Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Der Stolz der Meinigen auf ihren jugendlichen Mulus mit der karmosinroten Abiturientenmütze war sicher ehrlich und groß. Aber da ja noch, wie ich früher ausgeführt habe, die Zeit des Elternrechts war (im Gegensatz zum heute maßgebenden Kinderrecht), so wurde von der Angelegenheit nach außenhin kein Wesens gemacht. Pflichterfüllung war selbstverständlich. Ich hatte ja nur meine Pflicht getan. Ich erinnere mich, daß auch ich so dachte und nichts anderes verlangte. Ich wußte schon, wie es im Herzen gemeint war. Das Gefühl, mein Ziel erreicht und die auf mich gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht zu haben, befriedigte mich zur Genüge. In der damaligen Methode hoher Pflichtanforderung und kargen Lobes lag für mein Empfinden ein sehr heilsamer Schutz der Jugend vor Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung.

Es waren nur noch wenige Wochen bis zum Beginn meines Universitätsstudiums. Ich sollte sie nur zum Teil zu Hause verbringen. Für den Rest der Zeit waren Verwandtenbesuche vorgesehen; der angehende Student sollte sich Onkeln und Tanten, Vettern und Basen in seiner neuen Würde vorstellen. Hier gab sich nun doch der elterliche und großelterliche Stolz kund, wenn man es auch schamhaft zu verwischen suchte, indem man von einfacher Höflichkeitspflicht gegenüber der Verwandtschaft sprach. Mir war es sehr recht so; ich war von einer inneren Unruhe getrieben, die mich die Tage und Stunden bis zum Beginn des Semesters zählen ließ.

Sehr zwiespältig war das Gefühl meiner Mutter. Sie sah ihren einzigen Sohn für immer aus dem Elternhause scheiden; in Marienburg war ich doch noch in körperlicher, fühlbarer Nähe gewesen. Jetzt ging ihr Junge in die Welt hinaus und war erst siebzehneinhalb. Mußte man da nicht Schlimmes befürchten? War mein Charakter bereits gefestigt genug, den vorauszusehenden Versuchungen standzuhalten? Sie hatte ihren Plan, mich noch ein Jahr länger die Schule besuchen zu lassen, sehr gegen ihren Willen aufgeben müssen. Um so größer jetzt ihre Besorgnis.

Dies war auch der Grund, warum wir uns noch nicht über die Wahl der Universität hatten schlüssig werden können. Ich hatte schon damals München im Sinn. Alles, was ich von München gehört und gelesen hatte, zog mich dorthin: die künstlerische Atmosphäre, die gewisse Freiheit und Leichtigkeit des Lebens. Aber eben dies versetzte meine Mutter in Schrecken. München mußte ich fallen lassen. Hartnäckig, wie ich nun einmal war, gedachte ich sobald wie möglich darauf zurückzukommen. Statt nach München sollte ich nach Bonn. Aber das wollte wiederum ich nicht. Bonn zog mich nicht an, ich wußte selbst nicht recht warum. Viele wären froh gewesen, dort hinzugehen. Auch meine beiden Onkel hatten dort studiert, die Brüder meines Vaters. Bonn galt als feudal, als vornehm. Vielleicht war es gerade das, was mich abstieß. Wir einigten uns zu guter Letzt auf Heidelberg. Hier war aller romantische Reiz von Landschaft und Studentenleben, wie in Bonn, ja sogar noch mehr. Und es war Süddeutschland. Dies war entscheidend für mich. Da es nicht München sein durfte, so sollte es Heidelberg sein. Es erschien mir als eine Art Ersatz und Vorstufe für München. Vater und Mutter willigten auf mein Drängen ein. Zur Belohnung für mein gutes Examen, wie sie sagten. So kam es nun doch an den Tag, daß sie recht stolz auf ihren Jungen waren. Und der war im siebenten Himmel.

Ich besuchte zuerst meinen Onkel Albert in Bromberg. Er war der ältere der beiden Brüder meines Vaters, die ich zwölf Jahre vorher mit dem Eichenlaub auf den Helmen in Danzig hatte einmarschieren sehen. Sie waren in der dazwischenliegenden Zeit öfters bei uns zu Besuch gewesen, wir waren uns auch in Danzig oder Zoppot begegnet. Onkel Eugen, der Jüngere, hatte die militärische Verwaltungslaufbahn eingeschlagen und war seit kurzem Intendanturassessor in Karlsruhe. Ich hoffte, ihn bald dort aufsuchen zu können. Onkel Albert war zuerst Kreisrichter, dann Staatsanwalt im Posenschen gewesen und hatte jetzt eine glänzende Rechtsanwaltspraxis in Bromberg.

Die Stadt, vor hundert Jahren, als sie an Preußen kam, ein schmutziges, verwahrlostes Nest, das von einer Wildnis umgeben war, hatte sich unter preußischer Herrschaft ungeahnt entwickelt und stand schon damals, in den Achtzigerjahren, in einer immer mehr sich entfaltenden Blüte. Ein reiches Hinterland, die Landschaft Kujawien, bester Weizen- und Zuckerrübenboden, den ebenfalls erst das letzte Jahrhundert preußischer Verwaltung aus dem Sumpf gezaubert hatte, lieferte seine Erträgnisse nach Bromberg und machte die Stadt zum Mittelpunkt des gesamten Netzedistrikts. Sie hatte die alte Weichselkönigin Thorn schon halb aus dem Felde geschlagen, wetteiferte mit dem bedeutend größeren Posen, der Provinzialhauptstadt, und war ihrem innersten Wesen nach durch und durch deutsch, wenn auch eine polnische Unterschicht nicht zu verkennen war.

Auf dem Friedrichsplatz herrschte an Markttagen ein fast undurchdringliches Gewirr von Landleuten, die mit ihren Wägelchen und Pferdchen hereingekommen waren und Gemüse, Eier, Geflügel, Fleisch, Fische und was sonst noch feilboten. Deutsch und Polnisch flog durcheinander, die bunten Kopftücher der Bauersfrauen leuchteten in der Sonne. Es war ein farbenfreudiges Bild. In den vielen Kaufläden der Stadt war ein äußerst reges Kommen und Gehen, sie waren alle auf einen gewissen Glanz und äußeren Schmiß hergerichtet, befanden sich übrigens meist in jüdischen Händen. Auch hier wieder, wie in jenem Marktbild, machte sich für meine dessen ungewohnten Augen der polnische Einschlag bemerkbar. Sehr reizvoll und anziehend war die Umgebung der Stadt. Die Hauptsehenswürdigkeit war der Bromberger Kanal, die Verbindung zwischen Weichsel und Oder vermittelst Brahe, Netze und Warthe. Der Alte Fritz hatte ihn geschaffen. Hübsche Anlagen zogen sich stundenlang am Kanal hin. Dies war alles deutsches Werk. Vordem, zu polnischer Zeit, war hier eine trostlose Sandwüste gewesen. Wir wollen das niemals vergessen.

Ich war schon öfters in Bromberg beim Onkel und bei der damals dort lebenden Großmutter zu Besuch gewesen und hatte mich in der heitern, regsamen Stadt stets wohlgefühlt. Sie hatte, gegenüber dem ernsten, nordischen Danzig, etwas Südliches für mich, ja geradezu etwas Leichtsinniges, das mich anzog. So auch diesmal. Es gab mehrere bekannte Weinstuben, zu denen die Rittergutsbesitzer, die großen Domänenpächter, die adligen Majoratsherren von weither aus der Provinz gepilgert kamen. Natürlich fehlten auch die Offiziere der großen Garnison nicht, und ab und zu ließ sich ein geistlicher Herr blicken. Man trank vorzüglichen alten Ungarwein und den besten Rotspon dort. Die eigentliche Zeit des deutschen Sekts war noch nicht angebrochen. Wenn es durchaus etwas Schäumendes sein sollte, so hielt man sich an die berühmte Witwe Cliquot. Das waren Trostmittel, die in Verbindung mit Vingt-et-un und »Meine Tante Deine Tante« schon etwas Abwechslung in die Einförmigkeit des ländlichen Klüterndaseins oder des militärischen Gamaschendienstes brachten.

Ich wußte das alles natürlich nur vom Hörensagen. Ich war ja bisher nur als Schüler hier gewesen, als Unfreier, als Höriger, unter der Fuchtel des Schulzwangs. Jetzt war ich Mulus, angehender Student, war losgebunden, frei, um zu erfahren, was das Leben sei. Hießen nicht so die Verse im »Faust«, aus dessen Quellen ich gerade um diese Zeit begonnen hatte zu trinken? Wer hätte mir verbieten können, mich wie diese Leutnants in eine der dunkeln verräucherten Hinterstuben zu setzen und mir eine Pulle Rotspon oder Tokaier zu bestellen! Und doch tat ich es nicht! Meine Schüchternheit, wenn nichts anderes, verbot es mir. Das war die Folge der siebeneinhalb Jahre Zuchthaus Marienburg! So sah ich es jetzt! Dies war das richtige Gleichnis dafür! Ich ärgerte mich über mich selbst, wütete, beschimpfte mich als einen feigen Philister! Was half es! Ich kam nicht über mich hinweg. Ich stand vor der Tür des Lokals, sah die Leutnants mit den geschniegelten Hinterscheiteln in den dunklen Stuben verschwinden und ging schamerfüllt über mich selbst meiner Wege. Aber in innerster Seele tobte ein unbändiger Freiheitsdrang. Ich fühlte, wie der Sturm an allen Schranken von Herkommen und Erziehung rüttelte.

Im Hause des Onkels wurde ich in alter gastfreundlicher Weise aufgenommen. Er war ein großer schlanker Mann mit welligem, dunkelblondem Haar, einer hohen breiten Stirn, klugen graublauen Augen, hervortretenden Backenknochen und dem zeitüblichen spitzgeschnittenen Vollbart. Ich weiß nicht recht warum, aber ich empfand gerade diesen Onkel schon in seiner äußeren Erscheinung von jeher als den markantesten Vertreter unseres niederdeutschen Familientypus. Seine persönlichen Neigungen und Liebhabereien gingen auch alle nach dieser Richtung, nach Niederdeutschland, nach der Wasserkante, nach Holland. In seiner schönen Bromberger Wohnung hatte er Bilder der niederländischen Schule, von deren einem oder anderem er annahm, daß es Originale seien. Er selbst malte in seinen Mußestunden; einige seiner Gemälde in niederländischer Manier hingen an den Wänden und konnten sich als Werke eines sehr begabten Dilettanten immerhin sehen lassen.

Er war überhaupt ein Mann von ungewöhnlichen Anlagen, außerordentlich belesen und überall beschlagen, so daß es ein Vergnügen war, mit ihm die Klingen des Geistes zu kreuzen. Wir hatten stundenlange Debatten über alle Fragen der Zeit. Er behandelte mich zuweilen mit einer ironischen Herablassung, die mich ärgerte und mir nicht ganz echt vorkam. Ich konnte dann recht scharf und ausfallend werden, was aber nur ein. sarkastisches Lächeln bei ihm hervorrief. Wir verstanden uns nach solchen kleinen Trübungen immer wieder aufs beste, und so ist es zwischen uns geblieben. Dieser ungewöhnliche Mann hat nachmals mit vierundachtzig Jahren ein Buch über Ariovist geschrieben, worin er auf Grund eigener sehr gründlicher Forschungen ganz neue Erkenntnisse über die Frühzeit der germanischen Völkerwanderung ans Licht fördert. Seine Lektüre kann jedem, der sich dafür interessiert, empfohlen werden.

Meine Bromberger Tage waren zu Ende. Ich verabschiedete mich von Onkel und Tante sowie von meiner Großmutter, dieser merkwürdigen, unsteten Frau, die auf ihrer Wanderschaft durchs Leben nun in Bromberg angelangt war und sich schon wieder nach einem neuen Ziel der Reise umsah. Ich wollte von Bromberg auf Besuch zum Onkel Rompf nach Griebenau, einem Dorf zwischen Thorn und Culmsee. In meinem Liebesdrama »Jugend«, dessen Schauplatz es ist, trägt es den Namen Rosenau. Ich hatte mir einen Plan für die Reise dorthin ausgedacht, der mir besonders originell vorkam. Ich wollte gegen Abend mit der Bahn von Bromberg nach Thorn fahren, von dort einen Anschlußzug nach Culmsee benutzen, wo ich spät abends ankommen sollte, um von hier aus zu Fuß den nächtlichen Marsch nach Griebenau anzutreten. Wie das zu bewerkstelligen war, da ich die Gegend ja gar nicht kannte, wußte ich selbst noch nicht. Aber ich traute mir schon zu, den Weg zu finden, mochte es kommen, wie es wollte. Es erschien mir selbst phantastisch, aber gerade darum tat ich es.

