja, es tauchte in fernster Perspektive bereits ein drittes Zugstück vor der Phantasie des Direktors auf. Zwischen alle diese Zugstücke hinein mein armes eigenes Drama einzuschieben, natürlich nur in einer Sonntagsmatinee, dies sei eben das zu lösende Problem, dem er sich während der nächsten Monate widmen werde. Damit war die Audienz beendigt und ich mußte mir, bei allem angeborenen Optimismus, dennoch im stillen eingestehen, daß meine Aussichten auf Aufführung, geschweige denn auf Erfolg meines Stückes ungefähr gleich groß waren wie diejenigen eines Mannes mit einem Achtellotterielos auf den Haupttreffer.

War es zu verwundern, daß meine Stimmung Tag für Tag, ja Stunde für Stunde zwischen Hoffnung und Entmutigung wechselte, wie sie es seit bald einem Jahr getan hatte? Mein schon von jeher äußerst reizbares und labiles Nervensystem, durch die fortwährenden Erregungen hin und her geworfen, aufgewühlt, erschüttert, drohte in die Brüche zu gehen. Um einen Ausgleich zu schaffen, von einer anderen Seite her wieder in Einklang mit mir zu kommen, hatte ich eine Arbeit vorgenommen, von der ich hoffen konnte, daß sie mich ablenken, aufheitern, zerstreuen werde. Es war der spätere schicksalsvolle »Amerikafahrer«, ein Schwank in Knittelreimen, nach einem bäuerlich heimatlichen, schon lange seiner Gestaltung harrenden Stoff. Die Arbeit machte mir in der Tat großen Spaß und erfüllte dadurch jedenfalls ihren Zweck. Ich überließ mich ganz meinem Übermut, vollführte die tollsten Knittelreimkapriolen und stand täglich ein paar Stunden sozusagen Kopf. Wenn ich es mir recht überlege, so verdanke ich dieser Geisteshygiene vielleicht meine Rettung vor einem schlimmen Zusammenbruch. Es war einer der Fälle von geistiger und seelischer Selbsthilfe meiner Natur, wie sie mir einige Male in meinem Leben begegnet sind.

Um das wechselvolle Bild meiner Enttäuschungen zu vervollständigen, muß ich hier noch etwas auf eine Verhandlung eingehen, die die »Freie Bühne« mit mir über die Aufführung meiner »Jugend« geführt hatte. Sie fiel in eben diesen Winter von 1892 zu 93 und ging von Paul Schlenther aus, der als Nachfolger Brahms die Leitung der »Freien Bühne« übernommen hatte. Es war ja selbstverständlich, daß ich das Stück seinerzeit Brahm als einem der ersten eingereicht hatte; und es war, nach der bisherigen Haltung Brahms, beinahe ebenso selbstverständlich, daß er auch dieses Stück für die »Freie Bühne« abgelehnt hatte: nicht mit eindeutigem klarem Wort, sondern auf eine verschleiernde, immer noch Hoffnung lassende Weise, der nur eben keine Erfüllung folgte. Ich konnte mir schließlich nicht verhehlen, daß von dieser Seite nichts für mich zu erwarten war. Brahm und seine »Freie Bühne«, so sagte ich mir, würde ich fortan aus meiner Lebensrechnung auszuschalten haben.

Da hörte man plötzlich, daß der kleine, äußerlich wie vertrocknete, immer an sich herumkurierende Diktator der »Freien Bühne« – als solcher hatte er sich füglich erwiesen – in äußerst aussichtsreichen Verhandlungen mit Adolf L'Arronge, dem allgewaltigen Beherrscher des Deutschen Theaters, über dessen Nachfolgerschaft stehe. Die Sensation war groß, und bald kam auch die Kunde, daß der Abschluß zwischen den beiden vollzogen sei. L'Arronge wollte noch die folgende Spielzeit bleiben. Im Herbst 1894 sollte die Direktion Brahm beginnen. Um sich ganz der Vorbereitung seiner großen Aufgabe zu widmen, legte Brahm schon jetzt die Leitung der »Freien Bühne« nieder, und Schlenther, wie gesagt, trat an seine Stelle. Mit ihm, der als Nachfolger Fontanes in kurzem der einflußreichste Theaterkritiker Berlins geworden war, schien sich ein Kurswechsel in der Führung des ihm anvertrauten Bühnenschiffes vorzubereiten.

