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1.

Ich entstamme einem alten Bauerngeschlecht niedersächsischer Herkunft, das wahrscheinlich schon zur Ordenszeit im Weichselgau Wurzel gefaßt, urkundlich aber erst seit 1700 dort sich nachweisen läßt. Dies rührt daher, daß zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts am damaligen Wohnsitz unserer Familie ein Kirchenbrand stattgefunden hat, dem die sämtlichen Kirchenbücher und sonstigen pfarramtlichen Aufzeichnungen zum Opfer fielen. Für die weiter zurückliegende Zeit sind also keine schriftlichen Belege vorhanden. Es hat sich aber in unserer durch Langlebigkeit gekennzeichneten Familie eine mündliche Überlieferung erhalten, die unseren Ursprung aus Niedersachsen, vermutlich aus Westfalen, herleitet. Gewisse gemeinsame Charakterzüge unserer Familie – Hartnäckigkeit, Eigensinn, Eigenbrötlerei und Absonderungsdrang, Standhaftigkeit, Bauernstolz, Tatsachensinn und gleichzeitiger Hang zum Mystizismus – weisen ja auch deutlich nach dem Lande der roten Erde hin. Immermanns »Münchhausen«, die Schilderung des Erbschulzen und seines ganzen Lebenskreises im »Oberhof« – ich las es mit zwölf Jahren und es war der erste Roman in meinem Leben – ist mir sicher nicht nur durch seine literarischen Vorzüge so unauslöschlich haften geblieben. Es war vielleicht noch mehr das Stoffliche, was mich so überwältigte, und ich bezweifle nicht, daß irgendeine geheime Verbundenheit unter der Schwelle des Bewußtseins, eine plötzlich aufleuchtende Rückerinnerung an die Urheimat meiner Vorfahren, vermittelt durch die Geschlechterfolge von Jahrhunderten, dabei mit im Spiel gewesen ist.

Auch sonst spricht sehr viel für jene durch Urgroßmütter und Urgroßtanten fortgepflanzte Überlieferung. Seit der Mittagshöhe des Mittelalters, seit 1200 etwa, bestand eine lebendige Menschenbrücke vom westlichen Niederdeutschland über das neubesiedelte Elb- und Odergebiet hinweg nach dem Preußenland, dem Weichselgau. »Wir wellen gen Ostland reiten!« Der deutsche Ritterorden war es, der zuerst diesen Fanfarenruf durch das Deutschland der späten Stauferzeiterklingen ließ. Jahrhundertelang sind ihm Bürger- und Bauernsöhne aus allen deutschen Gauen und Stämmen, aus Franken und Schwaben, vom Main und vom Rhein, von Thüringen und von der Wasserkante, vornehmlich aber aus Niedersachsen gefolgt. Hier schloß ein strenges Erbrecht die jüngeren Söhne von Nachfolge oder Mitbesitz auf den väterlichen Hof aus. Nur zwischen der Fron als Knecht und dem Weg in die Fremde war die Wahl. Konnte da zaudern, wer jung, gesund, stark, wagemutig war? Auch das Abenteuer als solches lockte. Jeder Deutsche hat die Fremde im Blut! (Leider auch meistens das Fremde!) Ströme saft- und kraftvollen Menschenmaterials, alles was seine Fäuste gebrauchen und seine Ketten abschütteln wollte, Hörige, Enterbte, Schiffbrüchige, Entgleiste, sicherlich auch nicht wenige Übeltäter, mit dem Brandmal ungesühnten Frevels Gezeichnete, ergossen sich in das ferne Heidenland und brachten ihm trotz allem und allem nicht nur das Licht des Christentums, sondern auch einen letzten Schimmer der untergegangenen antiken Welt, deren Abendschein noch den Horizont der so viel älteren süddeutschen und westdeutschen Lande erleuchtete. Hier war schon geschichtlicher Boden. Hier standen schon frühchristliche Basiliken, romanische Dome säumten die Uferhöhen der Donau, die Rebenhänge des Rheins und des Mains, als noch der heidnische Preuße, der litauische Jäger auf den Elch, den Auerochsen pirschte und das Mündungsdelta der Weichsel, heute üppigstes Weizenland, noch eine Lagune war, die der Kahn des kaschubischen Fischers durchfurchte. Die Kluft fast eines Jahrtausends trennt die Gesittung und Geistes weit der Lande westlich der Elbe und südlich des Mains von jener des neuen alldeutschen Kolonialgebietes an der Bernsteinküste. Wer dem ostdeutschen Denken und Fühlen gerecht werden will, wird stets jenes Altersunterschiedes eingedenk bleiben müssen.

Nicht umsonst hat ein historischer Seher wie Treitschke die germanische Rückwanderung nach Osten und die Besitzergreifung, Wiederbesiedelung der weiten, fruchtbaren Lande zwischen Weichsel und Düna die größte Tat nicht nur unseres Mittelalters, sondern unserer ganzen Geschichte genannt. Wir sind schon damals unter soviel primitiveren Verhältnissen ein Volk ohne Raum gewesen. Die Eröffnung des Weges nach Osten war gleichbedeutend mit dem öffnen eines Ventils, das die gefahrdrohenden Spannungen ausglich und das ohnehin zerklüftete, zerrüttete Reich nach dem Untergang der Staufer vor schweren bäuerlichen und kleinbürgerlichen Erschütterungen bewahrte. Sie sind dann um zwei- bis dreihundert Jahre später zum Ausbruch gekommen, als das inzwischen emporgestiegene Polentum sich wie eine breite Palisade über die Straße nach dem Osten legte und sie versperrte.

Es war also eine Kolonialwelt, die sich unter den Fittichen des deutschen Ritterordens an der Weichsel auftat, Städte gründete, Dörfer anlegte, Straßen baute, Deiche errichtete, Gräben zog, Wälder rodete, Ackerboden schuf. Und wie jede Kolonialwelt war es eine junge Welt. Eine Welt von jungen Männern, denen es an Frauen mangelte. Wie hätte man sie auf dem weiten gefahrvollen Weg mitnehmen sollen! Anders freilich tausend Jahre zuvor, in der Völkerwanderungszeit! Damals hatten ganze Stämme mit Weib und Kind ihre Ochsenwagen angespannt und sich auf Nimmerwiederkehr in Bewegung gesetzt. Aber die Welt war seßhafter geworden. Jetzt war es vornehmlich das jüngere besitzlose Mannsvolk, das gen Ostland ritt, um sein Glück zu machen.

Jedoch der Tag kam, wenn Gott es wollte, wo aus dem jungen Glücksritter und Abenteurer ein standfester Siedler und wohlgegründeter Hufenbauer, wohl gar ein Erbschulze wurde. Da war dann die Frau vonnöten. Wie hätte man ohne sie wirtschaften können! Manch einer wird sich seine Base, seine zurückgelassene Braut aus der Heimat haben nachkommen lassen. Die anderen, weitaus die Mehrzahl, werden genommen haben, was sie fanden und was sich mehr oder minder willig bot: eingeborene Mädchen, die Töchter des; Landes, das man erobert, des Volkes, das man unterworfen hatte. Als Mägde, als Leibeigene nahm man sie auf den Hof. Über Jahr und Tag ward aus der Magd die Frau. Preußisches, litauisches, kaschubisches, masurisches, bald genug und in zunehmendem Maße auch polnisches Blut mischte sich mit dem Blut der deutschen Herren- und Erobererrasse, der westfälischen, friesischen, fränkischen und rheinischen Jungens. In wenigen Menschenaltern war das weiträumige Ordensland mit einer vielfach nicht mehr ganz blutreinen, aber vielleicht um so dauerhafteren Kolonistenschicht von dennoch ausgeprägtem deutschen Charakter überzogen.

Nur die Regierenden selbst, die meist dem Hochadel entstammenden Ordensherren, wegen ihrer süd- oder mitteldeutschen Abkunft und Sprechweise die »Hochzungen« genannt, machten – als im offiziellen Zölibat lebend – eine Ausnahme von dem allgemeinen Aufsaugungs-, Verschmelzungsprozeß rings umher, bildeten eine abgeschlossene Insel für sich und entfremdeten sich dadurch der lebendigen, in stetem Fluß fortschreitenden Entwicklung des von ihnen beherrschten Volkes und Landes. Dies hat geradezu katastrophale Folgen für die Nachwelt gehabt. Denn nachdem einmal diese junge deutsche Kolonistenrasse sich ihrer besonderen Eigenart und Blutmischung bewußt geworden war, erhob sie sich sehr bald gegen die als wesensfremd empfundene Ordensherrschaft und machte gemeinsame Sache mit dem Polentum. Träger des Aufstandes waren hauptsächlich der durch die Berührung mit dem eingesessenen Preußentum schon stark entdeutschte Landadel und das Bürgertum der Städte, das der Handelsneid trieb, während die reichen Bauern des Weichseldeltas, wie es scheint, dem Orden treu blieben. Es folgte das Unglück der dreihundertjährigen Polenherrschaft und nach der hundertfünfzigjährigen deutschen Renaissance das beinahe noch größere Unheil der nun hinter uns liegenden polnischen Restauration. Selten hat in der Geschichte ein nationaler Frevel, wie es der Abfall der preußischen Stände vom Orden und ihr Pakt mit dem Polentum war, eine schrecklichere, durch Jahrhunderte fortwirkende Vergeltung gefunden.

 

Ich habe mich bei diesen Dingen etwas länger aufgehalten: einmal, weil so manchen Deutschen noch immer die Kenntnis jener historischen Voraussetzungen unseres Ostens und damit das Verständnis für seine auch heute noch geltenden Lebensbedingungen und Eigentümlichkeiten mangelt; wenn auch im Dritten Reich schon vieles sich in der Beurteilung von Ostlandfragen durch die deutsche Öffentlichkeit gebessert hat. In meiner Jugend fing für den Süd-, West-, Mitteldeutschen Rußland jenseits der Oder, Sibirien gleich hinter der Weichsel an. In Heidelberg fragte man mich in meinem ersten Studentenjahr 1883, ob in meiner Heimat noch sehr viel Tran getrunken werde!

Aber auch für meine eigene Lebensgeschichte und für sie vor allem erscheint es mir von Belang, auf diese Frage unserer ostdeutschen, unserer kolonialen Blutmischung näher einzugehen. Denn sie hat in meiner Familienchronik, also in meiner biologischen Präexistenz, eine wichtige Rolle gespielt und dadurch auch meine Anlagen, meinen Charakter, meine Laufbahn, mein ganzes Dasein entscheidend beeinflußt.

In meinen Adern fließt neben dem bestimmenden und ausschlaggebenden deutschen Blut auch polnisches und russisches Blut. In der Zusammensetzung meines Stammbaums oder meiner Stammtafeln ist dies, zum mindesten seit dem achtzehnten Jahrhundert, von nicht wenigen Ästen und Wurzeln her nachweisbar, darf also, schon um der historischen Wahrhaftigkeit willen, nicht verschwiegen weiden. Es besteht auch kein Grund für mich, es zu verschweigen, denn ich erblicke gerade in dieser Blutmischung, bei der das Deutsche die Dominante darstellt, eine der wesentlichen Vorbedingungen für alles, was ich im Leben zustande gebracht, gewiß auch für so manches, was ich verfehlt und worin ich versagt habe. Aber wäre denn das eine denkbar ohne das andere?

So wie mir ergeht es, aus den vorhin entwickelten Gründen, natürlich noch sehr vielen meiner Landsleute, ja überhaupt einem großen Teil unseres Deutschtums des Ostens: wir entbehren der hundertprozentigen Deutschblütigkeit, nehmen aber dessenungeachtet für uns in Anspruch, daß unser Kolonialblut als genau so waschecht und wesensbeständig deutsch anzusehen ist wie irgendeines von der friesischen Wasserkante, vom Teutoburger Wald oder vor der oberbayerischen Hochebene. Ja, es sei die Behauptung gewagt, zu der ich mich durch die Lehren der Geschichte und eigene Erfahrungen berechtigt glaube, daß die Legierung mit slawischem Blut, in mäßiger Dosierung, unser Volk widerstandsfähiger, härter, wetterfester, ausdauernder zu machen scheint. Unser jahrhundertelanger Kampf und unsere Selbstbehauptung im Osten gegen den Anprall des Slawentums bieten tausend Belege dafür. Ähnlich verhält es sich ja mit dem Sudetendeutschtum und mit den Deutschen der kärntnerischen und steirischen Grenzmark.

Man kann diesen Prozeß auch eine Schutzimpfung nennen, die bekanntlich darin besteht, daß man dem Organismus ein schwächeres Gift zuführt, um ein gleichartiges stärkeres damit zu paralysieren.

 

Ich habe vorhin von Hartnäckigkeit, Abseitigkeit, Wirklichkeitssinn, Mystizismus meiner Familie als von wesentlich niedersächsischem Erbgut gesprochen. Das Bild wäre nicht vollständig, wenn ich daneben nicht auch andere, ja geradezu entgegengesetzte Charakterzüge verzeichnen würde: Leidenschaftlichkeit, Hemmungslosigkeit, Unausgeglichenheit, Sprunghaftigkeit, Überstürztheit, Jähzorn, Sentimentalität. Es sind im wesentlichen die Komponenten des sanguinisch-cholerischen Temperaments, und es wird das slawische Blut sein, dem zuvörderst sie entstammen. Je nach den äußeren Einflüssen und Lebensumständen war die Wirkung so heterogener Elemente in einem und demselben Charakter entweder von ausgesprochen positiver Wirkung, also fördernd, ja schöpferisch, oder entschieden negativer Natur, zerklüftend, manchmal zerstörend. Es ist wie ein Sprengpulver in unserem Blut. So kommt ein tragischer Grundzug in meine Familiengeschichte. Nicht wenige Lebensläufe darin entfernen sich von der Norm, streifen ans Absonderliche, ans Groteske, auch ans Pathologische; sind sozusagen Grenzfälle. Starke Begabungen treten auf. Künstlerische Anlagen melden sich. Heftige Gegensätze zwischen Eltern und Kindern, zwischen Vätern und Söhnen, sind nichts Seltenes, enden zuweilen mit unheilbarem Bruch. Der aus dem Hause gejagte Sohn packt sein Bündel, geht in die Fremde, mag es auch nur die des nächsten Kirchspiels sein, gründet eine neue Existenz, indes die frühere in Vergessenheit gerät. Da die, Familie deutsch, aber katholischen Bekenntnisses in einer überwiegend evangelischen Umgebung ist, so müssen die Frauen von anderswo, von weither geholt werden, was wiederum den Gegensatz zur Umgebung vertieft, in den Nachkommen das bereits vererbte Gefühl des Andersseins noch verstärkt und sie ihren Absonderungsdrang immer mehr betonen läßt. So entsteht der Typus des Einzelgängers und Sonderlings, wie er in der Erscheinung meines zu hohen Jahren gekommenen Vaters noch heute, lange Jahre nach seinem Tode, weiten Kreisen meiner Danziger Heimat in lebendigster Erinnerung haftet.

Elternhaus in Güttland bei Danzig

Aber dies ist schon zwanzigstes Jahrhundert, wenn auch mit seinen Wurzeln in die erste Hälfte des neunzehnten zurückreichend. Wiederum ein Jahrhundert früher, um 1703, sitzt meine Familie auf einem der größten und angesehensten Höfe in Mühlbanz, einem Kirchdorf auf der Danziger Höhe, das damals noch polnisch war und es inzwischen abermals gewesen ist. Mein Ururgroßvater Andreas Halbe stirbt, wahrscheinlich schon in jüngeren Jahren. Seine Witwe nimmt sich den zweiten Mann von einem der Nachbarhöfe. Ein Sohn ist aus der ersten Ehe da, mein Urgroßvater, etwa zwanzigjährig. Was liegt näher, als daß es zum Streit um das Erbe kommt! Die Mutter, im neuen Ehebett, sucht sich des unbequemen Mahners der Vergangenheit zu entledigen. Das Ende ist, daß Gregor, der Sproß aus der ersten Ehe, eben mein nachmaliger Urgroßvater, aus dem Hause gejagt wird.

Dramatisch fängt es an und dramatisch geht es weiter. Denn nicht lange und die Zeit selbst, das große Zeitgeschehen, beginnt in das kleine Familienschicksal einzugreifen. Mein zwanzigjähriger Urgroßvater »wandert aus«. Das heißt, er geht nach dem eine Meile weit entfernten Kirchdorf Güttland, um hier sein Brot zu verdienen. Er wird selbst bei dem damaligen unergründlichen Morast der Straßen nicht mehr als zwei Stunden für den Weg gebraucht haben. Aber die Welt war dazumal um soviel enger, begrenzter, geschlossener, jede Entfernung also um ein Vielfaches weiter, gründlicher, entscheidender, sozusagen endgültiger als heute. Wer fort war, war fort, war »draußen«, war in der Fremde, hatte die Heimat verloren und die Heimat ihn. Güttland liegt im Danziger Werder, etwa eine halbe Wegstunde vom Weichselstrom. Mühlbanz liegt »oben auf der Höhe«. Beide Kirchtürme sind in Augenweite voneinander: man sollte meinen, die Nachbarn besuchten sich gegenseitig zur Kindtaufe, zum Schlachtfest, die Dorfburschen hielten Schlägereien miteinander ab. Weit gefehlt! Eine kleine Weltferne bestand vor hundertfünfzig Jahren zwischen den beiden Dörfern.

Das lag an der Zeit. Aber nicht nur an ihr. Deshalb ist es auch heute nicht sehr viel anders. Niederung und Höhe. Ich habe die beiden Gegensätze schon angedeutet. Katholisch und evangelisch. Polnisch und deutsch. Es geht nun einmal nicht zusammen! Auf der Höhe ist leichter Boden. Roggen und Kartoffeln gedeihen, weniger der Weizen. Kies, Schotter, Sand sind häufiger anzutreffen als dem Bauern lieb ist. Mit Neid blickt er auf die Niederung, in das »Werder« hinunter, wo Weizenfelder und Zuckerrübenäcker prangen und dreißigfältiges, vierzigfältiges Korn geerntet wird. Gewiß! Im Frühjahr und Herbst versinkt man hier beinahe im Morast, in dicken Klumpen klebt die fette schwarze Erde an den Wasserstiefeln, mit vier Pferden muß gepflügt und sogar zur Kirche gefahren werden, weil man sonst im Dreck eben liegen bliebe. Entwässerung und Deichschutz sind schwere Bürde, denn immer wieder droht der Strom, der dies Delta anschwemmte, mit Hochwasser, Eisgang, Dammbruch: mit der Vernichtung alles dessen, was ungezählte Bauerngeschlechter ihr, der Weichsel, durch die vereinte Arbeit von Jahrhunderten abgerungen haben. Und dennoch ruft der deutsche Bauer in der Niederung dem polnischen Bauern auf der Höhe, der vor solchen Naturkatastrophen in Sicherheit ist, das stolze, ja verwegene Wort zu: Lieber hier unten versaufen als bei euch da oben verhungern!

Auch meinem Urgroßvater wird das Wort im Ohr geklungen haben. Und es bewahrheitet sich auch an ihm, wie er jetzt auf Niederungsboden sich als Knecht verdingt, er, der doch ein Herrensohn gewesen war. Auf dem gleichen Hof – es ist heute unser Nachbarhof – dient eine brünette Magd, ansehnlich und stattlich, fest zugreifend, stürmischen Willens, um Jahre älter als er, mit polnischem Namen, vielleicht auch halbpolnischem Blut, aber deutsch bis in die Knochen wie alle diese starken, wurzelfesten Werderaner Kinder. Der junge, blonde, hochgewachsene Mann, dem noch immer etwas vom Herrn anhaftet, hat es ihr angetan. Er muß ihr gehören. Sie will es! Und sie weiß, daß sie durchsetzen wird, was sie will! Sie hat ihren Willen noch immer durchgesetzt! Der junge Mensch ist von weicherem, biegsamerem Stoff als sie selbst, ist von Wachs. Man kann ihn kneten wie man ihn haben will. Anna Maria ist von Stahl, ist wie eine stählerne Klinge. Auch sie kann sich biegen, wenn es nottut, aber sie bleibt was sie ist. Ersparnisse sind da. Man war lange genug Magd, schlief in harten und fremden Betten. Die beiden werden ein Paar, der noch junge Mann und das alternde Mädchen mit den brennenden Augen und den tatarischen Backenknochen.

