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3.

In der Morgenfrühe des 14. Oktober 1875 trat ich von meinem elterlichen Hause in Güttland die Fahrt nach Marienburg an. Tags zuvor hatte meine Mutter ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Ich hatte ihn mit ziemlich bangen Gefühlen mitfeiern helfen. Ich empfand deutlich genug, daß die Tage meiner eigentlichen Kindheit vorüber waren. Schulzwang im üblichen Sinne war mir unter der milden Hand meines Kandidaten bis dahin unbekannt geblieben. Ich sah voraus, daß in der Quinta des Gymnasiums, für die ich bei der kurz vorhergegangenen Prüfung reif befunden worden war, ein anderer und schärferer Wind wehen werde.

So nicht gerade in rosigster Stimmung, von der frostigen Kühle des noch ganz dunklen Herbstmorgens bis ins Mark hinein durchschauert, bestieg ich mit meiner Mutter den altväterlichen Verdeckwagen, der uns nach Dirschau, der eine Meile entfernten großen Bahnstation, brachte. Von hier ging es über die Weichselbrücke, deren mächtiges Gitterwerk ich täglich von Güttland aus am südlichen Horizont sich hatte abzeichnen sehen, mit dem Frühzug nach Marienburg. Bald, wie die Dämmerung sich lichtete, zeigten sich dem vorauseilenden Blicke des Knaben die Türme und Zinnen des Schlosses am rotgefärbten Morgenhimmel. Der Zug rasselte über die Nogatbrücke, zwischen Bastionen, Schanzen, Mauerwerk, Wassergräben dahin. Wir waren am Ziel.

Marienburg vor mehr als einem halben Jahrhundert. Ein Landstädtchen von etwa zehntausend Einwohnern. Kaum die Hälfte von heute. Eine Kleinstadt des Ostens mit typisch kleinstädtischen, kleinbürgerlichen Verhältnissen, wie sie jetzt sogar in viel winzigeren Plätzen kaum mehr sich vorfinden. Selbst der Bahnhof, ein schlicht gotisierender Bau aus der Frühzeit der Ostbahn, ließ noch nichts von der späteren Bedeutung Marienburgs als Verkehrsknotenpunkt des Ostens ahnen. Es wurde hierin von dem rußigen und ruppigen Dirschau mit seinem schon damals sehr starken Verkehr und dem imposanten gotischen Bahngebäude weit übertroffen. Zwischen den beiden Nachbarstädten herrschte eine ganz gewaltige, manchmal recht ergötzliche Eifersucht und Konkurrenz, wie sie unter ähnlichen Verhältnissen allenthalben in deutschen Landen zu beobachten ist und also wohl zu unseren Nationaltugenden gehören wird. Propter invidiam: wie es bei Tacitus heißt. Aus Neid! Weil wir es uns gegenseitig nicht gönnen! Auch Dirschau und Marienburg gönnten es sich dazumal nicht und würden es sich gewiß auch heute noch nicht gönnen, wenn nicht inzwischen das Versailler Diktat sie auseinandergerissen und in zwei getrennte Lager geschleudert hätte. Dirschau wurde für zwanzig Jahre polnisch und bekam den schönen Namen Tczew. Marienburg blieb dank seines Abstimmungssieges 1920 deutsch. Nichts kennzeichnet die Umwandlung der Dinge schärfer, als daß auf deutscher Seite das einst so stille Marienburg dadurch eine Verkehrszentrale des Ostens wurde und in die Rolle von Dirschau eintrat, während diese einst so rührige Stadt unter polnischer Herrschaft vollständig verödete und bis zur jetzt endlich erfolgten Rückgliederung nur noch der Schatten jenes vormaligen Dirschau zu sein schien.

Aber ich spreche ja von der Zeit vor bald siebzig Jahren, wo man in Mitteleuropa noch nicht alle paar Meilen über fremde Grenzsteine und Schlagbäume stolperte und die beiden an Weichsel und Nogat sich gegenüberliegenden Brückenköpfe, Werdermetropolen, Kreisstädte einander noch mit so ehrlichem Haß bedachten, wie ihn eben nur deutsche Nachbarn aufzubringen vermögen. Dirschau schmutzig, rußig, betriebsam, unhistorisch, trotz altersgrauer Vergangenheit, werdende Fabrikstadt im kleinen. Marienburg gepflegt, geruhsam, beharrend, von einer verschlafenen Geschichtlichkeit, gleichsam historisches Negligé, mit der Nachtmütze im Hintergrunde, ehrsame Kleinbürger- und Schulstadt. Konnte man sich größere Gegensätze denken? Und sind sie nicht charakteristisch für eine soeben sich herausbildende Schichtung des damaligen neuen Deutschlands? Jenes Deutschlands der zwei letzten Menschenalter, das wir Älteren haben werden, aufsteigen und fast schon wieder versinken sehen?

Da meine Großeltern mütterlicherseits als Rentnersleute in Dirschau lebten, so war ich während meiner Kindheit oft dorthin gekommen. Seine hügeligen, holperigen Gassen, seine pfeifenden und dampfenden Rangiermaschinen, seine rauchgeschwärzten Lokomotivschuppen, die Zuckerfabriken hüben und drüben an der Weichsel, auch ein gewisser polnischer Einschlag, der zu spüren war, ohne daß er sich dazumal vordrängte ... alles war mir von jeher vertraut und selbstverständlich.

Um so fremder mutete mich die Stadt an, in der ich fortan auf lange Zeit leben sollte. Schon am Bahnhof vermißte ich das rege Leben und Treiben, an das ich von Dirschau her gewöhnt war. Erst ein paar Jahre nach jenem ungemütlichen Herbstmorgen, der meinen Einzug in die Mauern von Marienburg sah, wurde die Eisenbahnlinie Marienburg-Warschau eröffnet, was mir dann doch zu imponieren begann. Es bedeutete schon etwas für meine Knabenphantasie, Züge ein- und ausfahren, Menschen kommen und gehen zu sehen, die vor acht Stunden noch in Warschau gewesen waren oder in acht Stunden dort sein würden.

Meine Mutter brachte mich in dem einzigen Hotelwagen, der am Bahnhof gewartet hatte, nach der für mich bestimmten Pension. Der Weg dorthin, auf dessen holprigem Steinpflaster wir gründlich durchgeschüttelt wurden, erschien mir endlos und mühselig; mühselig und endlos auch die Schulzeit, der ich entgegenfuhr. Der Obhut meiner zukünftigen Pensionsmutter, Frau Dormann, war auch schon meine Mutter, an deren Seite ich bei ihr eintrat, während ihrer eigenen Schulzeit anvertraut gewesen. Das lag nur etwa fünfzehn Jahre zurück, um 1860, aber mir kam es vor, als sei es im achtzehnten Jahrhundert gewesen. Ich fand meine dreißigjährige Mutter schon recht bejahrt und die Pensionsmama natürlich steinalt.

Sie war die Witwe eines schon vor Jahren verstorbenen Privatgelehrten, der sich mit Literaturgeschichte und Heimatforschung befaßt und eine Bibliothek von ansehnlichem Umfang hinterlassen hatte. Nach den Beobachtungen, die ich im Laufe der Zeit machte, war ursprünglich ein gewisser Wohlstand vorhanden gewesen, der Herrn Dormann eine unabhängige Forscherexistenz gesichert hatte. Als die Umstände sich verschlechterten, hatte Frau Dormann zu dem in der Schulstadt Marienburg sehr naheliegenden Auskunftsmittel gegriffen, ein Pensionat für Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums und der Höheren Töchterschule zu errichten, um ihrem recht unpraktisch veranlagten Manne die sorgenlose Fortführung seiner Studien zu ermöglichen.

Von den beiden Töchtern war die ältere, Valerie, eine Jugendfreundin meiner Mutter und etwa gleichaltrig mit ihr, ein schönes, dazumal nicht mehr ganz junges Mädchen, das das Lehrerinnenexamen gemacht hatte und eine Reihe von Jahren als Erzieherin in vornehmen adeligen Häusern, meist in Kongreßpolen und in Galizien, tätig gewesen war. Von ihren wechselvollen, manchmal ans Abenteuerliche streifenden Erlebnissen und Schicksalen war in meinem Elternhause viel die Rede gewesen; Valerie Dormann hatte mit meiner Mutter in dauerndem Briefwechsel gestanden. Alles, was einem allein auf sich angewiesenen jungen schönen Geschöpf in einem polnischen Grafenschloß begegnen und seine Tugend bedrohen kann, war auf sie eingedrungen. Sie hatte, wie aus ihren Briefen hervorging, alle Anfechtungen siegreich bestanden, war aber dabei leider unvermählt geblieben, obwohl es doch auch an ernstgemeinten Anträgen hochstehender Freier nicht gefehlt hatte. Ein romantischer Schimmer umwob für mich Valerie Dormann oder Tante Wally, so nannte ich sie von ihren Besuchen her, die sie meiner Mutter in Güttland abzustatten pflegte, wenn sie aus Polen in die Heimat kam.

Ihre jüngere Schwester Betty, ein noch in den Zwanzigern stehendes, etwas nüchternes und phlegmatisches, strohblondes Mädchen, ging der Mutter in der Führung des Pensionats tüchtig zur Hand, konnte es im übrigen aber mit Tante Wally nicht aufnehmen. Sie zeigte auch nach dieser Richtung hin gar keinen Ehrgeiz. Ganz anders als ihre durch die Welt irrende Schwester, war sie nur darauf bedacht, eine gute Hausfrau und Mutter zu werden, wofür sie offenbar schon frühzeitig die geeigneten Anstalten getroffen hatte. Sie war, als ich zu Frau Dormann in Pension kam, bereits seit Jahren mit einem jungen Predigtamtskandidaten verlobt, der einst als Gymnasiast bei ihrer Mutter in Pension gewesen war. Da sie selbst wie ihre Familie katholisch, ihr theologischer Bräutigam natürlich evangelisch war, so ergab dies in jener Zeit des heftigen konfessionellen Haders so manchen Konfliktstoff im Hause. Aber das blonde phlegmatische Mädchen ließ sich nicht beirren. Es wußte ganz genau, was es wollte und was es an seinem Predigtamtskandidaten hatte, und mir will fast scheinen, als habe ihre Mutter ihr im stillen recht gegeben, trotz aller Lippenbedenken, die sie dagegen vorbrachte.

Das Haus, in dem ich fortan leben sollte, lag unter den Hohen Lauben, ziemlich nahe am Marientor. Zu ebener Erde befand sich ein großes Kolonialwarengeschäft, dessen Inhaber zugleich der Besitzer des Hauses war. Eines der obern Stockwerke nahm die Dormannsche Pension ein. Diese Marienburger Laubenhäuser waren fast durchweg Giebelhäuser mit verhältnismäßig schmalen Fronten, dafür um so mehr in die Tiefe gehend. Die Erdgeschosse, vornehmlich zu Kaufläden, Wirtschaften, Konditoreien verwendet, sprangen um mehrere Meter von der Straßenfront zurück und ließen einen fortlaufenden Laubengang frei, der von den obern Stockwerken überdacht und gegen die Straße hin von wuchtigen Strebepfeilern getragen wurde. Es ist dieselbe Bauart, die man – entsprechend abgewandelt – in Bern, in Bozen, in Bologna und Venedig findet. Die Deutschordensherren, deren Ursprünge ja ebenso nach dem Morgenland wie nach Italien zurückführten – das Ordenshaupthaus war zuerst in Akkon, dann bis 1309 in Venedig gewesen –, hatten den Laubenstil wie so vieles andere aus dem Welschland hierher auf den Kolonialboden des Weichselgaus verpflanzt und dadurch nicht nur Schutz vor den nordischen Wetterunbilden geschaffen, sondern auch – in einem dem deutschen Wesen nun einmal eingeborenen Drang – die Erinnerung an ihre mit südlicheren Zonen verknüpfte Frühzeit bei sich und den Nachkommenden wachzuhalten gesucht.