Paul Schlenther, der Ostpreuße aus Insterburg und als solcher mir landsmannschaftlich nahestehend, hatte nichts von dem fanatischen Puritanismus des Hamburgers Brahm, den ich schon einmal an einer anderen Stelle ob seiner Härte, Unzugänglichkeit, Unbeugsamkeit den »Cromwell des Naturalismus« genannt habe. Schlenther war aus weicherem, biegsamerem Stoff, ließ sich mehr von der Phantasie beherrschen, war auch, wenn es nicht anders ging, ein Mann des Kompromisses, ohne gerade seine Grundsätze zu verleugnen. Er trank gern und oft Pilsener Bier, hatte eine wohllebige, behagliche Art des Daseinsgenusses, auch hierin sehr verschieden von dem nüchternen Asketen Brahm, der er trotz seiner Vorliebe für Austern und andere Tafelfreuden doch immer geblieben ist, schon darum, weil er ewig an Verdauungsbeschwerden litt. Brahm und Schlenther: man nannte die Namen damals in einem Atem, und doch trennte sie eine Welt, wie sich später auch ihre Wege, ganz entgegen der einstigen Kameradschaft, immer weiter voneinander entfernt haben. Brahm der Verstandesmensch, Schlenther der Phantasiemensch. Dieser Dingelstedt, jener Laube vergleichbar. In jedem von ihnen brannte die Flamme, ohne die es kein Leuchten und Erleuchten in dieser Welt gibt, aber in jedem von beiden brannte sie anders. In Brahm war es jenes kalte, bleiche Licht eines außerordentlichen Gehirns, das von Gletschern herzustammen scheint. Aus Schlenthers Wesen und Schreiben leuchtete das bunte, regenbogenfarbige Prisma einer aus der Erdtiefe gespeisten Phantasie.

Bald nachdem Schlenther an Stelle Brahms die Führung der »Freien Bühne« übernommen hatte, erhielt ich eine Aufforderung, ihn in der Redaktion der »Vossischen Zeitung« zu besuchen. Es handle sich um mein Drama »Jugend«. Begreiflich genug, daß ich sobald wie möglich nach der Breiten Straße ging, wo sich damals die »Vossische Zeitung« befand. Schlenthers äußere Erscheinung erschien mir gleich sehr vertrauenerweckend. Ein starkes, geradezu animalisches Behagen strömte von ihm aus, das aber nichts Ungeistiges, Plebejisches hatte, vielmehr einer überlegenen Geistigkeit Untertan zu sein schien und im Einklang mit ihr nur als die Emanation einer harmonischen Note wirkte. Und diesem inneren Bilde, das sich mir schon nach kurzem Beisammensein aufdrängte, entsprach auch das äußere. Auf einer breiten massiven, damals noch sehr gesunden Fleischesfülle saß, durch einen kurzen stämmigen Hals getragen, ein mächtiger melonenförmiger Schädel, dessen stark entwickelte Unterpartie – der üppige sinnliche Mund, die breitgedrückte Knopfnase – von einem äußerst klugen eindrucksvollen Augenpaar und einer in mächtiger Dimension sich aufwölbenden Stirn beherrscht wurde.