Es trifft sich gut, daß gerade der Dorfkrug am Mottlausteg zu verpachten ist. Die beiden ziehen als Krugwirt und Krugwirtin ein. Gregor hat arbeiten gelernt und Anna Maria hat es nie anders gewußt. Sie ist die Seele des Geschäfts. Sie ist die erste, die im Morgengrauen auf den Beinen ist, die letzte zum Schlafengehen. Zum Krug gehört auch Land, Wiese und Acker. Im Stall stehen ein paar Pferde. Das ist Gregors Domäne. Im übrigen tut er so mit. Er kann sich's jetzt wieder bequemer machen, kann wieder anfangen, den Herrn zu spielen, wenn auch erst im kleinen. Anna Maria duldet es. Sie liebt ihn auf ihre gewalttätige Art. Er ist ein Spielzeug für sie, tut, was sie sagt. Denn hierin versteht sie keinen Spaß. Ihr Wille hat zu geschehen! Und Gregor billigt das. Es wird am besten so sein, wie es bisher das beste war. Das Geschäft blüht. Im Dorfkrug sitzt sich's gut. Anna Maria hat ihn wieder in Flor gebracht. Es ist noch eine andere Wirtschaft im Dorf, jenseits der Mottlau, die »Hakenbude« genannt. Die war jahrelang in der Mode, jetzt kommen die »Herren« von den sechs, sieben Höfen des Dorfes wieder in den Krug, um ihren Grog oder Machandel zu trinken. Ja, sie fühlen sich hier alle als wirkliche und wahrhaftige Herren auf ihrer Scholle, diese Hofbesitzer, diese »freiköllmischen« Bauern, so heißen sie schon seit der Ordenszeit, also von allem Anbeginn. Vier kulmiche Hufen, zweihundertvierzig preußische Morgen, das ist der Normalbesitz, der aber durch Heirat oder Zusammenkauf meist überschritten wird. »Hochtgeter Härr!« lassen sie sich von ihrem Gesinde titulieren. Hochgeehrter Herr! (Noch bis heute wurden sie vielfach so angesprochen.)

Und dieses Gesinde ist nichts weniger als eine devote, kriecherische, slawische Masse, wenn auch gelegentlich eine gewisse östliche Unterwürfigkeit sich bemerklich macht. Aber sie bleibt nur äußerlich. Es sind derbe, draufgängerische, aufsässige Gesellen, diese Werderaner Knechte, stemmen einen Zweizentnersack mit Weizen auf die breiten Schultern und tragen ihn wie ein Bündel Wäsche von der Scheune auf den Speicher. Es ist nicht gut Kirschen essen mit ihnen. Sie stecken nicht leicht etwas ein, greifen dafür um so leichter zum Messer. Wenn die Wochenarbeit getan ist, trinken sie ihr »Quartierchen« Kornus mit Rum im Krug. Da rollen die Groschen. Die Köpfe werden heiß, Lieder werden gesungen, vielmehr gegröhlt, daß die Scheiben klirren. Streit ist leicht zu haben. Das Messer, das »Knief«, sitzt locker. Aber hier im Güttländer Dorfkrug um 1800 hält Anna Maria eiserne Zucht. Die fünfundvierzigjährige Frau macht es nicht nur mit Worten. Sie hat auch etwas im Blick, was selbst die rabiatesten Krakeeler zur Vernunft bringt.

Die Zeichen am Himmel der Zeit sind finster und drohend. In der Herrenstube des Krugs wird im breiten, deftigen Werderaner Platt um den Bonaparte, den »Napolium«, gelärmt und gestritten. Krieg soll es geben mit den Franzosen! »Dresche werden sie kriegen!« Der Krieg kommt! Auch die Dresche kommt! Aber auf den eigenen Rücken. Der Feind ist im Land! Ehe man sich's versieht, reiten bereits die Lanciers und die Ulanen des Welteroberers durch die Werderdörfer auf Danzig zu. Geschütze und abermals Geschütze rumpeln hinterher. Danzig, seit jeher fast uneinnehmbare Festung, durch Wasser und Sumpf und kanonengespickte Bastionen geschützt, wird eingeschlossen, soll ausgehungert werden, wenn nicht schon vorher Bomben und Granaten geholfen haben. Das gibt lange und gründliche Einquartierung im weiten Halbkreis um die Festung. Alle Werderdörfer rings umher sind mit französischen und Rheinbundtruppen belegt. Auch in Güttland, das doch vier Meilen von Danzig liegt, sind Scheunen und Ställe voll von fremdem, auftrumpfendem Kriegsvolk. Auf den Herrenhöfen haben sich die Offiziere eingenistet, hausen in den besten Stuben. Die stolzen Bauern, die sonst so laut poltern konnten, sind stumm geworden, fressen ihren Grimm nach innen. Auch im Krug sind Offiziere einquartiert. Die bechern, würfeln, bramarbasieren. Bei meinen Urgroßeltern geht es hoch her. Kornus, Machandel, Grog, Bier, Wein, Champagner! Wer zu des Kaisers Fahne schwört, braucht nicht zu sparen! Abend für Abend wird im Krug getanzt: Mädchen aus dem Dorf, Verwandte von Anna Maria aus der Kaschubei! Das ist Befehl der kaiserlichen Kommandantur, um die Stimmung der Truppen zu heben. Denn die Belagerung währt lang, zieht sich durch den harten Winter, durch das späte Frühjahr hin. Den Wirtsleuten im Dorfkrug kann es recht sein, ihr Weizen blüht. Die französischen Goldfüchse springen. Die allgemeine Not? Gottes Wille so! Wen es trifft, den trifft es nun mal! Und wem das Glück wohl will und wer es beim Schopf zu nehmen versteht, dem füllen sich Sparstrumpf, Truhe und Kommode. Da gegen den Sommer hin (1807) Danzig endlich kapituliert, sind Gregor und Anna Maria über das gröbste hinaus. Der Dorfkrug, bisher nur in Pacht, wird käuflich erworben. Er ist noch bis zu meiner Zeit in unserem Besitz geblieben. Erst mein Vater hat ihn verkauft.

Es mag sich die Frage erheben, auf welche Angaben die vorstehende Schilderung sich stützt. Sie ist nichts weniger als aus der Luft gegriffen. Ich verdanke sie einer Großtante von väterlicher Seite, die, zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts geboren, erst um 1890 starb und sich bis zu ihrem Tode eine außergewöhnliche Rüstigkeit und Geistesfrische bewahrt hatte. Sie war als Kind im Hause meiner Urgroßeltern und machte diese und spätere Vorgänge als heranwachsendes junges Mädchen mit. Ganz besonderen Eindruck hatte ihr offenbar das Tanzen mit den fremden Offizieren im Dorfkrug hinterlassen, das sie freilich nur mit ansah, an dem sie noch nicht teilnahm. Sie hat mir achtzigjährig mit großer Anschaulichkeit von dem allen berichtet und ich erzähle es ihr nach. Auch sonst waren in meiner Kindheit natürlich noch zahlreiche Zeitgenossen der napoleonischen Tage am Leben, die meine Phantasie mit Schilderungen aus jener mir sagenhaft fern erscheinenden Zeit erfüllten und bewegten.

Sagenhaft fern! Manchmal fasse ich mir an den Kopf und frage mich: Ist es wirklich möglich, daß ich noch Menschen aus dem achtzehnten Jahrhundert gekannt, körperlich vor mir gesehen, ihre Hand gedrückt, ihre Stimme vernommen habe? Ja, es ist so! Meine ganze großväterliche Generation gehört dem Ende des achtzehnten oder dem Morgengrauen des neunzehnten Jahrhunderts an. In meiner Jugend erschien mir das als nebelhafte Ferne, als altersgraue Vergangenheit. Und doch weiß ich heute, daß meine Kindheit von jenen Tagen nicht weiter entfernt war als sie es von der gegenwärtigen Stunde ist. So läge denn meine Geburtszeit auch bereits wieder in sagenhafter Ferne? Für das heute neu auf den Schauplatz tretende Geschlecht gewiß! Für mich selbst, der ich im landläufigen Sinne alt bin, wenn ich mich auch nicht so fühle: nein!

Was ist die Zeit? Wie setzt man sich mit ihrem Januskopf auseinander? Wer zu Jahren kommt, dem drängt sich immer wieder diese Frage auf. Ich möchte, um mich verständlich zu machen, mit einer kleinen Rechnung antworten, die – wie ich glaube – den Vorteil der Klarheit besitzt und allgemein einleuchten dürfte. Jeder altgewordene Mensch befindet sich gleichsam in der Achse zweier Jahrhunderte. Er hat seine Großeltern, möglicherweise noch seine Urgroßeltern gekannt. Das ist die Zeit und die Welt vor hundert bis hundertfünfzig Jahren. Er kennt seine Enkel, vielleicht auch seine Urenkel noch, das ist die Welt und die Zeit nach fünfzig bis hundert Jahren. Wie seine Großväter und Urgroßväter die Träger der seelischen und geistigen Atmosphäre vor einem Jahrhundert waren, die er durch die Berührung mit ihnen einatmete und sich zu eigen machte, so nehmen seine Enkel, Urenkel, sein zeitliches Fluidum von ihm an und geben es an ihre Enkel weiter, enthüllen aber umgekehrt auch ihm selbst, dem in die Großvaterrolle Hineingewachsenen, bereits die Keime, Triebe, Ansätze einer vielleicht erst nach einem Jahrhundert sich entfaltenden oder vollendenden Zukunft und lassen ihn dadurch dieser Zukunft vorahnend teilhaftig werden. Kann mit Fug bestritten werden, daß ein solcher beispielhafter Mensch – und viele von uns sind es, ohne es recht zu wissen – in der Achse zweier Jahrhunderte zu denken ist, gleichsam die Spannweite von zweihundert Jahren in sich verkörpert? Nun wohl! Denken wir uns zehn solche Spannweiten oder zehn solche Flügelmänner – nur zehn! – aneinandergereiht, die gleichsam mit ausgebreiteten Armen einander zu berühren oder sich die Hände zu reichen hätten, so würde diese Kette von nur zehn Zeitinkarnationen schon bis vor Christi Geburt und gerade bis zu den Tagen reichen, wo der Dichter Vergil und der Kaiser Augustus geboren wurden. Also was ist die Zeit? Traum! Wahn! Chimäre! »Ein Märchen ist's ...« Aber dies ist freilich nur die eine Seite ihres Januskopfes. Von der anderen, von ihrer Unermeßlichkeit und Unfaßbarkeit, soll an dieser Stelle nicht weiter die Rede sein. Im Vorwort ist schon einiges darüber gesagt. Ich kehre zur Vorgeschichte meines Lebens zurück.

Der Kapitulation von Danzig im Sommer 1807 folgte eine siebenjährige französische Besetzungs- und Leidenszeit für Stadt und Land. Ungeheure Kontributionen wurden schonungslos aus der unglücklichen Bevölkerung herausgepreßt. Auch meine Urgroßeltern als zu Wohlstand gelangte Leute seufzten unter dem Druck der Zeit, wenn auch der fortwährende Zuzug und Abzug von Truppen dem an der großen Heerstraße gelegenen Dorfkrug immer wieder Kundschaft und Gäste brachte. Napoleon hatte aus Danzig und dem dazugehörigen Landgebiet einen sogenannten Freistaat gebildet, ganz ähnlich dem, der auch in unseren Tagen wieder, seit Versailles, auf der Landkarte zu finden war und nicht leben und nicht sterben konnte. Damals war es Napoleon selbst, der ihn in der Hand hatte und damit ein Ausfallstor gegen Rußland und den Schlüssel der Ostsee gewann. Gestern streckten die Polen die Hand danach aus, aus dem gleichen Grunde. Wiederum geht es um das Dominium maris baltici, wie man es im siebzehnten Jahrhundert genannt hat, um Handelswege und Seegeltung. Die Geschichte wiederholt sich. Ihr Repetitionskurs wäre lehrreich genug. Aber niemand will etwas daraus lernen, man kann es nicht oft genug wiederholen.

Im Frühsommer 1812 begann der Aufmarsch der Großen Armee nach Rußland. Napoleon selbst kam abermals nach Danzig, um hier die letzten Vorbereitungen für den Feldzug zu treffen. Man kann sich denken, wie es im Güttländer Dorfkrug wieder alle Hände voll zu tun gab. Wochen-, monatelang zogen gewaltige Heeresmassen durch: Franzosen, Rheinbündler, Italiener, Polen, Holländer, Spanier, Afrikaner. Die Völker Europas gaben sich in und um Danzig ein Stelldichein, lösten sich in bunter Folge ab und verschwanden jenseits der Weichsel.

Allmählich wurde es stiller. Die Welt hielt den Atem an. Zu Weihnachten meldeten die ersten zerlumpten Flüchtlinge, daß die Große Armee im russischen Schnee, im Eiswasser der Beresina begraben lag. Und nun drängten sich die Ereignisse. Wenige Wochen später waren bereits die Kosaken da. Die Belagerung der Festung begann von neuem. Das Schauspiel von 1807 wiederholte sich, nur mit umgekehrter Rollenverteilung. Die kaiserlichen Truppen waren in die Verteidigung gedrängt, Belagerer die Preußen und Russen. An Stelle der eleganten französischen oder polnischen Gardereiter, die ihre silbernen Waschschüsseln und Nachtgeschirre an den Satteltaschen ihrer Gäule baumeln ließen, droschen jetzt im Güttländer Krug struppige Kosakenoffiziere ihre einheimischen Kartenspiele, donnerten mit den Fäusten auf den Wirtstisch und gossen die Schnäpse des Landes hinter die Binde. Auf Schnaps verstanden sie sich, was nicht ausschloß, daß so mancher von ihnen unter den Tisch kugelte und gelegentlich auch die krummen Kosakensäbel aus der Scheide fuhren.

Anna Maria fürchtete sich nicht. Wie ehedem mit den Franzosen, Polen, Spaniern, Afrikanern, so wurde sie jetzt mit den Gästen vom Don und von der Wolga fertig. Mehr und mehr lag die ganze Schwere der Wirtschaft auf ihren Schultern allein. Ihren um so viel jüngeren Mann hatten die Stürme eines schicksalreichen Lebens vor der Zeit zermürbt. Er schlich so dahin, kränkelte, hielt sich manchmal die Ohren zu vor dem wüsten Gelärm des zechenden, fluchenden Kriegsvolks. Sie, die bald sechzigjährige Frau, stand unerschüttert auf ihren zwei festen Beinen. Jetzt, wo es mit der Liebe und dem allem vorbei war, kam der Ehrgeiz erst voll zu seinem Recht. Diese Flamme hatte schon immer in ihr geschwelt. Jetzt brannte sie heller denn je, verzehrte jeden anderen Gedanken. Sie wollte Besitzerfrau werden. Sie wollte auf einem von diesen Herrenhöfen als Eigentümerin schalten und walten. Viele Jahre hatte sie sich bücken und ducken müssen. Jetzt wollte sie diesen hochnäsigen Bauern, die sich ihren Machandel von ihr hatten zutragen lassen, zeigen, wer sie war. Ihre Familie, ihr Haus – sie fühlte sich längst als eine richtige Halbe – sollten aufsteigen zu dem Platz, der ihnen gebührte. War nicht ihr Mann selbst ein Herr gewesen, ehe man ihn um sein Erbe bestohlen hatte? Nun gut! Er sollte es wieder werden! Und ihre Kinder und Enkelkinder erst recht! Schöner und größer womöglich sollte das neue Besitztum werden als jener alte Hof auf der Höhe, von dem man ihren Mann einst fortgejagt hatte. Es war nun ein Menschenalter her. Was hatte man in all der Zeit gehabt? Arbeit und Rackerei! Und zehn Jahre Krieg dazu! Der hatte ja sein Gutes gehabt. Aber jetzt tat es not, daß endlich wieder Friede kam. Gleich gegenüber an der Dorfstraße, keine hundert Schritte entfernt, lag ein Hof, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Einer der besten in der ganzen Gemarkung. Die ihn besaßen, waren alt, kinderlos, von der langen Kriegszeit erschöpft und verarmt. Anna Maria hatte ihren Plan fertig, wenn der Frieden käme.

Endlich kam er! Beinahe ein Jahr hatte die Belagerung von Danzig gedauert. Das gab noch manchen guten Gast in der Wirtsstube zu Güttland. Denn auch die russischen Offiziere lagen bisweilen wochenlang auf der Bärenhaut und ließen sich nicht lumpen, noch weniger als die Franzosen, deren Genauigkeit ja in aller Welt bekannt war und ist. Und es waren vornehme Regimenter darunter, in denen es nur so von Baronen und Grafen wimmelte.

Im Sommer 1815 war es zu Ende. Auf dem »Bellerophon« fuhr der Welteroberer unter englischer Bedeckung nach der Felseninsel am Ende der Welt. Der Vorhang senkte sich über dem letzten Akt eines gewaltigen Menschheitsdramas. Eine ganz kleine Familienepisode – eine unter vielen vielen anderen! die meinige! – war darin verflochten gewesen: wie in den Zinnen und Dachluken der großen gotischen Dome Schwalben und Sperlinge ihre Nester bauen.

Anna Maria Halbe hatte ihr Ziel erreicht. Im Sommer 1816, ein Jahr nach dem Friedensschluß, zogen meine Urgroßeltern aus der Krugwirtschaft auf den langersehnten Hof. Man hatte das Anwesen billig erworben. Nach all den Verlusten, Zerstörungen, Brandschatzungen dieser zehnjährigen Kriegsläufte hatte ja niemand Geld. Die Güterpreise sanken ins Bodenlose hinab. Eine furchtbare Hungersnot, eben die des Jahres 1816, tat ein übriges. Der Vorbesitzer des wertvollen, aber durch den Krieg heruntergekommenen Hofes, am Ende seiner Kraft und Mittel, war froh, in den Wirtsleuten vom Krug Käufer zu finden, die Ersparnisse hatten und bar bezahlen konnten. So hatte das zähe, unablässige Ringen sich doch gelohnt.

Ein neuer Abschnitt unserer Geschichte begann: derjenige, dem auch meine eigene Jugend angehört hat. Mein Urgroßvater sollte sich des frisch erworbenen Besitzes, des zurückerkämpften Herrentums nicht lange erfreuen. Seine weiche Natur war durch das alles aufgerieben worden. Er starb, erst ein angehender Fünfziger, schon zwei Jahre später. Auf dem Kirchhof in Güttland liegt er als erster unseres Geschlechts begraben. Seine soviel ältere Witwe hat ihn noch um mehr als dreißig Jahre überlebt. Sie war jetzt unumschränkte Herrin über Haus und Hof. Die Kinder, aus der verhältnismäßig späten Ehe, wuchsen erst heran. Der älteste Sohn, wenig über zwanzig, mehr nach dem Vater geartet, beugte sich wohl oder übel unter den harten Willen der Mutter. Mit einer Kraft und Ausdauer, die nie ermüden wollte, hielt sie die Zügel der immer mehr sich vergrößernden Wirtschaft in der Hand und ließ niemand an ihre Stelle. Am allerwenigsten eine junge Frau und Schwiegertochter.