Im Pfarrhaus zu Griebenau lebte bei meinem Onkel Rompf dessen Nichte Adele. Sie war Schwesterkind von ihm. Er hatte sie nach dem Tode ihrer Mutter bei sich aufgenommen. Ich selbst stand zu ihm durch meine Mutter in einem Verwandtschaftsverhältnis zweiten Grades. Adele und ich waren also ebenfalls entfernt miteinander verwandt, Vetter und Base. Ich kannte sie bereits von einer früheren Begegnung her. Damals waren wir beide etwa sechzehn, sie ein wenig älter als ich. Ihr Bild war mir haften geblieben. Nicht daß ich mich nach ihr verzehrt oder auch nur gesehnt hätte. Aber ich hatte sie nicht vergessen. Etwas wie eine geheime Verbindung bestand zwischen ihr und mir, die lange Zeit sich nicht geäußert hatte, seit Antritt dieser Reise mich plötzlich in ihren Bann zog.

Ich kam mit dem letzten Zuge in Culmsee an. Es war spät abends, am 1. April. Die Nacht war kühl und mondhell, nur leicht verschleiert. Auf dem Bahnhof erkundigte ich mich über den Weg nach Griebenau und erfuhr, daß es vier, fünf Stunden bis dorthin seien, größtenteils Chaussee. Nachdem ich mir alles hatte beschreiben lassen, trat ich meine Wanderschaft an. Ich war guten Mutes und bezweifelte keinen Augenblick, daß ich in der hellen Nacht meine Straße ohne weiteres finden werde. Aber wäre es auch dunkel um mich gewesen wie in einem Verlies, ich getraute mir, richtig ans Ziel zu kommen. Mir war zumute, wie ich mir vorstellte, daß den drei Königen aus dem Morgenland zumute gewesen sei, als sie hinter dem Stern durch die Nacht zogen. Eine geheime Ahnung, eine tief im Unbewußten federnde Spannung trieb mich vorwärts.

Als ich eine Zeitlang marschiert war, gesellte sich ein Handwerksbursche zu mir, der desselben Weges daherzog. Wir gingen Seite an Seite, sprachen aber nicht viel. Er fragte mich, was ich sei, wohin ich wolle; ich gab nur unbestimmte Auskunft. Schließlich schwieg er, wir zogen fürbaß. Es mag um Mitternacht gewesen sein, als wir in ein großes Dorf kamen. Im Krug war noch Lärm, Geschrei, Musik, Tanz. Wir klopften an, es wurde aufgetan. Eine Hochzeit war im Gange. Man lud mich zum Niedersetzen ein. Mein Kamerad wurde etwas argwöhnisch gemustert. Ich trat für ihn ein, ließ ihm ein Glas Bier geben und zahlte bescheidenes Nachtquartier für ihn. Meine Reisebörse war gut gefüllt und erlaubte es. Ich selbst wollte nur kurze Rast machen, es duldete mich nicht lange, ließ mir keine Ruhe. Musik und Tanz gingen weiter. Zwei Musikanten bliesen zum Herzzerbrechen schön. Ab und zu spielte einer auf einem alten Klavier. Es war recht verstimmt, aber das wirkte nur um so stärker. Die Lust schäumte hoch auf. Hochzeiter und Hochzeiterin tanzten allen voran. Es war ein deutsches Dorf, in das ich gekommen war, die Hochzeitsgäste fast sämtlich Deutsche. Dies war in dieser Gegend durchaus nicht die Regel. Zweisprachigkeit herrschte. Mancherorten überwog das Polentum. Ich sollte mich bald noch mehr davon überzeugen.

Ich machte mich von neuem auf den Weg. Es war zwei Uhr in der Nacht. Ich hatte mir wiederum alles beschreiben lassen. Ein Irrtum war kaum möglich. Ich kam in der matten Dämmerung der Mondnacht anfangs gut vorwärts, aber wie es dann gegen Morgen ging, wurden meine Schritte langsamer, die Müdigkeit meldete sich. Ich nahm alle meine Spannkraft zusammen, ich mußte, wenn der Tag da war, an Ort und Stelle sein. Je näher ich kam, desto stärker wirkte, mir selbst kaum bewußt, diese geheime Anziehungskraft, die mich die ganze Nacht über auf den Beinen gehalten hatte. Ich ermunterte mich, wurde wieder frischer. Es war schon ganz hell, als ein Wagen in meiner Wegrichtung gefahren kam. Ich weiß nicht mehr, was für eine Art von Gefährt es war. Ich rief den Fuhrmann an, er nahm mich mit. Sein Weg ging bis in die Nähe von Griebenau, dann bog er seitwärts ab. Ich hatte noch eine halbe Stunde zu gehen. Dann war ich am Ziel.

Onkel und Kusine saßen gerade beim Morgenkaffee, als ich ohne viel Umstände ins Wohnzimmer trat. Ich mag im ersten Augenblick keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck gemacht haben. Ich war übernächtig, mit Schmutz und Staub bedeckt. Beide sprangen auf und starrten mich wie ein Gespenst oder wie einen Einbrecher an. Aber dann wurde ich erkannt und vom Onkel in die Arme genommen. Man war ja im allgemeinen darauf vorbereitet gewesen, daß ich erscheinen würde, wußte nur nichts Genaues. Das hatte ich mir eben als Überraschung ausgedacht. Kusine Adele war hierüber anderer Ansicht. Man mußte sich doch ein bißchen einrichten auf solch einen Gast, mußte Kuchen backen und was dergleichen Hausfrauensorgen mehr waren. Sie führte dem Onkel die Wirtschaft und war sehr stolz darauf, daß er mit ihr zufrieden war und sie belobte. Sie war doch erst achtzehn Jahre alt.

Onkel Rompf war damals, meines Wissens, ein angehender Fünfziger. Vielleicht habe ich ihm auch, wie man das in der Jugend Älteren gegenüber zu tun pflegt, ein paar Jahre zugelegt, ohne es zu wissen. Er war von untersetzter, stämmiger Statur, hatte ein rundes, etwas gerötetes Gesicht, dem man leicht ansah, daß sein Träger stets einen guten Tropfen geliebt hatte. Man las aber auch offenkundige Güte und große Menschenerfahrung aus diesem Gesicht ab; er hatte sehr verstehende Augen, die mich sofort für ihn eingenommen hatten. Es war ja nicht das erste Mal, daß ich ihn sah. Er war öfters bei uns in Güttland zu Gast gewesen, und jedesmal war es für mich ein Fest, wenn er kam. Er steckte voller Geschichten und Anekdoten, voller Witz und Humor, aber auch voll überlegener Lebensklugheit. Einmal hatten meine Mutter und ich ihn in seiner früheren Pfarrei besucht. Das lag etwa zwei Jahre zurück. Er war damals Pfarrer in Gurzno gewesen, einem Städtchen bei Strasburg, unweit der polnisch-russischen Grenze, das tief in den gewaltigen Wäldern jener Grenzzone vergraben lag. Wir hatten ein paar kurzweilige Tage bei ihm verbracht, hatten uns an seiner klugen, lebensfreudigen Art ergötzt, reichlich Ungarwein getrunken und einen Ausflug in die schluchtenreichen Wälder bis dicht an die Grenze gemacht, wo wir die russischen Grenzposten mit anschlagbereitem Gewehr stehen sahen.

Kusine Adele war damals noch nicht im Hause gewesen. Sie war es erst, seitdem der Onkel die neue Pfarrstelle in Griebenau hatte. Wenn ich an dieser Stelle ein Bild von ihr geben soll, so ist es wohl das beste, es mit den Worten zu tun, die sich mir über sie aufdrängten, als ich vor bald fünf Jahrzehnten mein Drama »Jugend« schrieb. Es war damals seit jenem ersten Besuch in Griebenau (Rosenau) erst neun Jahre her, ich hatte sie inzwischen ein paarmal gesehen, ihr Bild stand noch in starken Lebensfarben vor meiner Phantasie. Ich könnte es heute gewiß nicht ähnlicher, nicht treffender malen, als ich es damals tat. Ich folge also jener Beschreibung aus jungen Tagen. Sie lautete:

» Annchen, seine (des Pfarrers) Nichte. Sie ist achtzehn Jahre alt. Ihre braunen Augen sind leicht verschleiert. Das aschblonde Haar fällt kraus und wirr in die Stirn. Es ist slawischer Schlag, das Gesicht rundlich, eine warme Fülle des Wuchses, naive Sinnlichkeit, etwas Empfangendes, weich Weibliches, Hingegebenes. Auch in der Art, wie sie sich trägt, gibt sich etwas Schmiegsames, Biegsames. Sie liebt bunte Farben. Um den Hals hat sie an einer Schnur ein kleines goldenes Kreuz.«

Dies also war Kusine Adele, das Annchen der »Jugend«, dessen Urbild sie war. Ich kam mir vom ersten Augenblick an, den ich im Pfarrhof von Griebenau zubrachte, wie verzaubert vor. Vielleicht war ich es schon die ganze Nacht gewesen und auch den Abend vorher, in dunkler Erwartung von etwas Besonderem, das mir bevorstehe. Aber was war es, das jetzt mit mir geschah? Das Besonderste und das Natürlichste, das es auf der Welt gibt, beides zugleich: die Liebe. Das große Wunder war über mich gekommen. Es war in mein Leben getreten, wie Geburt und Tod und alles Große und im Grunde Einmalige (trotz aller Wiederholung) in unser Leben zu treten pflegen: ganz einfach, ganz schlicht, ganz selbstverständlich und gerade durch seine Einfachheit, durch seine Selbstverständlichkeit am überzeugendsten. Wenn ich mir heute den Zustand zurückrufe, in dem ich mich damals als noch nicht Achtzehnjähriger befand, und mir die Frage vorlege, wie er an dieser Stelle, im Rahmen meiner Lebenserinnerungen, am besten sinnfällig zu machen und in ein Bild zu bringen sei, nachdem ich ihm doch bereits vor mehr als vierzig Jahren seine endgültige dichterische Gestalt verliehen habe, so kann die Antwort nur lauten, daß auf meiner heutigen Warte mir Selbstbescheidung geziemt. Jeder Versuch, »Jugend« noch einmal in erzählender Form schreiben zu wollen, wäre sinnlos und müßte mißlingen. Ich kann nichts tun, wie mir scheint, als einfach berichten, was geschah, und muß auf jedes Beiwerk verzichten. Vielleicht fügt sich aus solchen Farben und Tönen ein Bild zusammen, das den Reiz des Erlebnisses und der Wirklichkeit besitzt.

Es war äußerlich wenig genug, was geschah. Alles war nach innen gedrängt, war Stimmung des Augenblicks, unausgesprochenes Gefühl, war beredtes Schweigen, hastiges, stockendes Wort. Der dramatische Motor fehlte, der das Drama »Jugend« in Bewegung setzt. Wir waren unser nur drei im Pfarrhof, der Onkel, Adele und ich. Vielleicht hantierte noch eine Maruschka bei den Kochtöpfen. Ich erinnere mich ihrer nicht. Aber das Entscheidende: es war kein Kaplan und kein Amandus da. Sie sind erst lange Jahre später, als alles nur noch Melancholie und Erinnerung war, in die dramatische Vision eingetreten, haben ihr die markanten Diagonalen gegeben. In jenem Pfarrhof zu Griebenau ist kein Kampf, kein Auseinandersetzen gewesen, kein hartes oder böses Wort einander bestreitender Weltanschauungen ist gefallen. Höchstens einmal ein kleiner Zank hat stattgehabt, wie es unter Liebenden Brauch, seitdem die Welt besteht, und wie er zur Würze der Liebe gehört. Ansonsten war nichts in uns und um uns als schnell wirkender Zauber, den jeder vom Munde des andern trank. Versunkensein Auge in Auge, Blick in Blick, hingegebener Genuß der niemals wiederkehrenden Stunde, viel Kuchen, Kaffee und Ungarwein, Klavierspiel, Gesang und Wagenfahrten und erstes Frühlingsahnen.

Ich hatte nur drei Tage für Griebenau Zeit. Dies war von vornherein beschlossen, stand unzweifelhaft fest. Am vierten Tage mußte ich zum achtzigsten Geburtstage des Großvaters wieder in Dirschau sein. Vielleicht lag es an diesem strengen Zeitrahmen, daß alles sich so zusammendrängte und damit das dramatische Tempo annahm, das der Handlung im übrigen fehlte. An jenem ersten Morgen gesellte ich mich, wie ich ging und stand, zu Onkel und Kusine an den Kaffeetisch. Nicht lange, und der Onkel wurde abgerufen. Ein Sterbender in einem fern gelegenen Dorf der Pfarrei verlangte geistlichen Zuspruch. Wir beiden Achtzehnjährigen waren allein, Adele und ich. Es war ein verschleierter Vorfrühlingstag, nicht sonnenhell und nicht ganz trübe: die Stimmung, die jener schwermütigen Landschaft am besten zu Gesicht stand. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa und hielten uns bei den Händen. Als der Onkel gegen Mittag zurückkam, hatten wir uns alles gesagt. Aber unser Herz war dadurch nicht leichter, nur schwerer geworden. Wir hatten entdeckt, daß jeder von uns auf den andern gewartet hatte und beide alles so hatten kommen sehen, wie es jetzt gekommen war. Der Onkel fragte, ob wir uns gut unterhalten hätten. Ich glaube, wir wurden beide rot, aber Adele war gewandter als ich und half mir mit einem Scherz aus der Verlegenheit.