Ich war natürlich in höchster Spannung, was bei diesem Besuch für mich herauskommen werde, und sollte auch nicht lange zu warten haben. Schlenther schien schon damals kein Freund von langen Umschweifen zu sein. Er eröffnete mir mit seinem betont ostpreußischen Akzent – er sprach noch viel ostpreußischer als ich westpreußisch –, daß er mein Stück seinerzeit von Brahm zu lesen bekommen habe und anders darüber denke als dieser, der es ja abgelehnt habe. Er habe natürlich auch eine Menge von Einwänden, sei aber bereit, es in der »Freien Bühne« zu spielen, wenn ich mich herbeilassen würde, jenen Einwänden genügend Rechnung zu tragen. Überrascht und beglückt wie ich war, erklärte ich mich mit allen nötigen und möglichen Änderungen einverstanden und glaubte mich schon am Ziel meines langen erbitterten Ringens. Aber es sollte anders kommen. Nach einer Reihe von kleineren Änderungsvorschlägen, die er an Hand des Manuskripts machte und auf die ich eingehen konnte, ohne dem inneren Wesen des Stückes, wie ich es nun einmal sah, zu nahe zu treten, kam erst das dicke Ende nach.

Schlenther verlangte nämlich nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige Umgestaltung des Schlusses. Er verwarf den Schuß des Amandus, verwarf eigentlich die ganze Figur des Amandus, den er als Deus ex machina – wie nach ihm noch so mancher andere – und überhaupt als nur zu diesem Zweck erfunden bezeichnete, und bestand darauf, daß Annchen am Leben bleiben und Hans in die Welt hinausgehen solle, wobei dahingestellt bleiben mochte, ob sie sich später wiedersehen würden oder nicht. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und suchte Schlenther begreiflich zu machen, daß damit die eigentliche tragische Idee meines Stückes vollständig ins Wasser fallen würde und daß auch der Amandus nicht des Schusses wegen in die Handlung komponiert, sondern umgekehrt der Schuß die letzte unausweichliche Konsequenz aus der Figur des Amandus sei, der nun einmal untrennbar in die dramatische Vision hineingehöre und sich nicht daraus wegdenken lasse, ohne daß das ganze Gebilde in sich zusammenbreche.

Ich glaube, wir haben uns wohl eine Stunde und länger so ineinander verbissen und mit ostdeutscher Zähigkeit um unsere Ansichten gerungen. Das Ende vom Lied war, daß keiner nachgeben wollte. Schlenther beharrte auf seinem Standpunkt und machte die Aufführung davon abhängig. Ich wiederum erklärte, daß eine Änderung des Schlusses für mich unmöglich sei und daß ich unter diesen Umständen auf die Aufführung verzichten müsse. Man wird verstehen, daß mir bei dieser Erklärung nicht sehr wohl zumute war, aber ich konnte nun einmal nicht anders, da ich sonst meiner künstlerischen Überzeugung geradezu ins Gesicht geschlagen hätte. Die Ablehnung wurde mir auch noch dadurch besonders schwer gemacht, daß Paula Conrad-Schlenther, die berühmte, erquickend natürliche Naive des Königlichen Schauspielhauses und gerade damals mit Schlenther in junger Ehe verbunden, das Annchen hätte spielen sollen. Schlenther versprach es mir in aller Form, vorausgesetzt, daß wir einig würden und ich Annchen am Leben ließ. Er sagte es mit lachendem Munde, und ich lachte mit, aber es war uns beiden blutiger Ernst, und das Herz war mir schwer genug, als ich auch diesem stärksten Lockmittel gegenüber auf meinem Kopf bestehen mußte.

Unvergeßlich, wie diese ganze Szene, ist mir eine Bemerkung Schlenthers daraus geblieben, die seine dichterische Feinfühligkeit blitzartig beleuchtete. Er kam nämlich plötzlich auf Reinhold Lenz und auf Sesenheim zu sprechen und meinte, es müsse zwischen den beiden Liebenden in meinem Stück eben ein ähnliches Ende nehmen, wie damals im Pfarrhaus zu Sesenheim zwischen Goethe und Friderike, wobei er auch jenes Gedicht von Lenz »Die Liebe auf dem Lande« zitierte. Aus dem früher Erzählten wird dem Leser noch erinnerlich sein, daß es ja gerade das Sesenheimer Idyll gewesen war, das jenen dichterischen Verschmelzungsprozeß mit dem eigenen Erlebnis in dem ostdeutschen Pfarrhof erfahren hatte und dadurch zur eigentlichen Urzelle meines Dramas geworden war. Ich bewunderte Schlenther im stillen wegen seines dichterischen Einfühlungsvermögens, so sehr ich mich auch über ihn ärgerte, und wir schieden mit einem freundschaftlichen Handschlag, wenn auch unverrichteter Dinge. Seine Stunde in meinem Leben hatte noch nicht geschlagen.