Bertha Halbe, Max Halbes Mutter, als junge Frau 1865

Das waren schwere Tage auf dem neu erworbenen Hof. Kinder und Gesinde ächzten unter dem eisernen Regiment der Urahne. Sie kam in die Siebzig, sie kam in die Achtzig, aber ihr Lebenswille, ihr Arbeitsdrang, ihre Spannkraft schienen nicht zu erlahmen. Schicksalsschläge brachen herein. In einer finsteren, stürmischen Februarnacht, vor über hundert Jahren, bahnten sich die stubengroßen Eisschollen der brüllenden und tobenden Weichsel eine Bresche durch den Weichseldeich, auf der Güttländer Seite. Mit furchtbarer Gewalt stürzte sich der entfesselte Strom auf die schutzlose Niederung. Der erste schlimmste Stoß traf unsere unmittelbar an der Durchbruchstelle gelegenen Ländereien, viele Morgen besten Weizenbodens, und schwemmte eine fußhohe Sandschicht darüber hin. Nach Tagen, Wochen lief die Flut ab. Der Sand blieb zurück und schlimmer noch: ein ansehnlicher See, hierzulande »Bruch« genannt, war auf unserem Besitz entstanden, eine trichterartige Vertiefung, die das tobende Element sich aus dem Humusboden herausgeschält und mit Wasser angefüllt hatte. Er ist eine bleibende Erinnerung an jene Naturkatastrophe vor hundert Jahren, denn er ist heute noch da und stellt mit seiner melancholischen, jetzt langsam verschilfenden Wasserfläche eine kleine Sehenswürdigkeit unserer Niederung dar, wie es deren übrigens noch eine ganze Anzahl im Umkreise gibt: sie alle mahnende Gastgeschenke des Weichselstromes von seinen ein paarmal in jedem Menschenalter sich wiederholenden Besuchen im Weichseldelta. Die Urahne und ihr Sohn, mein Großvater, hatten lange Jahre zu tun, ehe sie mit den Folgen der Katastrophe fertig wurden. Aber in unausgesetzter Arbeit gelang es, den aufgeschwemmten Sand allmählich unterzupflügen, so daß schließlich der bisher allzu schwere Boden sich durch die Beimischung sogar verbesserte und noch an Wert gewann. Aufsteigenden Geschlechtern und Zeiten, so scheint es, schlägt selbst anfängliches Unheil zuletzt zum Segen aus.

Mein Großvater war über vierzig Jahre alt, also nach damaligen Begriffen bereits ein älterer Mann, als er sich nun doch entschloß zu heiraten. Das Leben forderte seine Rechte. Der großen Wirtschaft tat eine junge Frau not. Auch an einstige Erben war zu denken. Die Urahne selbst war es, die in schweren Kämpfen sich zu dieser Erkenntnis durchrang. Auch an ihre Pforte pochte die knochige Hand des Alters. Sie wollte noch längst nicht abdanken, aber sie war bereit, sich in die Herrschaft zu teilen. Es würde schon dafür gesorgt sein, daß die Junge, die da kam, ihr nicht über den Kopf wachsen sollte. So wurde die Hochzeit bestellt.

Die junge Frau, die ins Haus einzog, war in der Tat jung genug. Eine siebzehnjährige Schwiegertochter trat einer vierundachtzigjährigen Schwiegermutter gegenüber. Und das Schicksal wollte, daß sie beide artgleich und wesensverwandt waren. Die junge schöne Frau, meine nachmalige Großmutter, stammte aus einer Gutsbesitzersfamilie von der Höhe, an der – außer dem Namen – nichts Polnisches war. Ich habe meine Großmutter nie ein polnisches Wort sprechen hören. Nur ihr Temperament wies auf eine slawische Blutmischung hin. Eine stürmische, leidenschaftliche, lebenshungrige, sich selbst verzehrende Natur. Von so ähnlichem Schlag war einst die Urahne auch gewesen. Aber eben darum verstand man sich nicht! Es war auch zuviel Wasser seitdem die Weichsel hinabgeflossen. Die Abgrundweite von fast sieben Jahrzehnten klaffte zwischen ihnen! Was sich im häuslichen Neben- und Gegeneinander von Schwiegermutter und Schwiegertochter abspielte, war mehr Groteske als Tragödie. Die beiden Frauen waren aus zu hartem Stoff, als daß die eine oder die andere daran zerbrochen wäre. Aber die Funken sprühten manchmal, daß man wohl daran tat, sich von dem Feuerwerk fernzuhalten. Mein Großvater, ein ruhiger, friedliebender Mann, von der in sich gefestigten niedersächsischen Art, damals auch schon in gesetzten Jahren, handelte nach dem Grundsatz, daß man nicht blasen soll, was einen nicht brennt, und ging seiner Wege, auf den Speicher, in Stall und Scheune oder hinaus auf die Felder. Manchmal schallte ihm das häusliche Kriegsgetöse noch weit bis auf die Felder nach. Ich habe ihn nicht mehr gekannt, er starb ein paar Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe den Eindruck, daß eine philosophische Ader in ihm gewesen sein muß, da er es immerhin elf Jahre zwischen den beiden aus Wahlverwandtschaft sich bekämpfenden Frauen ausgehalten hat, ohne besonderen Schaden zu nehmen.

Meine Urgroßmutter ist fünfundneunzig Jahre alt geworden. Zur Zeit ihrer Geburt gab es noch ein Königreich Polen und in losem Verhältnis zu ihm eine freie Reichsstadt Danzig, zu deren Gebiet auch Güttland gehörte. In Preußen regierte Friedrich II., der damals noch nicht der »Alte Fritz« und auch nicht »der Große« hieß und den Siebenjährigen Krieg erst vor sich hatte. Es bestand noch ein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation und Goethe spielte seine ersten Kinderspiele in dem Patrizierhaus am Hirschgraben. Welche ungeheuren Umwälzungen hatten seitdem die Welt erschüttert und waren längst in die Geschichtsbücher eingegangen! Siebenjähriger Krieg, französische Revolution, Napoleonisches Zeitalter, Biedermeier und Vormärz: dieses beinahe hundertjährige Menschenleben hatte das alles vorüberziehen sehen und einen Hauch davon an sich selbst verspürt. Denn diese ungewöhnliche wenn auch einfache Frau war von aufgeschlossenem Sinne und einem regen, empfänglichen Geist. Ihr Denken und Sinnieren hörte nicht, wie bei den meisten damaligen Frauen, hinter den vier Pfählen ihrer Häuslichkeit auf, sondern ergriff den wechselnden Stoff der Zeit und suchte ihn sich zu eigen zu machen. In den schlaflosen Nächten ihres Alters, wenn sie es müde war, gleich einem ruhelosen Geist durch die Räume unseres Hauses zu wandern, vertiefte sie sich in Chroniken, Geschichtswerke und Bücher über den Sternenlauf und den Aufbau des Weltalls.

Es ist kein Zweifel, daß das Blut und die Wesensart dieser seltsamen, überragenden und zugleich ganz dörflichen Frau noch bis zum heutigen Tage in mir und meiner Familie weiterrumoren, im Guten wie im Bösen. Ich habe deshalb auch ihrer ebenso lebensvollen wie phantastischen Gestalt hier in meiner Selbstbiographie einen breiteren Platz eingeräumt. In den Menschen meiner Kindheit war ja die Erinnerung an sie noch höchst lebendig. Sie starb 1849, also nur sechzehn Jahre vor meiner Geburt. Übrigens an der Cholera: ein Ende dieses endlosen Lebens, das man allgemein sehr bezeichnend fand, indem man sagte, daß auf andere Weise der Tod nicht mit ihr fertig geworden wäre und daß sie sonst noch jetzt auf den Beinen sein würde.

Begreiflich genug also, daß in meinem Elternhaus noch öfters von ihr die Rede war, in einer geheimnisvollen, meine kindliche Phantasie dunkel erregenden Weise, und daß bei den Mädchen, beim Kuhhirten, bei den Knechten im Stall noch manche Gespensterei von ihr umging. Ich habe ihr da und dort in der Dunkelheit, auf der Treppe oder auf dem Boden zu begegnen geglaubt und mir manchesmal in meinem Kinderbettchen die Decke über den Kopf gezogen, bei dem Gedanken, daß sie vielleicht erscheinen könne. Möglicherweise ist das selbst Erwachsenen so gegangen, denn es lebte noch viel Spuk dazumal bei uns auf dem Lande, in den Katen wie auf den Höfen, allenthalben.

Das war denn der richtige Boden, damit Sage und Mythos erwachsen konnten. Die Figur meiner Urgroßmutter wurde allmählich ganz davon umrankt. So stand sie vor meiner Knabenphantasie und wollte auch später nicht von mir weichen, bis sie schließlich in der unheimlichen Zwielichtgestalt der Frau Meseck, der Heldin meiner gleichnamigen ersten größeren epischen Arbeit, ihre dichterische Objektivierung und Erlösung fand. Was dort im dichterischen Bild, gleichnishaft in Halbdunkel gemalt, vor uns erscheint, mag durch den vorstehenden Bericht seine äußere Begründung und Deutung finden. Irgendein ungelöster Rest des Irrationellen wird trotzdem bleiben. Das gehört zum Geheimnis alles Lebens und aller Dichtung.

Nach dem Tode meiner Urgroßmutter kamen ruhigere Tage für unseren Hof. Eine Natur wie die ihrige muß notwendigerweise den Rhythmus des von ihr ausströmenden und beeinflußten Lebens unter fortwährender Spannung halten; Explosionen sind unvermeidlich. Jetzt atmete man auf.

Die »Heroenzeit« war also bei uns zu Ende, trotzdem ging es äußerlich gut vorwärts. Der Wohlstand des Hauses wuchs mit dem des Zeitalters. Es war die Stunde des aufsteigenden deutschen Bürgertums – als deren klassisches Dokument Freytags »Soll und Haben« auf uns gekommen ist –, aufsteigend aber nicht nur in den Handelsstuben und Kontoren, sondern auch im weiteren und weitesten Umkreise von Beamtentum und Landbesitz. Unsere Niederungsbauern aus den drei Werdern des Weichseldeltas, dem Danziger, dem Marienburger und dem Elbinger Werder, hatten sich schon von jeher, schon seit der Ordenszeit, als große Herren gefühlt, die den Nacken selbst gegen das Landesregiment steif hielten und sich mit dem feudalen Gutsbesitz auf der Höhe als gleichberechtigt fühlten, im Grunde ihrer Seele auf ihn hinabsahen. Hörigkeit, Leibeigenschaft hat es bei unseren Niederungsbauern nie gegeben: das unterscheidet die Geschichte des Weichselgaues sehr zu ihrem Vorteil von der unglückseligen Entwicklung des bäuerlichen Lebens im größten Teil des alten Mutterlandes. Kann man sich wundern, daß diese Menschen unseres Ostens, die die landläufige Meinung im übrigen Deutschland sich als eine einzige untertänige Masse vorstellt, ganz im Gegenteil aus den erwähnten Gründen ihren Kopf sehr hoch trugen, natürlich auch oft genug damit anstießen und im Guten wie im Schlimmen es auch noch heute so halten? Familienbewußtsein und Ahnenstolz haben sich auf unseren Werderhöfen als lebendiger Besitz von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt, obwohl man dort nie das Wörtchen »von« vor seinem Namen gekannt hat. Ja, ich erinnere mich, bei Voreltern und Eltern auf eine sehr sichtbare Abneigung gegen alles, was mit Adel zusammenhing, gestoßen zu sein und sie selbst noch daher in mein eigenes Leben übernommen zu haben. Erst spätere persönliche Erfahrungen haben mich zu einer unbefangeneren Erkenntnis gelangen lassen.

Auf einem solchen Boden, in solcher Atmosphäre gedeihen nicht nur Charaktere, sondern auch Originale, Sonderlinge, Eigenbrötler, Abseitige, Querulanten, Prozeßhansln und wie immer man diese Rebellen gegen Norm und Paragraphen nennen mag. Mir will scheinen, als habe die. Geschichte meines Heimatdorfes, soweit ich sie zurückverfolgen kann, eine besonders reiche Galerie von derartigen Charakterköpfen und Sonderlingen aufzuweisen; ja, als sei diese Schrulligkeit, diese Wunderlichkeit, dieser Spleen nirgendwo so zu Hause, wie ebendort, wo ich selbst zu Hause bin. Aber vielleicht bildet sich das jeder ein, der aus einer ganz individuellen abseitigen Sphäre und nicht aus einer modernen Fabrikstadt mit lauter Zweck- und Schablonenmenschen stammt. Jedenfalls wären die »Leute von Seldwyla« ohne ein ähnliches Gefühl und verwandte Voraussetzungen niemals geschrieben worden.

Einer von diesen Eigenbrötlern und Gewaltmenschen war es, mit dem mein Großvater in jener Zeit beinahe auf Leben und Tod aneinandergeraten ist. Er stammte aus einer Besitzerfamilie jenseits der Weichsel, war als junger Mann nach Güttland eingewandert und hatte durch Einheirat, persönliche Tüchtigkeit und nicht zum wenigsten durch Gebrauch seiner Ellbogen sich zum größten Besitzer im Dorf gemacht. Zwei burgenartige Höfe, fünf bis sechs Stockwerke hoch, mit mächtigen »Vorlauben« im Werderstil, die er errichtet hat, stehen noch heute als Zeugen seines Lebens im Dorf. Der eine davon war unser nächster Nachbarhof, auf dem jener Herrenmensch auch selbst hauste. Nur ein bretterner Gartenzaun trennte unseren Obstgarten von dem jenseitigen Wirtschaftshof.

Eines Tages war dort ein Brand ausgebrochen, der auf unseren Hof übersprang und sämtliche Gebäude auf beiden Besitzungen in Asche legte; auch den Gartenzaun. Als es nun ans Wiederaufbauen ging, traf der Nachbar Anstalten, den bewußten Zaun ein Stück weit in unseren Garten vorzurücken, um dadurch mehr Platz auf seinem Hof zu gewinnen. Vielleicht war auch nur Händelsucht und Schikane im Spiel. Das Recht lag klar auf des Großvaters Seite. Die Fundamente des alten Zaunes sprachen deutlich genug. Was war zu tun? Sollte man erst aufs Gericht laufen? Inzwischen das Unrecht dulden? Mein Großvater trat zwar vor Mutter und Frau gelegentlich den Rückzug an, aber vor dem herrischen Nachbarn kapitulierte er nicht. Er trommelte seine Mannen zusammen und holte Säbel und Flinten aus der Franzosenzeit vom Speicher herunter. So bewaffnet zog die Schar in den Garten, wo die Leute des Nachbarn über Nacht schon mit dem neuen Zaun angefangen hatten. Die Schießprügel wurden geladen und, als nun auch von drüben der Feind anrückte, schußbereit angelegt. Es waren ja alles gediente preußische Soldaten und manch einer war noch unter Vater Blücher gegen »Napolium« geritten. Eine Zeitlang standen sich die beiden Fähnlein gefechtsbereit gegenüber, es hagelte Flüche, Verhöhnungen, Beschimpfungen, und wer weiß, was für ein bitteres Ende die tragische Posse genommen hätte, wenn nicht die Frauen beiderseits sich ins Mittel gelegt hätten und auch sonst die Vernunft zum Durchbruch gekommen wäre. Das Ende war, daß der Großvater das Schlachtfeld behauptete und der böse Feind den Rückzug antrat. Meine Großmutter, die mit dabei war, hat mir die Geschichte erzählt und sich für ihre Wahrheit verbürgt. Aber auch wenn es nicht ganz so gewesen wäre, so wäre sie doch charakteristisch genug für das Werderanertum jener Tage.

Der Bericht meiner Großmutter über jene Begebenheit muß auf meine Knabenphantasie einen unverwischbaren Eindruck gemacht haben, denn viele Jahre später, nachdem er in der Zwischenzeit längst vergessen schien, ist er unter vollständig fremden Lebensumständen plötzlich wieder vor mir aufgetaucht und hat mir die entscheidende Anregung für mein Schauspiel »Haus Rosenhagen« gegeben. Die Gestalt jenes herrischen Nachbarn hat mir für die Figur des landgierigen alten Rosenhagen Modell gestanden. Ich habe ihn ja nicht mehr erlebt, aber sein Andenken, ähnlich wie das meiner Urgroßmutter, war in meiner Jugend den älteren Zeitgenossen noch sehr gegenwärtig. Sie wußten auch über seine äußere Erscheinung noch genau Bescheid. Er trug, wenn er ausritt, einen frackähnlichen Rock von grünlicher Farbe, gelbe Stulpstiefel und einen grauen Zylinder. So ausgerüstet ist er an der Spitze seiner Kuhherde einmal auf seinem Gaul durch den Weichselstrom geschwommen. Er hätte auch die Fähre dazu benützen können, aber da der Fährmann ihm seiner Meinung nach um einige Groschen zuviel Fährgeld abverlangte, so stürzte er sich kurzerhand mit Roß und Rindern in die reißende Flut und schwamm ans jenseitige Gestade. So hatte er das ganze Fährgeld gespart. Er muß ein wunderlicher Heiliger gewesen sein. Von solcher Art waren die Menschen und die Welt, in die ich hineingeboren werden sollte: ein aus Wirklichkeitssinn und Phantastik, aus klarrechnender Nüchternheit und verbiestertem Sonderlingstum seltsam gemischtes Geschlecht. Auch der Charakter meiner schon mehrfach erwähnten Großmutter entfernte sich weit genug von der damals und eigentlich auch heute noch geläufigen Norm einer in ihrem Kreise sich genügenden Landfrau und Hausmutter. Sie war erfüllt von einem unruhigen schweifenden Wissens- und Lebensdrang, den spätere Jahre eher noch verstärkten. Sie war, kaum erwachsen, mit einem soviel älteren Mann verheiratet worden, hatte ihm eine Anzahl Kinder geboren, von denen drei Söhne, darunter der älteste mein Vater, am Leben blieben und zu hohen Jahren kommen sollten, und wurde mit vierzig Jahren Witwe, also in einem Alter, in dem die Urahne erst ihre Ehe angetreten hatte. Bis dahin hatten Haus und Hof, Wirtschaft und Familie, nicht zuletzt das vieljährige Ringen mit der uralten Schwiegermutter, ihrem Leben Inhalt gegeben und unerfüllte Wünsche zum Schweigen gebracht. Jetzt in ihrem Witwentum – es war das einer noch jungen, einmal schön gewesenen und noch wohlerhaltenen Frau – meldete sich das Fieber ihres Blutes wieder und wollte bis ins Alter nicht zur Ruhe kommen. Sie machte mit den ihr hinterlassenen Mitteln große Reisen, die in der damals noch sehr seßhaften Zeit allgemein auffielen, besuchte die Modebäder jener Tage, wie Teplitz, Franzensbad, Ragaz, ließ sich in mehr oder minder erfolgreiche Finanzgeschäfte mit Häusern und Papieren ein, wechselte mehrere Male den Wohnsitz und endete schließlich als vereinsamte, mit sich selbst zerfallene Frau in Berlin. Ein beinahe tragisch zu nennender Lebenslauf, dem eben nur das Letzte dazu fehlte. Ich stand an ihrem Sterbebett in der Gr. Hamburger Straße. Es war im Spätwinter 1889, als schon unser junges naturalistisches Zeitalter heraufstieg. So reichen sich die Geschlechter die Hand.

Viele Wesenszüge dieser unsteten, ruhelosen, an sich selbst leidenden Frau sind auf meinen Vater übergegangen, der sie mir weitervererbt hat. Ich werde seinerzeit darauf zu sprechen kommen. Jetzt wende ich mich, ehe ich mein eigenes Lebensbuch aufschlage, noch kurz meinen mütterlichen Vorfahren zu, um das Bild der meinen Charakter und meine Anlagen bestimmenden Erbfaktoren zu vervollständigen. Vieles dahin Einschlägige wird sich dann später von selbst erklären, ohne daß ich noch Worte darüber zu machen brauche.

 

Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts ist in Langenau, einem Dorf auf der Danziger Höhe, ein gewisser Iwan Alex eingewandert. Er war, worauf auch schon die beiden Vornamen hinweisen, aus Rußland gekommen. Doch ist näheres über seine Herkunft nicht bekannt geworden. Er scheint in einen der dortigen Höfe eingeheiratet zu haben, mag also zum wenigsten ein zielbewußter Mann gewesen sein, der jedoch nicht zu Jahren gelangt ist. Dies war mein Urgroßvater von der mütterlichen Seite her. Ich führe auf ihn den Einschlag russischen Blutes zurück, von dem ich schon gesprochen habe. Seine Witwe, meine Urgroßmutter, heiratete zum zweitenmal. Aus der ersten Ehe war nur ein Sohn zurückgeblieben, Gabriel Alex mit Namen, mein nachmaliger Großvater, der Vater also meiner Mutter. An ihm wiederholt sich mit einer merkwürdigen Parallelität, wenn auch in weniger schroffer Form, das Schicksal meines väterlichen Ahnherrn. Auch er geht früh aus dem Hause und stellt sich auf eigene Füße.