Marienburg gemahnt mit seinen Hohen und Niedern Lauben, die den Marktplatz von der Schloßfreiheit bis zum Marientor einfassen, in der Tat aufs lebhafteste an jene unter einem glücklichern Himmel gelegenen Städte. Wer wie ich aus Marienburg kommend, den Süden erst später kennengelernt hat, der fühlt unter den Laubengängen von Bern oder Bozen oder Bologna überall die Erinnerung an die nordische Ordenshauptstadt in sich aufsteigen: wie umgekehrt angesichts der Marienburger Lauben einst manchen alten Ordenskämpen die Sehnsucht nach seiner hitzigen Jugend im Welschland befallen haben mag.

Das eigentliche geschichtliche Wahrzeichen der altersgrauen Stadt an der Nogat, die der Schauplatz meiner Gymnasialzeit werden sollte, war und ist natürlich die Marienburg selbst – das Schloß, wie man es jetzt kurzweg nennt, im Mittelalter das Haupthaus des Ordensstaates durch eineinhalb Jahrhunderte. Anders das Antlitz der Marienburg, wie ich sie noch in meiner Schulzeit sah, ehe die Wiederherstellung nach den alten Plänen stattgefunden hatte. Anders das heutige Bild des Schlosses, das aus jahrhundertelanger Verunstaltung und Verwüstung wieder zu seiner ursprünglichen Linienreinheit und Formenschönheit erweckt worden ist. (Man merke sich die Namen der beiden großen Schloßbaumeister Steinbrecht und Schmidt.)

Auf dem rechten, den Fluß steil überhöhenden Nogatufer steht der langgestreckte, reichgegliederte Bau, dessen Türme und Mauerkronen weit über die Lande ragen. Im Mittelpunkt der ganzen Anlage springt, alles beherrschend, die stolze schlanke Pfeilerburg des Hochmeisterpalastes gegen den unten dahinziehenden gelben Strom vor. Hier residierte zur Zeit der Hochblüte des Ordens, um 1400, der Hochmeister, dessen Stellung über die eines geistlichen Ordenshauptes weit emporgewachsen war und ebenbürtig sich in den Kreis der großen deutschen Reichsfürsten eingefügt hatte. Stromabwärts schließt sich an dieses architektonische Zentrum das Mittelschloß, wo sich der Kapitelsaal und der eigentliche Repräsentationsraum des Ordens, Meisters Großer Remter, befinden; weiterhin das Niederschloß, die Vorburg und die Außenbollwerke.

Stromaufwärts setzt sich die gewaltige Anlage mit ihren Höfen, Gräben, Gärtchen, Zugbrücken, Bastionen zum Hochschloß fort, in dem der Gesamtbau zu seinem zweiten Gipfelpunkt ansteigt. Hier war es, wo die große Masse der Ordensbrüder ihre Schlafkammern hatte. Hier war die Konventsküche; hier liegt die Annenkapelle mit den Grüften der Hochmeister; hier auch die Schloßkirche von Sankt Marien mit ihrem gotischen Kreuzgewölbe und dem berühmten Madonnenbild in der äußeren Chornische, auf welches bei der Belagerung 1410 die Polen ihre Steinkugeln abfeuerten. Den eigentlichen Pulsschlag des täglichen Ordenslebens wird man sich in diesen Kammern, Nischen, Kreuzgängen, Gewölben vorzustellen haben: wie in Kriegszeiten, wenn die unabsehbaren Scharen des polnischen Erbfeindes sich aus ihren Wäldern und Sümpfen heranwälzten, in diesen Laufgängen, hinter diesen Zinnen und Schießscharten der Heerbann der Ordensbrüder mit ihren Gefolgsmannen und mit den Haufen der bewaffneten Stadtbürger sich zu Verteidigung und Angriff zusammenballte. Man wird bei dieser Schilderung sogleich den Unterschied zwischen der Marienburg und den rheinischen oder bayerischen Burgen bemerken. Süd- und Westdeutschland besitzen ja einen großen Burgenreichtum. Über jedem Waldtal, von jeder Anhöhe graut altes Gemäuer und kündet den Nachgeborenen, daß hier in wetterharten Jahrhunderten der Wille von einzelnen seine rauhe Faust einer Gesamtheit entgegenstemmte. Aber eben hierin liegt der Gegensatz zu jener ragenden landbeherrschenden Burg im Osten, von der ich hier berichte. Alle diese kleinen trotzigen stachligen Felsennester im Süden und in der Mitte unseres Vaterlandes, um die heute der Schimmer der Verklärung webt, sie erzählen im Grunde nur von der Vereinzelung, von der Zersplitterung, von dem bis zur Selbstzerfleischung getriebenen Individualismus, jenen Erbübeln, die unser Volk in den zweitausend Jahren seiner Geschichte immer wieder dem Untergang nahegebracht haben.

Selbst das Heidelberger Schloß, das ja in seinen Größenverhältnissen der Marienburg am nächsten kommt, stellt doch nur die höchste Macht- und Prachtentfaltung einer klein- oder mitteldynastischen Idee dar, der es schließlich auf weiter nichts als auf Repräsentation ankam; wobei von einer Vergleichung des Heidelberger Schlosses und der Marienburg in künstlerischer Hinsicht ganz abgesehen sei. Nur die politischen und kulturellen Ideen, die den beiden größten Burgenbauten Deutschlands zugrunde liegen und sie beseelen, seien hier in Vergleich miteinander gesetzt. Keiner, der tiefer in den Sinn des Entwicklungsverlaufes unserer Geschichte eingedrungen ist, wird sich da der Einsicht verschließen können, daß das Deutschordenshaupthaus am Nogatstrom im Osten eine höhere historische Idee, einen bedeutsameren und zweckmäßigeren Typus verkörpert als das efeuumsponnene, sagenverklärte, trinkfreudige Residenzschloß der lebenslustigen Kurfürsten und Pfalzgrafen bey Rheyn. Denn das, was sich im Ordensstaat, wie in seinem Haupthaus, der Marienburg, bereits im Keim ankündigt – auch Treitschke hat darauf hingewiesen –, ist nicht mehr und nicht weniger als die Gründung der brandenburgisch-preußischen Grenzwacht gegen den slawischen Osten und damit schon unser heutiges Reich selbst.

Man wird verstehen, was die eben erwähnte Gegenüberstellung besagen will, die noch bis heutigentags im Strom der deutschen Geschichte wiederzuerkennen ist, wie die Wasser zweier entgegengesetzten, ineinander mündenden Flüsse, soviel auch der Zeitensturm schon zusammengeschüttelt und vermengt hat.

Dem Willen zum Einzelmenschentum, zum Einzelglück, deren feinster, erlesenster Extrakt Kunst, Wissenschaft, Dichtung, Bildung ist, steht der Wille zur Allgemeinheit, zur Zusammenfassung, zur Aufopferung an das Ganze, zur politischen Macht und zum Staat gegenüber, die doch – wenigstens nach ihrer Auffassung – erst die Voraussetzung für ein Erblühen von Bildung und Kunst schaffen können. Der deutsche Individualismus (oder Idealismus?) mit allen seinen schönen und schlimmen Nachwirkungen hat seine tiefsten Wurzeln in der Geschichte des deutschen Westens und Südens, dessen Boden noch gedüngt ist mit den Trümmerresten des römischen Weltreichs, mit den Kulturkeimen der untergehenden Antike. Umgekehrt wurzelt das Staats- und staatenbildende Prinzip, die Idee der Konzentration, der Zusammenballung, der politischen Machtspannung und Machtentladung vornehmlich im deutschen Osten. Es ist von hier zu einem Schirmdach ganz Deutschlands, auch der deutschen Bildung und Kultur, erwachsen.

Ich bin weit abgekommen vom Wege meines Jugendberichts. Und doch scheint es nur so. Denn meinem schon früh auf das Wesen der geschichtlichen Zusammenhänge gerichteten Erkenntnisdrang mußte natürlich die ununterbrochene Berührung mit den Dingen der Vorzeit, der tägliche Blick in das Antlitz der Vergangenheit, das stete Einatmen der historischen Atmosphäre zum fruchtbringenden Erlebnis für alle Zukunft werden. Daß dies aber gerade in der altersgrauen Stadt an der Nogat, im Schatten der sturmumbrausten Marienburg, geschehen mußte, wo die Wiege nicht nur des Ordensstaates, nicht nur des nachmaligen Preußens, sondern auch des heutigen Deutschlands stand (vielleicht gibt es mehrere Wiegen!), das ist mir stets als mehr denn Zufall – es ist mir als eine sinnreiche und bestimmende Fügung erschienen. Sie hat mich zu einem guten Preußen und zu einem noch besseren Deutschen werden lassen.

In jenen fernen Tagen vor mehr als einem halben Jahrhundert, von denen ich hier erzähle, war das Bild des Ordensschlosses – ich deutete es schon an – recht verschieden von seiner heutigen, der Urform wieder angenäherten Linienführung, die ich vorhin in großen Zügen umrissen habe. Nur das Mittelschloß scheint mir noch so ziemlich dem Bilde von 1875 zu gleichen: der Große und der Kleine Remter mit den anstoßenden Räumlichkeiten, deren Wiederherstellung bereits in den ersten Restaurationsabschnitt, jetzt vor etwa hundert Jahren, gefallen war.

Damals war eine Welle der Begeisterung für das wiedergewonnene Wahrzeichen einstiger deutscher Herrlichkeit im Osten durch alle deutschen Lande gegangen. Max von Schenkendorf, Eichendorff und viele Kleinere hatten die Marienburg in Liedern besungen, Hauff seine »Letzten Ritter von Marienburg« geschrieben, Oberpräsident von Schön, der große Erneuerer von Ost- und Westpreußen, hatte den schwungvollen Worten aus Dichtermund seinen tatkräftigen Arm geliehen, königliche Gunst hatte ein übriges getan, die gotisierende Richtung des Zeitalters – heute erkennen wir ihre Flachheit, Nüchternheit, Kleinbürgerlichkeit – hatte sich des willkommenen Vorwurfs bemächtigt, die Wiederherstellung des Ordenskleinods zu einem ihrer Programmpunkte erhoben ... So war ein erster Anlauf genommen, der das Schlimmste verhütete, wertvolle Teile des Schlosses auf eine freilich dem Zeitgeist gemäße Art wieder instandsetzte, der drohenden Vernichtung wenigstens im Kernpunkt des Baues halt gebot.

Alles übrige, zumal das Vorschloß und Teile des Hochschlosses, bot noch ein Bild der Verwüstung, des Verfalls: Schuppen, Speicher, Magazine, kaum irgendwo noch eine Spur ehemaliger Verwendung und Bedeutung ... Und wuchernder Efeu als Sinnbild der Vergänglichkeit um Tore und Türme und Zinnen – allüberall. Sinnbild das Ganze auch für das deutsche Schicksal, dem es eingeboren zu sein scheint, stets nur Fragment zu bleiben, nur Atem genug für den ersten Anlauf zu besitzen. War nicht auch hier wieder nur ein Anlauf geglückt? War nicht auch diese Schloßrestaurierung, das Schoßkind der deutschen Spätromantik, von einem nachfolgenden Geschlecht, das Wichtigeres zu tun zu haben glaubte (vielleicht mit Recht), liegen gelassen worden? Fragment, Anlauf, Skizze ... Wie der Urfaust! Wie alles Deutsche!

Nun ja! So ließ es sich dazumal an, vor mehr als fünfzig Jahren, als ich die Marienburg zum erstenmal sah. Inzwischen ist freilich alles anders gekommen. In den seither verflossenen zwei Menschenaltern ist das Werk, das damals noch bestimmt schien, Bruchstück zu bleiben, wieder aufgenommen, weitergeführt und bis auf noch ausstehende Einzelheiten vollendet worden. Sollte die Schlußfolgerung auf das deutsche Schicksal und die deutsche Seele irrig gewesen sein? Oder dürfen wir auch dieser neuen Wendung sinnbildliche Bedeutung beimessen?