Es war wieder nur eine Enttäuschung mehr. Das Letzte, was mir noch blieb, war die sehr vage und unbestimmte Hoffnung auf Lautenburg und seine briefliche wie mündliche Annahme meines Stückes. Ich sage brieflich und mündlich, da es nicht möglich war, einen rechtsgültigen Vertrag von ihm zu erhalten. Ich glaube mich zu entsinnen, daß ich während jener Vorfrühlingswochen im Februar und März 1893 ein halbes dutzendmal von Friedenau nach dem Residenztheater im Berliner Osten gepilgert bin, ohne einen Schritt weiterzukommen. So oft ich den Direktor zu Gesicht bekam, steckte er feierlich die Hand in den Westenausschnitt und beteuerte mir, indem er mit der anderen Hand seinen Kaiserschnurrbart strich und den tiefsonoren Ton überzeugend gespielter Wahrheitsliebe anschlug, daß ihn nichts so sehr beschäftige wie das Schicksal meines Stückes, und daß, was an ihm liege, geschehen werde, um es vielleicht doch noch herauszubringen. Da er mir wohl ansah, daß ich aus dem allen nur das Nein heraushörte, so tröstete er mich, immer im Brustton wohlmeinender Freundschaft, mit Beispielen aus der älteren und neueren Theatergeschichte, wo Autoren gewissermaßen Moos angesetzt hatten, bis sie die Premiere ihres Stückes erlebten, während ich mit meinen siebenundzwanzig Jahren ja noch das ganze Leben vor mir hätte.

In seinen Trostreden bezog er sich auch ein paarmal auf den Fall Sudermann, der in Theaterkreisen noch immer viel besprochen wurde, obwohl er schon geraume Zeit zurücklag. Sudermann hatte nämlich vor der Premiere seiner »Ehre« einen bestimmten Anteil von deren voraussichtlichen Tantiemen für eine größere Summe verkauft; man sprach von zehntausend Mark. Dem Konsortium der Käufer sollte, wie es hieß, auch der Direktor des Lessingtheaters angehört haben, also derselben Bühne, die das Stück dann herausbrachte. Ich hatte auch davon gehört, war aber mit mir im klaren darüber, daß ich selbst niemals auf ein solches Geschäft eingehen würde, auch wenn es mir noch so verlockend angeboten werden sollte. Mir will scheinen, daß Lautenburg in diesem Zusammenhang wohl auch das eine oder andere Mal gewisse Zahlen murmelte, die jedoch weit hinter der für Sudermann genannten Zahl zurückblieben. Das Ganze war nur wie ein Hauch, man konnte meinen, es nur geträumt zu haben, und da ich harthörig war, so ging es auch wie ein Hauch vorüber. Lautenburg kam nicht wieder darauf zurück, und meine Sache rührte und regte sich nicht.

Eine Hauptschwierigkeit sollte nach dem Wort des Direktors die Besetzungsfrage des Annchens bieten. Ich konnte das natürlich nicht ohne weiteres bestreiten, behauptete aber, daß in Berlin doch eine junge Schauspielerin zu finden sein müsse, die die nötigen Eigenschaften für das Annchen mitbringe. An einem Abend war ich zu Walter Leistikow eingeladen; mit anderen Bekannten war auch Rudolf Rittner im Atelier. Ich kannte ihn ja schon und wir waren uns darüber einig, daß er den Hans spielen müsse. Er erzählte mir, es sei jetzt eine junge Schauspielerin gefunden, die für die Rolle des Annchens in Betracht komme. Sie sei zwar vom Deutschen Theater wegen Talentlosigkeit entlassen, aber darauf sei nicht viel zu geben. Bei so etwas könnten auch noch ganz andere Gründe mitsprechen, wie er mit beziehungsreichem Augenzwinkern andeutete. Ich fragte nach dem Namen der Schauspielerin. Sie hieß Vilma von Mayburg.