Mein Großvater, dessen Bild mit meiner ganzen Knaben- und Jugendzeit unzertrennlich verbunden ist – er starb, als ich gerade einundzwanzig Jahre alt war –, hat von den bitteren Erfahrungen seines Lebens stets mit dem ihm eigenen philosophischen Gleichmut und Humor gesprochen. Es gehörte eben zu seinem Schicksal, daß dies alles sich so und nicht anders hatte begeben müssen. Eine harte Jugend war damals das allen gemeinsame Schicksal gewesen. Sein Heimatdorf hatte ziemlich nahe vor den Toren von Danzig gelegen. Es war die Zeit der beiden Belagerungen. Auch in seine Kinderträume waren Franzosen und Kosaken hineingesprengt. Er hat mir viel von den untersetzten, verwilderten Gesellen, den Kosaken, erzählt, und sprach im ganzen nicht schlecht von ihnen, wenn ihnen auch nicht immer zu trauen gewesen war. Sie waren manchmal tückisch und öfters gutmütig, waren ja auch schließlich als Bundesgenossen da. Sie hatten ihn oft auf ihren kleinen Pferdchen reiten lassen, die ebenso struppig waren wie sie selbst. Das war das Haupterlebnis des Knaben gewesen, wovon noch der inzwischen Großvater Gewordene zu erzählen wußte.

Dieser von mir hochverehrte Mann war also ein Selfmademan in des Wortes vollster Bedeutung. Er hatte alles, was er wurde, nur sich selbst, seiner eigenen Tüchtigkeit und Tatkraft zu verdanken. Er war ein ausgezeichneter Landwirt und brachte es auf seinem anfänglich kleinen Besitz sehr bald zu Wohlstand, den er für allerhand Verbesserungen und Vergrößerungen verwendete, so daß schließlich eine Musterwirtschaft daraus wurde. Von dem allem machte er aber in seinen Erzählungen als alter Mann, wie ich sie von ihm vernahm, weiter kein Aufhebens. Es war vielmehr alles gewissermaßen selbstverständlich. Er hatte gearbeitet – was hätte er denn sonst tun sollen? – und dann war es eben gekommen.

Ich betrachte es als einen nicht alltäglichen Glücksfall – nicht nur, daß ich diesen ruhigen, starken, sicheren, ehrenfesten und zugleich überlegenen Mann zum Großvater gehabt habe –, sondern auch, daß ich bis zu den Jahren meines Erwachsenseins von ihm habe lernen, seine Erfahrungen, seine Lebensweisheit für mich habe nutzbar machen können. Sein menschliches Beispiel hat außerordentlich fördernd, charakterbildend auf meine ganze Zukunft gewirkt. In den schweren Kämpfen und mancherlei Niederlagen, an denen mein Leben reich gewesen ist, hat mich oft genug die Erinnerung an die schicksalsvolle Gestalt meines Großvaters getröstet und zu fernerem Durchhalten – manchmal mit zusammengebissenen Zähnen – ermuntert.

Eine stark entwickelte Eigenschaft dieses seltenen Mannes war sein Humor. Bei allem, was er sprach, saß ihm der Schalk im Nacken. Er liebte es besonders, seinen ewig exaltierten, in der Erregung sich überstürzenden Enkel »anzuführen«, wo er nur konnte, und seinen Spaß mit ihm zu treiben. Dieser Sohn eines aus Rußland gekommenen Vaters hatte den Till-Eulenspiegel-Humor des echten Niederdeutschen, wie denn auch sein ganzer körperlicher Habitus den standfesten niederdeutschen Bauern anzeigte. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich das mit seinen mütterlichen Vorfahren in Verbindung bringe, die eben auch dem von mir eingangs beschriebenen niederdeutschen Kolonistenschlag meiner Heimat angehörten.

Im Wesen gerade dieses Bauerntums hat von jeher (man denke nur an den Sachsenspiegel!) ein sehr ausgesprochenes Rechtsgefühl, ja darüber hinaus eine bewußte Stellungnahme zum Rechts begriff, also eine offenkundige juristische Begabung, gelegen. Auch von meinem Großvater konnte man sagen, daß ein Jurist an ihm verloren gegangen war. Er wußte im Preußischen Landrecht, dem Vorgänger des Bürgerlichen Gesetzbuches, wie in allen für ihn einschlägigen Rechtsfragen beinahe so gut Bescheid wie seine Anwälte, was ihm in seinen alten Tagen bei der Verwaltung seines Vermögens als Rentner in Dirschau nicht wenig zustatten kam. Er hat oft mit mir über diese Dinge gesprochen und mich in allerlei juridische Feinheiten und Knifflichkeiten einzuweihen gesucht. Sein heißer Wunsch war, daß ich Jurist werden möchte und in seinem Enkel sich verwirkliche, was ihm selbst nicht beschieden war. Nicht zum wenigsten ihm zuliebe habe ich mich dann in Heidelberg zwei Semester lang des Rechtsstudiums befleißigt. Ich habe wohl auch eine gewisse ererbte Anlage dafür mitgebracht, es schließlich aber doch an den Nagel gehängt, weil der künstlerische Gestaltungsdrang stärker als alles andere war. Es war eine bittere Enttäuschung für den alten Mann. Er hat sie mich aber nicht entgelten lassen, sondern hat auch noch nachher manche Neckerei mit mir angestellt, wenn ich ihn in den Universitätsferien besuchte. Dieser Hang zu Spaß und Schalkswesen, in weiterem Sinne eine humoristische Veranlagung, an der ich nicht zweifeln kann, lebt auch in mir und wird wohl ein Erbteil meines alten Großvaters sein – nicht das schlechteste.

Der Hof meines Großvaters, den er aus kleinen Anfängen zur Blüte gebracht hatte, lag in Klein-Montau, einem Dorf des oberen Marienburger Werders, an der »Montauer Spitze«, wo Weichsel und Nogat sich teilen, im innersten Winkel der Deltaspitze. Es war gefährlicher Boden, auf dem man sich hier befand. Denn die beiden großen Ströme drohten zu jener Zeit – lange vor der inzwischen vorgenommenen Regulierung – regelmäßig im Frühjahr mit Eisgang und Dammbruch. Wenn es mit dem einen gnädig abging, so tobte der andere um so wilder. Es sind auch in der langen Lebenszeit meines Großvaters mehrere Dammbrüche gewesen; der schlimmste 1855. Mein Großvater und meine Mutter, die ihn als zehnjähriges Mädchen erlebte, haben mir oft davon erzählt. Aus ihren Berichten ist mancherlei in meinen »Strom« übergegangen. Jene Katastrophe, die verschiedene Nachbarn meines Großvaters an den Bettelstab brachte, ist ihm selbst zum Vorteil ausgeschlagen. Denn während die anderen nach der Überschwemmung auf ihren Grundstücken fußtief im Sand versanken, hatte auf dem größten Teil seines Besitzes der launenhafte Strom eine fruchtbare Schlammschicht hinterlassen.

Jenes erwähnte Dorf Klein-Montau lag – ebenso übrigens wie mein eigenes Heimatdorf Güttland – im späteren Grenzgebiet gegen das nachmalige Polenreich, woran freilich vor hundert oder vor fünfzig Jahren niemand auch nur im Traum denken konnte. Man hätte jeden, der an der Unverrückbarkeit der damaligen Staatsgrenzen und an der Festigkeit des preußischen Staatsgebäudes gezweifelt hätte, für irrsinnig erklärt: ein lehrreiches, zum Nachdenken mahnendes Beispiel für alle diejenigen, die im ewigen Wandel der Geschichte an eine plötzlich eingetretene Unwandelbarkeit glauben.

In jener Biedermeier- und Vormärzzeit also, wo man mit der endgültigen Vernichtung der polnischen Selbständigkeit als einer besiegelten Tatsache rechnen mußte, bestand rein sprachlich und konfessionell, weniger schon im kulturellen Sinne, eine deutlich erkennbare Grenzlinie über ganz Westpreußen hin zwischen Deutschtum und Polentum. Es hat mein persönliches Lebensschicksal entscheidend bestimmt, daß sowohl meine väterlichen als auch meine mütterlichen Vorfahren zwar noch auf deutscher Seite, aber hart an dieser Sprach- und Glaubensgrenze seßhaft gewesen sind. Da die Familie katholisch war – zugleich freilich von beiden Linien her im innersten Wesen deutsch –, so knüpften sich durch den Zwang der glaubensgleichen Frauenwahl immer wieder über die streng evangelische Umgebung hinaus Verbindungen mit der polnischen Nachbarschaft jenseits der Sprachgrenze an, die zu Ehebündnissen führten. Auch mein Großvater, der kein Wort Polnisch konnte, kam auf diese Weise zu einer nicht kleinen polnischen Verwandtschaft. Er verdankte sie seiner Frau, meiner Großmutter – dem Ideal einer liebevollen, von Herzen gütigen Frau, Mutter und Großmutter. Sie sprach trotz ihres deutschen Namens (Rompf) besser Polnisch als Deutsch (man sieht, ein fortwährendes Herüber-, Hinüberwechseln in unseren Landen) und hatte neben gut deutsch fühlenden Verwandten auch ebenso streng polnisch denkende. Merkwürdiger- oder bezeichnenderweise waren es auf beiden Seiten Geistliche, katholische Geistliche, die sich als Deutsche und Polen gegenüberstanden und sich in leidenschaftlichen Diskussionen bekämpften, sich aber auch immer wieder im Glauben und bei einer guten Flasche Ungarweines zusammenfanden. Ich habe diese deutsch-polnische Gegensätzlichkeit, die ja schon in meinen Urkeim gesenkt war, dann erst recht mit erwachendem Bewußtsein, schon von früher Kindheit an, durch eben jene Familienbeziehungen erlebt, erfahren, in mir durchgekämpft: meine »Jugend« wäre ohne dies alles ungeschrieben geblieben!

Es ist der typische Fall ostdeutschen Schicksals, den ich auch in meinem Leben verkörpert sehe: Grenzlandblut, Grenzlandkampf, innerlich wie nach außen hin, Grenzlandtragik. Man mißverstehe mich nicht: es liegt mir fern, besondere Klagen anstimmen zu wollen. Aber es muß einmal gesagt werden, daß der ostdeutsche Geist und Charakter, diese sonderbare Mischung von messerscharfem Verstand, bizarrer Phantastik und kindlicher Gefühlsweichheit (man denke an unsere gehäuften Diminutivformen!) das übrige Deutschland ziemlich fremd anmutet und, was etwa seine literarische Ausdrucksform angeht, nur zu oft mißverstanden wird. Um nur ein Beispiel aus der Vergangenheit zu nennen: Welch eine Behandlung ist einem unserer größten Ostdeutschen – dem unvergleichlichen Ernst Theodor Amadeus Hoffmann – beinahe ein Jahrhundert lang in maßgebenden Literaturgeschichten widerfahren! Auch an Verkennungen in naher Vergangenheit hat es nicht gefehlt, indem eine nach Großstadttendenzen urteilende Boulevardkritik die bodenständige, noch um soviel naturnähere Dichtung des Ostens als geistig unerheblich abtat oder unseren spezifisch ostdeutschen Gefühlston, auf den wir ebenso berechtigten Anspruch zu haben glauben, wie der Berliner auf seinen Rationalismus und seinen Witz, mit dem stets bereiten Schlagwort Kitsch totschlug.

 

Ich bin in meiner Vorgeschichte bei Vater und Mutter angelangt. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, stelle ich einen ausgesprochen bäuerlichen, agrarischen Typus dar. In meinen Adern fließt rein bäuerliches Blut. Soweit ich meine Abstammung zurückverfolgen kann, erblicke ich in direkter Linie nur Landmenschen, Bauern, Gutsbesitzer. Mit einer einzigen Ausnahme: Die Mutter meiner mehrfach erwähnten Großmutter war eine Gerbermeisterstochter aus Danzig. Hier spielt zum ersten Male die Stadt, die Großstadt – man muß das enge provinzielle Danzig jener Tage trotzdem so nennen –, in meine Familiengeschichte hinein. Auch hier war es ehrsames Handwerk, bodenständiges Bürgertum, was sich mit einer jahrhundertealten Landtradition verband, also Verwandtes mit Verwandtem, Wurzelfestes mit Wurzelfestem, beide einander wesensnah.

Und doch scheint damit ein neuer Rhythmus in unser Blut gekommen zu sein. Schon meine Großmutter zog es unwiderstehlich in die Stadt, zu den Menschen, nach den großen Mittelpunkten, wo sich etwas tat und zutrug, wo man etwas sah und erlebte – nach den Badeorten, den Großstädten. Sie hat ja auch ihr letztes Erdenplätzchen auf dem Liesenkirchhof in Berlin gefunden. Von ihren Söhnen wurden schon die beiden jüngeren Stadtmenschen, Juristen, Studierte. Nur mein Vater als der Älteste und zugleich als letzter erhielt noch die Tradition der ererbten Scholle aufrecht, aber ich habe ihn oft von seiner Sehnsucht nach der Stadt sprechen hören. Zum Glück für ihn selbst hat sich dieser Traum niemals erfüllt.

Ganz ähnliches vernahm ich oft aus dem Munde meiner Mutter. Auch sie hat sich ihr Leben lang in städtische Verhältnisse hineingewünscht, obgleich bei ihr überhaupt kein Tropfen städtischen Blutes nachweisbar ist. Es will mir danach scheinen, als habe sich etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der gewisse »Umbruch«, wie man es nennen könnte, vom Lande zur Stadt im deutschen Leben zuerst angezeigt, um dann immer schneller fortzuschreiten und eine verhängnisvolle Ausdehnung anzunehmen. Die Generation, die damals die Lebensbühne betrat – es ist, von mir aus gesehen, die Generation meiner Eltern, für das heute, auf der Höhe stehende Geschlecht also die der Großeltern –, jene nunmehr wohl schon ganz dahingegangene Generation läßt jedenfalls die ersten deutlichen Spuren dieser für alle Zukunft entscheidenden Strukturverschiebung unseres deutschen Ständeaufbaus erkennen. Ich kann das auch in der Familie meiner Mutter nachweisen, wo um die gleiche Zeit ebenfalls die jüngeren männlichen Mitglieder als Kaufleute in die Städte abzuwandern begannen oder als Landgeistliche nur noch in ein ideelles Verhältnis zum Dorf eintraten. Es handelt sich also um einen großen und folgenreichen Entwicklungsprozeß, der vor bald einem Jahrhundert begann und dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Ich habe versucht, ihn durch ein persönliches Familienbeispiel dem Leser nahezubringen.

Wenn ich jetzt zu Vater und Mutter komme, so soll es nur ein kurzes Verweilen sein. Ich werde im Laufe meiner Jugendgeschichte noch oft mit ihnen zu tun haben, so daß ihr Bild ganz von selbst daraus aufsteigen und dem Leser vertraut werden wird. Das Beispiel und Schicksal dieser beiden so grundverschiedenen Menschen, die ihrem Wesen, ihrem Charakter nach gleichsam von zwei entgegengesetzten Weltenden zu- und aufeinanderstießen, so nahe die Quellen ihrer irdischen Laufbahn beieinanderlagen, hat auf mein eigenes Dasein, auf meine eigene Lebensführung und Weltanschauung ganz entscheidenden Einfluß ausgeübt. Was Wunder, daß sie immer wieder in diesen Blättern auftreten werden!

Mein Vater war 1838 als ältester Sohn eines schon alternden Vaters und einer ganz jungen (achtzehnjährigen) Mutter auf unserem Hof in Güttland geboren. Zu den vielen Explosivstoffen seines Charakters, die er mit in die Welt brachte und die seinem langen Leben bis zuletzt die tragische Spannung gaben, wird jener Altersunterschied von Vater und Mutter nicht wenig beigetragen haben. Als er geboren wurde, war gerade die erste deutsche Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth eröffnet worden. Ich erwähne das deshalb, weil ich selten einen Menschen getroffen habe, der eine so leidenschaftliche Liebe nicht nur für das Eisenbahnfahren, sondern auch für die Eisenbahn als Tatsache an sich, als Begriff gehabt hätte wie mein Vater. Er konnte auf einen Sitz von Danzig etwa nach Venedig oder Mailand fahren, ohne es müde zu werden, und unterhielt sich mit mir über nichts lieber als über Zugverbindungen und Eisenbahnreisen. Ich habe das von ihm geerbt und es scheint in der Familie weiterzuspuken. Wenn man will, kann man in dieser Eigenheit meines Vaters einen seelischen Vorgang erblicken, womit er, sich selbst unbewußt, seine im ganzen doch unerfüllte Sehnsucht nach der Ferne, ja überhaupt nach dem Unerreichbaren »kompensierte«.

Er hatte zuerst die Dorfschule in Güttland besucht, und hier war sein Lehrer ein Mann gewesen, der mit dem Ende seiner Tage auch noch in meine Kindheit hineinreichte und dessen Nachkommen in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Drei von ihnen stehen noch heute im Lichte einer engeren oder weiteren, ja weitesten Öffentlichkeit. Es sind die drei Geschwister Margarete Hauptmann, geborene Marschalk, die Gattin Gerhart Hauptmanns, Lisbeth Strauß, geborene Marschalk, die Gattin meines alten Freundes, des Dichters Emil Strauß, und Max Marschalk, der als Komponist des »Hannele« und als Musikschriftsteller sich einen Namen gemacht hat und den ich zu meinen ältesten Freunden zähle. Sie sind die Enkel des Mannes, der meinem Vater einst das Abc beigebracht hat. Ja, es ist sehr wohl möglich, daß er es war, der auch mich zuerst darin eingeweiht hat, wenn ich auch keine genaue Erinnerung daran bewahre. Dafür sehe ich ihn selbst, den »alten Marschalk« – er war damals schon ein Siebziger –, noch deutlich vor mir, wie er, ein schmales grauhaariges Männchen mit buschigen Augenbrauen und einer bräunlichen fremdartigen Hautfarbe, an seinem mir besonders unvergeßlichen Krückstock (einem richtigen Krück-Stock!) von seinem Haus am Kirchhof her durch unser Dorf wandelte und gelegentlich eine Prise nahm. Wem von seinen Dorf- und Zeitgenossen hätte es damals in den Sinn kommen sollen, daß die Enkelin dieses verwitterten, ausgedörrten Dorfschulmeisters einmal als Frau den berühmtesten Namen der neueren deutschen Dichtung tragen werde! Läßt sich bestreiten, daß das Leben ein unbegreifliches und dennoch sinnvolles Märchen ist? Es ist noch nicht lange her, daß ich wieder einmal an dem Grabhügel des Großvaters von Margarete Hauptmann in Güttland gestanden habe. »Hier ruht Friedrich Theodor Marschalk, Lehrer in Güttland, geb. 1800, gest. 1878.« So lautet die Inschrift. Dicht daneben ist die Ruhestätte meines Großvaters. Beide Gräber sind ganz von Efeu überwuchert, dessen Ranken ineinandergreifen. Es wird von der Familie Marschalk in Verbindung mit meinem eigenen Schicksal noch öfters die Rede sein.

Es war zu jener Zeit in meiner Niederungsheimat eine vielbemerkte Ausnahme, wenn ein Besitzerssohn nach der Dorfschule noch auf eine höhere Stadtschule geschickt wurde, es sei denn, daß er zum Geistlichen oder zum Juristen bestimmt war. (Andere studierte Berufe kamen noch kaum in Frage.) Mein Vater dürfte im weiteren Umkreise einer der ersten gewesen sein, bei denen mit der alten Regel, daß für den dereinstigen Hoferben die Dorfschule gut genug sei, gebrochen wurde. Er hat die Petrischule in Danzig, das heutige Realgymnasium, bis zu den oberen Klassen durchgemacht und sich eine gute Bildungsgrundlage erworben. Ich habe mit ihm bis in sein hohes Alter hinein alles, was die Zeit brachte, durchsprechen können und manches wohlbedachte Wort von ihm vernommen. Auch seine vielen Reisen waren nach dieser Richtung hin wirksam und bildungsfördernd.