Ich erwähnte schon, daß Marienburg damals in erster Linie Schulstadt war. Es war dies sogar in so hohem Maße, daß alles andere davor zurücktrat. Gymnasium, Töchterschule, Landwirtschaftsschule, Bürgerschule, Lehrerseminar, Taubstummenanstalt zogen insgesamt eine große Anzahl von Schülern sowie die dazugehörige Lehrerschaft an. Die Luft der Stadt war gleichsam gesättigt mit »Schule« und ihre Bürger lebten davon. Fast jede Familie nahm Schüler und Schülerinnen, die vom Lande stammten, als Pensionäre auf. Marienburg besaß ein sehr nahrhaftes Hinterland, das sogenannte Große oder Marienburger und das Elbinger Werder, deren reiche Bauernhöfe fast ihr gesamtes Jungvolk nach Marienburg zur Schule schickten. Bei den damaligen Wege- und Verkehrsverhältnissen war es unmöglich, daß die Kinder etwa nur den Unterricht in der Stadt genossen und nach der Schule wieder heimkehrten.

So hatte sich, neben den für Einzelpensionen eingerichteten Familien, eine Menge von Berufs- oder Erwerbspensionaten aufgetan, die ihre Stammkundschaft in den Niederungsdörfern besaßen und ganze Generationen von Jungen und Mädchen in den altersgrauen dämmerigen Laubenhäusern hatten kommen und wieder gehen sehen. Sie vererbten sich von der Mutter auf die Tochter – es kamen ja nach der Natur der Sache vornehmlich weibliche Inhaber in Frage – und jede hatte ihre eigene Note, teils als »streng«, teils als nachsichtig, auch nach der Güte der Beköstigung oder nach dem Kostenpunkt, die man in der Öffentlichkeit kannte und wonach die ländlichen Eltern ihre Auswahl trafen. Eine Eigentümlichkeit nicht nur von Marienburg, sondern damals wohl von allen diesen Schulstädten unseres Ostens war es, daß die meisten Pensionate Jungen und Mädchen zusammen aufnahmen. Es konnte dabei nicht ausbleiben, daß beide Gruppen sich häufig genug in der Wohnung begegneten, zumal da auch meistens gemeinsam gegessen wurde.

Auch die Dormannsche Pension war von der eben geschilderten Art. Wir waren – soweit ich es in Erinnerung habe – etwa acht Jungen und sieben Mädchen. Die meisten meiner Mitpensionäre kamen aus der näheren oder ferneren Umgebung der Stadt. Marienburg nach Süden benachbart ist der Kreis Stuhm, der zur Höhe gehört (im Gegensatz zu den erwähnten Niederungsgebieten auf der Nordseite) und einen polnischen Bevölkerungsanteil hat. Von einem oder mehreren dieser polnischen Güter im Kreise Stuhm waren Töchterschülerinnen in der Dormannschen Pension. Zwei meiner Mitpensionäre stammten von der Elbinger Höhe, die mit ihren kleineren Bauernhöfen und ihrer rein deutschen Bevölkerung sich bereits dem ostpreußischen Charakter annäherte. Ich selbst war aus der Danziger Niederung, also von »jener Seite« der Weichsel her, und wirkte schon dadurch nicht nur in der Pension, sondern auch im Gymnasium selbst als eine Art von Ausnahmeerscheinung, da der Weichselstrom doch eine scharfe Grenzscheide zwischen seinem westlichen und seinem östlichen Ufer bildete. Wir hatten im Gymnasium und in den anderen Marienburger Schulen nur sehr wenige, die wie ich westlich der Weichsel geboren waren. Marienburg war schon damals das Einfallstor nach Ostpreußen, also zum eigentlichen Osten, und trug viel erkennbarer den Stempel dieses Geistes, als das westlich der Weichsel gelegene, seebefahrene und weltläufige Danzig. Ich erwähne diese Abstufungen und Gegensätze, auch innerhalb unserer ostmärkischen Welt, weil sie für meine Entwicklung von Bedeutung gewesen sind, indem sie mir schon früh einen gewissen freieren Überblick ermöglichten und meinem Geist die Scheuklappen provinzieller Enge fernhielten.

Es war also eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft oder, wie man richtiger sagen sollte, Horde von Knaben und Mädchen in der Dormannschen Pension. (Heute nennt man das ja Schülerheim, aber da das Wort damals noch kein Mensch kannte, so erscheint es mir in Verbindung mit jener ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Vergangenheit als stilunrein und ich bleibe bei der in diesem Zusammenhang mir nun einmal geläufigeren Bezeichnung Pension.)

Ich erwähnte schon, daß es in Marienburg auch eine Landwirtschaftsschule gab. Sie war erst kurz vor meiner Zeit begründet worden und hatte, dank dem rein agrarischen Charakter des gesamten Marienburger Gebietes, sofort großen Zuspruch gefunden. Sie erteilte die Berechtigung zum Einjährigen und bot außer ihrem fachlichen Lehrstoff gerade soviel an allgemeinem Wissen, wie die große Mehrzahl der Landwirtssöhne eben noch für ihr späteres Leben brauchte. Daher die schnelle Beliebtheit, zu der diese Schule es brachte. Auch in der Dormannschen Pension war ich längere Zeit der einzige Gymnasiast, alle meine Mitinsassen waren Landwirtschaftsschüler.

Da zwischen den beiden Lehranstalten eine sehr fühlbare Eifersucht, wenn nicht Feindschaft herrschte, so hatte ich als einziger Gymnasiast der Pension gegenüber der erdrückenden Mehrheit der der anderen Fahne Folgenden keinen leichten Stand. Jede Partei sah mit großartiger Geringschätzung auf die Gegenseite hinab. Wir Gymnasiasten verachteten die Landwirtschaftsschüler, weil sie in unseren Augen so etwas wie Analphabeten waren, die es höchstens zum Einjährigen bringen konnten. Die meisten auch dies nur mit Mühe und Not. Wir nannten sie voll Hohn und Spott Ackerbauschüler, was bei der Gegenpartei als Tusch galt und den sofortigen Ausbruch von kriegerischen Feindseligkeiten zur Folge zu haben pflegte, da die Lehranstalt offiziell die Bezeichnung einer Höheren Landwirtschaftsschule trug. Auf dieser Seite revanchierte man sich, indem man von uns Gymnasiasten als von »armen Prachern« sprach, was gleichbedeutend mit armen Schluckern war. Dies bezog sich darauf, daß ohne Zweifel der überwiegende Teil von uns aus weniger bemittelten Häusern, meist aus Beamten- oder Bürgerfamilien herkam, demzufolge auch vornehmlich städtischer Abkunft war, während jene Agrariersprößlinge eben das ländliche Element verkörperten, sogar recht handgreiflich verkörperten, und außerdem in der damaligen Blütezeit der Landwirtschaft sich recht praller väterlicher Geldbeutel erfreuten.

Es waren also in unserer engen Marienburger Welt schon alle die schönen Gegensätze im Keim und in der Anlage vorhanden, die unser späteres Leben erschüttern und zerklüften sollten: Stadt und Land, Bürgertum und Bauerntum, Demokratie und Konservativismus, Entwurzelung und Seßhaftigkeit, Geistesproletariat und Kapitalismus in der besonderen Spielart des Großbauerntums. So komisch diese Schülerfeindschaften einen erwachsenen Beobachter auch anmuten mochten: es lag dem allen doch schon ein tieferer und ganz ernstzunehmender Sinn zugrunde. Wir Jungen fühlten das wahrscheinlich auch irgendwo im Unbewußten und spielten unsere Rollen gegeneinander mit heiligem Eifer bis zur letzten Erfüllung.

Worin anders konnte diese bestehen als im Kampf? Mann gegen Mann oder Schar gegen Schar, Klasse gegen Klasse, womöglich Schule gegen Schule? Natürlich wurden diese Klassen- und Massenkämpfe von den »höheren Mächten«, von der beiderseitigen Lehrerschaft, die sich übrigens auch recht fremd gegenüberstand, nach Möglichkeit unterbunden; die beiden Schulen lagen auch räumlich ziemlich weit auseinander (vielleicht in weiser Voraussicht). Es lief also doch immer wieder auf den Einzelkampf hinaus, sagen wir auf die Art, wie der einzelne sich gegenüber dem Erbfeind am besten zu behaupten wußte, sei es bei zufälligen Begegnungen, sei es im ständigen Zusammenleben mit den Widersachern aus dem andern Lager, wie dies ja auf mich zutraf.

Ohne Zweifel! Ich befand mich in keiner sehr beneidenswerten Lage. Ich war der einzige Gymnasiast der Pension gegenüber einer zum äußersten entschlossenen Übermacht, noch dazu weitaus der Jüngste von uns achten, auch körperlich keinem von ihnen gewachsen. Dazu kam noch ein innerer Zwiespalt für mich selbst, indem doch auch ich ein Landwirtssohn war, im Grunde also die eigene Partei zu bekämpfen hatte oder von ihr bekämpft wurde. Dies war gar kein leicht zu nehmender Konflikt für meine schon sehr wache Knabenseele, denn das Bewußtsein, richtiger noch das Erfülltsein von meiner ländlichen und bäuerlichen Abkunft war schon damals sehr stark in mir entwickelt und ist es, allen städtischen Einflüssen zum Trotz, bis zum heutigen Tage geblieben. Gerade von hier kam denn auch die Lösung des Knotens. Denn als meine anfangs recht widerhaarigen Pensionsgenossen sich allmählich überzeugten, daß auch ich schließlich ein richtiger Landjunge war und kein Stadtbengel wie die meisten Gymnasiasten (es gab natürlich auch unter ihnen Landjungen genug), da erweichten sich ihre feindlichen Gemüter und wir wurden am Ende noch gute Kameraden.

Cherchez la femme! Zum erstenmal begann jetzt das andere Geschlecht über die Schwelle meines Bewußtseins zu treten oder mir als solches zum Bewußtsein zu kommen. Ich sagte schon, daß wir auch eine Höhere Töchterschule in Marienburg hatten, von der eine Anzahl Schülerinnen ja auch in unserer Pension war. Die Töchterschule lag gar nicht weit von unserem Gymnasium. Der Weg zu jener führte vom Hauptteil der Stadt am Gymnasium vorbei. Töchterschülerinnen und Gymnasiasten konnten sich also nicht auskommen, auch wenn sie es gewollt hätten, was immerhin eine Preisfrage gewesen wäre. Pädagogischer Scharfsinn suchte zwar die räumliche Nähe der beiden Anstalten zu korrigieren, indem die Uhr der Töchterschule um mehrere Minuten hinter der Gymnasiumsuhr zurückgestellt wurde. Aber das war nur ein kümmerliches Hilfsmittel gegenüber dem nicht geringer entwickelten Scharfsinn von vierhundert Jungen und Mädchen. Was sich begegnen wollte, begegnete sich doch, trotz der direktorialen Eingriffe in den Sonnenumlauf: man brauchte auf dem Heimwege vom Gymnasium sich ja nur um die entsprechenden Minuten zu verspäten.