Wochen vergingen abermals und ich hörte nichts mehr. Das Frühjahr zog ins Land. Der April war da; das Ende des Theaterjahrs nahte heran. Am ersten wunderschönen Aprilsonntag war im Lessingtheater die Premiere von Hartlebens »Hanna Jagert«, ebenfalls in einer der Matineen, die sich für solche Experimente vollständig eingebürgert hatten. Das Stück war seinem innern Wesen nach schwach, die Handlung recht konstruiert, aber voll von hübschen Einzelheiten des Hartlebenschen Dialogs, so daß es einen sehr kräftigen Erfolg gab und Blumenthal das Stück sogar in den Abendspielplan aufnahm. Ich machte die Premiere noch mit, beteiligte mich an den Ovationen für Hartleben und floh dann mit meiner Frau aus Berlin nach Derben an der Elbe, dem neuen Wohnsitz meines Schwiegervaters. Ich ertrug es nicht länger, im großen Literaturstrom erfolglos, tatenlos dahinzutreiben, während meine Freunde und Mitbewerber da und dort landeten und ihr Glück machten. Ich verlebte ein paar qualvolle Wochen in Derben und konnte mich meiner Zerrissenheit nur vorübergehend entledigen, indem ich an den Knittelreimen meines »Amerikafahrers« herumbosselte und meine Schwank-Purzelbäume schlug.

Man war übrigens in Derben keineswegs aus der Welt. Das große Dorf, unweit des hier schon sehr breiten und mächtigen Elbestroms gelegen und mir hierdurch mein ähnlich so an der Weichsel gelegenes Güttland zurückrufend, hatte mehrere Wirtschaften, wo Berliner Zeitungen auflagen. Man sieht, schon damals beherrschte Berliner Geistigkeit im weiten Umkreis das Leben der preußischen Provinz. Eines Tages las ich in diesen Berliner Zeitungen eine Notiz, von der mir beinahe die Augen übergingen. Am nächsten Sonnabend, so hieß es, finde im Residenztheater die Premiere des Liebesdramas »Jugend« von Max Halbe statt. Ich traute meinen Sinnen nicht. So sollte es nun doch Wahrheit werden! Was mich noch besonders überraschte, war der als Premierentag genannte Sonnabend. Es konnte sich dabei nur um eine Abendvorstellung handeln. Dies übertraf alle meine Erwartungen und machte mich zugleich mißtrauisch gegen die ganze Nachricht. Mir schien es undenkbar, daß Lautenburg sich entschlossen haben sollte, eines von seinen ausverkauften Abendhäusern für ein so unsicheres Unternehmen zu opfern, wie es doch mein Stück für ihn sein mußte. Sehr aufgeregt und von Zweifeln hin und her geworfen, fuhr ich am nächsten Tage nach Berlin. Es war ein Montag.

Dienstag trat ich die schon gewohnte Reise von Friedenau nach dem Residenztheater an und fand das Büro so gut wie ausgestorben. Lautenburg war mit dem in Berlin unbeschäftigten Teil seines Ensembles – darunter auch gerade jenen, die in meinem Stück mitspielen sollten – auf einer Gastspielreise unterwegs und sollte erst Donnerstag zurückkommen. Meine Premiere sei für Sonntag mittag angesetzt. Die anderslautende Mitteilung in den Zeitungen beruhe auf einem Irrtum. Proben von »Jugend« hätten schon eine ganze Anzahl stattgefunden, die letzten Proben würden Freitag und Sonnabend sein. Ich erfuhr dies alles von einer weiblichen Hilfskraft im Büro, die sich ganz gut unterrichtet zeigte. Es galt also, meine Ungeduld und Erregung, die wohl jedem begreiflich sein dürfte, noch ein paar Tage zu zügeln.