Als eine ähnliche Ausnahme von der Regel stellt, sich der Erziehungsgang meiner Mutter dar. Sie hatte in Elbing und Marienburg die Höhere Töchterschule besucht und wohl auch die Abschlußprüfung bestanden. Auch bei ihr waren also die Voraussetzungen für einen Weiterbau im späteren Leben geschaffen, wovon sie denn auch unermüdlich und bis zum höchsten Alter Gebrauch gemacht hat.

Es liegt mir fern, diesen Umständen von Schule und Erziehung einen übertriebenen Wert beizumessen. Ich weiß wohl, daß Einjährigenzeugnis – oder das, was ihm heute gleichkommt – und Töchterschulexamen für eine höhere Bildung nicht viel bedeuten; geschweige denn für die schöpferische Persönlichkeit. Aber hier handelt es sich um die mittlere Linie; um das gewisse Niveau, das vom einzelnen wie von Familien doch erst erreicht werden muß, um in Fühlung mit dem allgemeinen geistigen Leben der Zeit zu kommen und in der Folge Leistungen über dem Durchschnitt zu ermöglichen.

Was die Nutzanwendung für mich selbst betrifft: ich habe es der geistigen Aufgeschlossenheit schon meiner Voreltern, dann meiner Eltern zu verdanken, daß ich ein nicht unerhebliches Bildungsgut schon in die Wiege gelegt bekam, jedenfalls in meine frühe Kindheit übernahm, und so einen im späteren Leben kaum mehr einzuholenden Vorsprung vor manchen andern gewann.

Meine Mutter war achtzehn, mein Vater fünfundzwanzig, als sie sich heirateten. Ich stamme also von jungen Eltern ab, was sicher bedeutungsvoll für mich gewesen ist. Auf welche Weise die beiden jungen Leute zueinander gekommen sind, entzieht sich meiner genaueren Kenntnis. Ich entnehme aber aus Andeutungen sowie aus der allgemeinen Beschaffenheit unserer damaligen Verhältnisse, daß den eigentlichen Grundstein zum Ehebunde die beiden beteiligten Familien und befreundete Mittler gelegt haben. Zweck- und Nützlichkeitsehen waren zu jener Zeit auf dem Lande gang und gäbe, wie eigentlich auch noch heute. Jener junge Mann mit soundsoviel Hufen – dieses junge Mädchen mit soundsoviel Barvermögen: man rechnete die Hufen und das Vermögen zusammen und begutachtete danach die Zweckmäßigkeit der Verbindung. Alles weitere kam von selbst. Die jungen Leute lernten sich kennen, trafen sich da und dort, immer wie zufällig, wie unabsichtlich, verabredeten sich wohl auch... Oft genug fingen die Herzen Feuer; öfters auch nicht. Einerlei! Das Resultat stand fest! Es hatte zu klappen wie bei einem Manöver! Wenn abgeblasen wurde, waren die rote und die blaue Partei Mann und Frau.

Es sind sehr glückliche, in ihrer Art vorbildliche Ehen auf diesem etwas primitiven Wege zustande gekommen: um so glücklicher vielleicht, je nüchterner beide Partner veranlagt waren und je weniger Illusionen sie sich von vornherein machten. Die reine Verstandesehe, wenn sie auf gegenseitiger Billigung beruht, kann fester und dauerhafter sein als ein Liebes- und Herzensbund, der bei dem unvermeidlichen Sprung aus den Himmeln der Phantasie auf den Boden der Wirklichkeit nur allzu leicht in Scherben bricht.

Mein Vater, der in seinen späteren Tagen den Bronzekopf eines römischen Prälaten auf den Schultern trug, war in seiner Jugend ein ausgesprochen schöner und männlicher Mann. Er war groß, nicht viel weniger als sechs Fuß, schlank, von vorbildlichem Wuchs, der auch noch im Alter keinen Fettansatz zeigte, hatte einen langen, schmalen Schädel, stahlblaue, kühne Augen, braunes Haar, eine römische Nase, und in seiner Jugend einen Anflug von Schnurrbart, wie er vor kurzem wieder modern war. Meine Mutter war eine zarte mädchenhafte Erscheinung mit aschblondem Haar, weißer Haut und auffallenden tiefblauen Augen, deren Leuchtkraft selbst im hohen Alter noch nicht erloschen war und die Aufmerksamkeit von jedermann auf sich lenkte. Zeitgenossen, die meine Mutter noch als Braut gekannt hatten, haben sie mir als sehr reizvoll und anmutig geschildert. Schließlich darf ich mich auch auf das Zeugnis meiner eigenen Erinnerung berufen, die mir jenen Eindruck der Zeitgenossen von meiner Mutter in ihrer Jugendblüte bestätigt. Wie alle Kinder aus frühzeitigen Ehen, habe ja auch ich meine Eltern noch als junge Menschen gekannt, ohne mir freilich als Kind dessen bewußt gewesen zu sein, Eltern sind natürlich zunächst für Kinder immer »alt«. Es bedarf erst einer gewissen Helligkeit des Bewußtseins, um den richtigen Gesichtswinkel für eine treffende Schätzung ihres Alters, vielmehr ihrer Jugend, während unserer eigenen Frühzeit zu gewinnen. Bei mir hat sich dieser Prozeß vielleicht früher als gewöhnlich vollzogen, und ich verdanke ihm die eigentümlich prickelnde, weil zugleich auch wieder geheimnisvoll anmutende Tatsache, daß ich mir das Bild meiner Eltern als junger Menschen aus dem Nebel der Vergangenheit zurückrufen kann. Ich sehe sie deutlich und zum Greifen vor mir, wie ich sie als fünfjähriges Kind sah. Damals aber war mein Vater zweiunddreißig, die Mutter fünfundzwanzig, also beide in voller Jugendblüte.

In der Erscheinung meiner Eltern, wie ich sie eben geschildert habe, hätten also Voraussetzungen genug für gegenseitiges Aneinander-Gefallen-finden, für sich entwickelnde Liebe, für inneres Zusammenwachsen und Sicheinsfühlen gelegen. Wenn das Schicksal die beiden merkwürdigen und herben Charaktere den entgegengesetzten Weg geführt hat, so steht es mir als Sohn nicht zu, ein Urteil über Recht oder Unrecht zu fällen, die ja in solchen Schicksalsfragen überhaupt nur als Scheinbegriffe gelten können. Ich kann mich aber auch nicht stillschweigend darüber hinwegsetzen, sondern muß dieser Umstände Erwähnung tun, weil sie schon in meine früheste Jugend eingegriffen und mein ganzes nachmaliges Leben bestimmt haben.

Meine Eltern heirateten im Oktober 1863. Ein paar Jahre zuvor hatte mein Vater unsern Hof in Güttland als Nachfolger seines nicht zu hohen Jahren gelangten Vaters (des Sohnes jener eingehend geschilderten Urahne) übernommen. Das erste Kind war ein Mädchen, das schon nach wenigen Tagen starb. Im zweiten Jahre der Ehe, am Palmsonntag 1865, brannte auf unserem Hof eine Scheune ab, die der Schweinejunge angezündet hatte. Meine Eltern befanden sich gerade auf der Rückfahrt vom Gottesdienst in Mühlbanz, dem eingangs erwähnten Dorf auf der Höhe, wo der Ursitz meiner Familie gewesen und wo sie zu jener Zeit noch eingepfarrt war. Meine Eltern sahen vom Wagen her aus ihrem noch eine halbe Meile entfernten Dorf die Flammen emporschlagen und schlossen sofort aus der Richtung des Feuers, daß es das eigene Gehöft sei, auf dem es brenne. Meine Mutter – ohnehin mit einem äußerst erregbaren Nervensystem belastet und überdies in anderen Umständen – erschrak auf das heftigste. Ich trage seit meiner Geburt das Feuermal jener Brandstunde am Leib und meine Nachkommen haben es geerbt. Aber das ist nur ein äußerliches Merkzeichen. Welches die innere Wirkung eines solchen Nervenschocks des mütterlichen Organismus auf das keimende junge Leben ist, wie der seelische Aufbau des sich vorbereitenden Menschenwesens dadurch beeinflußt, erschüttert, umgemodelt werden kann, dies entzieht sich unserem Wissen wohl für immer. Vielleicht handelt es sich um Folgen von gar nicht abzuschätzender Tragweite.

 

Ich kam Mittwoch, den 4. Oktober 1865, in Güttland an der Weichsel zur Welt. Es war um die erste Morgenstunde, woraus meine Mutter – vielleicht nicht ganz mit Unrecht – den Schluß gezogen hat, daß ich schon durch die Wahl meiner Geburtsstunde mich als »Nachtlicht« angekündigt hätte. Im übrigen wurde diese Stunde von Mars, Venus und Merkur regiert. Die Sonne stand im Zeichen der Waage. Aszendent war Löwe. Aus Anlaß meines sechzigsten Geburtstages hat eine bekannte Astrologin sich mit diesen Daten beschäftigt und mein Horoskop danach entworfen. Ich habe es in dem von ihr herausgegebenen astrologischen Kalender auch zu Gesicht bekommen, mir aber mangels eines erklärenden Schlüssels nichts dabei denken können.

An der nämlichen Stelle war auch das Horoskop meines Altersgenossen Friedrich Lienhard abgedruckt, der ebenfalls am 4. Oktober 1865, aber am Nachmittag dieses Tages und im Elsaß geboren war. Beide Horoskope waren von der Astrologin miteinander in Vergleich gesetzt und ergaben infolge der örtlichen und der – wenn auch nur zwölfstündigen – zeitlichen Differenz ganz wesentliche Charakter- und Schicksalsverschiedenheiten, wie dies ja auch den Tatsachen entsprach. Lienhard ist vor einigen Jahren gestorben. Es scheint also, daß der an sich geringfügige Zeitunterschied von zwölf Stunden, der unser beider Ankunft auf diesem Planeten voneinander trennte, bei der Horoskopstellung bereits wesentlich ins Gewicht fällt.

Wem es beschieden ist, länger durch das Leben zu wandern, der sollte gelegentlich, der Selbsteinkehr wegen und zu besserer Orientierung, einen Rückblick auf den Zeitpunkt seines Antritts auf Erden werfen und den Abstand des Heute vom Einst an den dazwischen liegenden Tatsachen zu ermessen suchen. Als ich geboren wurde, regierte Wilhelm I. in Preußen. Napoleon III. war Kaiser der Franzosen, Alexander II. war Zar von Rußland und Pius IX. saß auf dem Stuhle Petri. Es war noch zur Zeit des Deutschen Bundes, die freilich soeben zu Ende ging. Die Eisenbahn fuhr seit etwa zwanzig Jahren, Goethe war seit etwa dreißig Jahren tot. Richard Wagner hatte den Zenith seines Ruhmes noch nicht erreicht und Ibsen, Tolstoi, Zola, Dostojewskij standen erst im Beginn ihrer Laufbahn. Der Name Nietzsches war noch nicht erklungen und der Bismarcks noch von der Parteien Gunst und Haß umbrandet. Seitdem hat die Welt das erste und das zweite Wilhelminische Zeitalter und mit ihnen das deutsche Kaiserreich kommen und wieder gehen sehen. Ein Dutzend Kriege und Revolutionen haben ganze Kontinente erschüttert, und schließlich hat eine Eruption von Weltausmaß alles jemals Dagewesene an Grauen und Blutvergießen überboten. Heute befinden wir uns abermals in einem blutigen Ringen auf Leben und Tod mit den beiden großen imperialistischen Welt- und Geldmächten des Westens. Die Wellen des Rundfunks eilen in Sekunden um den Erdball; schon schickt sich das Fernsehen an, dem Fernhören den Rang abzulaufen. Weltbedeutende Entdeckungen, Erfindungen überstürzen sich und bedrohen durch die Entfesselung nachtgeborener Naturkräfte das Menschengeschlecht mit dem Schicksal des Zauberlehrlings, indem sie sich gegen uns selbst kehren.

Ein apokalyptisches Zeitalter von ungeheuerlicher Perspektive: so empfinden wir die gegenwärtige Erdenstunde. Welch ein Wandel aller Dinge von Grund auf! Welch eine Umwälzung der Menschheit bis in ihre untersten Fundamente hinab! Ist es möglich, so frage ich mich, ist es faßbar, daß in wenig mehr als zwei Menschenaltern, die mein bisheriger Lebensgang umspannt, das Antlitz der Welt so vollständig sich hat verwandeln, ja in sein Gegenteil sich hat umkehren können? Wieder höre ich die Stimme wispern: Ein Märchen ist's ...

Ich blicke zurück in die Tage meiner frühesten Kindheit, meines ersten Erwachens zum Licht. Die Zeit ist unruhig; auch sie fiebert, geht schwanger mit Neuem, Unbekanntem. Krieg ist gewesen. Krieg wird wieder kommen; kommt vielleicht schon bald. Der und jener im Dorf, in der Gegend, hat mit seinem Blut zahlen müssen, so mancher wird ihm noch folgen. Und doch! (Ähnlich wie heute!) Hoffnung ist in den Herzen! Vertrauen! Zuversicht! Mut! Es wird besser, schöner werden in der Welt, keiner zweifelt daran! Die Bahn führt empor! Es ist ein Ziel da, für das es sich lohnt zu leben und – wenn's denn sein muß – zu fallen.

Krieg oder nicht! Was kümmert man sich darum im frohen emsigen Gewerkel des Alltags! Wie friedvoll – trotz allem – liegen sie da, im belebenden Sonnenschein eines aufsteigenden, kraftvollen Zeitalters, die Dörfer, die Städte und Städtchen des einstigen Ordenslandes, die nach jahrhundertelanger Polenwillkür nun schon seit drei Menschenaltern das Glück eines festen, aber gerechten und schöpferischen Regiments erfahren! Alt-Güttland der Sechziger-, Siebzigerjahre! Du mein Heimatdorf! Wie friedvoll und geruhsam liegst auch du unter den schrägen Strahlen einer blassen nordischen Sonne, im grellen Mondlicht klirrender Winternacht, umtobt von wilden, meerwärts daherbrausenden Herbststürmen, überschüttet von den violetten Duftwogen pfingstlichen Flieders! Alt-Güttland, das mich gebar, mit deinen prangenden Fluren, deinen gelbflutenden Weizenfeldern, mit deiner fetten schwarzen Erde, deinem großen malerischen Tieflandshimmel und der unendlichen Weite deines Horizonts – ich gedenke deiner aus der Ferne der Zeit und des Orts und entbiete dir den Gruß des Alters an die Stätte meiner Kindheit.

Güttland ist eines der ältesten Dörfer des ganzen Weichselgaues. Es findet sich bereits auf den frühesten Karten, die noch bis in die Zeit vor der Eindeichung der Werder zurückweisen, und trägt hier den Namen Getland oder Yetland. So ist es auch in dem Zinsbuch des Ordenshaupthauses Marienburg vom Ende des vierzehnten Jahrhunderts benannt, also in der Steuerliste, die uns das Abgabenverzeichnis der dem Orden untertänigen Werderdörfer und größeren Güter überliefert hat. Nach neueren Forschungen soll der Name Getland oder Yetland auf einen gleichnamigen Gau in Schweden zurückzuführen sein oder mit ihm in Verbindung stehen, was wiederum die auch sonst geschichtlich erwiesene Tatsache bestätigt, daß eine frühgermanische Siedlungsbrücke von Schweden über die Ostsee nach der unteren Weichsel bestanden hat. Das germanische Volk, das bis zur Völkerwanderung hier gesessen hatte und über das Ostmeer von Schweden herübergekommen war, trug den berühmtesten Namen der germanischen Urzeit. Es waren die Goten. Wahrscheinlich haben sie den Namen Getland oder Yetland aus ihrer alten Heimat mitgebracht und auf diese neue Siedlung übertragen.

Gerade Güttland ist das höchstgelegene Dorf der ganzen Danziger Niederung. Seine Gemarkung mochte sich schon zu einer Zeit, als noch die Weichsel ihre fessellosen Fluten über das gesamte Mündungsdelta ergoß, merklich über den im ganzen doch flachen Wasserspiegel der Lagune erhoben und so dem gotischen Siedler eine Art von Pfahlbauernleben ermöglicht haben. Nach dem Abzug des Gotenvolkes – Sonne, Glück und Heldentod entgegen – wird der kaschubische oder preußische Fischer in den verlassenen Stätten sein Urweltdasein gefristet haben, aber der Name der Siedlung blieb und zeugte noch von ihrem germanischen Ursprung, als nach der Dämmerung eines Jahrtausends die große germanische Rückwanderung gen Osten einsetzte und niedersächsische Bauernsöhne sich eine neue Heimat im Weichselgau, der uralten gotischen Pflanzstätte, gründeten. So erlebte auch das alte Getland oder Yetland den Sonnenaufgang einer neuen stammverwandten Epoche.

Die neuen Ankömmlinge vom Unterlauf der Ems, der Elbe, der Weser werden im Gesicht der Landschaft manches Wohlvertraute und Altbekannte wiedergefunden haben: den Marschenboden, aber mit ihm auch Sumpf und Morast, die Himmelsfärbung, die Wolkenbildung, wie sie meeresnahen nordischen Ländern eigen sind. Vieles auch brachten sie mit, die Kunst des Deichbaus, der Abwässerung, Entsumpfung, Bodendrainage durch Gräben und Kanäle, die Windmühlen, die außer zum Mahlen des Getreides ebenfalls Zwecken der Entwässerung des unter dem Meeresspiegel liegenden Niederungslandes dienten. In den neu entstehenden Dörfern sprachen die Fachwerksbauten, die Beischläge und Vorlauben, diese charakteristischen Zeugen unseres Werderlandes, vernehmlich von niedersächsischer Stammesart. Daß daneben auch zahlreiche Bauernhöfe fränkischer Anlage und Baustils über das Weichseldelta verstreut sind, soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben. Sie unterscheiden sich von dem Ernst und der Wucht der niedersächsischen Bauten vornehmlich durch ihre augenfällige Zierlichkeit und Eleganz in Ornament und Detail.

Noch näher vielleicht als der Melancholie der niederdeutschen Marschengegend stehen unser Werderhimmel und unsere Werder-Landschaft der wenigstens aus einem Auge lachenden Physiognomie der holländischen Landschaft. Es handelt sich hier um mehr als nur um einige Merkmale äußerer Ähnlichkeit. Es scheint mir eine tiefgehende innere Verwandtschaft vorhanden zu sein, die nicht zum wenigsten sich auf den Umstand gründet, daß beide Landschaften – die werderanische wie die holländische – mehr oder minder unter dem Meeresspiegel liegen, was gewisse, sonst nicht zu beobachtende Besonderheiten der Perspektive zur Folge hat. Dazu kommen – ich deutete es schon an – die beiden Landschaften gemeinsame Heiterkeit und Wohlhäbigkeit: das eine lachende Auge, dessen Synthese mit der ebenfalls nicht abzustreitenden Melancholie des andern Auges einen ganz eigenen, vielleicht sonst nicht vorkommenden Typus einer zugleich heitern und schwermütigen Landschaft vor uns hinstellt; durchaus im Gegensatz zum niedersächsischen Landschaftstypus, der nur die eine Seite, die Melancholie, verkörpert. Auch in den Menschen spricht sich das deutlich aus. Das Volk meiner Heimat neigt zu derbem Spaß, zu Festlichkeit, Lebensgenuß; es ist im ganzen recht irdisch und materiell veranlagt. Ähnliches läßt sich vom Holländer sagen. Der Menschenschlag zwischen Elbe und Ems dagegen ist verschlossen, grüblerisch, einsiedlerisch, krankt an Schwarmgeisterei und zweitem Gesicht.