Für die »Ackerbauschüler« war die enge Nachbarschaft zwischen Gymnasium und Töchterschule ein nicht geringes Ärgernis. Sie waren in einem anderen Teile der weitauseinandergezogenen Stadt untergebracht und hatten es nicht so leicht, den Mädchen wie selbstverständlich zu begegnen. Es muß der Wahrheit gemäß festgestellt werden, daß die Feindschaft zwischen ihnen und uns durch diesen uns günstigen, ihnen abträglichen Umstand immer wieder genährt wurde. Die körperlich meist schon kräftig entwickelten Jungen der Landwirtschaftsschule hielten sehr auf ihren äußeren Menschen und trugen sich höchst »patent«, wie man das damals nannte. Vaters Geldbeutel erlaubte es ja auch. Wir bildungsbeflissenen Gymnasiasten vernachlässigten dagegen unser Äußeres, waren mehr auf die Pflege unserer »inneren Werte« bedacht. Unsere agrarischen Widersacher hätten also, in Ansehung der weiblichen Natur – »schwach« wie sie nun einmal ist –, ohne Zweifel alle Trümpfe uns gegenüber in der Hand gehabt, wenn nicht ... Nun ja, wenn nicht Gymnasium und Töchterschule so nahe beieinander gewesen wären. Es erwies sich auch hier wieder, daß überlegene strategische Gruppierung so manche taktischen Nachteile wettmachen kann.

Es war kein weiter Weg von unserer Pension bis zum Gymnasium. Man überquerte den Markt zwischen den Lauben, schritt eine oder zwei etwas abschüssige Gassen zur Neustadt hinab und befand sich vor dem düsterroten, in einem sehr schmucklosen Ordensstil errichteten Ziegelbau. Ich habe mir auf meinen bangen oder versponnenen oder schwermütigen oder auch nur eilfertigen Schulgängen vor sechzig und mehr Jahren wahrlich nicht träumen lassen, daß jene eben beschriebene, dazumal nicht allzu einladende Gasse in einer fernen Zukunft einst meinen Namen tragen werde. Damals hieß sie nach dem Bau, der an ihrem Ende stand, Gymnasiumstraße.

Der Direktor des Gymnasiums (Oberstudiendirektoren, Studienräte und Studienassessoren hatte selbst die ehrgeizigste Philologenphantasie sich noch nicht erdacht!) –, unser Direktor also, oder schlechtweg »Rex«, war ein sehr bekannter Schulmann, ein langer, dürrer, schwarzhaariger Mann mit einem faltigen, zitronengelben Pergamentgesicht. Er war bei Schülern und Lehrern ob seiner Schärfe gefürchtet; ihm vor allem wohl verdankte das Gymnasium den Ruf, den es in der ganzen Provinz und darüber hinaus genoß, daß es zu den »schweren« gehöre. Von den zehn oder zwölf Gymnasien der Provinz waren ein paar als ausgesprochen »leicht« bekannt und wurden daher besonders von zurückgebliebenen oder sonstwie nicht versetzten Schülern aufgesucht. Einige Gymnasien hielten etwa die Mitte. Unser Gymnasium, wie z.B. auch das Königliche Gymnasium in Danzig, galt als schwer. Vielleicht war es kein Zufall, daß gerade diese beiden Gymnasien noch sehr jungen Datums waren. Das Marienburger bestand erst seit 1861, war also damals erst vierzehn bis fünfzehn Jahre alt. Das Königliche in Danzig, wo es seit langem schon ein »Städtisches« gab, wurde womöglich erst um diese Zeit errichtet.

Dr. Strehlke war, wenn ich nicht irre, noch der erste Direktor des Marienburger Gymnasiums. Er ist es nur noch ein paar Jahre geblieben und wurde dann, in Hinsicht auf seine Verdienste als Schulmann und Gelehrter, nach Danzig versetzt. Seine besondere Domäne war, neben den altsprachlichen Fächern, das damals noch wenig beackerte Gebiet der Danziger und Ordensgeschichte. Er ist mir mit seiner schneidenden Stimme, dem zerknitterten Gesicht und den quer über den Schädel gestrichenen schwarzen Haarsträhnen als das Urbild eines verknöcherten Schultyrannen im Gedächtnis haften geblieben.

Meiner oben geschilderten ersten Schulfahrt nach Marienburg war, wie ich schon kurz erwähnte, bereits eine Aufnahmeprüfung zum Gymnasium vorausgegangen. An diesen allerersten Besuch in Marienburg und die früheste Berührung mit der Schule bewahre ich kaum eine andere Erinnerung als die an die schreckenerregende Lemurenerscheinung Strehlkes, wie er auf dem Katheder stand und mich tief unter ihm auf den Boden gehefteten zehnjährigen Jungen mit seinen schwarzen stechenden Augen, mit seinem lanzengleich angelegten Zeigefinger ebenso wie mit seinen messerscharfen Fragen aus der lateinischen Grammatik durchbohrte. Er muß mir grenzenlose Furcht eingejagt haben, denn ich entsinne mich, daß er mir noch bis in meine Mannesjahre hinein regelmäßig im Traum erschienen ist und hartnäckig mich in den untersten Tartarus, will sagen in die Septima oder Oktava zu den Abc-Schützen, zurückversetzt hat, weil ich die Verba in mi nicht richtig konjugieren konnte. Und als ich in Faustens zweitem Teil zum erstenmal mir Mephistopheles' Phorkyas in ihrer unfaßbaren Häßlichkeit vorzustellen suchte, fand sich wie von selbst das Bild meines ersten schreckenerregenden Schulexaminators ein.

Welche von Phorkys'
Töchtern bist du?
Denn ich vergleiche dich
Diesem Geschlechte.

(Faust II, dritter Akt, vor dem Palast des Menelas)

Trotzdem muß das Riesengespenst auf dem Katheder doch wohl ein menschliches Rühren mit mir gefühlt haben, da ich, ungeachtet meiner nur zu begreiflichen Verwirrung in einer vollständig neuen und ungewohnten Umgebung, im ganzen befriedigende Antworten auf seine Gewissenserforschung gab. So war ich der Aufnahme in die Quinta des Königlichen Gymnasiums zu Marienburg für würdig befunden worden. Ich bin danach mit dem gefürchteten Mann nur noch ein einzigesmal in eine ähnlich schreckhafte Berührung gekommen, wovon bald die Rede sein wird. Als Lehrer ist er mir vorenthalten geblieben; er unterrichtete nur in den obersten Klassen und hatte Marienburg längst den Rücken gekehrt, als ich soweit war.

Ich war der Jüngste in der Quinta und bin, bis auf eine noch zu nennende Ausnahme, auch während meiner ganzen Schulzeit jeweils der Jüngste meiner Klasse geblieben. Dies kam daher, daß ich vermöge meiner glücklich ausgefallenen Aufnahmeprüfung die unterste Lateinklasse, die Sexta, in die man gemeinhin erst mit zehn Jahren eintritt, hatte überspringen können und als Zehnjähriger bereits in der Quinta gelandet war. Außerdem war dies zum Beginn des zweiten, des Winter-Halbjahrs geschehen; ich hatte also auch noch die erste Hälfte des Schuljahres, das Sommer-Halbjahr dazu gewonnen, vorausgesetzt, daß ich mit meinen natürlich schon weit in den Klassenlehrstoff vorgedrungenen Klassengenossen mitkam. Ich brachte dies auch tatsächlich zustande, ohne daß es mir, meiner Erinnerung nach, besondere Schwierigkeiten bereitete. Ostern 1876 wurde ich mit einem ganz annehmbaren Zeugnis in die Quarta versetzt, wo damals bereits das Griechische anfing. Ich war zu diesem Zeitpunkt also erst zehneinhalb Jahre alt. Die Wissensgrundlage, die ich meinen Hauslehrern, insbesondere meinem vielgeliebten Kandidaten Dargel verdankte, hatte sich als tragfähig und gediegen genug erwiesen.

Meine Eltern waren natürlich mit diesem Ergebnis vollauf zufrieden, ohne es mich gar zu sehr merken zu lassen. War es denn im Grunde nicht selbstverständlich, daß man seine Klasse mit einem halben Jahr durchmacht, wenn man zufälligerweise erst zu Beginn des zweiten Halbjahrs eintritt? Wozu so einem Jungen Rosinen in den Kopf setzen? Dies soll kein Vorwurf gegen die Meinigen sein. Man dachte einfach so! Man verlangte, daß der Junge etwas leisten sollte! Wie er das machte, war seine Sache: wenn es vielleicht auch über seine Kräfte ging! Das »Jahrhundert des Kindes« war eben noch nicht erfunden. Es war noch das Jahrhundert der Eltern, und ihr Kanon galt! Dieser Kanon hieß: Arbeit und Pflichterfüllung, selbst mit Gefahr des Zusammenbruchs! So hatten es die Eltern und Voreltern und wiederum deren Voreltern und Vorvoreltern gehalten. So sollte es auch weiter gehalten werden bis ans Ende aller Tage. Wenn ich später, wo ich längst dem Stande der Eltern angehörte, beobachten mußte, wie das umgekehrte Extrem galt und den Kindern alles möglichst leicht, oft genug zu leicht gemacht wurde – wie vordem zu schwer –, so habe ich mir manchesmal die Frage vorgelegt: Als ich Kind war, war das Jahrhundert der Eltern; jetzt wo ich »Eltern« bin, ist das Jahrhundert des Kindes: wo bleibe ich? Eine Antwort auf die Frage habe ich aber nicht finden können. Es scheint, daß nicht nur zwischen den sozialen Klassen, sondern auch zwischen den Generationen, und ganz besonders zwischen ihnen, die Gaben des Glücks sehr ungleich verteilt sind. Dem einen Geschlecht fällt alles zu, einem vorhergehenden oder folgenden nichts.

Unter meinen nächsten Angehörigen waren zwei Menschen, die sich mir gegenüber nicht auf den sonst dazumal selbstverständlichen Boden des Pflichtimperativs stellten. Dies waren die Eltern meiner Mutter, also meine Großeltern. Ich habe von ihnen, zumal von meinem mir innerlich sehr nahestehenden Großvater, bereits im ersten Abschnitt des längeren gesprochen. Sie hatten sich auf ihre alten Tage als Rentnersleute in Dirschau niedergelassen und lebten dort in einem Hause am untern Markt wohlbegütert von dem Zinsenertrag ihres Vermögens. Sie standen anfangs der Siebzig und erfreuten sich beide noch außerordentlicher Rüstigkeit. Besonders meine Großmutter, eine wahrhaft herzensgute Frau, wie sie mir selten wieder im Leben begegnet ist, lief emsig und unermüdlich wie eine Ameise in der kleinen, behaglichen, sonnendurchfluteten Erdgeschoßwohnung umher und rührte ihre Hände, so daß sie sich oft den gutmütigen Spott ihres viel seßhafteren Mannes, meines Großvaters, zuzog, was aber der Liebe und Eintracht zwischen ihnen nicht den geringsten Abbruch tat. Die beiden prächtigen alten Leute haben mir den Lebensbund von Philemon und Baucis gleichsam in einem gegenwärtigen Beispiel vorgelebt. Wenn ich an sie denke, so ist es mir immer wie der sanfte Schimmer zweier ineinander verschlungener altgoldner Ringe, die ich im Morgenlicht meiner Tage erglänzen sah.

Ein besonderer Tätigkeitsdrang überfiel die kleine alte Dame, wenn Besuch ins Haus kam. Dazu gehörte, außer dem meiner Eltern, nicht zum wenigsten auch der meinige. In Anbetracht der engen Nachbarschaft zwischen Marienburg und Dirschau (man brauchte etwa zwanzig Minuten Eisenbahnfahrt) war es nur natürlich, daß ich Sonnabends nach Schulschluß öfters zu den alten Leuten hinüberfuhr, von wo mich unser Kutscher im Korbwagen nach Güttland abholte. Montag in höchst ungemütlicher Frühe ging es ins Schuljoch zurück.

Von diesen Wochenendfahrten, wie man sie heute nennen würde, waren die Stunden bei meinen Großeltern die heimlichsten und schönsten. Ich bekam »Franzbrot« (große Semmel) mit Butter oder Honig zu essen und Kaffee zu trinken, der lange vor »Hag« dessen Vorzug besaß, Herz und Nerven in Ruhe zu lassen. Manchmal gab es Zuckerbier, eine bräunliche bierartige Flüssigkeit, der Streuzucker beigemischt wurde, so daß es aufschäumte, als habe, man die Köpfe einer ganzen Schachtel voll Streichhölzer auf einmal abgebrannt.