Bei Tisch kam immer wieder die Rede auf Deutschtum und Polentum. Dieser Gesprächsgegenstand schien die Achse zu sein, um die hierzulande sich alles drehte. Kusine Adele hatte polnische Neigungen. Sie war in ihrem Elternhause halb polnisch erzogen worden, sprach und schrieb aber fließend Deutsch. Dafür sorgte schon Onkel Rompf. Er war ein kerndeutscher Mann, der nicht einmal Polnisch konnte, und hatte deswegen keinen leichten Stand in der wohl überwiegend polnischen Pfarrei. Auch der Patronatsherr der Griebenauer Kirche war Pole, ein polnischer Standesherr von bekanntem Namen, der natürlich einem vornehmen preußischen Kavallerieregiment als Reserveoffizier angehörte. Das hinderte ihn nicht, eine sehr betonte Stellung in allen nationalen Fragen, auch gegenüber meinem Onkel, einzunehmen. Dieser antwortete ihm in seiner eindeutigen, gradlinigen deutschen Art und blieb dem gräflichen Standesherrn nichts schuldig. So kamen Patronatsherr und Pfarrer, Deutscher und Pole, immer wieder ins reine miteinander. Wie man sieht, war in dem vielverlästerten autokratischen Preußen jener Tage auch für den anderssprachigen, fremden, ja im Grunde staatsfeindlichen Volksteil noch immer Spielraum genug.

Ich hörte das alles wie im Traum; vieles war mir ja nicht neu, ich hatte es schon bei meinem polnischen Onkel in Liebenau vernommen, nur eben auf umgekehrte Weise. Auch in mein Elternhaus und selbst in das rein deutsche Marienburg war ja ein Widerhall der alten Erbfeindschaft, des nicht auszutilgenden Rassen- und Völkerhasses gedrungen und hatte schon meine Knabenseele erfüllt. Aber was bedeutete der jahrhundertealte Schlachtruf in diesem Augenblick für mich! Da saß meine halbpolnische Base Seite an Seite mit mir. Unsere Hände fanden sich, wenn der Onkel gerade nicht hinsah. Unsere Blicke verstanden sich, unsere Herzen waren eines. Polnisch oder deutsch: unser Blut drängte zueinander, wir waren achtzehn Jahre und hatten uns lieb. Nachmittags spielte Adele Klavier, es war ein altes wohlklingendes Instrument, ich glaube, ein Tafelklavier; dazu sang sie mit ihrer hübschen Stimme polnische und deutsche Volkslieder, die mich tief ergriffen. Das alte »Lang, lang ist's her« war auch dabei. Es gehört für mich untrennbar mit in das Bild jener drei märchenhaften Vorfrühlingstage im Pfarrhof zu Griebenau. Stets wenn ich es in einer Aufführung meiner »Jugend« erklingen höre, zieht es mich wie mit Geisterhänden zurück in das friedliche weltentlegene Pfarrhaus und die trauliche Wohnstube mit den Biedermeiermöbeln, in der ich es vor bald sechzig Jahren zum ersten Male von den Lippen des geliebten Mädchens vernahm.

Am Abend dieses ersten Tages fuhren wir im Verdeckwagen des Onkels zum Pfarrer von Nawra. Der Onkel und ich saßen rechts und links, Adele saß in der Mitte zwischen uns. Es dämmerte bereits, wurde dunkel, aber wäre es auch pechschwarze Nacht geworden, wir beide hätten nichts dagegen gehabt. Leider war die Fahrt nur kurz. Der Pfarrer von Nawra war ein polnischer Herr, sehr liebenswürdig und verbindlich, mit dem mein Onkel, trotz des nationalen Gegensatzes, sich vortrefflich stand. Auch hier war wieder, neben Seelsorgerfragen und gutmütigem Nachbarnklatsch, Hauptthema Polnisch und Deutsch. Aber jeder Teil nahm sich sehr zusammen, dem andern nicht gar zu nahe zu treten. Ich wurde mit Interesse gewahr, daß auch der Onkel diplomatisch zugeknöpft sein konnte. Tokaier und Bordeaux beflügelten die Stimmung. Man aß vortrefflich, wie übrigens in Griebenau auch und überall hierzulande. Adele spielte wieder und sang. Meine Blicke hingen an ihr. Meine Gedanken flogen in eine nebelhaft ferne, rosenrote Zukunft voraus, die doch vom nahe bevorstehenden Abschiedsschmerz bereits ins Tragische gefärbt war. Die beiden geistlichen Herren rauchten ihre Zigarren, pokulierten fleißig dazu und setzten halblaut ihren amtsbrüderlichen Schwatz und Klatsch fort. Spät am Abend ging es nach Griebenau zurück. Die Fahrt erschien uns beiden noch kürzer als vorher. Der Onkel war friedlich eingenickt.

Am zweiten und dritten Tage wiederholte sich alles beinahe auf die gleiche Weise wie am Tage meiner Ankunft, nur daß der Onkel nicht gerade zum Kranken fuhr, aber doch wieder durch Beruf und Amt den ganzen Vormittag ferngehalten war und uns unserem Schicksal überließ. Wir steckten im Garten und Haus so viel zusammen, wie es nur ging, denn auch mein Bäschen hatte ja Hausfrauenpflichten. Das erste Radieschen fand sich im Beet, die Knöspchen der Fliederzweige spitzten aus dem Gebüsch. Ich schoß mit dem Tesching nach der Scheibe. Am Abend ging es nach Unislaw zum Dekan. Dort war die große Zuckerfabrik, viel deutsche Beamte und Angestellte. Auch der Dekan war ein Deutscher, ein großer starker Mann; es hieß, daß er gelegentlich mit den Polen paktiere. Empfang und Aufnahme waren wieder von der gleichen gastfreundlichen, beinahe überströmend herzlichen Weise, die dort des Landes der Brauch war. Die nächtliche Heimfahrt war diesmal von längerer Dauer. Uns erschien sie immer noch kurz genug. Der Onkel nickte in noch tieferem Frieden als gestern.

Der letzte. Tag meines Besuches im Pfarrhof von Griebenau war da und zog vorüber. Noch einmal durchlebte ich wie im Traum alle die kleinen Begebnisse, die mich gestern und vorgestern beglückt und entzückt hatten. Auch das Unscheinbare wurde bedeutungsvoll. Nichtiges wandelte sich in Wichtiges, denn die Stunde des Abschieds nahte heran. Eines Abschieds wer weiß auf wie lange, vielleicht für immer und alle Zeit. So mag es dem Sterbenden zumute sein, der noch einmal sein Leben vorüberziehen und alle die kleinen Dinge, die holden Nebensächlichkeiten dieser schönen Welt wie vom Glanz der scheidenden Abendsonne vergoldet sieht. Schon seit dem ersten Augenblick war, dieses Bewußtsein von der Flüchtigkeit und Unwiederbringlichkeit der uns geschenkten Stunden mir nicht von der Seite gewichen; in den ersten Trunk aus dem Kelch des Glücks war schon die süße Bitternis des nahenden unentrinnlichen Abschieds gemischt gewesen. Wir beide wußten es; es war umsonst, sich dagegen zu wehren. Jetzt wie die Stunden flogen, krampften sich unsere Herzen, daß wir glaubten, wir ertrügen es nicht. Aber von außen war uns nichts anzusehen. Wir gingen im Garten nebeneinander hin und lachten vergnügt, wenn wir dem brevierbetenden Onkel begegneten. Des Mittags bei Tisch wurde noch einmal das Lieblingsthema besprochen, ob Polnisch oder Deutsch. Meine Base spielte und sang: »Lang, lang ist's her.« Der Onkel summte seine Leibmelodie und schlug den Takt dazu. Des Abends kamen der Dekan von Unislaw und der Pfarrer von Nawra auf Besuch zu uns. Es wurde ein kleines Fest, auch zum Abschied für mich. Zum letztenmal funkelte der Ungarwein in den Gläsern. Wir alle stießen an und tranken auf meine Studentenzeit. Gegen Mitternacht ließen die beiden geistlichen Herren anspannen und verabschiedeten sich. Der Onkel begleitete sie hinaus. Adele und ich standen im Halbdunkel des Fensters und hielten uns noch einmal umschlungen. Es wurde nicht viel gesprochen. Ich glaube, uns beiden liefen die Tränen herunter. Am nächsten Morgen um fünf Uhr fuhr ich ab.

Freitag, 20. April 1883, trat ich meine Reise nach Heidelberg an und war abends in Berlin. Ich wollte nur über den Sonntag dort bleiben, unaufhaltsam trieb es mich weiter. Ich mußte so schnell wie möglich in den Frühling hinein; zu Hause war es noch kahl und winterlich gewesen, kaum daß die ersten Knospen zu sehen waren. Auch in Berlin ließ der Frühling sehr auf sich warten, man war später daran als sonst, wie die Leute sagten. Ich sah Berlin jetzt zum zweitenmal. Der Eindruck vom vorigen Jahr verstärkte, vertiefte, bereicherte sich; hier war doch eben schon damals das, was wir, vielleicht übertreibend, eine Weltstadt nannten. Nicht nur die Tatsache selbst, auch das Wort imponierte uns sehr, wir führten es ständig im Munde und berauschten uns daran. Es war ein Zauberwort, das uns alle Erscheinungen der brausend lebendigen Stadt in einem verklärenden und erhöhenden Licht sehen ließ.

Ich hatte eine Anzahl von älteren Marienburger Freunden, die schon ein oder zwei Jahre zuvor ihr Abiturium gemacht hatten und jetzt in Berlin studierten. Sie nahmen mich bereits im Bahnhof in Empfang, brachten mich in einer ihrer Buden für die paar Tage unter und führten mich so schnell wie möglich in das »Berliner Leben« ein, indem sie mich in ihre Studentenkneipen schleppten, von denen die meisten sich weiblicher Bedienung erfreuten. Ich kannte diesen Betrieb ja nun schon aus meiner letzten Zeit in Marienburg, aber im Lichte jenes verklärenden Zauberwortes »Weltstadt« wurden die Kellnerin und die Dirne, wurde der Begriff des gefallenen Mädchens erst zum höheren dichterischen Erlebnis. Es sollte lange nachwirken und auch eine Parole für das antretende junge Dichtergeschlecht werden. Ich werde, wenn ich zu meiner Berliner Studentenzeit komme, noch mehr darüber zu sagen haben.

Montag in der Frühe setzte ich vorn Potsdamer Bahnhof meine Reise nach Heidelberg fort. Die Berliner Kumpane geleiteten mich zum Zuge und erteilten dem jungen Fuchs ihren letzten Segen. Dann ging es über Potsdam, Magdeburg, Kassel meinem Ziel entgegen. In Gießen sah ich mit Entzücken, als der Zug ein paar Minuten hielt – es war schon dunkel –, die Kastanien im vollen Laubschmuck des ersten Frühlings stehen. Mein junges Herz jauchzte. Dies also war der Süden, obgleich wir noch nordwärts des Mains waren. Wie würde es erst südwärts sein! Ich stellte mir ihn wie einen Grenzstrich vor, hinter dem erst der wahrhafte Süden gleichsam losbrechen würde. Wie und auf welche Weise? Ich wußte es selbst nicht. Ich war verwirrt und stellte mir im Grunde gar nichts vor, als nur das eine: das Wunder! Spät abends traf ich in Heidelberg ein. Es war der 23. April 1883. Genau auf den Tag zehn Jahre später, am 23. April 1893, war in Berlin die Uraufführung meiner »Jugend«. Dieser 23. April ist ein Schicksalstag für mich geworden; er hat auch sonst noch ein paarmal eine Rolle in meinem Leben gespielt.

Ich stieg im Darmstädter Hof ab. Die Nacht war kurz, ich hatte keine Ruhe, sprang schon in aller Frühe aus dem Bett. Der schönste blaueste Morgen strahlte mir entgegen. Heidelberg im ersten Frühlingsglanz. Wieviele Dichter und Sänger seiner unvergleichlichen Schönheit hat es nicht gefunden, seit jenen holden Lenztagen der wieder zum Licht erblühenden deutschen Seele, da die Romantik neben so vielem anderen, das verschüttet schien, neben Volkslied, Märchen, Sage, auch Heidelberg für Deutschland und bald für die Welt entdeckte.