Ich litt sehr, und meine Frau mit. Aber auch diese Folter ging vorüber. Eine Nachricht kam, daß man mich Donnerstag nachmittag im Residenztheater zur Probe erwarte. Mit welchen Empfindungen machte ich mich diesmal auf den Weg! Lautenburg war mit seiner Truppe erst mittags aus Gotha zurückgekommen und hatte wieder einen neuen Orden mitgebracht, zu den vielen, die er schon besaß. Bei feierlichen Gelegenheiten war seine Brust besternt wie die eines regierenden Fürsten. Die Probe dauerte nicht lange; alle waren noch müde von der Reise. Das Ganze machte noch einen sehr unfertigen Eindruck auf mich. Der Direktor selbst war nicht da. Die Regie führte Hans Meery. Er war ein tüchtiger Spielleiter, erprobter Fachmann jener Zeit, die noch nichts von der heutigen Selbstherrlichkeit und Kompetenzüberschreitung des allmächtigen Regisseurs wußte. Ich setzte mich nach der Probe noch eine Stunde mit der Darstellerin des Annchens hin und nahm mit ihr die Rolle in allen Einzelheiten durch. Jene »talentlose Anfängerin«, Vilma von Mayburg, von der mir schon Rudolf Rittner erzählt hatte, war nun doch von Lautenburg für die Rolle ausersehen worden. Sie stammte aus Südungarn oder Kroatien und sprach mit leichtem slawischem Anklang, was mir sogleich vortrefflich zur Rolle zu passen schien. Auch ihre schlanke, zarte und doch wohlproportionierte Erscheinung war von höchstem Liebreiz und strahlte im Zauber der Jugend. Sie nahm alle meine Anregungen sehr willig auf und brachte sie sofort auf eine überraschende Weise zur Wiedergabe. Vor meiner Erinnerung stieg das einstige Urbild aus dem deutsch-polnischen Pfarrhof auf: so hatte ich es erlebt. So war es gewesen. So hatte es meine Phantasie erträumt. So stand es jetzt von neuem in Fleisch und Blut vor mir da. War es nicht beinahe wie ein Wunder mystischer Umwandlung und Wiederverkörperung, was ich erlebte? Ich hatte keinen Zweifel mehr, daß das richtige und echte, das wirkliche und einmalige Annchen für mich gefunden war. (Wie hätte ich bei aller Hoffnungsseligkeit träumen können, daß dieses erste Annchen der Bühne im Laufe der Jahrzehnte noch Tausende von Nachfolgerinnen finden werde!)

Die Generalprobe am Sonnabend verlief, wie fast immer Generalproben von halb unbekannten Autoren verlaufen. Niemand konnte etwas Bestimmtes voraussagen. Vor allem stellte sich heraus, daß Meery, der Regisseur, sich im Tempo, besonders der Aktschlüsse, vergriffen, alles etwas zu schwer, zu langsam genommen hatte. Es fehlte das Brio, die Verve, der fortreißende Schwung. Hier griff der Direktor ein. Dies war, schon von seinen französischen Stücken her, das Feld, das er vollkommen beherrschte. Er warf mit wenigen Andeutungen die beiden ersten Aktschlüsse um, formte sie regiemäßig neu, brachte Tempo und Leidenschaft hinein und erwies sich als überragender Theaterstratege. Denn was eben noch flau und matt gewirkt, hatte plötzlich Blut und Farbe gewonnen, erklang mit der hinreißenden Musik der Leidenschaft. Dabei hatte Lautenburg nicht das geringste am Wort, am dichterischen Text geändert, wie gegenüber der heutigen Methode der Regisseure ausdrücklich festgestellt sei. Er hatte nichts weiter getan, als daß er das dramatische Wort mit dem heißen Atem der Bühne erfüllte. Bis hierher und nicht weiter scheint mir die Aufgabe der Regie zu gehen. Ich selbst – ich muß es bekennen – verließ mit höchsten Hoffnungen die Generalprobe. Man sah auch so manche unter den Zuschauern, die das Taschentuch an den Augen hatten. Aber die Skeptiker und Zweifler schienen doch in der Überzahl zu sein.