Selbstverständlich wurde mir auch ausgiebigere Kost, Eier, Wurst, Käse aufgetischt, wenn ich Appetit darauf hatte. Aber mit dem war es schlecht bestellt. Ich hatte schon zu Hause als Kind eine ziemlich verwöhnte Zunge gehabt, hatte manche derbere Gerichte nicht genossen, war von Vater und Mutter nicht selten deshalb gescholten, aber von Tante Lieschen still beiseite genommen und in der Speisekammer mit einigen mir besser eingehenden Happen entschädigt worden. Dabei hätte ich wahrlich gar keinen Grund gehabt, mit Mutters Küche unzufrieden zu sein. Sie war, wie allgemein damals auf unsern fetten Werderhöfen, von bester Beschaffenheit, wenn auch durch die reichliche Verwendung von Butter und Sahne manchmal etwas schwer und konsistent. Aber ein richtiger Werderanermagen verdaut ja auch Kieselsteine!

Wie gut diese heimatliche Küche war, hatte ich nun in der Pension reichlich Gelegenheit festzustellen. Gegen die dürftige, kraftlose Kost, die wir hier bekamen, waren Mutters Fleischtöpfe und Bratensaucen das leibhaftigste Kanaan. Ich erinnere mich an ein Gericht, das bezeichnenderweise »Arme Ritter« hieß und allen Schülerpensionen der Ordensstadt gemeinsam war: Semmelschnitte (natürlich von alten Semmeln), etwas in Eigelb getaucht und in der Bratröhre schnell überbacken. Diese »Armen Ritter« haben symbolische Bedeutung für mich gewonnen: ich habe in ihnen den Abstieg der einstigen Deutschordensritter bis zu ihrem schließlichen Bankrott gastronomisch versinnbildlicht gesehen.

Die Folge dieser mehr als bescheidenen, reizlosen Pensionskost war die, daß mein schon daheim nicht sehr entwickelter Appetit noch immer mehr nachließ, bis ich schließlich nur noch Tee trank und Käsebrot aß, woran nicht viel zu verderben war, also für einen doch im Wachstum befindlichen Jungen gewissermaßen »von der Luft lebte«. Ich lief hohlwangig und bleichsüchtig herum, vermochte auch morgens zum Frühstück oder in der großen Schulpause um zehn nichts zu mir zu nehmen, außer manchmal eine trockene Semmel, so daß ich erst mittags etwas in den Magen bekam. Und auch dies war wenig genug, wenn etwa »Arme Ritter« oder ähnliche Leckerbissen auf dem Tisch standen.

Die ersten, denen bei einem Wochenendbesuch mein schlechtes Aussehen auffiel, waren meine vorhin erwähnten Großeltern. Es war Brauch, daß ich, sobald Kaffee oder jenes Zuckerbier getrunken war, mit meinem Großvater Mühle, Dame oder auch Sechsundsechzig spielte. Wir saßen uns im hellen Tageslichte des nach dem Marktplatz gelegenen Wohnstubenfensters gegenüber, hatten das Spielbrett oder die Karten zwischen uns und beobachteten uns mit jener Arglist, wie sie zwischen feindlichen Spielern seit altersher üblich ist. Jedem von uns kamen nebenher noch so mancherlei Gedanken. Mir schoß es durch den Kopf, daß da ein alter Mann vor mir saß, der noch Napoleon gesehen hatte. Das war vor sechzig Jahren gewesen, also vor einer unausdenkbar langen Zeit. Damals war der breitschultrige, untersetzte Mann mit dem durchfurchten Graukopf, mit dem ich hier Dame spielte, ein Junge gewesen, so wie jetzt ich. War das möglich? War das zu fassen? Wieder, wie so oft schon, packte mich ein Schauer vor dem Begriff Zeit. Was ist die Zeit? Wie kommt man ihr bei? Warum ist für jemanden eine Zeit? Und dann ist seine Zeit vorbei?... Möglich, daß meinem Großvater, wenn er vom Spiel weg seine Augen auf mir ruhen ließ, ähnliche Gedanken von der andern Seite her gekommen sind. Da saß ein Elf- oder Zwölfjähriger vor ihm, der seines Blutes und seines Wesens war, sie in die Zukunft weitertragen und vielleicht noch nach fünfzig, sechzig Jahren Zeugnis von ihm ablegen sollte, wenn längst seine Gebeine zu Staub zerfallen sein würden ... Großvater und Enkel: verstanden wir uns nicht ausgezeichnet, wie meistens Großvater und Enkel sich gut verstehen, so verschiedene Sprachen sie sprechen? Denn verbindet sie nicht die gemeinsame Front gegen Vater und Sohn, gegen das dazwischenliegende Geschlecht? Aber was war es, so fragte sich der alte Mann, mit diesem Enkel, an dem seine ganze Hoffnung auf Fortsetzung, auf Dauer, auf Unendlichkeit auch im Diesseits hing (der unzerstörbare Glaube des alten Bauern an den Bestand seiner Art)? Wie sah dieser Enkel aus? Hohlwangig, bleichsüchtig, unterernährt!

Großvater und Großmutter bekamen es mit der Angst, forschten mich aus und so verschlossen ich war: es lag zu Tage, daß hier nicht alles so war, wie es sollte. Meinem Großvater hatte bereits mein schneller Aufstieg von der Quinta zur Quarta nicht wenig imponiert. Ich nahm von jedem meiner Besuche bei ihm ein reichliches Taschengeld mit, so daß ich schon früh daran gewöhnt wurde, mit Geld umzugehen. Was aber die Pensionskost betraf, so sprach meine bis dahin ahnungslose Mutter ein ernstes Wort mit Frau Dormann. Die brave Frau hatte ihrem Sparsamkeitstrieb wohl allzusehr nachgegeben; es wurde ein Abkommen getroffen, wodurch mein Pensionsgeld erhöht und ich auf bessere Kost gesetzt wurde. Ich war fortan privilegiert in meiner Pension, aber ganz im geheimen. Wieder wie vordem von Tante Lieschen, erhielt ich besondere Bissen zugesteckt, jedoch so, daß die andern nichts davon merkten. Die Frage: Auslese oder Gleichheit? hat das Leben mir bereits früh im ersteren Sinne beantwortet. Ich wäre, in Anbetracht meiner schwächlichen Konstitution, sonst höchstwahrscheinlich ein Opfer des andern Prinzips geworden.

Wenn ich heute auf meine ersten Marienburger Schuljahre zurückblicke, so erscheinen sie mir fast durchweg im Lichte eines frostigen, nebelgrauen Novembertages. Es ist, als breite sich eine dichte Wolkendecke von Schwermut und Trauer über jenen Jugendtagen aus. Dies lag nicht so sehr an der Schule, an Lehrern oder Mitschülern: es lag im wesentlichen wohl in mir selbst begründet. Ich war die ersten zehn Jahre meines Lebens in großer Abgeschlossenheit aufgewachsen, war ein sehr einsames Kind gewesen, auch damals und gerade damals, als noch mein Bruder Felix gelebt hatte. Ich hatte wenig mit Gleichalterigen verkehrt, hatte eigentlich immer nur Erwachsenen gegenübergestanden, vor denen ich mich, so oft es nur ging, in meine selbsterschaffene Phantasiewelt flüchtete. Hier war ich meiner selbst sicher. Dies Land, »unnahbar euren Schritten«, bot mir Schutz und Zuflucht vor Fremden wie vor meinen nächsten Angehörigen. Kein Luftzug einer rauhen, kalten Wirklichkeit drang in diese Gralsburg oder – mit einem anderen Bilde – in diese unterirdische Höhle von Kristall ein, in der ich wie Aladin mit der Wunderlampe gelebt hatte.

Dieser Traum war zu Ende. Helles Tageslicht umfloß mich, blendete mich, verwirrte mich. Hartkantig, scharfzackig, rauhschalig drangen die Tatsachen des Lebens von allen Seiten auf mich ein, der ich gleichsam ohne Haut dastand. Wie viele Risse und Wunden gab das, die nicht so schnell verheilen wollten! Wie schwer allein war es, mich mit der Gradlinigkeit und Rechtwinkligkeit des Schulunterrichts abzufinden! Bisher war ich individuell behandelt worden, war ein Einzelfall gewesen. Jetzt ging es nach einem Schema, nach der Schablone, so beseelt sie durch den einen oder anderen Lehrer auch sein mochte: ich war einer von vielen.

Und diese vielen waren mir fremd, standen mir, je nachdem, kalt, gleichgültig, ablehnend, feindselig gegenüber. Ich erblickte in ihnen allen und in jedem von ihnen Gegner, Widersacher, die nur darauf lauerten, mir eine Blöße abzusehen, über mich herzufallen, mich mit Hohn zu überschütten. Zerrissen, verbissen, fanatisch wie ich war, warf ich alle in einen Topf, vermochte nicht zu unterscheiden und stieß dadurch auch diejenigen ab, die mir vielleicht gern hätten nahekommen wollen. Indem ich überall Feinde witterte, auch wo keine waren, schuf ich sie mir erst und fand mich, wenn sie dann da waren, glänzend gerechtfertigt, um doppelt darunter zu leiden. Denn in meinem Innersten lechzte ich ja nach Freundschaft, schrie ich nach einem Menschen, nach einer Seele, in die ich die meinige, überströmend wie sie war, hätte ergießen können. So ging es das halbe Jahr in der Quinta, so ging es noch länger in der Quarta weiter.

Auch unter meinen Pensionsgenossen, von denen ich schon sprach, war fürs erste keiner, um mich ihm näher anzuschließen. Wir schliefen zu sieben oder acht in einer größeren Stube nach hinten hinaus, die auch unser Aufenthalts- und Arbeitsraum bei Tage war. Natürlich störte da immer einer den andern, so daß es häufig Zank und Zwist gab. Die letzte Entscheidung brachte dann immer das Recht des Stärkeren, das Faustrecht. Wer wie ich der Kleinste, Schwächste, Jüngste war, mußte unfehlbar den kürzeren ziehen, wenn es ihm nicht gelang, sich Verbündete zu schaffen, die dem Gegner Respekt einflößten. Es war für mich nicht schwer, auf diesen Gedanken zu kommen. Abgesehen davon, daß ihn die Not eingab: wozu hatte ich denn meine Geschichtsbücher, meinen Schlosser durchstudiert, in denen beinahe auf jeder Seite von dem Sieg einer klugen Diplomatie, einer überlegenen Staatskunst über die bloße rohe Gewalt zu lesen stand. In den hundertfachen Intrigen und Streitereien, die das enge räumliche Aneinanderkleben von sieben, acht halbwüchsigen Jungen unfehlbar mit sich bringen mußte, hat mir die Schlossersche Weltgeschichte, so komisch es klingen mag, sehr wertvolle Dienste geleistet, indem ich öfters analoge Fälle daraus entnahm oder auch nur konstruierte, um sie dann auf meine eigene Lage entsprechend zu übertragen. So erlebte ich neben meinem kleinen Quartanerdasein gleichsam noch ein zweites, höheres, übergeordnetes, gewissermaßen geschichtliches Leben, von dem das meinige erst Bedeutung und Weihe erhielt.