Dieser erste paradiesische Morgen, mit dem meine Studentenzeit in Heidelberg begann, ist mir durchs ganze Leben unvergeßlich geblieben. Mein Herz strömte über vor Jugendglück, als ich auf der Neckarbrücke stand und mit meinen Blicken die weichen fließenden Linien dieser Fluß- und Berglandschaft umfing, die rote Sandsteinruine des Schlosses mit dem sie dunkel umrahmenden Waldgebirge, Molkenkur und Königstuhl im schmiegsam ansteigenden Sammetflausch des jungen Buchengrüns.

Und dann den Fuß aufwärts lenkend, gewann ich den Blick von der Schloßkanzel hinab ins Tal, über den strömenden Fluß, zu jenseitigen Waldbergen hinauf und wieder hinunter auf die schiefergrauen Dächer der im engen Flußtal zusammengedrängten, gen Westen in die weite dunstgraue Ebene hinausquillenden Stadt – gewann den Blick über diese ferne, vom Sonnenlicht getränkte Ebene bis zu dem silbernen, da und dort aufblinkenden Band, von dem ich mir sagte, daß dies der Rhein und jenes andere sich ihm entgegenschlängelnde der Neckar sei, und ahnte mehr als ich sie sah, die Türme des Kaiserdoms zu Speyer fern am Horizont, und ferner noch jenseits des Rheins, als einen kaum wahrnehmbaren Dunsthauch am Horizont, den Wald- und Rebengürtel der Pfalz, die Haardt.

Ich vermochte nicht zu entscheiden, was schöner war, von unten herauf- oder von oben hinabzuschauen, und sank überwältigt auf die Steinbank, auf der gewiß einst auch Scheffel, der Sänger Heidelbergs, und soviele andere Begnadete gesessen und ihre Seele in stummer Andacht gesammelt hatten. Wäre ich ein berufener lyrischer Dichter von Gottes Gnaden gewesen, dessen Zunge nur noch nicht gelöst war: hier hätte ich meine ersten Verse ins Büchel schreiben müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Mein Mund blieb stumm, wenn auch mein Herz überfloß wie ein Gefäß, das voll ist bis zum Rande. Heute weiß ich, was mir damals freilich noch verborgen blieb, daß ich zum lyrischen Dichter, im eigentlichen und engeren Sinne, eben nicht berufen gewesen bin. Die lyrische Ader, die im Schacht meiner Seele wohl ebenfalls mitenthalten war, ist auf andere Weise zum Abbau gekommen.

Heidelberg hatte in jener Zeit vielleicht fünfundzwanzigtausend Einwohner, sicherlich nicht viel mehr, zählte also nach damaligem Bevölkerungsmaßstab bereits zu den Mittelstädten. In vielem war es noch eine richtige Kleinstadt, in der der Student die Hauptrolle spielte, hatte daneben aber auch sein internationales Gesicht. Schon damals war es das Reiseziel aller Engländer; die Amerikaner traten daneben zurück, sie hatten im allgemeinen Europa noch nicht entdeckt. Das Cookbüro verfrachtete sie im Sommer erst einzeln, noch nicht in ganzen Schiffsladungen. Viele von diesen angelsächsischen Reisenden blieben in Heidelberg hängen. Sie bevölkerten die Pensionen (Fremdenheime) der heutigen Leopoldstraße (damals noch Anlage genannt) und zu Füßen des Schloßbergs und bildeten eine sehr ansehnliche Kolonie. Sie hielt streng auf ihre gottgewollte angelsächsische Unvergleichlichkeit und trat weder mit der Bürgerschaft noch mit den Studenten in irgendwelche Berührung.

Ausschlaggebend waren die Studenten, ganz besonders in ihrer farbentragenden Erscheinungsform. Sie beherrschten das Straßenbild, füllten die Bierstuben und Weinbeiseln, deren es eine Anzahl als Anhängsel von Bäckereien gab. Der Student war das A und das O des Heidelberger Alphabets; die Bürgerschaft lebte von ihm. Ich rechne im weiteren Sinne zu den Studenten auch die Professorenschaft, die natürlich die oberste Staffel bildete und gesellschaftlich die entscheidende Rolle spielte. In der studentischen Hierarchie standen die Korps obenan, unter ihnen wieder die berühmten Saxo-Borussen, bei denen man – so hieß es – erst nach einer umständlichen Ahnenprobe Aufnahme fand. Sie hatten, wenn ich mich recht entsinne, weiße Stürmer und hoben sich schon dadurch, wie überhaupt durch ihr hochfeudales Auftreten, von den übrigen Studentencouleurs, nun gar von der misera plebs der nicht farbentragenden Finkenschaft, ab. Burschenschaften, Landsmannschaften, freischlagende Verbindungen, akademische Turn- und Gesangvereine, freie landsmannschaftliche oder sonstwie gekennzeichnete Vereinigungen, auch »Blasen« genannt, vervollständigten das bunte Bild deutschstudentischer Vielfältigkeit und Zwiespältigkeit. Denn natürlich standen alle diese Verbände, Gruppen und Grüppchen in mehr oder minder erklärter Feindschaft gegeneinander. Die verschiedenen Verbände ignorierten sich gegenseitig, gaben nur innerhalb ihrer Klasse Satisfaktion oder nur unter schweren Bedingungen gegen Außenstehende. Es kam nicht selten, zumal auf Bierdörfern oder des Nachts beim Nachhausegehen, wenn die Straße plötzlich nicht breit genug war, zur Anwendung des Holzkomments, zur solennen Keilerei. Schwere Säbel oder Pistolen hatten dann oft den empfangenen oder verabreichten Schimpf zu sühnen.

Die Zahl der Heidelberger Studentenschaft mag in jener Zeit zwölfhundert betragen haben, keinesfalls mehr als fünfzehnhundert. Das galt unter den damaligen Verhältnissen schon als bedeutende Frequenz, auf die die betreffende Hochschule stolz sein konnte. Heidelberg stand dazumal in einem erbitterten Wettkampf, was die Hörerzahl betraf, mit seiner badischen Schwester-Universität Freiburg. Die beiden Hochschulen waren in den letzten Semestern sozusagen Kopf an Kopf durchs Ziel gegangen; einmal war Freiburg um eine Pferdelänge voraus, dann wieder Heidelberg. Auch in den beiden Semestern, die ich in Heidelberg studierte, ging es nicht anders; im Sommer war Heidelberg voraus, im Winter Freiburg. Kenner der studentischen Witterung prophezeiten, daß für die nächsten paar Jahre im allgemeinen noch Heidelberg die Spitze halten werde, nämlich bis zu der im Jahre 1886 bevorstehenden Halbjahrtausendfeier der Heidelberger Universität (gegründet 1386), und von da ab Freiburg. So ist es auch wirklich gekommen.

Ich fand Quartier bei drei alten Fräuleins in der Großen Mandelgasse, die heute mit einem »t« geschrieben wird und also nichts mehr mit Mandeln zu tun hat. Ich fand es sehr poetisch, in der Gasse der Mandeln zu wohnen, weil ich dabei an die Mandelbäume dachte, von denen ich schon wußte, daß sie im Frühjahr an der Bergstraße zuerst blühen. Meine Gasse führte von der Hauptstraße etwas abschüssig zum Neckar hinunter und lag in nächster Nähe der Universität. Für leichte Erreichbarkeit der Vorlesungen war also gesorgt. Meine Bude lag im dritten Stock des alten schmalstirnigen Hauses von nur zwei Fenstern Front. In jedem Stockwerk war nur eine solche Bude, Zimmer und Alkoven, also nicht einer gewissen Noblesse entbehrend, da ja viele Studenten nur einen Raum zum Wohnen und Schlafen hatten. Meine Mittel ermöglichten mit das. Ich war von meinem Vater mit einem recht auskömmlichen Wechsel versehen worden. Noch dazu bekam ich den Wechsel immer gleich für das ganze Semester vorausbezahlt, wofür ich meinem Vater noch heute aufrichtigen Dank schulde. Ich habe infolgedessen eine sehr angenehme, sorgenfreie Studentenzeit gehabt und frühzeitig mit Geld umgehen gelernt, was allerdings die unerläßliche Vorbedingung für jenes war. Auch meine Freunde während aller dieser Studentenjahre haben den Umstand sehr zu schätzen gewußt und mich vielfach als einen bequemen Bankier betrachtet, bei dem man im Notfall einen Pump anlegen konnte. In den meisten Fällen waren unsere Erfahrungen gegenseitig die besten.

Ich belegte Vorlesungen bei Bekker, den man den Pandektenbekker nannte, bei Knies, einem der großen Kirchenväter der damals noch ziemlich jungen national-ökonomischen Wissenschaft, und bei Kuno Fischer, der ragenden Leuchte der Universität. Wenigstens sind mir andere Kollegs nicht mehr erinnerlich. Bekker war, wie schon sein Spitzname erweist, Jurist, ein vornehmer, kavalierhafter Herr, dessen Persönlichkeit und Vortragsweise mich sehr anzogen, während allerdings der Stoff selbst sich bald als ein sehr zäher Braten erwies und auch in der Tat unverdaulich für mich blieb. Bekker lehrte die Anfangsgründe des Römischen Rechts, das damals ja noch als die Grundlage alles Jus galt und dem Novizen zunächst einmal in den Kopf gehämmert werden mußte. Im ersten Semester las Bekker Institutionen, im zweiten Pandekten. Ich besuchte, wenigstens im ersten Semester, ziemlich regelmäßig seine Kollegs in dem unscheinbaren zweistöckigen grauen Haus, das die Heimstätte der berühmten Ruperto-Carolina war, und biß mir an den verabreichten logisch-juristischen Definitionen die Zähne aus. Sie waren für meine auf das Bildliche und Sinnenhafte gerichtete Phantasie nichts als steinharte ungenießbare Brocken. Geist und Seele, im Aufruhr der geweckten Seele, des erwachenden Bluts, konnten an dieser Kost oder Arznei nicht genesen.

Nicht anders erging es mir bei Knies, dem großen Nationalökonomen, der mir aber auch ebenso ledern erschien, wie er groß sein sollte. Und das wollte schon etwas besagen. Ich saß in seinen Nachmittagskollegs, nickte im Halbschlaf vor mich hin und hörte von den Lippen des unendlich gelehrten Mannes die ersten Begriffsunterscheidungen der national-ökonomischen Lehre: sie fielen wie die Tropfen eines langsamen aber unerbittlichen Regens sachte und nachdrücklich auf meine Schädeldecke und bohrten sich allmählich ein Loch bis ins Innere. Vielleicht mag aber auf diesem Wege doch eines oder das andere haften geblieben sein, wovon ich nachmals im Leben Nutzen gezogen habe. Wenigstens scheint es mir so, da ich bis heutigentags an allen wirtschaftlichen Fragen lebhaften und denkenden Anteil zu nehmen pflege.

Aus ganz anderem Stoff war Kuno Fischer gemacht. Wäre es gegenüber dem Andenken des hochbedeutenden Mannes nicht gar zu despektierlich, so könnte man für seine Charakteristik das Faustwort von der »Spottgeburt aus Dreck und Feuer« gebrauchen. Es würde allerdings auf seine äußere Erscheinung durchaus nicht zutreffen. Er war ein breiter, stattlicher, man könnte sagen monumentaler Mann, den man so, wie er ging und stand, auf einen Denkmalsockel hätte stellen können. Dies hätte sicher auch seiner eigenen Meinung von sich vollkommen entsprochen. Er war von einem höchst entwickelten Selbstgefühl, ja von einer geradezu unermeßlichen Eitelkeit. Zahlreiche Anekdoten waren hierüber in der Stadt und unter den Studenten verbreitet. Kuno Fischer wußte das und betrachtete es sicher als den ihm gebührenden Zoll an öffentlicher Aufmerksamkeit und Reklame. Kein Zweifel auch, daß alle diese über seine maßlose Einbildung erzählten Schnurren nicht wenig zu seiner Volkstümlichkeit beitrugen. Man lachte über ihn und zog doch im Geiste den Hut vor ihm. Er trug sich, für einen Professor jener Zeit, immer höchst sorgfältig, ja geradezu elegant. Wenn er, solchermaßen wie aus dem Ei gepellt, auf das Katheder trat und kerzengerade dastand, das mächtige Haupt hoch emporgerichtet, die lange Pfropfenziehernase gleichsam in die Ferne gebohrt, als sei alles ringsumher Luft für ihn, so verstummte das wilde Beifallsgetrampel, das seinen Eintritt begrüßt hatte, wie mit einem Zauberschlage, und atemlose Stille trat ein.