Von den Darstellern hatte ich das Gefühl, daß sie allesamt ihr Bestes gaben und sich mit ihren Rollen auf eine sehr persönliche, individuelle Weise eins fühlten. Rittner, Jarno, Biensfeld, die Mayburg – waren sie nicht alle vier junge Menschen, neue Namen? Waren sie nicht in ihrem Zusammenspiel gleichsam die Verkörperung des Titels, den das Stück trug, und der Idee, die es beseelte: Jugend? Sie mußten wissen, was für sie wie für mich selbst auf dem Spiel stand. Siegen oder unterliegen! Ich glaubte fest an ihren und meinen Sieg, schon darum, weil es überhaupt nicht anders sein durfte und das Gegenteil das Ende von allem für mich bedeutet hätte.

Die Mayburg hatte sich in den beiden Tagen noch tiefer in das Annchen hineingelebt. Sie war glückhaft heiter, als die Tragödie begann, und von einer süßen Melancholie am Schluß, und durchlief dazwischen die ganze Tonleiter des vom Gefühl und von der Leidenschaft überwältigten Mädchens. Von den Männern hatte Rittner die persönlichste Note. Er brachte das Drängende, Stammelnde in der Sprechweise des Hans, das Überheizte, Verstiegene des eben dem Schulzwang Entronnenen, die Maßlosigkeit und Selbstberauschung des jungen Hysterikers mit vollendeter Echtheit heraus und war verwegen genug, in der großen Geständnisszene des dritten Aktes dem Onkel gegenüber geradezu humoristische und tragikomische Töne anzuschlagen, wie man sie bis dahin noch nicht auf der Bühne gehört hatte. Jarno als Kaplan von Schigorski vereinigte den düster lodernden Fanatismus des Asketen mit der ins Unterbewußtsein verdrängten Leidenschaft für sein schönes Beichtkind und mit den ebendort schlummernden Kavalierinstinkten des polnischen Edelmanns. Biensfeldt schien für den Amandus geradezu geboren zu sein, was bereits bei den Proben zu allerhand schnöden Witzen Veranlassung gegeben hatte. Es hieß, er habe Studien in einer Idiotenanstalt gemacht. Man habe ihn aber dort bald überzeugt, daß das gar nicht erst nötig sei. Tierische Dumpfheit, Neid, Blödsinn, Freßgier, Bösartigkeit vereinigten sich zu einem kalibanischen Charakterbild, wie es der Stellung dieser tiermenschlichen Figur in der Ökonomie der Gesamthandlung entsprach. Spiel und Erscheinung rechtfertigten den ominösen, damals und nachher oft angezweifelten Schuß wie von selbst. Es war die Rache des von der Natur Ausgestoßenen und Gebrandmarkten an dem von eben dieser Natur mit Anmut und Wohlgestalt beglückten, noch dazu blutsverwandten Vorzugsgeschöpf. Es war der blöde, vernunftwidrige und darum aus den Urgründen unserer Existenz entspringende Zufallstriumph des Tierischen über das Menschliche, der unterirdischen Mächte über das Licht und die Tageshelle, die Vernichtung Baldurs durch Hödur. Hermann Werner, der einzige ältere Schauspieler, der mitwirkte, gestaltete einen gütigen, jovialen, verstehenden, schließlich auch verzeihenden, einen zugleich aufrechten und vom Gefühl, vom Zorn fortgerissenen deutschen Mann und einstigen Studenten im nachlässig geknöpften Priesterrock. Ungezählte Hoppes sind ihm gefolgt. Nicht allzu viele haben ihn erreicht. Sophie Pagay als pfiffig derbe Maruschka vervollständigte das Milieu des deutsch-polnischen Pfarrhofs sehr glücklich nach der ethnographischen und ländlichen Seite hin.