So hat sich denn auch – aller unleugbaren niedersächsischen Stammesverwandtschaft zum Trotz – mit Hamburg und Bremen nie ein so reger Wechselverkehr entwickeln können, wie er schon früh zwischen den Niederlanden und uns bestand. Getreide, Holz, Bernstein, Wolle, Pelze, Felle gingen in den Danziger Koggen nach Brügge, Antwerpen und Amsterdam. Spezereien, Seide, feine Tuche, alle die Kostbarkeiten einer entwickelten Manufaktur, kamen im Austausch zurück.

Der Ware folgte der Händler, der Kaufmann, der Mensch überhaupt. Um 1600, auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung, hatte Danzig ganz das Aussehen einer niederländischen Stadt gewonnen. Es hat dies bis heute behalten. Zwischen seinen hohen Giebelhäusern, seinen steinernen Beischlägen und Podesten, an seinen Kanälen und Grachten, beim Bimmelbammel von seinen Glockentürmen kann man sich nach Gent oder Amsterdam versetzt glauben. Die Firmenschilder tun ein übriges. Man sieht viele holländische Namen. Eine Anzahl davon sind Mennoniten.

Die Erwähnung dieser um 1600 nach Danzig und ins Weichseldelta eingewanderten holländischen Glaubenssekte führt mich wieder zu meiner dörflichen Heimat und zur eigenen Lebensgeschichte zurück, zu deren frühesten Erinnerungen eben diese Mennoniten gehören. Ich habe fast seit meinem ersten Bewußtsein meine Umgebung von ihnen sprechen hören, manchmal mißfällig, aber immer mit Respekt. Gleich das nächste Nachbardorf, aus weitverstreuten Einzelhöfen bestehend, war und ist fast ausschließlich von mennonitischen Bauern bewohnt. Ihre Vorfahren waren ihres Glaubens wegen zur Zeit der spanischen Inquisition aus den Niederlanden vertrieben worden, hatten hier eine neue Stätte und Heimat gefunden. Die Nachkommen lebten noch ganz in der Vorstellungswelt der Väter und Vorväter, waren ebenso stark im Glauben wie in Erwerb, tüchtige, sparsame, emsige Leute, die die Bibel im Herzen und die Hand fest auf dem Geldbeutel hielten, den Krieg und jede Art von sündhaftem Lebenswandel verabscheuten und in dieser gottlosen Welt sich um so enger aneinander und auch um den strauchelnden Mitbruder schlossen, so daß nicht leicht einer von den Ihren ganz dem irdischen und himmlischen Verderben anheimfallen konnte. Als äußeres Zeichen dieser ihrer Besonderheit und Erwähltheit vor anderen Christenmenschen hatten sie natürlich auch ihren eigenen Kirchhof, der etwas seitab vom Dorf, mitten zwischen Wiesen und Feldern, etwa eine halbe Wegstunde von Güttland entfernt lag. Man sah seine hohen Eschen, Weiden und Ulmen sich dunkel in der flachen baumlosen Landschaft abzeichnen. Ihre Kronen bildeten zusammen die Form, eines riesenhaften Sarges, der über dem Kirchhof gleichsam in der Luft zu schweben schien und für meine kindliche Phantasie etwas Schreckhaftes hatte. Der Tod hat auf diesem und anderen Wegen schon frühzeitig Einzug in meine Vorstellungswelt gehalten.

Güttland liegt etwa eine halbe Wegstunde vom Weichselstrom entfernt, durch einen zwölf Meter hohen Deich oder Damm von ihm getrennt oder gegen ihn beschützt. Zu jener Zeit konnten noch Wagen auf dem Damm entlang- und mit der nötigen Vorsicht auch aneinander vorbeifahren; die Dammkrone war gerade noch breit genug dafür. Heute ist sie weiter erhöht und demzufolge auch um etliches schmaler geworden, so daß sie nicht mehr befahren werden kann. An jene jetzt nicht mehr benutzbare Fahrstraße auf dem Weichseldamm, die unser Dorf mit der Marktstadt Dirschau, dem Wohnsitz meiner mütterlichen Großeltern, verband, knüpfen sich Erlebnisse meiner Kindheit, wovon ich noch berichten werde.

Bei klarem Wetter hat man von der Höhe des Deiches eine herrliche, ja geradezu überwältigende Aussicht über die Lande weit und breit. Zu Füßen zieht sich das silberblaue Band des großen Stroms in manchen Windungen dahin, weiße Segel folgen seinem Lauf, da und dort stromauf, stromab taucht die Rauchfahne eines Dampfers auf oder breite Holztraften schwimmen zur See, von polnischen Flößern in weißen Schafspelzen gesteuert. Sie kommen weither aus Podolien, Wolhynien, von den Urwäldern des Bug, des Narew, des San, von Galizien und von der Tatra, aus deren Schneefernern die Weichsel entspringt, um sich dann, beinahe unvermittelt, in die sarmatische Tiefebene hinabzustürzen. (Dieser jähe, unvermittelte Sprung aus Gletscherhöhen ins Flachland hinab gibt ihr, auf ihrem ganzen Lauf bis zu ihrer Vermählung mit der Salzflut der Ostsee, die reißende Strömung, den stürmischen Charakter, der sie vor den andern großen Strömen Deutschlands und Mitteleuropas auszeichnet, aber auch so gefährlich für ihre Anwohner macht.)

Vielleicht greife ich mit der Schilderung dieser Eindrücke von Deich und Strom, von Land und Leuten dem Gang meiner Kindheitsgeschichte schon etwas zu weit voraus, aber es schien mir doch für den Zweck des Ganzen dienlich, in einer ersten flüchtigen Skizze wenigstens die Umrisse einiger wesentlichen Landschaftselemente anzudeuten, auf die der früheste Blick aus meinen Kinderaugen fiel: der mächtige Strom, die unendliche Weite des Horizonts, das tellerflache unabsehbare Niederungsland, eine Symphonie in Grün, die fernen silbrigen, nur wie hingehauchten Höhenzüge gen Abend und gen Morgen, die den Blick zugleich begrenzten und beflügelten, und nicht zuletzt die phantastische Staffage der fremdartigen, aus fernen Ländern auf Flößen vorüberziehenden Menschen. Es war die Stimmung der Ferne, der Weite, der Unabsehbarkeit und Grenzenlosigkeit, im tiefsten und letzten Sinne: der Sehnsucht, die aus diesen Landschaftselementen in die Welt meiner Kindheit einzog und von hier aus mein ganzes; späteres Fühlen und Denken befruchtete und durchdrang.

Güttland ist ein ansehnliches Dorf von etwa siebenhundert Einwohnern, eines der größten in der Danziger Niederung. Es wird seiner ganzen Länge nach, einen Kilometer weit, von der Mottlau durchzogen, die wenig oberhalb aus einem der sumpfigen Seen bei Dirschau abfließt, in vielen Krümmungen sich durch die Niederung hindurchwindet und schließlich als breiter, kanalisierter, Seeschiffe tragender Hafenfluß bei Danzig sich mit der Weichsel vereinigt. Sie ist so der richtige Niederungsfluß, wie sie unweit der Meeresküsten aufzutreten pflegen, ohne Gefälle, scheinbar fast ohne Bewegung, ein träges, stockendes, braunes Gewässer, das seine Herkunft aus Sumpf und Moor nirgends verleugnet. In Güttland können es die kleinen Kinder durchwaten. Es erweitert sich auf seinem Weg durch das Dorf mehrmals zu kleinen Weihern, auf denen Gänse und Enten herumrudern und wohin man Kühe und Pferde zur Tränke treibt.

Im Sommer bildet sich ein dicker grünlicher Bezug auf dem moorbraunen Wasser, wie die Haut auf der Milch. Man nennt dieses pilzartige, undefinierbare Gebilde bei uns »Entenflott«. Warum, weiß ich nicht. In meiner Kindheit gab es in Güttland wie in der ganzen Niederung noch keine Trinkbrunnen. Jedermann, ob reich oder arm, bezog sein Trinkwasser aus eben dieser Mottlau, deren »Entenflott« man im Sommer erst abheben oder durchstechen mußte, um zu ihren flüssigen, also trinkbaren Bestandteilen zu gelangen. Man hätte danach meinen sollen, unser gutes Güttland wäre ein Seuchenherd sondergleichen gewesen, Typhus, Malaria, Ruhr, Cholera hätten sich dort ein Stelldichein gegeben. Weit gefehlt! Von Malaria oder Typhus habe ich nie etwas bei uns gehört, Ruhr und namentlich Cholera hat es allerdings in Epidemiezeiten gegeben, aber wo gab es sie dann nicht? Man kann also nicht sagen, daß diese Bazillenreinkultur, wie sie jeder Güttländer – auch in meiner Kindheit – mit dem Mottlauwasser milliardenweise heruntergeschluckt hat, unserer Gesundheit irgendwie geschadet hätte. Im Gegenteil hat sich unser gutes Dorf von jeher des Rufes besonderer Langlebigkeit erfreut – man trifft nicht wenige Achtzigjährige, ja Neunzigjährige –, und es gibt paradoxe Gemüter bei uns, die vielmehr behaupten, jener unentwegte Bazillenverbrauch habe uns damalige Menschen erst wahrhaft ertüchtigt und widerstandsfähig gemacht, der jetzt angeblich bemerkbare Niedergang rühre erst von der Abkehr von den alten Bräuchen und von der Anlage neuzeitlicher Trinkbrunnen her. So verschieden malt sich in Menschenköpfen die Welt.

Güttland wird durch die Mottlau in zwei Hälften geteilt, von denen die auf dem rechten Ufer liegende als die aristokratische, die linksseitige als die plebejische gilt. Letztere trägt sogar einen eigenen Namen – auch in dem schon erwähnten Zinsbuch des Ordenshaupthauses Marienburg kommt er vor –, nämlich Köslin, den gleichen wie die Stadt in Pommern, der ja wohl slawischer Herkunft ist. Die eigentümliche Tatsache, daß zwei nur durch einen kleinen Fluß geschiedene Dorfhälften zwei verschiedene Namen tragen, noch dazu einen germanischen und einen slawischen, gibt zu denken und könnte zu dem Schluß führen, daß hier eine uralte Rassen- und Sprachgrenze vorliegt, die in fernstes vorgeschichtliches Dunkel, lange vor der Völkerwanderungszeit, zurückweist. Es ist hier nicht der Ort, weiter darauf einzugehen. Vielleicht beschäftigen sich berufene Heimatforscher einmal mit der Frage.

Der meiner Familie seit hundertfünfundzwanzig Jahren gehörende Hof liegt rechts der Mottlau, also im eigentlichen Güttland auf der »feinen« oder »Butterseite«, wie man sie auch nennen könnte. Es reihten sich hier in meiner Kindheit sechs große Höfe längs der nach Danzig führenden Landstraße aneinander. Heute sind es nur noch fünf; einer ist aufgeteilt. Unser Hof liegt in der Mitte der fünf. Drüben, auf dem anderen Mottlau-Ufer, gibt es, außer dem Pfarrhof mit seinem üblichen Pfarrhufengut, heute nur noch einen einzigen Hof, der allerdings als der älteste gilt, zeitweise auch der größte war. Im übrigen sind dort die Kirche, die Schule, die Schmiede, die Häuschen der Handwerker, die Arbeiterkaten, also das Gros der »kleinen Leute«. Auch die eine der beiden schon seit der Ordenszeit bestehenden Gastwirtschaften, die »Hakenbude«, befindet sich dort. Die andere liegt auf unserer Seite. Es ist der »Krug«, von dem wir – wie erinnerlich – ausgegangen sind.

Mein Vaterhaus steht seit 1842, also nun seit hundert Jahren. Damals brannte der alte Hof, in den meine Urgroßeltern eingezogen waren, mit Scheune und Stall ab. Er war, wie mir erzählt wurde, noch im ursprünglichen Werderstil, mit Vorlaube und Fachwerkgiebel, gebaut und stand wahrscheinlich schon seit alter Zeit. Das Güttländer Kirchenbuch nennt ihn bereits im Jahre 1625, wie sich aus der dort verzeichneten, ihm noch heute eigenen Hofmarke ergibt. Es ist ein großes lateinisches H, auf dessen Querbalken ein Kreuz steht. Diese Hofmarken sind bei uns landesüblich, indem jeder Hof im Kirchenbuch und andern amtlichen Dokumenten eine solche ihn kennzeichnende Marke führt, die unabhängig von jedem Besitzwechsel sich durch die Jahrhunderte gleichbleibt und solchermaßen seine Kontinuität wahrt.

Jener Brand hat zur Folge gehabt, daß ich meine ersten Kindheitsbilder nicht in einem windschiefen, altertümlichen Werderhof mit dämmerigen Stuben, finsteren Bodenkammern, geheimnisvollen Winkeln, sondern in einem noch ziemlich neuen, äußerlich etwas nüchternen Wohnhaus in mich aufnahm. Es ist ein zweigeschossiger roter Backsteinbau, aus zwei gedrungenen Querflügeln und einem tiefen Längshaus bestehend, die ein liegendes T miteinander bilden. Die vier wuchtigen Dachgiebel des Hauses kehren sich den vier Himmelsrichtungen zu. Ein großer Wirtschaftshof wird von Stall, Scheune und Wohnhaus im Rechteck umschlossen; die vierte Seite nimmt der Hofzaun ein. Dem Wirtschaftshof gerade entgegengesetzt schließt sich der Obstgarten an das Haus. Die Dorf- und Landstraße läuft in der Richtung von Norden nach Süden am Wirtschaftshof, Haus und Garten vorbei. Jenseits der Dorfstraße, dem Haus schräg gegenüber, ist eine kleine Parkanlage, die von meinen Großeltern geschaffen und vom Volksmunde dieser baumarmen Gegend noch heute mit dem etwas übertreibenden Ehrentitel Irrgarten oder Wäldchen ausgezeichnet wurde. Dieses »Wäldchen« war, ebenso wie der Obstgarten, bis zu meinem zehnten Jahre der Schauplatz meiner sommerlichen Spiele, Unternehmungen und Abenteuer, während Stall und Scheune mich weniger anzogen. Im Herbst und Winter, die ja bei uns sieben Monate dauern, war ich auf das Wohnhaus selbst beschränkt und erschuf mir hier meine kindliche Märchenwelt. Dies steht nur scheinbar, nur für den Verstand eines Erwachsenen, im Widerspruch mit der vorher berichteten Tatsache, daß es ein noch ziemlich neues und unromantisches Gebäude war, in dem ich mein Wesen trieb.

Links vom Hauseingang, zu dem eine Treppe mit Holzpodest oder Beischlag emporleitete, lagen das Wohnzimmer und das Schlafzimmer meiner Eltern, das auch mein Kinderzimmer war und in dem ich geboren bin. Im rechten Flügel befand sich der sogenannte Saal, nach dem Garten hinaus, ein großer feierlicher Raum, mit alten Parademöbeln und einem äußerst eindrucksvollen Kronleuchter, dessen Goldgestänge und Glasprismen im Kerzenlicht herrlich blitzten und funkelten. Das geschah natürlich nur bei Gesellschaften und anderen festlichen Gelegenheiten. Die meiste Zeit war der Saal verschlossen und reizte dadurch die kindliche Neugier; manchmal sogar nicht ohne Grund, denn zur Weihnachtszeit wurden hier, wie man bald herausbrachte, das von der Mutter gebackene herrliche Marzipan, die Pfeffernüsse und Pfefferkuchen und andere Leckereien der herrschenden Kühle wegen aufbewahrt.

Hinter dem Saal, nach dem rückwärtigen Teil des Gartens zu, lagen die Wirtinstube und zwei andere Wohnräume, die in meiner Kindheit wenig benutzt wurden. Die Mitte des Vorderhauses, zwischen den beiden seitlichen Flügeln, nahm der geräumige Hausflur ein, wo sich in der warmen Jahreszeit das eigentliche Leben abspielte. Von der Mitte der Flurdecke hing die aus rötlichen Weizenähren gewundene, mit bunten Bändern durchflochtene Erntekrone herab. Sie wurde am Tage des Einerntens von den polnischen Schnittern dort aufgehängt und blieb bis zum nächstjährigen Erntefest hängen. Ein mit Ziegelfliesen belegter Gang führte vom Flur nach den hinteren Räumen des Hauses und zum rückwärtigen Hauseingang, durch den man auf den Hof kam.

Hier war der Knotenpunkt des äußeren und inneren Wirtschaftsbetriebes. Die Mägde wuschen, buken, kochten, schrubbten, schälten, rumorten. Ein großer Grapen stand da, in dem mittags und abends riesige Mengen von Kartoffeln für das Heer der Dienstleute und der Schnitter abgekocht oder Milchsuppe mit Gerstengrütze oder die beliebten »Keilchen« zubereitet wurden. Denn es war dazumal, in meiner frühen Kindheit, allenthalben bei uns noch die Naturalwirtschaft im Schwünge. Die Knechte, verheiratete wie unverheiratete (letztere nannte man »Losbändige«), der Futterack (Pferdefütterer), der Kuhhirte, der Schweinejunge, der zum Hof gehörige Stellmacher, der Kutscher, im Sommer die Schnitter und Schnittermädchen – sie alle, fünfundzwanzig bis dreißig Menschen, wurden noch im Herrenhof verpflegt, was dann eben einen Teil ihres Lohnes bildete; es wurde eigentlich von morgens bis abends für sie gekocht, gebraten, gebacken, abgewaschen, wieder gekocht, gebacken, gebraten und so fort. Alle paar Wochen wurden Hunderte von Broten eingeteigt, geknetet, gesäuert, geformt und in dem großen Backofen gebacken, der im Garten stand.

Eine harte Zeit und harte Menschen. Für zartere Gefühle, für Schwärmerei, Träumerei blieb wenig Raum. Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie sie mit ihrem schwächlichen Körperbau – eine Zwanzigjährige – manchmal unter der Schwere der ihr aufgebürdeten Wirtschaftslast am Erliegen war. Ein nervöses Herzleiden kam denn auch zum Ausbruch – gerade um die Zeit, als ich geboren werden sollte – und hat nie ganz von ihr weichen wollen. Da meine Mutter zweiundneunzig Jahre alt geworden ist, mag der Leser vielleicht nicht ohne leises Lächeln davon Kenntnis nehmen. Die Tatsache jener Herzaffektion mit allen ihren quälenden und beängstigenden Begleiterscheinungen blieb aber doch bestehen, was wiederum zu beweisen scheint, daß ererbte, überkommene Lebenskraft, Vitalität in Verbindung mit einer – im Grunde nur mystisch zu erfassenden – Prädestination uns über alle körperlichen Fährnisse und seelischen Erschütterungen hinwegzuhelfen vermag, so daß wir, jeglichen Propheten und unserer eigenen Vorahnung zum Trotz, das höchste Alter erreichen.

Im übrigen hat jene mütterliche Neurose sich als Erbteil auf mich übertragen und mir oft im Leben auf das schwerste zu schaffen gemacht. Da ja auch ich heute zu den Alten gehöre (ohne mich eigentlich so zu fühlen), so verstärkt sich damit die Beweiskraft des eben niedergelegten Erfahrungssatzes. Man kann ihn kurz etwa so formulieren: Die Spannweite zwischen unserer Geburts- und unserer Todesstunde bemißt sich nach der Spannkraft des uns eingeborenen Urkeims. Unglücksfälle und Selbstmorde sind natürlich Ausnahmen und liegen bereits im mystischen Bereich der Prädestination, deren Walten auch sonst hinter unserer Erscheinungswelt zu spüren, aber nicht in Begriffe zu bringen, also Glaubenssache des einzelnen ist.