Und der Professor hub an und legte los, daß die Funken stoben. Niemand wurde von ihm verschont, die Lauge seines beißenden Witzes übergoß alles; ganz gleich, ob er über die Geschichte der Philosophie las oder ob er sein Faust-Kolleg mimte und deklamierte. Wenn er so nach rechts und nach links, nach vorn und hinten Hiebe austeilte und Florettstiche vollführte, so kam mir das vorhin erwähnte Faustwort über den Mephistopheles als der beste Vergleich für ihn selbst in den Sinn. Kuno Fischer empfand auch offenbar eine starke Wahlverwandtschaft zwischen sich und dem Junker mit der roten Hahnenfeder und dem Pferdefuß. Von allen Gestalten im Faust, die er mit vollendeter Deklamation vor uns verkörperte, gelang ihm der Mephisto weitaus am besten. Wer einst diesem messerscharfen Geist gelauscht hat und seines funkensprühenden Witzes teilhaftig geworden ist, wird ihn mit mancher ungewollten Komik stets im Gedächtnis behalten.

Ein Name von Weltruf und säkularer Bedeutung muß noch genannt werden, dessen Träger dazumal noch hochbetagt unter den Lebenden weilte und der Heidelberger Universität höchsten Glanz verlieh. Es war der große Bunsen, der Mitentdecker der nach ihm und Kirchhoff benannten Spektralanalyse. Dies war wenigstens das, was die Welt und selbst der jüngste Fuchs von ihm wußten. Er galt wohl mit Recht als der größte Chemiker seiner Zeit (ich vermag nicht zu beurteilen, wie weit dies ein Unrecht gegen Justus von Liebig war) und wandelte unter uns jungem Volk als einer der letzten noch lebenden Heroen einer erhabenen Vergangenheit. Kein Wunder, daß sein Ruhm die angehenden Chemiker aller Weltteile nach Heidelberg zog und um seinen Lehrstuhl versammelte.

Die ersten Wochen waren vorüber. Ich fing an, mich in Heidelberg einzuleben, obwohl dies nicht ganz leicht für mich war. Zunächst hatte ich Mühe, den Dialekt zu verstehen, wie man umgekehrt auch den meinen nicht verstand. Ich wollte zwar nicht wahrhaben, daß ich überhaupt Dialekt spräche, sondern es höchstens als mundartliche Färbung, als heimatlichen Tonfall angesehen wissen. Man glaubte mir nur leider nicht und blieb dabei, daß dies eben auch Dialekt sei, so gut wie das Badische oder Pfälzische, das mit großem Stimmaufwand überall erschallte. Heidelberg war doch die alte Hauptstadt der Pfalz, das verleugnete sich nicht; es war ja noch keine achtzig Jahre, seit es zu Baden gehörte. Droben im Schloß, das auf des glorreichen Sonnenkönigs Geheiß in Brand gesteckt worden war, hatten vordem die prachtliebenden Kurfürsten und Pfalzgrafen bey Rhein jahrhundertelang ihr Zepter über dem weinfrohen, sonnenbeglückten Ländchen geschwungen. Dann waren sie nach dem nahen Mannheim übergesiedelt und hatten auch hier, mit dem gewaltigen Barockschloß am Rhein, die für ihr Haus charakteristische Spur ihrer Erdentage hinterlassen. Alles, was ich in Heidelberg hörte und sah, wies noch auf diesen jahrhundertealten stammestümlichen Zusammenhang hin, der durch eine von außen aufgepfropfte Dynastenpolitik der napoleonischen Zeit nur sehr obenhin und jedenfalls nicht organisch unterbrochen war.

Meiner durch Schlosser geschärften Geschichtserkenntnis drängte sich dies und anderes bald wie von selbst auf. Da war der Gegensatz von Nord und Süd, mit dem ich hier zum erstenmal bekannt wurde; er sollte mich durch mein ganzes nachmaliges Leben begleiten. Ich entdeckte in kurzem, daß hier längst nicht alles so war, wie ich es mir gedacht und erträumt hatte. Ich war auf der Schule von der Idee eines großen, einigen und mächtigen Deutschen Reichs bis in die letzte Faser meines Wesens durchtränkt gewesen. Das waren wir dort im deutschen und preußischen Osten ja nahezu alle, nicht umsonst hatte unsere Kindheit unter dem Stern der Kaiserkrönung von Versailles gestanden; und Preußen und Deutschland war eines und dasselbe für uns. Ich hatte geglaubt, das müsse überall in deutschen Landen so sein. Jetzt sah ich es anders. Ich lernte den süddeutschen, fürs erste den badischen Partikularismus kennen, der hier in Heidelberg noch seine besondere pfälzische Färbung trug. Ich war hierhergekommen aus einer Art von Phantasieliebe für Süddeutschland und alles, was süddeutsch hieß. Jetzt mußte ich erfahren, daß es eine sehr einseitige Liebe war und daß meine süddeutschen Landsleute nicht daran dachten, sie zu erwidern. Die Kinder auf der Straße sangen Spottlieder auf die »Preußen«; aus den Reden der Erwachsenen klang es nicht viel anders in mein Ohr, nur daß sie es nicht gerade in Versform sagten, sondern in der derben eindeutigen Prosa des »Pfälzer Krischers«.

In den Liedern der Straßenjugend, die ich mir erst übersetzen lassen mußte, wurde auch viel über preußische Soldaten losgezogen, die ins badische Ländchen einrückten und sich lächerlich machten. Das bezog sich auf die preußischen Truppen, die Anno Achtundvierzig ins Land gekommen waren, von der eigenen badischen Regierung gerufen, um die Revolution niederschlagen zu helfen, nachdem die Regierung selbst es nicht vermocht hatte. Die Erinnerung an dieses Ereignis wie überhaupt an Achtundvierzig saß noch sehr fest in dem lebenden Geschlecht, es war ja auch erst wenig mehr als ein Menschenalter her. Damit hing es auch zusammen, daß in Heidelberg wie in ganz Baden die Demokratie Trumpf war. Die demokratische Revolution von Achtundvierzig war unterlegen, aber der demokratische Gedanke triumphierte auf der ganzen Linie von Frankfurt bis Basel und Konstanz, ja auch bis ins benachbarte Schwäbische hinein; wenn man ihn weniger politisch als allgemein weltanschaulich faßte, sogar bis über die weißblauen Grenzpfähle hinüber.

In dieser allgemeineren, gesellschaftlichen, kulturellen Auslegung stimmte auch ich ihm zu und fand ein erstrebenswertes Ziel in ihm. Standesdünkel und Klassenunterschiede, das Erbübel unserer rein standesmäßig aufgebauten norddeutschen Gesellschaft, waren mir von jeher ein Greuel gewesen. Wenn dieses Gefühl ein Kennzeichen der Demokratie war, so war ich schon mit zehn Jahren ein Demokrat gewesen. Vielleicht hatte es seine tiefsten Wurzeln in jener früher geschilderten Freundschaft mit unserem Schweinejungen. Jedenfalls war es auch einer der Gründe, weshalb es mich mit Macht nach Süddeutschland gezogen hatte. Wenigstens hierin erlebte ich keine Enttäuschung. Die Klassen und Stände verkehrten mit einer Zwanglosigkeit untereinander, an der ich meine helle Freude hatte. Meine trotz allem nun doch einmal vorhandene nordische Gebundenheit lockerte und löste sich in der hellen, freudigen, wein- und liederseligen Atmosphäre der zauberhaften Stadt; ich fühlte mich freier, elastischer, unbefangener als je vordem. Mein Gott! Ich war ja auch Fuchs im ersten Semester.

Schon in der ersten oder zweiten Woche war die Versuchung an mich herangetreten: ich sollte für eine Verbindung gekeilt werden. Welcher Art sie war, weiß ich nicht mehr. Alle diese Verbindungen waren ja sehr auf Fuchsenfang bedacht und schließlich auch darauf angewiesen. Ein paar ältere Semester machten sich an mich heran und bugsierten mich auf ihre Kneipe. Aber ich hatte gleich keine Freude daran. Hatten wir das nicht alles schon in Marienburg gehabt? Und dort war ich Vize-Präses gewesen und Fuchsmajor. Sollte ich plötzlich wieder anfangen, Fuchs zu spielen? Es paßte mir durchaus nicht. Ich verschwand und ließ mich nicht wieder blicken, Noch ein anderes hatte mir mißfallen: der herrschende studentische Ton. Ich fand ihn ohne Geist, ohne Witz, ohne: Salz. Ich hatte Stunden, wo er mir roh vorkam und diese armen, ihm verfallenen Menschen mein Mitleid erregten.

Wenn ich aus dem Fenster meiner Studentenbude in der Großen Mandelgasse hinausblickte, so sah ich mir gegenüber in der gleichen Höhe des dritten Stocks, nur wenige Meter entfernt, einen schon ziemlich bemoosten Studenten mit ausgebreiteten Ellbogen im Fenster liegen. Sein Gesicht war kreuz und quer von Schmissen gestrichelt, so daß es wie eine Flußkarte aussah. Er rauchte eine lange Pfeife, die beinahe bis zum zweiten Stock aus dem Fenster hing. Ich sah dieses Gegenüber zu allen Tageszeiten aus dem Fenster liegen, Pfeife rauchen und eben auf diese Weise seine studentische Tätigkeit ausüben. Erst wenn es gegen Abend ging, verschwand er. Darauf konnte man wetten. Seine Kneipe und seine Verbindung warteten schon mit Schmerzen. Jedermann nahm an, daß er niemals aus dem Sumpf herausfinden werde. Vielleicht glaubte er es selbst. Und doch ist dieser scheinbar verbummelte Bierstudent nachmals ein weitberühmter Afrikaner, Mithelfer von Wißmann, Legationsrat geworden und soll im Großen Kriege einen ehrenvollen Tod gefunden haben.

Ich habe diesen Fall hier angeführt, weil er geeignet ist, meine vorhin geschilderte Gemütsverfassung gegenüber einer damaligen weitverbreiteten Art des Studententums begreiflich zu machen. Aber er beweist doch zugleich auch, wie sehr man sich täuschen kann. Jener unermüdliche Pfeifenraucher war aus dem Holz geschnitzt, aus dem die Menschen der Tat herkommen. Solange das Leben keine Ansprüche an seine Tatkraft stellte, faulenzte er und lag aus dem Fenster. Als es ihm dann seine rauhe Seite zeigte, packte er es mit kräftigen Fäusten an und bezwang es. Ich habe Respekt vor ihm und bitte ihm noch nachträglich einiges ab.

Mein alter Schul- und Pensionsfreund Kunz aus Trunz studierte ebenfalls in Heidelberg. Er hatte damals seinen Übergang aufs Gymnasium mit so großem Eifer betrieben und das ihm Fehlende so schnell nachgeholt, daß er mir um ein oder zwei Klassen vorausgekommen war, was ja auch seiner Altersstufe entsprach. Er war mit Leib und Seele Mediziner; die Universität hatte eine Reihe von Kapazitäten, um deretwillen er hergekommen war. Sein medizinischer Fanatismus war so groß, daß er mich auch einmal in die Anatomie und in den Leichenkeller schleppte. Der Eindruck war nicht sehr viel anders als sonst in einer Metzgerei. Aber mir wurde doch ziemlich übel dabei, auch noch später, wenn ich nur an dem Gebäude vorbeiging. Ein Mediziner ist nicht an mir verlorengegangen. Wir saßen, wenn er Zeit hatte, im Café Wachter und spielten stundenlang Schach. Für ein erstes Semester in Heidelberg war dies nach damaligen Begriffen keine richtige Einführung.

Das Heidelberger Wohnhaus

Allmählich fand ich doch Anschluß. Es war gleich eine ganze »Blase«, in die ich geriet. Sie nannten sich Meininger, waren auch teilweise thüringischen Stamms, schlossen aber niemand anderen aus. Die landsmannschaftliche Grundlage lieferte nur gleichsam den Kitt. Auch nach Fakultäten waren sie sehr gemischt, was mir sofort gefiel, denn ich haßte jede Fachsimpelei und schwärmte für Weite des Horizonts. Da waren vor allem Chemiker, dann Theologen von sehr liberaler Färbung, da die Heidelberger Fakultät, ebenso wie die Jenaer, eine Hochburg des Liberalismus war. Auch junge Buchhändler gab es in diesem Kreise, die eigentlich aus dem studentischen Rahmen herausfielen, aber ebenfalls gern gesehen waren. Es herrschte wirklich keine Engherzigkeit. Unter dieser buchhändlerischen Jugend waltete eine besondere geistige Aufnahmefreudigkeit, die sie mir schnell nahebrachte. Ihr Interessenkreis war ein so ganz anderer, als ich ihn sonst bisher angetroffen hatte. Er hatte mit dem Buch als Ware zu tun, war also kaufmännisch betont, aber die geistige Grundlage, die doch entscheidend mitspielte, verlieh ihm Niveau und hob den Stand weit über das bloß Merkantile hinaus, sofern er nämlich seine Pflicht ernst nahm. Dies war freilich Voraussetzung; daß sie erfüllt wurde, spricht für den fortschrittlichen Geist, der diese jungen Buchhändler unseres Heidelberger Kreises beseelte. Ich verlebte gerade mit ihnen sehr genußreiche Stunden und knüpfte ein paar Verbindungen an, die von langer Dauer sein sollten. Sicher war ja auch Heidelberg ein besonders günstiger Boden für junge aufstrebende Buchhändler. Es gab eine stattliche Anzahl von großen und vornehmen Buchhandlungen, teilweise auch mit Verlagsangliederung, die alle von den Professoren und Studenten zehrten und im geistigen Dunstkreis der Alma mater vortrefflich gediehen.