Der Sonntag war da. Man schrieb den 23. April 1893. Ein herrlicher strahlender Frühlingsmorgen. Ich hatte kurz und unruhig geschlafen, wachte sehr gegen meine Gewohnheit bereits um sechs in der Frühe auf und erfaßte mit dem ersten Blick die wolkenlose Bläue des Firmaments. Eine hübsche Bescherung das für eine Sonntags-Mittags-Vorstellung! Wer sollte angesichts dieser lachenden Frühlingssonne ins Theater gehen! Meine Frau Luise schien ähnlichen Gedanken nachzuhängen. Sie gestand mir, daß auch sie schlecht geschlafen habe, behauptete aber, daß sie nicht das geringste Herzklopfen habe und alles aufs beste ablaufen werde. Ihr Gefühl sage ihr dies und auf ihr Gefühl könne sie sich verlassen. Die Generalprobe hatte sie nicht mitgemacht, da sie vorzog, sich von den Ereignissen überraschen zu lassen.

Um zwölf Uhr sollte die Vorstellung beginnen. Wir beschlossen, bei dem wundersamen Frühlingswetter zu Fuß von Friedenau nach Berlin zu gehen und uns in der Weinhandlung von Huth und Sohn in der Potsdamer Straße noch etwas für das Kommende zu stärken, ehe wir den Weg zur Richtstätte antraten. Gesagt, getan. Der einstündige Fußmarsch hatte meine fiebernden Nerven etwas beruhigt; das kühlende Naß der halben Flasche Sekt, die wir uns in der Huthschen Weinstube genehmigten, tat noch ein übriges zur Hebung der Lebensgeister. Als wir ins Residenztheater kamen, sah ich mit Erstaunen ein zahlreiches Publikum hineinströmen. Die Anziehungskraft der Lautenburgschen Matineen hatte sich auch diesmal bewährt. Das ganze literarische Berlin war versammelt. Die ersten Kritiker der Tageszeitungen, darunter Schlenther, Brahm, Landau, Neumann-Hofer, waren vollzählig da. Siegmund Lautenburg, der Direktor, in feierlicher Gala, stieg gemessenen Schritts die Treppenstufen von seinem Büro zum menschenerfüllten Vestibül hinab und begrüßte höchstselbst die wichtigsten Erscheinungen der Kritik. Schlenther hat mir nachmals erzählt, daß Lautenburg sich mit entschuldigenden Worten an ihn und die Umstehenden gewandt habe, weil er die verehrlichen Herrschaften an einem so wunderschönen Frühlingssonntag habe herbemühen müssen, um das bescheidene Werk eines Anfängers aus der Taufe zu heben. Als am Schluß der Vorstellung Schlenther und Lautenburg sich wieder begegneten, sei dieser sofort mit großem Aplomb auf ihn zugetreten, habe ihm die Hand auf die Schulter gelegt und die folgenden Worte von sich gegeben: »Habe ich Ihnen nicht vorausgesagt, daß es ein Bombenerfolg werden wird?!«

Ich kann über den Verlauf der Vorstellung selbst nicht aus eigener Wissenschaft berichten. Ich war nicht imstande, mir die Aufführung mitanzusehen, sondern irrte ruhelos, wenn auch in erreichbarer Nähe, um das Theater herum. Lautenburg hatte wohl das richtige Wort zu Schlenther gefunden. Es war schon nach dem ersten Akt ein stürmischer Erfolg. Der zweite und vor allem der dritte Akt steigerten und vollendeten meinen Theatersieg. Er war einer der größten, die sich seit langem in Berlin ereignet hatten. Ich befand mich in meinem achtundzwanzigsten Lebensjahr, als dies geschah.


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