Das alles war ursprünglich nur ein Spiel meiner nach Betätigung drängenden Phantasie, ein Ineinanderfließen von Wirklichkeit und Traum, oder wie man auch sagen könnte, von Melodie und Instrumentation. Es gewann aber sehr bald auch praktische Bedeutung, indem meine Pensionsgenossen dahinterkamen, daß ich, wenn auch körperlich unbeträchtlich und schwächlich, doch geistig ein nicht zu verachtender Bundesgenosse war, der ihnen von Nutzen sein konnte. So begann ich, bei den vielen Fehden, mit denen wir uns in unserer Schülerbude überzogen und bei den nachfolgenden Palavern, ehe man wieder die »Friedenspfeife rauchte«, eine immerhin ins Gewicht fallende Rolle zu spielen. Ich hatte, so jung und unansehnlich ich war, doch verstanden, mich allmählich in Respekt zu setzen. Die Pension wurde, wenn man so sagen darf, aufmerksam auf mich. Es war dies etwa zu Beginn meines zweiten Marienburger Jahres.

Unsere Wohn- und Schlafstube, natürlich ein größerer Raum, war durch eine Glastüre mit einem fensterlosen Mittel- und Durchgangszimmer verbunden, von wo man in den vorderen Teil der Wohnung gelangte. Hier war das gemeinsame Eßzimmer; hier auch das Schlafzimmer der Mädchen, unserer Mitpensionärinnen. Auch Frau Dormann residierte dort und hütete ihre Schäfchen, während wir Jungen meist uns selbst überlassen blieben: mit dem Erfolg, wie gesagt, daß oft genug alles drunter und drüber bei uns ging.

Frau Dormanns jüngerer Tochter Betty diente das eben erwähnte Mittelzimmer als Schlafstube; bei Tage blieb es unbenutzt, da es ja licht- und fensterlos war. Es standen zwei Betten darin, außer für die Haustochter noch ein anderes für eine bevorzugte Pensionärin, die mit Fräulein Betty das Schlafzimmer teilen durfte. Die Glastür, die zu unserem Zimmer oder Schlafsaal führte, war auf Fräulein Bettys Seite mit einer so gut wie undurchsichtigen Gardine verhängt. Wir konnten also von unserem Bezirk der Gardine nicht beikommen. Ob auf der weiblichen Seite zuweilen davon Gebrauch gemacht wurde, vermag ich nicht zu sagen. Ein paar von uns Jungen, vierzehnjährige, schon recht ausgewachsene Lümmel, behaupteten es, wollten die Gardine manchmal in Bewegung gesehen, verstohlene Mädchenköpfe dahinter wahrgenommen haben. Vermutlich war alles nur Einbildung und Wunschtraum der bei jenen Jungen bereits unbändig sich regenden Pubertät.

Keine Einbildung dagegen, sondern unzweifelhafte Wirklichkeit war es, daß man auf unserer Seite, wenn abends das Licht bei uns ausgelöscht war, jenseits noch die Lampe brannte, schattenhafte Umrisse der jenseits agierenden Personen wahrnehmen konnte. Und diese Personen, das wußten wir ja, konnten nicht andere als weiblichen Geschlechts sein: Fräulein Betty und eines von den hübschen Polenmädchen, das den besonderen Vorzug genoß, mit ihr das Zimmer zu teilen. Brauche ich noch ausdrücklich zu sagen, daß auf unserer Seite der Glastüre jede nur sich bietende Gelegenheit ergriffen wurde, um das nächtliche Schauspiel der auf der jenseitigen Bühne sich bewegenden Schattenrisse mit Eifer aufzunehmen, bis dann – oft im unerwünschten Moment – das jenseitige Licht erlosch und die halbenttäuschten Zuschauer flüsternd, kichernd durch die stockdunkle Stube sich zu ihren längs den Wänden verteilten Betten tasteten?

Eine neue, bisher ungeahnte Sphäre begann sich mir zu eröffnen. Ich hatte, als ich nach Marienburg kam, wenn auch nicht mehr an den Storch geglaubt, so doch auch keine rechte Vorstellung gehabt, wie denn anders wir diese Welt betreten. Schon die Lektüre meiner Bücher, meines Schlosser hatte mich natürlich darüber belehren müssen, daß Freund Adebar an unserem Erscheinen hienieden persönlich unbeteiligt war. Aber dies war ja nur die eine Seite der Geschichte, die negative. Die Hauptsache war schließlich das Positive daran: wie denn nun die Wirklichkeit aussah? Hierüber jedoch war auch von den älteren Jungen nichts Erschöpfendes, immer nur andeutungsweise etwas zu erfahren, abgesehen davon, daß auch zum Fragenstellen ein Mut gehört hätte, den ich nicht besaß.

Heutige Leser der jüngeren Generation werden sich schwerlich eine Vorstellung machen können, welch eine Heimlichtuerei, Drückebergerei, Verlogenheit, Prüderie in allen Fragen der Geschlechtlichkeit und Erotik noch vor sechzig Jahren die Menschen in Fesseln schlug. In guter Gesellschaft wäre es unmöglich gewesen, derartige Fragen auch nur aufzuwerfen und zur Erörterung zu stellen. Schon statt Beinkleider Hosen zu sagen, galt als bedenklicher Mangel an Erziehung. Man stand in dieser Hinsicht noch ganz im Bann des Biedermeiergeistes, so sehr man auch sonst auf ihn hinuntersah und ihn als eine Art von zweiter Zopfzeit belächelte. Demjenigen, der dies alles noch miterlebt und es dann fast mit einem Schlage sich in sein Gegenteil hat verkehren sehen, verschieben sich überhaupt die Grenzen der Biedermeierzeit sehr stark bis gegen das Ende des letzten Jahrhunderts hin. Man läßt sie hergebrachterweise mit 1848 abschließen. Aber der wirkliche Grenzstrich zwischen dem, was unter den Begriff der Biedermeierzeit zu rechnen ist, und derjenigen Epoche, in der wir noch heute leben, scheint mir erst in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, spätestens um 1890, zu liegen. Die Krinolinenzeit und die Tournürenzeit würden danach also noch zum Biedermeier im weiteren Sinne zu zählen sein.

Ich habe eben von der sexuellen Versteckspielerei jener Epoche gesprochen, der noch meine Kindheit und Jugend angehört hat. Da ich mich schon des öfteren über gewisse Mängel oder Fehler oder Überheblichkeiten des heute tonangebenden Geschlechts ausgelassen habe, so erfordert die Gerechtigkeit festzustellen, daß im Punkte der Sexualität, richtiger vielleicht der Behandlung der sexuellen Fragen, heute eine freiere, natürlichere, gesündere Auffassung von den Menschen Besitz ergriffen hat, als dies vor sechzig oder mehr Jahren der Fall war. (Wobei freilich die vor aller Augen liegenden Gefahren einer ins andere Extrem ausartenden Entwicklung nicht verkannt werden dürfen.)

Zu der Zeit meiner Jugend, die ich hier zurückrufe, lebte der einzelne (es sei jetzt nur vom männlichen Geschlecht die Rede) entweder in einer durchaus künstlichen, süßlichen Atmosphäre von Wohlanständigkeit, gleichsam in einer moralischen Treibhausluft, in die kein Luftzug natürlichen Sinnenwesens drang – oder er überließ sich, natürlich im geheimen, einer ganz rohen, barbarischen Sexualität, die die hierfür bestimmte Klasse von Frauen zuerst benutzte und dann mit dem Stempel der Schande brandmarkte. Überflüssig zu sagen, daß ein großer Teil der Männerwelt je nach Bedürfnis und Umständen von der einen Klasse zur anderen hinüberwechselte und demgemäß auch seinen moralischen Habitus wandelte. Es war eine Blütezeit der Tartüfferie, der es allerdings erspart geblieben ist, ihren Molière zu finden.

Auch in uns erst zur Pubertät heranreifenden Zöglingen der Dormannschen Pension (wie ohne Zweifel auch der übrigen Marienburger »Schülerheime«) waren beide Gruppen der damaligen männlichen Psyche bereits in andeutenden Linien, wie im Embryo der kommende Mensch, vorgezeichnet. Es waren ein paar Vierzehn-, vielleicht auch schon Fünfzehnjährige unter uns, die mit rohen, unflätigen Reden nur so um sich warfen und schon alles zu kennen behaupteten, ohne jedoch so recht kundzugeben, was das nun sei. Ich weiß nicht, wie es in Wirklichkeit um sie bestellt war. Es wird manche Renommisterei dabei gewesen sein. Ich wurde ja auch nicht direkt von ihnen ins Vertrauen gezogen, da ich ihnen wohl noch zu jung und zu grün dafür erschien. Es waren meist nur aufgefangene Äußerungen, wenn wir nachts in unseren Betten lagen, die Lampe ausgelöscht war und Flüsterreden von Bett zu Bett flogen. Meiner Phantasie war dies alles bisher fremd geblieben. Um so williger nahm sie den unbekannten, merkwürdig phosphoreszierenden Zündstoff auf und geriet bald in einen Zustand geheimen Schwelens, der mein ganzes Wesen ergriff.

Es gab damals in Marienburg ein oder zwei Häuser, die der öffentlichen Liebe dienten. Dies war in der kleinen Stadt für niemanden ein Geheimnis. Der Vorsteher und Leiter des vornehmeren von ihnen war ein entgleister Adeliger und ehemaliger Kavallerieoffizier. Es hieß, daß er der letzte seines noch aus der Ordenszeit stammenden Geschlechtes sei. Die Burg seiner Vorfahren hatte in der Ordensgeschichte eine gewisse Rolle gespielt. Jedermann kannte den überlangen, ausgemergelten Mann mit der vorgebeugten Haltung, der Geiernase und den verwüsteten Gesichtszügen, der pünktlich jeden Sonntag vormittag, wenn die Glocken der Stadtkirche vor dem Marientor zum Gottesdienst läuteten, mit dem Gesangbuch unter dem Arm die Hohen Lauben entlang zog. Sein »Etablissement« lag im äußeren Bezirk des Schlosses, wo »die letzten Häuser stehen«:; es war ein weiter Weg von dort durch die ganze Stadt bis zur Kirche, der gewissermaßen vor den Augen der gesamten Bürgerschaft zurückzulegen war. Aber der Baron hielt allen diesen spöttischen oder verachtungsvollen Blicken seiner Mitmenschen unerschütterlich stand. So mancher davon mochte ihm nicht unbekannt sein, aber keine Miene seines Papageiengesichts zuckte. (So mag der altgewordene Casanova ausgesehen haben.) In unerschütterlicher Feierlichkeit und Grandezza wandelte er seine Straße dahin, wie nur irgendeiner von den siebenmal Gerechten. Ungezählte Male habe ich ihn dergestalt an mir vorüberschreiten sehen und sein Bild mir eingeprägt. Als »von Reuterbusch« ist er in meine »Hortense Ruland« eingegangen, deren Schauplatz, die Schwedenburg, manche Anklänge an die Stadt meiner Schuljahre aufweist, ohne sich durchweg mit ihr identifizieren zu wollen.

Zu den Besuchern »von Reuterbuschs« (ich will ihn weiter so nennen) und seiner hübschen Pflegebefohlenen »hinter der Mauer« gehörte, wenn man dem Gerücht Glauben schenken durfte, der oder jener von den Honoratioren der Stadt, gehörte auch das eine oder andere Mitglied der zahlreichen Lehrerschaft. Wenigstens behaupteten dies die erwähnten Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen, mit denen ich in der Pension den Schlafsaal teilte. Sie selbst wollten ganz genau Bescheid mit Reuterbuschs »Pensionat« wissen und erzählten, man habe im Salon, wohin ihnen der Zutritt versagt worden, den und den von den Gymnasial»spießen« sitzen sehen, oder man sei einander gerade bei der Tür begegnet.