Unter den Theologen unserer Blase war einer, mit dem ich eine enge Freundschaft schloß. Er hieß Hermann Schneyer, stammte aus Koburg und stand schon in höheren Semestern, nicht weit vom Examen. Er war also mehrere Jahre älter als ich und natürlich auch um vieles reifer. Schneyer hat einen sehr günstigen erzieherischen Einfluß auf mich gehabt. Er nahm sich meiner sofort mit ehrlicher Zuneigung und echter Freundschaft an und suchte die Sprunghaftigkeit und Zerrissenheit meines Wesens auszugleichen, so gut es nur ging. Es war etwas ungemein Mildes, Versöhnliches, Harmonisches in seiner Natur, so daß er der eigentliche menschliche und geistige Mittelpunkt unseres Kreises wurde. Ein tiefernster, gläubiger Mensch, ließ er's doch auch an Humor nicht fehlen und war fern von jeder Bigotterie, jeder Einseitigkeit, wovor ja auch schon der liberalisierende Zug seiner ganzen theologischen Entwicklung ihn behütete. Dieser wahrhaft edle Mensch war, wie selten einer, zum Seelenhirten berufen und hat denn auch, als ein getreuer Knecht Gottes, ehrlich mit seinem Pfunde gewuchert, indem er auf der Rhön und im Thüringer Wald als ein einfacher Bauernpfarrer, unter sehr bescheidenen äußeren Verhältnissen, ein Leben lang seines Amtes waltete, jedem höheren Ehrgeiz entsagend, auf dessen Erfüllung er nach seinen geistigen Gaben allen Anspruch gehabt hätte. Ich habe diesem theologischen Freunde viel zu verdanken, denn er spielte in der schweren geistigen und seelischen Krisis meiner Heidelberger Tage ein bißchen meinen Schutzengel, der mich vor mancher Torheit bewahren half.

Ich lebte in Aufruhr gegen Gott und Menschen. Die revolutionäre Stimmung, die schon während der letzten Jahre des Gymnasiums in mir gebrodelt hatte, begann ins Sieden zu kommen. Ich erkannte nichts und niemand mehr an, wenn nicht etwa, wie im Falle Schneyer, ein starker Befähigungsnachweis dahinterstand und mich zum Respekt oder Glauben zwang. Meine Auflehnung richtete sich weniger gegen den politischen als gegen den geistigen, ethischen und sozialen Zustand der Zeit. Im Politischen war ich, wenn auch mit einigen Vorbehalten, Bismarckianer, also weder für Rechts noch für Links, sondern frei nach dem großen Vorbild politischer Realist, der sich je nach den Umständen und von Fall zu Fall entschied. Welch ein weiter Weg war es doch seit den Tagen meiner Kindheit, da man mich in Bismarck den »schwarzen Mann« hatte sehen lassen! Heute stellte ich ihn neben die großen Heroen unserer Geschichte, neben Carolus Magnus und Otto den Sachsen, neben den zweiten Friedrich, den Staufer, dessen Bild mich gerade damals sehr zu beschäftigen anfing, und neben den andern zweiten Friedrich, den Alten Fritz.

Ich war Bismarckianer in der Politik. Aber das hinderte mich nicht, in allem Religiösen, Gesellschaftlichen, Moralischen meine eigene Straße zu gehen; und die führte weitab von den landläufigen Meinungen rings um mich her. Ich sah einen großen Teil meiner studentischen Kommilitonen sich einem rohen, ja barbarischen Treiben und zugleich einer starren Exklusivität hingeben, die jeden Luftzug der harten sozialen Wirklichkeit abschloß und ganz falsche Voraussetzungen für die Zukunft in ihnen großzog: sie, die zu Führern des Volkes berufen waren, wurden durch die schiefe Bahn ihrer Entwicklung von eben diesem Volke abgedrängt und ihm hoffnungslos entfremdet. Gerade weil ich Bismarckianer war und als solcher realpolitisch zu den Urwurzeln der Dinge vorzudringen suchte, erblickte ich in dem ebenso hochmütigen wie weltfremden Treiben dieser buntbebänderten Bramarbasse die erste Station eines Weges, der einmal an den Abgrund hinführen mußte. Die Zukunft hat mir leider recht gegeben. Ich habe sie vorausgesehen, wenn mir natürlich auch die klaren Begriffe dafür fehlten, und schreibe dies nicht etwa, wie man mir vielleicht unterschieben könnte, a posteriori nieder. Man mag es mir glauben oder nicht: seit meinen Heidelberger Tagen hat mich das dunkle, drohende Gefühl nicht verlassen, daß in der Wegweisung, in der Richtunggebung unserer damaligen studentischen Erziehung etwas faul war, was sich einmal rächen müsse. Der so ganz andere Weg, den die heutige Studentenschaft geführt wird und selbst einschlägt, bestätigt jenes Gefühl auch von der Gegenwart her.

Noch ein zweiter wichtiger Punkt, der mich mit der Auffassung meiner Umwelt in Zwiespalt brachte: mein Verhältnis zum Weib, zur Frau. Die meisten meiner Kameraden machten einen grundlegenden Unterschied zwischen den Mädchen aus den höheren Ständen und den Mädchen aus dem Volk. Jene heiratete man, wenn man sie auch nicht immer liebte; mit diesen hatte man ein Verhältnis, wofern sie nicht überhaupt als Kellnerinnen oder Dirnen Allgemeingut waren. Das Verhältnis wurde natürlich geliebt, aber in diesem Gefühl war immer auch noch ein kleinerer oder größerer Beigeschmack von mitleidiger Überhebung, wenn nicht gar Verachtung, die sich gleichsam selbst ins Gesicht spie. Man schimpfte sich einen sentimentalen Esel, der nicht zur Vernunft komme. Eine sei ja doch wie die andere, sie alle seien es nicht wert, daß man sein Herz an sie hänge, ein solcher Kerl wie man sei, und alles müsse schließlich ein Ende haben. So machte man Schluß und zog seiner Wege, und im andern Städtchen ging es mit andern Mädchen von vorne an. Diese aber waren meistens von der gleichen Couleur und wollten es selbst nicht anders.

Dies alles war mir in der Seele zuwider. Wäre es purer Leichtsinn gewesen, der sich darin kundgab, so hätte ich nichts dagegen gehabt. Leichtsinn war mir sympathisch. Ich selbst glaubte ihn reichlich zu besitzen und hielt ihn schon damals, mehr aus Ahnung als mit Bewußtsein, für ein notwendiges Requisit, um auf der Lebensbühne mein Glück zu machen. Was meinen Zorn herausforderte, das waren die eitle Selbstgefälligkeit und der moralische Hochmut, womit diese jungen Männer auf das gesellschaftlich unter ihnen stehende Weib hinabblickten, es für ihre Zwecke benutzten und dann wegwarfen. In diesem Punkt denke ich auch heute noch nicht anders, obwohl sich ja die Verhältnisse sowohl wie auch die sexuellen Anschauungen sehr geändert haben und die beiden Geschlechter sich in einer Stellung gegenüberstehen, die meiner Jugendzeit fremd war.

Ich habe vorhin gesagt, daß ich mich auf eine bisher nicht gekannte Weise ungebunden, zwanglos, frei in Heidelberg fühlte. Ich habe von der revolutionären Stimmung gesprochen, die mich erfüllte und durcheinanderwarf. Wird man es für eine Häufung, Übertreibung und mit der Wahrscheinlichkeit im Widerspruch stehend ansehen, wenn ich hinzufüge, daß ich zu allem übrigen auch noch als ein bis über die Ohren Verliebter durch die alten Gassen wandelte, auf der Neckarbrücke stand, durch die rauschenden Buchenwälder am Königstuhl streifte und nach Neckargemünd, Neckarsteinach hinabstieg? Wer Zweifel an einer solchen Vielheit und Häufung der Stimmungen, der Gefühle hegt, hat seine eigene Jugend vergessen und weiß nicht mehr, wie ihm selbst mit achtzehn Jahren zumute war. Es geht unendlich viel, was sich zu widersprechen scheint und doch zusammengehört wie Eidotter und Eiweiß, in solch eine junge Menschenseele hinein, zumal wenn sie auch noch einen dichterischen Magierstab zu besitzen glaubt.

Wie wenige Wochen war es erst seit jenem unvergeßlichen Besuch im Pfarrhof zu Griebenau her! Eine ganze Welt von Eindrücken schien ja schon zwischen damals und jetzt zu liegen: das Bild des geliebten Mädchens hatte für Stunden, für Tage darin hinabtauchen können. Vergessen war es nicht! Verwunden konnte dieser Schmerz, wie mir schien, niemals werden! Jetzt, wo der erste Ansturm des Ungewohnten, Neuen vorüber war, der Ablauf der Tage nichts überwältigend Unbekanntes mehr auf den Schauplatz führte, wurde die Sehnsucht nach der fernen Geliebten mehr und mehr zum beherrschenden Gefühl, zum Leitmotiv meiner Einsamkeit und vielleicht noch stärker, wenn ich unter Menschen war.

In jene Zeit fiel die Goldene Hochzeit meiner Großeltern in Dirschau. Ich wußte, daß mit der übrigen Verwandtschaft auch mein Onkel mit Adele daran teilnehmen würde, und hoffte bis zum letzten Augenblick, daß von meinen Eltern die Aufforderung kommen werde, mich auf die Bahn zu setzen und ebenfalls zu erscheinen. Ich bangte danach, Adele wieder zu begegnen, sie noch einmal im Arm zu halten, und wäre es auch nur für einen verstohlenen Augenblick gewesen. Aber ach! Kein Brief, kein Telegramm kam, man ließ mich, wo ich war! Ich tobte gegen Gott und die Welt, mein Herz war zerrissen wie nie! Was half es! Wahrscheinlich, so schimpfte ich, habe man sich das Reisegeld sparen wollen! Nachher hörte ich, daß der Großvater es habe schicken wollen, aber die Eltern dagegen gewesen waren, ich sollte mein Studium nicht unterbrechen. Aber vielleicht hatte meine Mutter doch irgendeine Ahnung, wie es um mich und Adele stand, und wollte vorbauen, solange es noch Zeit war. Unnötig genug! Ich wußte ja selbst, daß es aus sein mußte zwischen uns und daß wir uns niemals finden konnten.

So war die tragische Grundstimmung da, die mich zu meinen ersten dichterischen Versuchen trieb. Es geschah, weil es geschehen mußte, kam ganz zwangsläufig, ganz selbstverständlich, daß ich zu Feder und Papier griff und mein Pfarrhoferlebnis aufzuzeichnen versuchte. Ich saß tagelang, schrieb, verwarf, das Herz war zum Zerspringen voll, ich suchte nach Form, nach Wort, nichts gefiel mir, alles war schwach, alltäglich, blieb weit hinter der Wirklichkeit zurück oder übersprang sie, pathetisch oder sentimental ... Ich warf die Blätter fort, knirschend und doch von meinem innern Beruf überzeugt. Noch war alles zu neu! Die Zeit war noch nicht da! Warten! Warten! Laß dir Zeit! So tröstete ich mich selbst und griff nach einem neuen Stoff: Wie mein Bruder Felix starb. Dies, meinte ich, müsse mir nun doch gelingen, es hatte ja Zeit genug gehabt zu reifen. Siehe da! Auch dies mißlang! Wiederum die Form! Die Form! Und das Wort! Das treffende, einmalige Wort, das einprägsam ist wie ein Hammerschlag! Ja, da lag es! Und solange ich das nicht hatte, war alles umsonst und ein Dreck! Ich war verzweifelt und gab es trotzdem nicht auf.

Zu den großen Neuigkeiten, mit denen mich Heidelberg bekanntmachte, gehörte auch die Tatsache, daß ich mich in einem Weinland befand. Zwar wurde von Bürgern und Studenten gewiß ebensoviel Bier wie Wein vertilgt, aber entscheidend war für mich das Bewußtsein, daß man ihn aus offenen Kännchen, nicht feierlich aus Flaschen trank und daß man ihn sozusagen gleich nebenan wachsen sehen konnte. Dies war nun erst richtig Brief und Siegel darauf, daß ich mich in einer südlichen Zone befand. Aber mit der bloßen platonischen Idee des Weins an sich konnte mir natürlich nicht gedient sein. Die Wirklichkeit mußte ihr zu Hilfe kommen. Ich hatte mir daher, kaum daß ich in meiner Studentenbude ein bißchen warm geworden war, ein Fäßchen des landesüblichen und recht bekömmlichen Markgräfler Weins aus einer guten Bezugsquelle kommen lassen und an einem kühlen Plätzchen meiner Bude aufgelegt. Angezapft war schnell. Ich hatte in Marienburg eine gute Schule darin gehabt, wenn es dort auch nur Bier gewesen war. Ich füllte mir jeden Tag ein paar nicht gerade allzugroße Kännchen ab, mit denen ich mir abends meine Einsamkeit vertrieb, und hatte Stunden, wo ich mir in der Tat sehr südlich vorkam.