 

Der erste Mensch, den ich im Leben geliebt habe, war meine Kinderfrau. Sie hieß Frau Annchen – ich habe sie nur unter diesem Namen gekannt – und war von polnischer oder kaschubischer Abkunft, sprach aber auch Deutsch mit der weichen polnischen Färbung. Bei der schwächlichen, damals auch leidenden Verfassung meiner Mutter ist es sehr wohl möglich, daß »Frau Annchen« auch meine Amme gewesen ist. Die schwärmerische Liebe, mit der ich an ihr hing, würde sich dadurch am einfachsten erklären. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß ich sie, wenn ich zwischen ihr und meiner Mutter zu wählen gehabt hätte, ohne jedes Besinnen vorgezogen hätte. Was Wunder! Ich wurde von ihr aufs äußerste verhätschelt und verwöhnt, bekam jeglichen meiner Wünsche erfüllt, erfuhr grenzenlose Nachsicht gegenüber allen meinen Launen, Unarten, kindlichen Bosheiten, fühlte mich in ihren Armen, unter ihrer Schürze gegen alle Erziehungsversuche meiner Mutter, gegen Rute und andere Handgreiflichkeiten vollkommen gedeckt und geborgen.

Es war aber nicht nur instinktmäßige Dankbarkeit und triebhaftes Schutzbedürfnis des jungen, eben erwachenden Menschentiers, was mich zu meiner Frau Annchen zog. Ich entdecke an mir schon in jener ersten Morgenfrühe des Lebens einen Überschwang des Gefühls, einen Paroxysmus der Leidenschaft, eine besinnungslose Hingabe der Liebesexaltation, die mir aus meinem nachmaligen Dasein nur allzu gut bekannt sind und mir leicht hätten zum Verhängnis werden können, indem sie meine körperliche oder seelische Form zersprengten. Daß es nicht dazu gekommen ist, muß ich wohl auch einer dem entgegenstehenden Prädestination zuschreiben; oder ich verdanke es der oben erwähnten Stellung der Gestirne in jener Morgenfrühe des 4. Oktober 1865. Aber vielleicht läuft beides auf das gleiche hinaus. Frau Annchen muß eine gute Polin gewesen sein, denn ich erinnere mich deutlich, daß sie immer wieder polnisch mit mir zu sprechen und mir polnische Worte beizubringen versuchte. Aber dies scheiterte durchaus an meinem hartnäckigen und ganz bewußten Widerstand. So klein ich war – damals nicht älter als drei, höchstens vier Jahre –, so entwickelt war bereits mein Selbstgefühl als Angehöriger einer Herrenklasse – und Herr sein und deutsch sprechen schien für mich dasselbe. Polnisch sprachen bei uns ja nicht einmal die Knechte und Mägde. (Sie bedienten sich des werderanischen Platt, konnten aber alle auch Hochdeutsch.) Polnisch, wie Frau Annchen, sprachen nur die Schnitter und Schnittermädchen, die jeden Sommer weither aus der Kaschubei oder der Tuchler Heide zugezogen kamen und als ganz etwas Niedriges, Geringes galten. Ich hörte das, außer von meinen Eltern, auch von unsern werderanischen Knechten nicht anders. Es war eine Klasse, auf die man hinuntersah. Und deren Sprache hätte ich sprechen sollen? Es wäre mir wie ein Schimpf vorgekommen, so schwärmerisch ich im übrigen Frau Annchen liebte!

So habe ich mich, zu meinem späteren großen Leidwesen, durch kindliches und kindisches Vorurteil selbst der Gelegenheit beraubt, das Polnische gleichsam spielend zu lernen. Aber vielleicht lag dieser kindlichen Torheit, die ich vernunftmäßig ohne weiteres als solche zugebe, doch irgendein tieferer Instinkt zugrunde, der mich vor der fremden Sprache, gerade vor dieser fremden Sprache, wie vor etwas Feindlichem und Drohendem warnte. Wer will dieses wirre Geflecht von Widersprüchen unter der Schwelle unseres Bewußtseins zergliedern! Schade ist es ja doch, daß ich auf Frau Annchen nicht gehört habe! Es hätte jedenfalls meinen Gesichtskreis bedeutend erweitert. Ich glaube auch, daß mir das Lernen nicht schwer gefallen wäre. Es sind mir natürlich, trotz allem, nicht wenige polnische Worte haften geblieben, so daß ich ein gewisses Gefühl für diese schöne und wohllautende Sprache, für ihren Rhythmus, ihre Tonfärbung, insbesondere auch für die polnische Aussprache gewonnen habe.

Die Phantasie dieser meiner polnischen Kinderfrau war bis zum Rande mit Geister- und Gespenstergeschichten erfüllt, und abends an meinem Bett, wenn meine Mutter gerade nicht zur Stelle war, floß sie davon über. Ich kann wohl sagen, von Frau Annchen konnte man das Gruseln lernen! Sie hat es mir gründlich beigebracht, so daß ich nachmals viele Mühe gehabt habe, damit fertig zu werden. Ich will aber deshalb nicht mit ihr rechten. Die brave Haut verstand es nicht besser. Sie wird sich auch gegen mich kleinen Nichtsnutz und Bosnickel oft nicht anders haben helfen können, als indem sie den schwarzen Mann heraufbeschwor und in irgendeinem schummerigen Winkel auf sein Stichwort warten ließ. Die Folge war natürlich, daß sie abends an meinem Bett sitzen mußte, bis ich eingeschlafen war, weil ich mich allein gefürchtet hätte; so ging es an ihr selbst wieder aus.

Geister- und Gespensterglaube – ich erwähnte es schon früher – gehörten damals auf dem Lande noch zum täglichen Brot. Gewisse Freigeister spotteten wohl am Wirtstisch und in lustiger Gesellschaft darüber, aber wenn der Hund auf ihrem Hof andauernd heulte, so wurden sie doch nachdenklich und verstummten, denn die Hunde haben das zweite Gesicht und sehen den Tod ums Haus streichen. Eine gewisse langgezogene Art von Hundegeheul kündigte unweigerlich einen nahen Sterbefall im Hause an. Ahnungen, Träume, Vorzeichen spielten eine wichtige Rolle und wurden sehr ernst genommen. Da und dort hatte sich dies und jenes »gemeldet«, und dann war es auf irgendeine Weise auch eingetroffen. Man erfuhr es ja in der Regel erst nachher und auch nur in den Fällen, wo es sich erfüllt hatte. Das tat aber dem Glauben oder Aberglauben – wie man es nun nennen will – keinen Eintrag. Denjenigen, die das letztere annehmen, sei immerhin zu bedenken gegeben, daß der Landmensch, auch derjenige, der die Schulen besucht hat und sich selbst zu den »Aufgeklärten« zählt, doch der Natur und ihren Geheimnissen, ihren Rätseln um soviel nähersteht als der heute bereits ganz mechanisierte Großstädter. Könnten ihm auf diese Weise, seit dem Erwachen des Menschengeistes, nicht vielleicht Einblicke, Erfahrungen, Erkenntnisse, meinetwegen auch Erleuchtungen vermittelt worden sein oder noch jetzt vermittelt werden, für die dem intellektualisierten Stadtmenschen einfach das Aufnahmeorgan fehlt?

Daß die Schöpfung, trotz aller Entdeckungen, Erfindungen, Analysierungen, noch immer ungezählte Unbegreiflichkeiten und Wunder vor uns verbirgt, dürfte füglich von niemandem zu bezweifeln sein. Wer ist nun der Begrenztere, der Engere, wer trägt die größeren Scheuklappen: derjenige, der sich diesen Wundern gläubig ergibt und für ihre vorläufige Unerklärlichkeit gleichnishaft sich Sinnbilder schafft? Oder derjenige, der sich vor der Tatsache aller dieser Lebensmysterien, vor allen diesen Werkstattgeheimnissen der Schöpfung kalt verschließt und sie solange für undiskutabel erklärt, bis sie von einem Professor entdeckt und auf eine sogenannte wissenschaftliche Formel gebracht worden sind?

Wenn ich mir mein Kinderzimmer zurückrufe, so erblicke ich einen ziemlich düsteren und tiefen Raum, dessen Fenster nach Norden lag und auf den Wirtschaftshof hinausging. Auf dem Tisch stand noch die Talgkerze. Die Lichtputzschere lag daneben. Es war auch noch die Zeit der Öllampe; Petroleum oder gar Spiritus waren noch in weitem Felde. Aber wessen Phantasie wäre groß genug gewesen, sich das heutige elektrische Licht in einem Werderhof, nun gar in Stall und Scheune vorzustellen, wie es für das gegenwärtige Geschlecht selbstverständlich ist! An Winterabenden wurde auch noch gesponnen. Noch heute steht unser Spinnrad, verstaubt und verspinnwebt, in einer Speicherecke meines Geburtshauses.

Man lebte vor zwei Menschenaltern in Stadt und Land, zumal auf dem Lande, noch in ungleich größerer Abhängigkeit von der Natur als heute. Der Wechsel von Tag und Nacht, das zu- und abnehmende Licht des Jahres, Hitze und Kälte, der Umlauf der Jahreszeiten: alles griff viel tiefer in das Leben ein, weil die Mittel, damit fertig zu werden, seinen Unbequemlichkeiten, Leiden, Härten zu begegnen, noch so viel weniger entwickelt, technisch noch so viel unvollkommener waren. Man denke insbesondere an die Gegensätze von Licht und Finsternis, die dem heutigen Städter nur noch schwach zum Bewußtsein kommen. In meiner Kindheit haben sie noch mit der Wucht von Urphänomenen, die sie ja in Wirklichkeit auch sind und immer bleiben werden, an die Menschenseele gegriffen, sie bewegt, gerührt, gequält, erschüttert, erhoben.

Der größeren Abhängigkeit von der Natur entsprach aber, wie zum Ausgleich, auch ein tieferer und vollerer Einklang der damaligen Menschenseele mit eben dieser Natur. Man empfand alle diese Gegensätze von Sommer und Winter, von Hitze und Frost, von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht als etwas Gegebenes, Gesetzmäßiges, Unabänderliches, dem sich die Kreatur zu fügen hatte, ob es angenehm war oder nicht. Man fühlte noch unmittelbar den kosmischen Zusammenhang mit der Natur, mit der Welt, mit dem Urgrund der Dinge, in dem wir nun einmal stehen; den mystischen Knoten der Gegebenheit, in den wir verflochten sind und dem sich niemand entwinden kann. Es war noch Ehrfurcht in den Menschen jener Tage! Es war noch Geheimnis um Geburt und Tod! Der heutige Zeitgenosse – ich spreche vom Durchschnitt – betrachtet den Ablauf des Lebens, diesen im Grunde so unheimlichen, weil unberechenbaren Prozeß, als einen eigentlich vom eigenen Ermessen abhängigen Vorgang, als ein Ding, das man schon »schaukeln« wird oder auch auf andere Weise »schieben« kann, wenn es auf die eine Weise nicht geht. Um es mit einem übertreibenden Bild vorzustellen: Der Mensch von heute ist fähig, etwa ein Erdbeben als persönliche Beleidigung aufzufassen, weil ihm dabei ein Bild von der Wand oder ein Stück Kalk auf den Kopf gefallen ist. Für frühere Geschlechter war es ein Strafgericht Gottes oder ein kosmisches Ereignis, demgegenüber sie ihre Nichtigkeit empfanden und vor dem sie sich in den Staub warfen.

Kein Zweifel! Es war zu Zeiten eine soviel düsterere und drohendere Natur, die dem damaligen Menschen entgegentrat und seine Seele mit Bangen erfüllte, zugleich aber auch seine Phantasie aufwühlte und eine Saat von Bildern, Gesichten, Träumen, Visionen darin hinterließ. Auch meine Kindheit sehe ich zum nicht geringen Teil in diesem Licht der Schwermut, Unheimlichkeit, Melancholie. Mit einer verdüsterten Phantasie wie durch ein tiefviolettes Glas nahm ich bereits die Anfangsgründe dieser Welt in mich auf. Als ein nächtiger Spuk, als eine Geister- und Gespensterwelt mit fliegenden weißen Laken schwang sie ihren grauenvollen Reigen um mich. Es waren die Ausgeburten aus Frau Annchens zwischenweltlicher Lemurenphantasie.

Aber dies – um es gerecht abzuwägen – war doch wieder nur die eine, gewissermaßen die winterliche Seite meines frühkindheitlichen Seelenklimas. Es gab daneben doch auch die andere, die sommerliche, die tageshelle Seite. Zu Geistern- und Märchengestalten gesellte sich die körperlich greifbare, sinnfällige, realistische Erscheinungswelt des dörflichen Alltags. Ich sagte schon, daß die Fenster meines Kinderzimmers auf den Wirtschaftshof hinaussahen. Wenn ich auf meinem Schaukelpferd saß oder die Augen von meinen Bilderbüchern zum Fenster wandte, konnte ich die vollbeladenen Erntefuder durch das Hoftor schwanken und bedenklich sich auf die Seite legen sehen. Es waren vier Pferde vorgespannt, wie im Herbst und Frühjahr vor den Pflügen auch. Das schwere Korn und der schwere Boden zwangen dazu. Polnische Schnittermädchen saßen oben auf den Fudern, halb in den goldgelben Garben versunken. Knechte und Mägde gingen durch das Hoftor aus und ein. Gänse, Enten, Hühnervolk trieben ihr geschäftiges Wesen auf dem Hof, pickten, scharrten, kratzten, flatterten, gackerten, krähten, bekämpften sich und vertrugen sich wieder.

Wenn ich heute auf mein Leben und Schaffen zurückblicke, so weiß ich, daß seine charakteristische Färbung und Tongebung eben aus der gegenseitigen Durchdringung und Vermischung jener beiden widerstreitenden Welten, aus der Vermählung von Wirklichkeit und Spuk, von Gegenständlichkeit und Unterbewußtsein, von Tag- und Nachtstimmen, von Wachsein und Traum – mit einem Wort: aus meinem Kinderzimmer in Güttland herzuleiten ist.

 

In diesem Güttländer Kinderzimmer war noch ein anderer, mit dem ich es zu teilen hatte. Aber nicht nur das Zimmer! Auch die Liebe der Mutter! Jener andere war mein Bruder Felix. Zwischen ihm und mir hat sich, etwa in der Zeit von meinem vierten bis zum fünften Geburtstag, ein beinahe stummes, aber vielleicht darum erst recht aufwühlendes und nachwirkendes Kindheitsdrama mit tragischem Ende abgespielt.

Mein Bruder Felix war im Mai 1867 geboren, also etwa anderthalb Jahre jünger als ich. Er war ein schönes, zartes, ungewöhnlich früh – vielleicht verhängnisvoll früh – erwachtes Kind. Da auch ich meinen Jahren weit voraus war, so konnte zwischen uns beiden diese stille, verbissene Kindertragödie sich zutragen, für die es unter weniger frühreifen Menschenwesen dieser Lebensstufe an jeder Voraussetzung gefehlt hätte.

Mein Bruder Felix war von einer lichten Heiterkeit und Sanftmut, die ihm alle Herzen gewann. Er war nie unartig oder ungeduldig, nahm alles, was man ihm sagte, willig und lächelnd hin, gehorchte auf den Wink und zeigte in allen Dingen, besonders auch bei unsern gemeinsamen Spielen, die überlegene Ruhe eines Erwachsenen. Ich dagegen war widerborstig, jähzornig, eigensinnig, rechthaberisch, eifersüchtig, neidisch, rachsüchtig, aufbrausend, unbeherrscht. Was Wunder, daß jedermann Felix liebte, während ich allenthalben nur anstieß oder Gelächter erregte, was beinahe noch schlimmer war. Denn ich selbst empfand dunkel, daß ich um so komischer wirkte, je heftiger ich wurde, je zorniger ich mich gebärdete, und haßte, indem ich jene Lacher haßte, im Grunde mich selbst. Aber es half nichts; meine Leidenschaft, mein Jähzorn gingen immer wieder mit mir durch, so daß ich mich oft genug in irgendeinem Winkel verkroch und mit Armen und Beinen und Fäusten gegen meine eigene Natur tobte.

Meine Mutter gab sich wohl alle Mühe, mir gerecht zu werden und sich mit meinen Eigenheiten abzufinden, so schwer ich es ihr durch meine häufigen Ausbrüche und Schroffheiten auch machte. Aber ich fühlte doch mit dem ungebrochenen Kinderinstinkt immer wieder heraus, daß Felix ihr Liebling war und ich erst an zweiter Stelle kam. Begreiflich genug, wie ich es heute sehe! Meine Mutter war vier-, fünfundzwanzig Jahre alt, also noch eine sehr junge Frau, deren Entwicklung und Erziehung – teils durch eigene Arbeit, teils durch das Leben – noch längst nicht abgeschlossen war. Sie war sich selbst noch Problem genug: wie hätte sie mit dem fremden Problem – sei es auch des eigenen, aber wiederum auch des ersten Kindes – so ohne weiteres fertig werden sollen, zumal wenn dieses Problem noch seine ganz besonderen Schwierigkeiten hatte, wie es bei äußerlicher Betrachtung mit mir der Fall war. Meine Mutter war damals ohne Zweifel eine höchst temperamentvolle Frau. Sie ist es ihr Leben lang geblieben. Der kleine Giftnickel, der ich war, hat sie sicher oft bis aufs Blut gereizt und, wenn ich mich recht erkenne, gewiß auch manchmal mit vollem Bewußtsein. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Es sei dabei gar nicht untersucht, wer von uns beiden zuerst in den Wald gerufen hat. Genug! Ich hatte Stunden, wo ich meine Mutter haßte, um dann in plötzlicher Umkehrung wieder gegen mich selbst zu wüten.

Es kam noch etwas anderes hinzu. Die Ehe meiner Eltern war schon damals keine glückliche mehr. Vielleicht war sie es von Anfang an nicht gewesen. Aber nun enthüllte sich die Unvereinbarkeit der beiden Charaktere mit immer grausamerer Deutlichkeit; und gerade das, was meine Mutter an meinem Vater abstieß und sie immer weiter von ihm entfernte – gerade dies glaubte sie in ihrem und seinem ältesten Sohn, in mir, beinahe ebenbildlich wiederverkörpert zu sehen. (Daß dies ein Irrtum meiner Mutter war, wie meine spätere Entwicklung erwiesen hat, sei in diesem Zusammenhang nur nebenbei erwähnt, da es ja an der Wirklichkeit und Wirksamkeit jener damaligen – wenngleich falschen – Vorstellung meiner Mutter nichts ändern konnte.) So war es nur allzu natürlich, daß die wilden Ausbrüche meines Jähzorns, die Hemmungslosigkeit meiner Gefühlsäußerungen sie geradezu mit Schrecken erfüllten und sie strenger, härter gegen mich machten, als es ihrer doch lebendigen mütterlichen Liebe zu mir entsprochen hätte.

So trieb ein Keil den andern. Mutter und Kind verstanden sich nicht, fühlten aneinander vorbei, bekämpften sich, indem sie gleichsam Lufthiebe am gegenseitigen Phantom ausführten. »Gekränkte Liebe ist mein ganzer Haß.« Jeder Teil entbehrte beim andern die Liebe, empfand ihn als kalt und herzlos, nur weil keiner die Liebe an der richtigen Stelle zu suchen wußte. Also schloß man sich immer bestimmter gegeneinander ab und ging mit seinem Liebesbedürfnis dorthin, wo man sich besser gewürdigt und verstanden fühlte: ich zu meiner Frau Annchen, meine Mutter zu Felix.

Man wende mir nicht ein, dies alles sei erst eine Psychologie von jetzt, gewissermaßen eine Beweisführung a posteriori, ein vier-, fünfjähriges Kind besitze noch gar nicht die Fähigkeit, noch gar nicht die Voraussetzungen für derartige Gefühlsverwirrungen. Wer dies sagt, unterschätzt die Vielseitigkeit und Aufnahmefähigkeit der kindlichen Vorstellungskraft. Er macht sich des gleichen Fehlers schuldig, wie ihn soviele Erwachsene Kindern gegenüber begehen, indem sie mit ihnen in einer gemacht kindlichen, vielmehr kindischen Weise reden und sich zu diesem Zweck selbst künstlich auf ein vermeintliches Kinderniveau herunterschrauben. Wer solch einem Gespräch einmal beiwohnt, der findet sehr bald, daß die Rollen vertauscht sind und daß der klügere, überlegene Teil das Kind ist, denn das Kind hat einen untrüglichen Instinkt für das, was echt und das, was gemacht ist, wenn es diesem Gefühl auch noch keinen logischen Ausdruck geben kann.