Dies alles war natürlich schrecklich aufregend und geheimnisvoll für uns andere, die wir uns der Schwelle jenes verrufenen Hauses nicht zu nähern wagten. Die Mehrzahl von uns war ja noch ganz unverdorben und jedenfalls vollständig im Bann jener vorhin gekennzeichneten, von Hause mitgebrachten Wohlanständigkeit, die mit dem Anschein auftrat, als wisse sie von nichts, ja, als gebe es diese Dinge nicht. Ich gehörte, wie sich nach allem Erzählten von selbst versteht, sowohl vermöge meiner Erziehung wie meiner noch knabenhaften Entwicklungsstufe zu der Klasse der Gutgesinnten und moralisch Unverdorbenen. Aber es war doch durch die hier geschilderten Eindrücke der Umgebung eine tief im geheimen schwelende Flamme in mir entzündet, von der einmal, ähnlich wie von einem Grubenlichtchen im Kohlenschacht, eine gefährliche Explosion ausgehen konnte.

Unser Gymnasium hatte keine sehr hohe Schülerzahl. Der Ruf, daß es schwer und streng sei, schreckte gewiß manchen ab. In der Quinta waren wir noch ein verhältnismäßig größerer Haufen gewesen. In der Quarta nahm unsere Zahl bereits ab. Es machte sich schon bei nicht wenigen die Aussichtslosigkeit weiterzukommen geltend. Das gefürchtete Griechisch in der Quarta trug das Seinige dazu bei. Nicht jeder hatte die Ausdauer und das Sitzfleisch wie einer meiner mennonitischen Mitschüler in der Quinta, der drei Jahre in dieser Klasse verharrte und schließlich auf die Frage des Geographielehrers, welches die Hauptstadt von Österreich sei, mit dem Bescheid aufwartete: Stuhm! (Eine kleine Kreisstadt in der Nähe von Marienburg.) Für ihn ist die Quarta eine uneinnehmbare Festung geblieben. Er fand dann auf der Landwirtschaftsschule, was er brauchte, und ist später, trotz Stuhm, ein sehr tüchtiger Landwirt geworden. Ich erwähne diesen Fall, weil er typisch für viele ähnliche in unserem Gymnasium war.

Das gerade Gegenteil erlebten wir mit einem äußerst begabten Mitschüler, der – ähnlich wie ich – vom Privatunterricht herkam, bei unserem bedrohlichen Strehlke die Prüfung für die Quarta mit Glanz bestand, bereits nach einem halben Jahr in die Untertertia, nach einem weiteren halben Jahr in die Obertertia aufstieg und dann das Gymnasium so schnell durchlief, daß er mit wenig über sechzehn sein Abiturium machte und wohl der jüngste Student jener Zeit wurde. Ein ausgesprochener Fall von Pubertätsgenie oder -talent, der viel von sich reden machte, von Eltern und Lehrern sehr bewundert und zum leuchtenden Beispiel erhoben wurde und – tragisch endete. Denn der junge Mann ist fünfundzwanzigjährig an der Schwindsucht gestorben und hat alle Hoffnungen unerfüllt gelassen.

Er war es, der mit mir in der Quarta hinsichtlich des Alters, vielmehr der Jugend rivalisierte, mich aber durch seine noch schnellere Karriere um eine Klasse hinter sich ließ, so daß ich dann doch, wie ich schon erzählte, den Primat des Klassenjüngsten bis zum Abschluß des Gymnasiums behielt. Wir mochten uns überhaupt in manchem ähnlich scheinen, wurden auch vielfach miteinander verglichen, ohne daß dies wirklich zutraf. Jener andere, mein Rivale, stammte als Sohn eines Arztes aus städtischen Verhältnissen, war eine liebenswürdige, gewinnende Natur, die sofort Freundschaft und Zuneigung fand. Er war, obwohl doch eigentlich ein »Streber«, allgemein in der Klasse beliebt, erst recht natürlich bei seinen Lehrern. Ich dagegen war verschlossen, stachlig, abseitig, wenn nicht absonderlich, womit man sich wohl einen gewissen Respekt, aber keine Liebe oder Freundschaft gewinnt. So wurde ich, je bitterer ich dies fühlte, um so mehr in die Rolle des »Menschenfeindes« gedrängt, der man auch schon als Quartaner sein kann.

Es spielte, für den Zeitgeist bezeichnenderweise, auch hier wieder die religiöse oder konfessionelle Frage hinein. Unser Gymnasium war ein evangelisches, wie die meisten in Westpreußen. Es gab auch ein paar katholische; sie galten jedoch als rückständig. Dies war vielleicht einer der Gründe, warum meine Eltern mich nicht dorthin, sondern eben in das streng puritanische Marienburg geschickt hatten, wiewohl ihnen das als guten Katholiken sicher nicht leicht fiel. Von heute aus gesehen, scheint es mir ja zu den Glücksfällen meines Lebens zu zählen, daß ich durch die Verpflanzung nach Marienburg, dessen Atmosphäre durch die Nähe von Königsberg mit seinem gewissen leisen Schimmer Kantischen Geistes erfüllt war, vor einseitigem Konfessionalismus behütet geblieben bin.

Ich sage, dies ist meine heutige und schon seit langem bestehende Überzeugung. Damals als junger Pennäler fand ich es schwer genug – oder richtiger – wurde es mir schwer genug gemacht, mich in diesen mir fremden protestantischen Geist einzuleben. Denn meine Mitschüler sahen schon wegen meiner Andersgläubigkeit mit Mißtrauen auf mich, erblickten nicht nur einen religiösen Gegner, sondern – was viel bedenklicher war – eine Art von Vaterlandsfeind in mir. Man darf, um dies zu verstehen, nicht vergessen, was ich in einem früheren Kapitel über die Wirkungen des Kulturkampfes auf die Seele des deutschen Volkes dargelegt habe. Besonders vergiftend waren diese Einflüsse für die heranwachsende Jugend beider Religionsteile unseres Volkes. Denn wie hätte gerade die Jugend sich den wilden, blindwütigen Schlagworten entziehen können, womit auf der einen Seite jeder Katholik als Römling und Vaterlandsfeind, umgekehrt wiederum der Protestant als »Freimaurer« und Atheist gebrandmarkt wurde. Ich kann aus eigenster und persönlichster Erfahrung von diesen Dingen ein Lied singen.

Der Unterricht des Gymnasiums wurde allmorgendlich mit einigen Erbauungsminuten eingeleitet. Die gesamte Schülerschaft versammelte sich in der Aula. Es wurde gemeinsam ein Lied aus dem Gesangbuch gesungen, dann von einem unserer Lehrer, die darin abwechselten, ein Kapitel aus der Bibel, meist aus dem Alten Testament, vorgetragen. Hierauf zog man klassenweise wieder ab, und der Unterricht begann. Manche von uns benutzten die kurze Galgenfrist in der Aula, um sich noch schnell auf etwas zu präparieren oder sich vom Nebenmann etwas einsagen zu lassen, oder sie blieben, wenn es sich tun ließ, auf ihrer Bank im Klassenzimmer sitzen und schrieben mit fliegenden Tintenfingern aus dem Heft des Nachbarn ab.

Was mich betrifft, so habe ich ziemlich gewissenhaft an diesen Erbauungsviertelstunden in der Aula teilgenommen, obwohl ich als Katholik nicht dazu verpflichtet gewesen wäre. Gesangbuchverse und Bibeltext – beides; war mir ganz neu, ganz fremd und erregte schon darum mein lebhaftes Interesse. Eine Bibel hatte es bei uns, wie in den meisten katholischen Häusern, nicht gegeben. Von meinen evangelischen Mitschülern erfuhr ich bald, daß allerlei Verfängliches darin zu finden sei und es sich also lohne, sie vorzunehmen. Aber ich hörte nicht sehr auf derlei Geschwätz. Was mich zur Bibel hinzog und mich in der Aula dem großartigen Rhythmus ihrer Sätze und Strophen lauschen ließ, waren Luthers hinreißende Sprachgewalt, seine Volkstümlichkeit und Bildhaftigkeit. Ich habe durch diese tägliche Aula-Erbaulichkeit erst wahrhaft die deutsche Sprache entdeckt, sie hat mir in jener Epoche schlimmster sprachlicher Bleichsucht und Papierenheit das Tor dorthin erschlossen, wo man noch von ferne die Ströme aus der Urzeit unseres Volkes rauschen hört. Auch die starke Melodie eines Paul Gerhard und Fleming, die aus ihren Gesangbuchversen täglich in mein Ohr klang, wirkte in der gleichen Richtung, mein Sprachgefühl und meinen Sprachbesitz zu befruchten, zu bereichern, zu vertiefen. So war es eine kleine, nebensächliche Begleiterscheinung des Gymnasialunterrichts, der ich eigentlich am meisten zu verdanken hatte.

Unter der Lehrerschaft des Gymnasiums waren nicht wenige Originale und Sonderlinge. Ja, man konnte die Beobachtung machen, daß auch von den neu hinzutretenden, meist jüngeren Kräften, die noch kein eigenes Gesicht mitbrachten, gerade nur von der landläufigen Art schienen, nach Ablauf einiger Zeit so manche ihre besondere Physiognomie und bald auch ihren Sparren bekamen. Das lag wohl in der Atmosphäre der kleinen Stadt, in dem Winkligen, Schrulligen, Bemoosten ihrer alten Gassen und Häuser. Es lag aber auch in der Luft der Schule: nicht nur der unsrigen, vielmehr einer jeden, wenigstens soweit sie sich in kleineren Orten befinden. Der Lehrberuf scheint die Entwicklung von Originalen zu fördern. Es wird wohl die starke und notwendige Betonung des Individuellen sein, was den Anlaß dazu gibt. Welch eine Ansammlung von Individualitäten – wenn auch erst im keimenden Zustand – stellt eine einzige Schülerklasse dar! Wer sie lenken, zügeln, ihrer Herr werden will, soll selbst ein starkes und festgefügtes Individuum sein und auch so von den heranwachsenden jungen Menschen empfunden werden. Sonst entgleiten ihm die Zügel, die entfesselte Horde setzt über ihn hinweg, er wird zum Leutespott.

Aber als Individuum muß man geboren sein. So kommt es, daß nicht wenige Lehrer, denen es eben an der individuellen Substanz fehlt, diese durch eine Art von Mimikry zu ersetzen suchen und als Schlagetot oder Kinderschreck vor die Klasse treten, um auf diese Weise den von Natur aus mangelnden Respekt zu erzwingen. Das Schlimmste ist nur, daß die jungen Menschenkinder dies meist sehr bald merken und sich hinter dem Rücken des Gefürchteten auf dessen Kosten schadlos halten. So kann es geschehen, daß der Schultyrann mit gespreizten Daumen und geblähten Nüstern im Klassenzimmer einherstelzt, während an seinen Rockschößen gleichsam ein unsichtbarer Zettel klebt, auf dem zu lesen steht: Hic est stultissimus stultorum!

Es sind im Laufe der siebeneinhalb Jahre, die ich in Marienburg zubrachte, ein paar Exemplare der geschilderten Art auch bei uns aufgetreten: Leute von bewußter Originalitätshascherei und darum unecht wirkend, am Ziel vorbeischießend, von unfreiwilliger Komik – oder patzige, ruppige Grobiane, die mit ihren Dickhäuterhufen auf uns herumtrampelten, ohne darum einer gelegentlichen Lächerlichkeit zu entgehen. Im ganzen aber bewahre ich der Lehrerschaft, unter der ich das Gymnasium durchgemacht habe, aufrichtige Dankbarkeit, gehöre also nicht zu der zahlreichen Klasse von Zeitgenossen, die die Schule und ihre Lehrer hinterher mit Haß verfolgen. Die meinigen waren zum größten Teil Männer, die rührig, kenntnisreich und wohlwollend ihr Erziehungswerk an uns ausübten, so schrullig und absonderlich sie sich auch manchmal gebärdeten. Dies war eben nur ihre Außenseite, die wir sehr wohl von dem wertvollen Kern zu unterscheiden wußten. Einige von ihnen hatten den erst kurz zurückliegenden Krieg gegen Frankreich mitgemacht. Sie standen besonders in Ehren. Nationaler Stolz – nicht zu verwechseln mit Hochmut und Chauvinismus – wurde damals uns allen in die Seele gesenkt.