Das ging nun so, solange es ging. Aber der Heidelberger Mai war heiß und wurde alle Tage noch heißer. Im dritten Stock der Großen Mandelgasse Nummer 16, nahezu unter dem Dach, schmorte es ganz gewaltig. Meinem Markgräfler im offenen Faß wollte das nicht bekommen. Ich sah den Augenblick voraus, wo er sauer werden würde, denn allein, wie ich war, ihm den Rest zu geben, überstieg denn doch meine Kraft. Was tun? Zum Glück war gerade um diese Zeit die Meininger Blase in mein Blickfeld getreten. Konnte es eine schönere Gelegenheit geben, die neue Freundschaft zu besiegeln, als indem ich die ganze Bande zu mir auf die Bude und zu meinem Weinfaß lud?

Der Einfall wurde von meinen neuen Sturmgesellen mit einhelligem Jubel begrüßt und sofort, damit der Wein nur ja keinen weiteren Schaden nehme, zur Ausführung gebracht. Meine drei alten Fräuleins waren nicht besonders überrascht, als ich ihnen die Aktion für den Abend ankündigte und hinzufügte, daß es wohl ein bißchen lebhaft zugehen werde. Sie schienen das schon gewöhnt, es mochte bereits öfter vorgekommen sein. Ich darf ohne Vorbehalt sagen, daß es wirklich ein bißchen lebhaft in jener Nacht bei mir zugegangen ist. Wir brauten uns zuerst eine mächtige Bowle, und als die nach Mitternacht bewältigt war, gingen wir dem Rest des Fasses mit vereinten Kräften zu Leibe und tranken den Wein ungemischt, bis das Faß leer war. Gegen Morgen war das Schlachtfeld unser. Einige von meinen Freunden behaupteten es sogar bis zum Mittag, indem sie gleich bei mir blieben und sich auf meinem Kanapee ausschliefen. Von den Kopfschmerzen dieses nächsten Tages weiß meine Erinnerung mir nichts mehr zu berichten. Ich pflege im allgemeinen nicht daran zu leiden. Ich las in meinen Freistunden viel. Einer meiner Lieblingsdichter war damals Dickens. Ich hatte ihn schon auf der Schule kennengelernt und ihn fast ganz durchgelesen. Copperfield und Bleakhouse hatten mich geradezu betrunken gemacht. Ich besaß viel Sinn für Humor, der sich an dieser unübersehbaren Fülle von komischen, bizarren, grotesken, verzwickten, verfilzten, überspannten, verquerten Gestalten des englischen Biedermeiers reichlich ersättigen konnte. Ein Handbuch der Literaturgeschichte, insbesondere des Dramas, in populärer Fassung, war mir in die Hand gefallen.

Sein Leitfaden brachte mir ganz neue und ungeahnte Ausblicke. Er unterschied von der Klassizität sehr scharf die »Charakteristiker«, wie er sie nannte. Es war das Viergestirn Kleist, Grabbe, Hebbel und Otto Ludwig. Hier trat mir auch Büchners Name zum erstenmal entgegen. Eine eigene Stellung wieder nahm Grillparzer ein. Auch die Nach-Hebbelsche-Dramatik bis auf den damals gegenwärtigen Tag, so Wildenbruch, Wilbrandt und andere, waren bereits in den Kreis der Betrachtung miteinbezogen. Ich lernte viel daraus und nahm mir vor, an der Hand des kundigen Führers sobald wie möglich eine Forschungsreise durch dieses von mir noch unentdeckte Land der modernen Dramatik anzutreten. Mit Kleist fing ich an, Grabbe folgte. Die gab es bei Reklam. Aber Hebbel und Otto Ludwig waren nirgendwo aufzutreiben. Ich sollte sie bald in München kennenlernen. Sprunghaft wie ich war oder wie ein sinnreicher Zufall es mit mir vorhatte, gelangte ich zu Paul Heyse. »Im Paradiese« war das erste, was ich von ihm las. Ein Münchener Roman der Krinolinenzeit. Vielleicht der Münchener Roman jener bunten, belebten, ereignisvollen und schicksalsschwangeren Sechzigerjahre. Das lichte, heitere, sinnenfrohe, gleichsam heidnische Buch schlug mich ganz in seinen Bann. In ihm erstand zum erstenmal ein durch die Dichtung verklärtes Bild jenes Münchens, nach dem ich mich sehnte und in dessen Arme es mich trieb. Mein Entschluß stand fest, koste es, was es wolle, vom nächsten Sommersemester ab nach München zu gehen. Den Winter wollte ich noch in Heidelberg verbringen.

Die nähere und nächste Umgebung von Heidelberg hatte ich mir in vielen Spaziergängen und Ausflügen zu eigen gemacht. Jetzt ging es weiter hinaus in die Lande. Ich hatte mich bereits als tüchtigen, nicht leicht ermüdenden Fußwanderer kennengelernt. Pfingsten war da. Ein herrlicher Spätfrühlingstag. Ich warf mein Ranzel um und machte mich auf den Weg. Neckargemünd, Neckarsteinach, Hirschhorn, Aberbach. Enge Talwände, der vielfach sich krümmende Fluß, steilaufsteigender Laubwald, Burgen und Felsennester auf senkrechter Höhe. Von Eberbach seitwärts ab in die tiefen, verschwiegenen Talgründe des Odenwalds. Bachgeflüster, dunkles Raunen der alten Buchenwipfel. Irgendwo hier herum wurde Siegfried von Hagen erschlagen. Des Abends war ich in Amorbach. Fränkisches Gäßchengewirr, Erker und Giebel. Anderntags mit der Bahn nach Frankfurt. Ich sah es zum erstenmal, war nur bei Nacht durchgefahren. Es war damals noch nicht viel über die Mittelstadt hinaus. In der Altstadt erkannte ich Amorbach und Miltenberg wieder, nur um so vieles größer, gleichsam historischer und mehr vom Schicksal umwittert. Pfingstmontag war's. Auf den Tag fiel Alt-Frankfurts jährliches Volksfest, draußen im Stadtwald. Auch ich pilgerte mit hinaus und trieb mich unter den Tausenden herum, mutterseelenallein. Meine Gedanken waren ganz wo anders, in der Heimat, bei ihr ... Mir war zum Gotterbarmen! ... Wie oft hat mich seit jenem Pfingstmontag 1883 mein Weg wieder nach der lichten, festlichen, vom Genius eines Ewigen geweihten Stadt geführt!

In Karlsruhe besuchte ich meinen Onkel Eugen, den Intendanturassessor. Ich hatte bisher noch kein rechtes Bild von ihm gehabt. Jetzt bekam ich es. Er hatte von den drei Brüdern (mein Vater und der Bromberger Onkel) weitaus das glücklichste Temperament. Sein ganzes Wesen atmete Behaglichkeit und Lebensgenuß, aber auf ganz geräuschlose Weise. Er gefiel mir ausgezeichnet, wir kamen uns gleich sehr nahe. Seine Weinzunge war schon damals in seinem Kreise anerkannt, was für einen Norddeutschen in Jenem Weinlande viel besagen wollte. Er war ein trefflicher Lehrer auf diesem Gebiet, bei dem ich jedesmal gern in die Schule ging. Meine Verbindung mit ihm ist bis zu seinem Tode 1922 die herzlichste und angenehmste geblieben. Karlsruhe selbst kam mir noch klein vor; es gab sich vornehm und sagte mir nicht viel, außer daß es fächerförmig war. Aber mit diesem »Naturspiel« einer fürstlichen Gründerlaune konnte ich schließlich auch nicht viel anfangen. An den Besuch schloß sich eine zehntägige Wanderung durch den Schwarzwald an. Ich durchzog ihn seiner ganzen Länge nach von Baden-Baden bis dorthin, wo er mit dem Wiesen- und Wehratal sich zum Vater Rhein hinabsenkt. Der würzige Duft seiner rauschenden Tannenwälder besänftigte den Tumult meiner zum Zerreißen angespannten Nerven. Seine damals noch ganz einsamen und weltfernen Hochtäler brachten mich zur Sammlung, zur Selbstbesinnung, schenkten mir Frieden, wenn auch nicht auf lange Zeit. Vom Feldberg, von den letzten absteigenden Schwarzwaldhöhen über dem Rhein erblickte ich zum erstenmal weiße Schneehäupter, die Gipfel der Appenzeller, der Glarner und Schwyzer Alpen, und mein Herz schauerte vor der unbegreiflichen Erhabenheit der Welt.

Das Semester war gerade zu Ende, und ich rüstete mich zur Heimreise, als ich die telegraphische Nachricht erhielt, daß meine Mutter, die wieder in Franzensbad zur Kur war, dort schwer erkrankt sei und Gefahr für ihr Leben bestehe. Ich setzte mich in höchster Aufregung sofort in den Zug und fuhr über Würzburg, Bamberg und Hof, mit mehrmaligem Umsteigen und Warten, nach Franzensbad, wo ich am nächsten Morgen nach zwanzigstündiger Fahrt eintraf. Die Zugverbindungen waren damals auf diesen deutschen Querlinien noch recht miserabel. Ich fand meine Mutter in sehr schlechtem Zustand, der auch längere Zeit anhielt. Mein Vater war ebenfalls gekommen. Meine reisefreudige Großmutter kam aus Teplitz herüber, wo sie sich wieder einmal aufhielt. Es war wie ein Familientag in Böhmen, nur leider aus einem traurigen Anlaß. Wie anders war es vor einem Jahr hier gewesen! Mir schien es, als läge eine Ewigkeit dazwischen. Die Gefahr für meine Mutter ging allmählich vorüber; sie mußte sich noch einige Wochen erholen, dann brachte ich sie mit aller gebotenen Vorsicht und Behutsamkeit in die Heimat zurück. Mein Vater hatte der Ernte wegen schon nach ein paar Tagen wieder abreisen müssen. Es waren die ersten Universitätsferien im Elternhause, die ich erlebte. Sie schienen kein Ende nehmen zu wollen. Ich sehnte mich nach Heidelberg. Ich sehnte mich nach Griebenau. Ich sehnte mich... Ich wußte selbst nicht, wonach ich mich sehnte. An einem schwermütigen, stürmischen Herbstnachmittag, im Oktober 1883, gingen Adele und ich in unserm Garten in Güttland nebeneinander her. Sie war mit ihrem Onkel auf einen halben Tag zu Besuch gekommen. Sie wollten am Abend wieder abfahren. Die letzten Astern blühten, die weißen Beeren – wir nannten sie Elisbeeren – hingen im Gesträuch. Der Sturm jagte schwere Wolken über das düstere traurige Land. Wir hatten uns viel zu sagen und sagten uns am Ende nichts. Jahre sollten vergehen, ehe wir uns noch einmal, zum letztenmal, wiedersehen sollten.

Ich fuhr über Koburg nach Heidelberg. Der Besuch galt Freund Schneyer und enttäuschte mich nicht. Ich verlebte ein paar schöne Tage in der Friedsamkeit seines Elternhauses, wo es auch an heiterem Mädchenlachen nicht fehlte. Wir kletterten viel auf der Feste herum (es schien schon mein Schicksal zu sein, mit Burgen zu tun zu haben: Marienburg, Heidelberg, Koburg), vertieften uns in die Vorzeit des Thüringer Stamms, aus deren Schatz mir Freund Schneyer einen gewaltigen Dramenstoff zur Bearbeitung empfahl, und tranken das gute Koburger Bier. Wie wohl tat mir diese milde fränkische Oktobersonne nach der schwermutvollen, hoffnungslosen Spätherbststimmung meiner Heimat, durch deren schwarze Brachfelder die Pflüger jetzt ihre Furchen zogen, mit den Peitschen über die Pferde hinknallend und traurige Lieder singend.

Heidelberger Herbst und Winter. Ich bewahre ihnen eine lebenslange Erinnerung und Dankbarkeit. Vielleicht haben sie mir noch mehr geschenkt als vordem Frühling und Sommer. Frühling und Sommer hatte ich auch in der Heimat gehabt, wenn auch gemessener und weniger verschwenderisch. Aber diese Art von Herbst und Winter kannte ich noch nicht. Der milde Glanz dieser leise vergehenden, eigentlich nur sanft einschlummernden, nicht sterbenden Natur tat meiner sonnendurstigen Seele wohl. Ich schlürfte das matte Sonnengold des Novembers, der Adventzeit, wie der Pilger das Manna in der Wüste. Vielleicht war es ein besonders begnadeter Herbst, obwohl ich mich nachmals eines Dreiundachtzigers nicht entsinne. Ich war glücklich, auf eine mir bis dahin unbekannte Art; glücklich, wie es der Genesende ist. Auch ich war ein Genesender.