Ähnlich verhält es sich mit jenen eben geschilderten seelischen Kämpfen und Nöten meines frühen Lebensmorgens. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, daß ich sie ihrem wesentlichen Gefühlsinhalt nach als fünfjähriges Kind durchgemacht habe. Ihre Runen und Zeichen sind unverwischbar in meine Seele eingegraben und leuchten aus den Nebeln der Vergangenheit deutlich vor mir auf. Ich weiß, daß es so und nicht anders gewesen ist, aber ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß natürlich das begriffliche Verständnis jener unauslöschlichen Schriftzeichen meiner Kindernöte mir erst mit beginnender Jünglingsreife gekommen ist. Ich habe als achtzehnjähriger Student in Heidelberg meine Kräfte an ihrer dichterischen Ausgestaltung zu üben versucht. Es war ein erster erzählerischer Anlauf, der mißlang, wohl mißlingen mußte und erst viele Jahre später in einer dramatisch-symbolischen Umdeutung Form gewann.

Max Halbe als Heidelberger Student

Um es mit einem Urgleichnis auszudrücken: mein Bruder Felix war Abel, ich war Kain. Er war der Wohlgelittene, der Auserwählte, der Glückliche: hieß er nicht schon so? Felix! War nicht bereits der Name eine Bestätigung seines Glücks? Ich hörte oft genug, was der Name bedeutete und bedeuten sollte! Ich dagegen war der Gezeichnete, der Anstößige, der Aufrührerische! Ich hatte abseits zu stehen, wenn auf ihm, dem Glücklichen, die Blicke von Mutter und Tanten und deren Freundinnen wohlgefällig ruhten. Nicht daß es sich in Wirklichkeit gar so schlimm damit verhalten hätte! Es war im Grunde nur meine eigene selbstquälerische Phantasie, die mir alles in diesem Licht zeigte und vergiftete. Gewiß! Man lachte über mich, wenn ich stammelnd, atemlos, außer mir, irgend etwas verlangte oder verwünschte und mein Bruder Felix, auf seinem Kinderstühlchen sitzend, mit seinem Finger auf mich zeigte und ruhig die Worte sprach: »Laß doch den dummen Jungen!« Hätte ich ihn da nicht mit kaltem Blut erwürgen können? War es nicht pure Tücke, Bosheit, Hinterlist, was sich hinter dieser Ruhe, Sicherheit, hinter dieser Artigkeit und Folgsamkeit versteckte? Einschmeicheln wollte er sich bei Mutter und Tanten und Basen! Liebkind machen wollte er sich! Ich hätte ihm ins Gesicht springen mögen! Und er? Er lächelte! Lächelte! Hätte ich nur auch lachen können! Aber ich vermochte es nicht! Die Wut erstickte mich beinahe! Und je hilfloser sie mich machte, desto überlegener lächelte er!

Wenn ich heute über die Weite von siebzig Jahren Rückschau halte, so erkenne ich, daß ich damals als fünfjähriger Junge zum erstenmal den Kampf um die Liebe gekämpft habe. Sein früher kindlicher Ausdruck, wie es nicht anders sein konnte, war das Ringen um das Herz der Mutter: um das Herz einer Frau. Und es war die erste Niederlage meines Lebens, die ich gerade auf diesem Gebiet erlitt. Wie manche andere sollten ihr im Laufe eines langen Daseins folgen! Eines der Leitmotive meines Lebensdramas war zum erstenmal angeschlagen.

Felix war also der Sieger, der Unterlegene ich. Aber der Meister alles Geschehens und aller Gestaltung, der diese erste Seelenqual über mein Kinderherz verhängt hatte, bereitete in seiner unerforschlichen Weisheit einen anderen Ausgang des Dramas vor, als irgend jemand ahnen konnte. Ich erinnere mich wie heute an einen kleinen seltsamen Vorfall, der sich in unserer Wohnstube zutrug und sozusagen der Anfang vom Ende war. Es war an einem düstern Herbstnachmittag des Kriegsjahres 1870, so gegen die Dämmerung hin. Meine Mutter saß am Flügel und hatte gerade irgendein Klavierstück gespielt. Sie war nicht eben eine große Pianistin, aber sie spielte doch mit Ausdruck und Gefühl. Wir beiden Kinder – darin war kein Unterschied zwischen uns – hörten ihr leidenschaftlich gern zu und bedrängten sie fortzufahren, wenn sie es müde war und aufhören wollte. So auch in jener schwermütigen Oktobernachmittagsstunde. Mein Bruder Felix stand neben ihrem Stuhl am Klavier, dicht an sie gedrückt. Ich saß ein paar Schritte abseits vor meinen Soldaten und Kanonen, scheinbar ganz in die aufmarschierenden Kolonnen vertieft, während ich in Wirklichkeit die Gruppe am Klavier scharf im Auge behielt. Mir war von den Tönen, die eben noch durch die dämmerige Stube geklungen waren, merkwürdig weich und traurig zumute, aber ich hätte noch immer mehr davon haben wollen. Ich fühlte mich namenlos unglücklich, doch es tat nicht weh. Es lag vielmehr eine unausdenkliche Süßigkeit darin.

Vielleicht empfand Felix etwas ähnliches. Er preßte sich noch enger an meine Mutter, die zurückgelehnt die Hände im Schoß hatte und stumm vor sich hinstarrte, als ob auch sie ganz im Bann dieser das Zimmer erfüllenden geisterhaften Traurigkeit sei. Plötzlich sah ich im letzten Tageslicht, wie Felix seine Arme Um ihren Hals legte und ihren Kopf näher zu sich heranzog. »Ich möchte dir was sagen, Mutterchen!« hörte ich ihn sprechen. Meine Mutter schrak aus ihrer Träumerei auf. Sie zog ihn ganz in ihre Arme und erwiderte: »Also was willst du mir sagen, mein Jungchen?« Er schien sich einen Augenblick zu besinnen. Dann sagte er nicht leise, nicht laut, ganz ruhig und ein bißchen wie abwesend: »Jetzt werde ich nicht lange mehr leben, Mutterchen!«

Man wird vielleicht sagen, daß ein dreieinhalbjähriges Kind sich bei diesen Worten noch nichts gedacht haben kann und daß sie ihm irgendwoher zugeflogen sein mögen. Tatsache bleibt, daß sie an jenem Herbstabend aus seinem Munde kamen und sich in Kürze erfüllt haben. Meine Mutter erschrak furchtbar; noch nach sechzig Jahren überlief es sie, wenn sie davon sprach, und auch ich habe den kleinen Vorfall jener fernen Geisterstunde niemals vergessen. Vielleicht gibt es Stimmen und Erleuchtungen in uns, die unabhängig von Raum und Zeit und von jedem verstandesmäßigen Wissen sind ...

Man schrieb, wie ich schon erwähnt habe, das Kriegsjahr 1870. Ich entsinne mich deutlich jener Julitage, in denen zu Hause von nichts anderem als von dem immer drohenderen Krieg die Rede war. Vierundvierzig Jahre später, fast in der gleichen Sommerzeit, habe ich als reifer Mann abermals die Kriegswolken an unserem Himmel aufsteigen und die Eindrücke meiner Kindheit in ungeheuer vergrößertem Maßstab sich wiederholen sehen. Könnte ich mich wirklich dem holden, ach! so trügerischen Glauben hingeben, daß es der letzte Fieberparoxysmus des Menschengeschlechtes sein würde?

In meinem Elternhause herrschte große Aufregung. Mein damals zweiunddreißigjähriger Vater, gedienter Einjährig-Freiwilliger bei den Braunsberger Jägern und als solcher der preußischen Landwehr angehörig, konnte jeden Augenblick eingezogen werden. Was dann aus unserem Hof, aus unserer großen Wirtschaft werden sollte, das war die bange Schicksalsfrage, die oft zwischen meinen Eltern erörtert wurde. Schon 1866, im österreichischen Kriege, hatte mein Vater seine Einberufung erhalten, die dann aber zurückgenommen wurde. Ich war damals erst ein Jahr alt und hatte noch keinen Anteil daran gehabt. Aber jetzt hörte ich mit wachen Sinnen den Gesprächen der Großen zu und entnahm daraus, daß irgendeine Gefahr drohte. Ich wußte nicht recht, von welcher Art sie war, aber ich fürchtete mich und horchte mit Bangigkeit im Herzen herum, ob schon etwas geschehen sei. An einem dieser Sommertage las mein Vater meiner Mutter aus einem Zeitungsblatt vor. Beide waren noch erregter als sonst. Was es war, weiß ich nicht mehr. Vielleicht handelte es sich um die Abweisung Benedettis, des französischen Gesandten, durch König Wilhelm in Ems.

Kurz darauf kam die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Dieses Tages entsinne ich mich deutlich. Es war gerade zu Erntebeginn, an einem heißen Tag gegen Abend, als die Nachricht eintraf oder bei uns besprochen wurde. Ich sehe im Zusammenhang damit eine brennende Lampe auf dem Tisch stehen. Da es Hochsommer, also die Zeit der langen Tage war, so müssen meine Eltern noch spät abends auf gewesen sein und ich, wahrscheinlich von meinem Kinderbett aus, werde unbeobachtet ihrem Gespräch gelauscht haben. Und dann stieg die Aufregung im Hause aufs höchste: mein Vater hatte seine Order bekommen. Es wurde in aller Eile gepackt und er reiste ab, zunächst nach einem Sammelpunkt in Ostpreußen. Ich glaube, es war Osterode. Ich weinte sehr. Ich hatte meinen Vater lieb, obgleich er sich wenig mit mir beschäftigt hatte und mir im Grunde fremd war. Ich wußte auch gar nicht so recht, warum ich weinte, aber es kam mir von Herzen. Dieses erstemal, wo ich mit meinem Vater sozusagen in Beziehung trat, gewissermaßen mein Gefühl für ihn entdeckte, ein rein instinktmäßiges Gefühl – dieses erste Erlebnis also des Vaterbegriffs im Alter von fünf Jahren ist eigentlich tonangebend und charakteristisch für mein ganzes späteres Verhältnis zu meinem Vater, geradezu bis an sein Lebensende, geblieben. Ich hatte ihn lieb, wenn auch später nicht ganz ohne Vorbehalt, brachte ihm Respekt und Sympathie entgegen und konnte mir nie vollständig Rechenschaft ablegen, was mich eigentlich mit ihm verband, da er sich mir kaum jemals richtig erschlossen hat und immer wie durch eine ihn umgebende Isolierschicht, von mir getrennt blieb.

Es war, was die Einberufung meines Vaters anging, nur blinder Lärm gewesen. Er kehrte schon nach zwei Wochen aus Ostpreußen wieder heim. Über den Grund seiner Entlassung verlautete, daß er mit Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse und als Vater zweier kleiner Kinder vorläufig beurlaubt worden sei. Es kam auch noch hinzu, daß seine zwei jüngeren Brüder – beide angehende Juristen – ebenfalls eingezogen waren und also die Familie bereits ihren gebührenden Anteil an dem vom Geschick auferlegten Blutzoll entrichtete. Meine beiden jugendlichen Onkel haben auch den Feldzug bis zu Ende durchgemacht und mir nachmals manches über ihre Teilnahme an den Schlachten vor Metz und in der Normandie erzählt. Mein Vater selbst ist nicht mehr hinausgekommen. Der verhältnismäßig schnelle Verlauf des Krieges hat ihn davor bewahrt.

Dieses Kriegserlebnis vom Sommer 1870 bedeutet den Eintritt meines vollen Erwachens zum Lichte des Tages, also den eigentlichen Beginn meiner bewußten Lebensgeschichte. Alles Vorhergehende liegt gleichsam in prähistorischer Dämmerung da, die zwar – wie in der allgemeinen Menschengeschichte auch – die einzelnen Konturen verwischt, dafür aber die großen Linien, das Mythische, Symbolische, Gleichnishafte der ersten Morgenfrühe des Lebens um so stärker hervortreten läßt. Daß es gerade ein Kriegserlebnis und eine große nationale Erhebung gewesen ist, in deren Zeichen ich den entscheidenden Schritt über die Schwelle des Bewußtseins meiner selbst tat, das hat maßgebende Bedeutung für meine ganze Folgezeit gehabt.

Zu Beginn der Adventszeit 1870, also einige Wochen nach jener Begebenheit am Klavier, erkrankten wir beide, mein Bruder Felix und ich, an Halsbräune. Wir lagen im Schlafzimmer der Eltern, Bett nahe an Bett, und meine Mutter mit Frau Annchen pflegte uns beide. Es war jener harte Winter Siebzig zu Einundsiebzig. Aller Gedanken weilten in Frankreich, von wo – nach den märchenhaften Erfolgen der ersten Wochen – neuerdings nicht immer nur Siegesbotschaften kamen. Die Stimmung war gedrückt. Die Zukunft erschien in ungewissem Licht. Es ging nun doch nicht so schnell, wie man es – in Unterschätzung des französischen Nationalcharakters – nach Gravelotte und Sedan, nach dem Sturz des Kaiserreichs, sich erhofft und eingeredet hatte. Der schwierigste Teil des Feldzugs, die Belagerung von Paris und die Niederzwingung des allgemeinen Volksaufgebots, war erst im Gange, sein Erfolg nichts weniger als gesichert. Gewiß war nur, daß es noch große Opfer an Gut und Blut kosten werde. Und wieviele hatten nicht schon mit Leben oder Gesundheit gezahlt. So mancher aus dem Dorf, aus der Nachbarschaft, der vor ein paar Monaten hinausgezogen war, kam nie wieder, schlief seinen letzten Schlaf in Frankreichs Erde, bei Metz oder vor Paris. Auch von meinen Onkeln trafen schlechte Nachrichten ein. Sie lagen, krank oder verwundet, beide in Frankreich im Lazarett. Man begann auch schon die älteren Landwehrjahrgänge auszuheben. Wie lange würde es noch dauern, daß auch mein Vater von neuem seine Order erhielte! Und würde mein bald siebzigjähriger Großvater, Mutters Vater, der als Rentner in Dirschau lebte und den Vater im Sommer während dessen kurzer Einberufung vertreten hatte, der Wirtschaft auf längere, vielleicht auf lange Zeit vorstehen können? Es lag wie eine düstere Vorahnung in der Luft.

Weihnachten kam heran. Wir beiden Kinder waren wieder gesund geworden und spielten ganz vergnügt um den Weihnachtsbaum. Aber die Großen waren ernst und sorgenvoll. Gerade in diesen Tagen floß wieder viel Blut in Frankreich. Wußte man, ob nicht einer von den Onkeln bereits wieder dabei war? Vaters Mutter, die ja auch die Mutter der beiden Onkel war und ihren Wohnsitz in Danzig hatte, aber nicht selten nach Güttland zu uns hinauskam, jammerte viel um die beiden Lieblingssöhne. Sie plante einen Besuch in Frankreich, wo sie wenigstens den einen der beiden noch im Lazarett anzutreffen hoffte, und hatte eine darauf hinzielende Eingabe gemacht. Sie ist bald darauf auch hingereist. Es waren düstere Kriegsweihnachten, die von 1870.

In den ersten Tagen des neuen Jahres erkrankte Felix von neuem an Halsbräune. Vielleicht war er zu früh hinausgekommen und hatte sich erkältet. Wir hatten grimmigen, noch immer sich versteifenden Frost. In meinem Elternhause wurde zwar kräftig geheizt, der große Kachelofen in der Wohnstube war behaglich warm, aber es mußte doch wegen der noch überall gebräuchlichen Ofenklappe sehr aufgepaßt werden und über Nacht durfte nicht das leiseste Fünkchen im Ofen sein, so daß unser nach Norden gelegenes Schlafzimmer jeden Morgen vereist war. Auch im Hausflur herrschte bittere Kälte. Felix war immer ein sehr zartes, mimosenhaftes Kind gewesen. Schon der erste Bräuneanfall hatte seinen schwächlichen Organismus hart mitgenommen. Der Rückfall – so kurz darauf – ließ gleich das Schlimmste befürchten. Meine Mutter war ganz außer sich. Sie wachte Tag und Nacht am Bett ihres schwerkranken Kindes. Nur ab und zu, wenn ihre Kräfte sie verließen, durfte Frau Annchen sie vertreten. Der Arzt aus Dirschau wurde zweimal täglich im Schlitten geholt. Er suchte meiner Mutter Mut zuzusprechen, aber was er sagte, klang nicht überzeugend. Meine Mutter rief den Himmel um Erbarmen an und überließ sich bitteren Selbstanklagen, sie habe nicht genug acht auf Felix gegeben, habe ihn vielleicht zu früh aus dem Bett gelassen, jetzt wolle der Himmel sie strafen. Sie marterte sich und rang die Hände. Die Kräfte des, Kindes begannen sichtlich abzunehmen. Es war immer etwas von einem auf die Erde verschlagenen Engel an ihm gewesen. Jetzt, wo das Irdische, Stoffliche sich mehr und mehr von ihm zu lösen anfing, schien ein überirdischer Glanz um die bleiche Kinderstirn zu leuchten. Es kam auch kein ungeduldiges oder klagendes Wort aus seinem Munde. Licht und heiter, wie diese kleine geheimnisvolle Lebensflamme gebrannt hatte, schien sie verglimmen zu wollen.

Am 13. Januar 1871, etwa um die siebente Abendstunde, starb mein Bruder Felix. Alle ärztliche Bemühung, alle mütterliche Aufopferung und Pflege waren vergebens gewesen. Das Seelchen wollte sich nicht halten lassen. Es schwang sich befreit hinauf in jene unbekannte Sphäre, aus der es zu kurzem Verweilen als Gast zu uns gekommen war.

Ich sehe die Szene wie heute vor mir, obwohl es siebzig Jahre her ist. Das Sterbezimmer – unser Kinderzimmer – ist schwach erleuchtet. Auf dem Tischchen neben dem Bett des Kranken steht ein Lämpchen und wirft sein flackerndes Licht auf das sterbende Kind. Meine Mutter ist auf einem Stuhl zusammengebrochen. Keine Klage kommt mehr aus ihrem Mund. Ein furchtbarer wortloser Schmerz schüttelt sie. Ich stehe an Felix' Bette, habe die Hände gefaltet, hefte meine Blicke auf meines Bruders wachsbleiches Gesicht. Was ist das, was da geschieht? Ich weiß, daß er sterben wird. Ich habe es von den Großen gehört. Aber was hat es zu bedeuten, das Sterben? Ist es Verwunderung, Erstaunen, was ich empfinde? Bangt mir? Fürchte ich mich? Ist es – in all ihrer Unwissenheit – das Grauen der Kreatur vor der Vernichtung? Was ist es, was mein Kinderherz beschleicht und erschauern macht? Ich blicke wie gebannt auf die wohlbekannten und doch plötzlich so fremden Züge. Felix scheint zu lächeln. Seine Augen sind halb geschlossen. Plötzlich schlägt er sie noch einmal auf, zu einem letzten, gleichsam verwunderten, vielleicht auch nur sinnenden Blick: Also das war das Leben? So sah es aus?... Dann kehrt er sich mit einer müden Bewegung zur Wand. Die Flamme ist erloschen.

Am 16. Januar 1871 wurde er auf dem Kirchhof in Mühlbanz begraben. Es war das Dorf, aus dem wir vor einem Jahrhundert gekommen waren und zu dessen Pfarrei wir als Katholiken noch immer gehörten. Ich stand am Fenster unseres Hausflurs und sah, wie der kleine gelbe Sarg auf den Kutschbock des Schlittens gehoben wurde. Der Kutscher setzte sich daneben. Der Vater und die stumm weinende Mutter saßen dahinter im Fond des Schlittens. Die beiden Braunen zogen an. Die Glöckchen klingelten. Der Schlitten mit meinem toten Bruder verschwand im Schnee hinter der Mottlaubrücke.

In eben diesen verschneiten frostklirrenden Wintertagen waren die letzten blutigen Schlachten auf Frankreichs Erde in der Normandie, woran auch meine Onkel teilnahmen, und in Versailles erstand von neuem ein Deutsches Kaiserreich.


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