Ich wohnte während dieses gesegneten Herbstes und Winters in der Mittelbadgasse, unweit des Aufstiegs zum Schloßberg. Meine Quartiergeber waren wackere und ehrsame Bürgersleute, deren Fürsorge schon mancher Student anvertraut gewesen war. Ich bezweifle nicht, daß sie alle, die mir vorausgingen und die mir folgten, bei den trefflichen Leuten sich ebenso wohl gefühlt haben werden wie ich. Sie hießen Ewald. Die Familie lebt noch jetzt in Heidelberg. Ich habe sie vor nicht allzu langen Jahren besucht. Das Zimmer, in dem ich einst gewohnt hatte, war noch in dem gleichen Zustande erhalten wie dazumal. Als ich es betrat und die alten Möbel wiedersah, kam es mir wieder in seiner ganzen Vertrautheit von einst nahe. Damals, in meinem zweiten Semester, waren mehrere erwachsene oder fast erwachsene Töchter im Hause. Sie traten mir mit der Herzlichkeit und Zwanglosigkeit von echten badischen Mädeln entgegen und zeigten eine ehrliche kameradschaftliche Freundschaft für mich. Die Jüngste hieß Auguste. Ich habe mit ihr Englisch und Französisch und, ich glaube, auch ein bißchen Italienisch getrieben, mit dem ich mich gerade damals befaßte. Ich selbst lernte von ihnen den Heidelberger Dialekt, dessen Tonfall mir nun über die Maßen gefiel.

Wenn man ins Theater wollte, so fuhr man nach Darmstadt oder nach Mannheim. In Heidelberg selbst war ja auch ein Stadttheater, aber es wurde in jener Zeit noch nicht so ganz ernst genommen. Das lag weniger an den künstlerischen Leistungen dieses Theaters, die sich wohl auf einer anständigen mittleren Höhe hielten, als an einem andern Umstand: an seinen studentischen Besuchern. Nach altem Brauch beanspruchte die Studentenschaft eine Art von Mitwirkungsrecht bei den Vorstellungen. Das war ja nicht nur in Heidelberg so. Aus der klassischen Weimarer Zeit wissen wir, daß die Jenaer Studenten jenen Anspruch sogar auf das Weimarer Theater ausdehnten, was verschiedentlich auch den Unmut des damals amtierenden Generalintendanten, Seiner Exzellenz des Herrn Staatsministers und Geheimbde Rats Goethe herausforderte. In den kleineren deutschen Universitätsstädten hatte der Brauch oder Mißbrauch sich durch das ganze Jahrhundert erhalten. So auch in Heidelberg. Corps und Burschenschaften füllten die Logen, vornehmlich die an der Bühne, das andere Studentenpublikum Ränge, Parkett und Parterre. Der Student war sozusagen der Hausherr im Theater. Wenn ihm etwas nicht gefiel, so demonstrierte er; gefiel ihm etwas besonders gut, so demonstrierte er erst recht. Dieses ganze innerlich sonst so zwiespältige studentische Publikum war sich nur in dem einen Punkt einig, daß es ohne Gage mitspielte und dies als ein geheiligtes Recht betrachtete, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Kein Wunder, daß alle diejenigen, die das Theater um des Theaters willen besuchen wollten, vorzogen, dies auswärts zu tun.

In Darmstadt sah ich zum erstenmal den »Fliegenden Holländer« und war bis ins Innerste hingerissen. Die Romantik der Handlung wie der Staffage, der dichterische Text, der stürmische Atem der Musik: alles vereinte sich zu einem Theatererlebnis ohnegleichen. Der Ruhm des Wagnerschen Genius befand sich erst in der Vormittagshöhe seiner Sonnenbahn, ihr Zenit war noch lange nicht erreicht. Das ganze damals im Antritt begriffene junge Geschlecht, soweit es geistigen Interessen huldigte, stand im Zeichen der Wagnerischen musikdramatischen Ideen, ebenso sehr mit leidenschaftlicher Zustimmung wie mit erbitterter Ablehnung. Auch ich wurde in ihren Wirbel gerissen, sollte es bald darauf in München noch so viel mehr werden. Von Darmstadt selbst, der Stadt, hatte ich, als ich in der Dämmerung eines wolkenschweren Spätherbsttages vom Bahnhof nach der Stadt pilgerte, den ganz bestimmten Eindruck, daß außer mir nur noch ein einziger Mensch in der Stadt vorhanden sei, und den erblickte ich in einer der aus der Stadt hinausführenden Querstraßen, wie er sich langsam gegen den Horizont entfernte und also auch er die unendlich vornehme Stadt verließ. Weiter ins Stadtinnere hinein entdeckte ich dann doch, daß ich mich nicht in Pompeji befand.

Einen bei weitem rührigeren und lebendigeren Eindruck machte schon damals Mannheim auf mich, obwohl es ja noch längst nicht seine heutige Größe und Bedeutung erlangt hatte. Auch hier war wieder eine geometrische Urzelle zu bewundern, nämlich die Schachbrettanlage, was sich sogar in der Straßenbezeichnung und besonders in ihr äußerte. Ich fand nicht, daß es die Orientierung besonders erleichterte. Im Hof- und Nationaltheater sah ich die »Räuber«. Der Eindruck war um so gewaltiger, als ich Schillers revolutionären Erstling bis dahin nur im Marienburger Schützenhaus mit den Kräften einer damaligen Wanderschmiere hatte darstellen sehen, nicht schlecht übrigens, sogar mit einem sehr talentvollen Franz. Aber von der Mannheimer Bühne sprach nun doch der ganze Schiller zu mir, das Feuer seiner Rede, der Rausch seiner Visionen. Und wie viel half nicht noch die Weihe des Hauses dazu! Gerade vor einem Jahrhundert war in diesem gleichen ehrwürdigen Bau, war über jene Bretter dort, die ich in Augennähe vor mir erblickte, zum ersten Male das Räuberdrama des jungen Mediziners der Karlschule dahingeschritten; auf den gleichen Holzsitzen, deren einer jetzt mich beherbergte, hatten schon vor hundert Jahren die Menschen gesessen und ihre Herzen vom Sturmschritt des Schicksals erschüttern lassen! Welch eine Atmosphäre von Kunst und Geschichte atmeten doch, so dachte ich mir, die Bewohner dieser begnadeten Stadt, die täglich diesen Tempel der Weihe besuchen konnten!

Zu Weihnachten 1883 führte ich einen langgehegten Plan aus. Ich trat eine Erkundungsreise nach Stuttgart und vor allem nach München an. In Stuttgart, vielmehr in Cannstatt, war einer meiner jungen buchhändlerischen Freunde zu Hause, den ich dort besuchte. Die durch Lage und Klima gleicherweise beglückte Stadt zeigte sich selbst in dieser winterlichen Jahreszeit von ihrer mildesten und sonnigsten Seite. Es schien mir noch wärmer als in Heidelberg zu sein; noch stärker, nicht zuletzt vermöge der ganz fremdartig an mein Ohr klingenden schwäbischen Laute, drang diese süddeutsche Luft auf mich ein. Und welch ein Erdreich der Dichtung, von Schiller und Hölderlin bis zu Uhland und Mörike, den ich hier zuerst nennen hörte, war dieser schwäbische Stamm und dieses schwäbische Land mit seinem sanften Gewoge von Hügeln und Tälern, von Kuppen und Rebengeländen! Es war wie Glockenläuten in meiner Seele, Verse erklangen zutiefst, sie wollten ans Licht und fanden doch ihren Körper, das Wort, nicht: so heißt es, daß die Seelen der Ungeborenen durch den Raum irren. Aber auch dieses körperlose Gewoge war schön, wenn auch mit Schmerzen.

Und dann kam München. Nach der südlichen Luft Stuttgarts rauh, herb, winterlich, ein stählernes Nervenbad. Keine Sonne schien, nasser Schnee lag in den Straßen, zerrann zu Schlamm. Die Menschen gingen mit hochgeschlagenen Mänteln und Kapuzen, schienen sich nicht nur gegen Frost und Nässe, schienen sich auch gegen den Fremdling abzuschließen und ihm ihre unzugänglichste Seite zu zeigen. Ich kannte niemanden. Niemand kannte mich. So war es mir auch an jenem Pfingstmontag in Frankfurt ergangen. Und doch wie anders jetzt! Ein geheimer Schimmer wie von irgend etwas unwirklich Schönem glomm aus den düstern verregneten Straßen zu mir her; ich sah nicht mehr das, was war, ich sah etwas anderes, was hinter den Dingen war und erst ihre wahre Natur. Ich erfuhr wieder einmal, und wieder auf eine neue Weise, das Wunder! Diese Stadt würde es in mein Leben bringen. Ich war entschlossener als je, im Frühling wiederzukommen, und reiste zurück.

Am letzten Tage des Jahres war ich wieder in Heidelberg. Welch eine Fülle von Eindrücken und Erfahrungen, von Erlebnis und Schicksal drängte sich in dieses Jahr Dreiundachtzig! Den Silvesterabend – den ersten außerhalb meines Elternhauses – verlebte ich im Kreise meiner Hausgenossen, der Ewaldschen Familie. Auch Freund Kunz, der fanatische Mediziner, nahm daran teil. Wir hörten ihn viel von Sektionen, Operationen und Exstirpationen reden, sei es des Kehlkopfs, sei es der Bauchhöhle. Aber das tat der Stimmung keinen Abbruch. Wir spülten es mit Wein und Punsch hinunter, lachten, tanzten und sangen, und als mit dem erzenen Ton der Mitternachtsglocken der Mahnruf der Vergänglichkeit erscholl, boten wir ihr mit Gläserklingen Trotz. Was sind Tod und Vergänglichkeit, wenn man achtzehn Jahre alt ist und als Student in Heidelberg Silvester feiert! Vielleicht haben in jener Nacht auch ein paar junge Herzen für ein paar flüchtige Stunden Feuer gefangen ... Als die Sonne des neuen Jahres, eine kleine verstohlene Wintersonne, auf die Kissen spät Erwachender und sich die Augen Reibender blinzelte, war der Traum der Silvesternacht dahin. Das Leben ist groß!

Zu Ende Januar blühten am Abhang des Heiligenberges, unterhalb des Philosophenweges, da und dorten bereits die Veilchen. Der Winter, flüchtiger Gast nur im Neckartal, machte Miene, schon wieder zu scheiden. Ich erinnere mich kaum, während seiner kurzen Visite Schnee gesehen zu haben. Es lenzelte im Tal, an geschützten Berghängen und wohin immer der Atem des linden Südwests strich. Nicht anders sei es hierzulande als am Lago Maggiore, am Comersee, sagten die Kundigen und Gereisten. Ich kannte Italien noch nicht, genoß die weiche, schmeichelnde Luft der Bergstraße, als sei der ganze Süden schon mein. In Weinheim, bei einer befreundeten Familie – einer der jungen Buchhändler gehörte dorthin – war Maskenfest. Der Karneval hatte begonnen. Romane und Erzählungen hatten mir ein Bild von ihm schon in mein nordisches Marienburg getragen. Jetzt wurde Leben, was ich bisher nur im Traum erblickt hatte. Ich verkleidete mich als Rokokokavalier und bin gewiß äußerst preziös anzusehen gewesen. Ich ging wie eine Marionette am Draht und schien geradewegs vom Hofe Ludwigs XV. herzukommen, nachdem ich soeben eine kleine Unterhaltung mit Voltaire gehabt. Im Feuer der Ereignisse schmolzen allmählich die Drähte, ich benahm mich wie andere Menschen auch, und schließlich wurde es noch ein recht hübsches Familienkränzchen mit karnevalistischer Untermalung.

Faschingsdienstag in Heidelberg. Große Maskenzüge der Burschenschaften und Corps, zu Wagen, Berittene oder auch gemeines Fußvolk, wogten durch die Straßen der Stadt, trieben unter ansteigendem und abebbendem Jubel vorüber. Ungeheurer Tumult erfüllte Bier- und Weinwirtschaften, alle Läden waren heruntergelassen, künstliches Licht gehörte zur wahren tosenden Karnevalsstimmung. Ich schwamm im Strom mit den übrigen mit, schwärmte im Schwarm wie die andern, und war doch todtraurig, da es in wenigen Tagen ans Scheiden gehen sollte. Am 5. März 1884 verließ ich die wunderschöne Stadt. An der Bergstraße blühten die Mandelbäume, aber der Schnee fiel dicht und dichter und deckte den ganzen Frühling wieder zu. Es war noch einmal Winter geworden. War es ein Gleichnis für mein kommendes Leben? Die Zukunft setzte ihr geheimnisvollstes Gesicht auf und antwortete mir nicht, soviel ich auch bei ihr anklopfte.


 << zurück weiter >>