Kurz bevor ich nach Marienburg kam, hatte sich dort eine Lehrertragödie zugetragen, die viel besprochen wurde und noch nach Jahren geheimnisvoll unter uns umging. Einer der jüngeren Lehrer des Gymnasiums, auch ein Kriegsteilnehmer, und als besonders hoffnungsvoll angesehen, war eines Morgens urplötzlich verschwunden. Noch am Abend vorher war er in der Weinstube unter den Hohen Lauben, wo die Gymnasiallehrer sich zum Dämmerschoppen zusammenfanden – wir strichen nur mit ehrfürchtiger Scheu daran vorüber –, in Gesellschaft eines ihm befreundeten gleichaltrigen Kollegen gesichtet worden. Die beiden sollten bis in die Nacht hinein getrunken haben. Man hatte sie flüstern und tuscheln sehen. Dann waren sie gegangen, hatten sich getrennt, niemand wußte wo. Am nächsten Morgen, nur wenige Stunden darauf, war jener eine verschwunden – und wie sich dann erwies – für immer.

Begreiflich genug, daß der Fall alle Gemüter, besonders aber unsere Schülerphantasie, beschäftigte. Es war eine der ersten Geschichten, die ich von meinen Kameraden zu hören bekam. Der Fall lag damals vielleicht ein Jahr zurück, aber die Legende hatte sich seiner bereits bemächtigt; ein rätselhaftes Halbdunkel umgab ihn. Man munkelte von einem amerikanischen Duell. Eine Frau spielte herein. Jener Verschwundene sollte sie geliebt, verführt haben. (Ich hörte es, ohne ganz zu verstehen, empfand es um so grausiger, geheimnisvoller.) Ein anderer Mann, wohl der Mann oder der Bräutigam dieser verführten Frau, hatte alles entdeckt und den Verführer gefordert: auf »amerikanische« Weise, wobei die Karten oder die Würfel oder das Los entscheiden. Wer Schwarz zieht, hat sich für immer zu empfehlen! Unsern Don Juan hatte es getroffen! War er in die Nogat, war er nach Amerika gegangen? Niemand wußte es, niemand hat es je erfahren; auch der Strom, den man nach dem Vermißten abfischte, gab das Geheimnis nicht preis, es war nichts gefunden worden.

Nur einer lebte, der das Dunkel hätte lichten können: jener mit dem tragischen Helden befreundete Lehrer, der Genosse seiner letzten Zechernacht in der alten Weinstube unter den Lauben und gewiß auch Zeuge des vermutlichen Duells. Wandelte er nicht leibhaftig unter uns? Konnte man ihn nicht täglich in den Räumen des Gymnasiums erblicken, wenn er die Treppe zu seinem Klassenzimmer emporstieg? Meine Augen sind ihm manchesmal gefolgt. Was war das für ein Mensch? Wie mochte es im Innern von jemand aussehen, der Mitwisser eines solchen Geheimnisses war? Er hätte reden können und blieb stumm! Noch nach Jahren umfloß diesen Lehrer für mich ein besonderer romantischer Schimmer. Ich weiß nicht einmal, ob ihm selbst etwas von all dem Gerede bekannt gewesen ist. Er nahm mit großer Pünktlichkeit seinen täglichen Dämmerschoppen ein, im Kreise der Kollegen, am gleichen Platz, wo man ihn in jener letzten Nacht mit dem für immer Verschwundenen hatte zechen und flüstern sehen. Vielleicht hat er überhaupt nichts gewußt und wir dichteten ihm eine Gloriole an, die vor der Wirklichkeit nicht standhielt. Aber die Tatsache blieb, daß einer verschwunden war und es niemals an den Tag gekommen ist, warum und wohin. Ich habe das rätselhafte Geschehnis stets im Gedächtnis behalten. Als mir zu Ende des Großen Krieges der Stoff meiner »Hortense Ruland« erwuchs, wurde es ein wesentlicher Motor der dramatischen Handlung. Bereits ein Jahrzehnt vorher hatte es in der kleinen Novelle »Das letzte Rezept« dichterische Gestalt gewonnen.

In der ungefähr gleichzeitig geschriebenen Erzählung »Doktor Sieverings Heimfahrt« (1909), deren Schauplatz Marienburg ist – eben dieses von mir hier geschilderte Marienburg meiner Jugendzeit –, findet sich ein Satz, der mir gerade bei dieser Schilderung wieder in den Sinn kommt, weil er vielleicht am besten die Stimmung wiedergibt, mit der den Heranwachsenden jenes damalige Marienburg erfüllte. Es wird da von der idyllischen Oberfläche des Kleinstadtlebens gesprochen. »Aber wer tiefer stieg,« so heißt es weiter, »fand darunter Tragödien, wie die Leichen Ertrunkener auf dem Grunde eines schwarzen, unbeweglichen Weihers, der mit Seerosen und Wasserpflanzen überwachsen ist.« In wie vielen Häusern gab es solch einen im bildlichen Sinn »Ertrunkenen«, dessen Geist unsichtbar mit am Tisch saß und durch die Träume der Nacht spukte! Da war manch einer, manch eine entgleist, verdorben, gestorben, jedermann wußte davon, aber keine der betroffenen Familien wollte es wahr haben. Wohlanständigkeit und Bürgerlichkeit deckten alles mit einem dichten Schleier zu, der aber nur in der Phantasie der Beteiligten vorhanden, für den schadenfrohen Nächsten vollständig durchsichtig war. Da war dem oder jenem dies oder das geschehen, hatte mit dieser oder jener jenes oder dieses sich zugetragen, was im Grunde – unter einem heutigen Gesichtswinkel gesehen – harmlos und unbedenklich war, aber im vergrößernden, entstellenden Hohlspiegel der alle Welt beherrschenden Muckerei und Vertuscherei sich als ein greulicher Makel anließ. Konnte es ausbleiben, daß vornehme und feinfühlige Seelen dann die letzten tragischen Schlußfolgerungen für sich daraus zogen?

Was aber mich selbst betrifft: mußte nicht diese tragische Grundstimmung jener kleinstädtischen Umwelt sich in der Seele des Heranreifenden widerspiegeln und ihren Schatten auf mein ganzes späteres Leben werfen? Alles, was ich sah, erlebte, erfuhr, verkündigte mir die unerbittliche Härte, Folgerichtigkeit, Grausamkeit des Daseins: der düstere Festungsbau des Gymnasiums, an dessen Wänden die Flügel meiner Phantasie sich wund schlugen; die ragenden Giebelhäuser, hinter deren verhangenen Fenstern sich so viele dunkle Geheimnisse bargen; die altersgrauen Gassen, von deren holperigem Steinpflaster noch die gespenstischen Schritte in Nacht versunkener Geschlechter widerhallten; und dort, in der Perspektive fast aller der Straßen und Gassen sich aufreckend, das ehrwürdige, schicksalumwitterte Schloß, die Ordensburg, durch deren Hallen und Gänge vor Jahrhunderten Verrat und Mord geschlichen waren, halb verfallen, wie sie damals stand, ein Denkmal der Vergänglichkeit aller Menschengröße. Trauer und Melancholie breiteten ihre dunklen Schwingen über mich hin.

Aber der Himmel begann auf eine gar nicht erwartete Weise sich aufzuklären. Ich fing an, Freunde unter meinen Mitschülern zu bekommen. Lag es an den andern, die mich nun besser erkannten? Lag es an mir selbst, dessen ländliche Schüchternheit und Abseitigkeit allmählich wie Nebelgespinst vor dem Licht des höhersteigenden Tages schwand? Verschiedene von meinen Klassenkameraden näherten sich mir, schlossen sich auf dem Schulweg mir an, besuchten mich bald auch in meiner Pension und wurden von mir wieder besucht. Es sind ein paar echte und dauerhafte Lebensfreundschaften daraus entstanden; sie währen, soweit der Tod sie nicht getrennt hat, bis zum heutigen Tag.

Der nächste und liebste Freund, den ich damals gewann, besaß eine unverkennbare Wahlverwandtschaft mit mir selbst; sie wird uns auch ohne Zweifel einander nahegebracht haben. Er war der Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts aus einer nicht weit entfernten Nachbarstadt. Ich habe diesem Jugendfreund in einem Werk meiner Frühzeit, der »Freien Liebe«, »Szenen junger Leute von 1890«, sowie in der ebenfalls frühen Komödie »Lebenswende« so manche komischen und bizarren Züge entliehen. Er heißt hier Ebert, dort Binder, Franz Binder. Schon der Namensanklang mit dem mir selbst nachgebildeten »Helden« der »Freien Liebe« Georg Winter weist auf die zwischen uns bestehende, mir schon in der Schule bewußt gewesene Ähnlichkeit hin. Ich will ihn, da doch allerlei Schnurriges und Abenteuerliches (im besten Sinne) von ihm zu berichten ist, auch weiter so nennen, wie er in der »Freien Liebe« heißt.

»Franz Binder« war ein hübscher, braunhaariger und braunäugiger Knabe mit roten Pausbacken, die immer wie angemalt aussahen. Er war etwa zwei Jahre älter als ich, von äußerst raschem, lebhaftem, ja überstürztem Wesen, das ihn linkisch, unbeholfen, ungeschickt machte, ohne daß er dies im Grunde genommen war. Er stolperte gewissermaßen über seine eigenen Füße, schlenkerte mit seinen Armen in der Luft herum, stieß an allen Tischecken und Bettkanten an, fegte Gläser und Eßgeschirr mit den Ellbogen vom Tisch, brachte durch sein bloßes Erscheinen die Nippsachen auf dem Vertiko in Bewegung und besaß die Fähigkeit, sich Hindernisse in den Weg zu zaubern, wo eben noch keine gewesen waren. Seine hastige, aufgeregte Sprechweise ließ ihn bei Lehrern und Mitschülern mir besonders ähnlich erscheinen, denn auch ich litt an dem gleichen Übel, indem ich die Worte und Sätze manchmal heraussprudelte, dann wieder abhackte, mitten im Satz stockte und von einem Gedanken zum anderen sprang.

Binder war als Quartaner nach Marienburg gekommen, ich lernte ihn daher erst kennen, als ich schon ein Jahr dort war und mich bereits etwas eingelebt hatte. Unser beider Naturen zogen sich aus dem oben angedeuteten Grunde sofort an. Es wurde gleich eine dicke Freundschaft, die freilich vermöge des beiderseitigen Temperamentsüberschusses oft wochenlange Unterbrechungen erlitt. Es gab manchmal leidenschaftlichen Zank, wenn der eine nicht wie der andere wollte oder dachte. Dann gingen wir auf dem Schulweg oder in der Klasse stolz erhobenen Hauptes aneinander vorbei und meinten, es dem andern ordentlich gezeigt zu haben, während es jedem doch im tiefsten Herzen selbst am meisten wehtat und es uns so recht bitter aufstieg, den gehaßten und verlorenen Freund den Unbefangenen spielen oder womöglich mit einem unleidlichen Dritten Arm in Arm daherziehen zu sehen. Um so schöner und erhebender war dann die Versöhnung, die manchmal über Nacht und wie von selbst kam, in schwierigen Fällen erst nach langwieriger »weltanschaulicher« Aussprache ratifiziert wurde. Denn dies war der eigentliche Boden, auf dem wir uns erst gefunden hatten und immer von neuem fanden, der Punkt, wo unsere Wege schicksalsmäßig aufeinandertrafen: eine nahe Gemeinsamkeit unserer Gefühls- und unserer Gedankenwelt.

Es waren unsere besten und höchsten Stunden, wenn wir in Binders kleinem Pensionsstübchen bei »Punsch und Zucker« (dies der Spitzname der alten Fräulein, die Binder hüteten) über Gott und die Welt disputierten oder auf dem Nogatdeich, angesichts der hoch am Himmel aufgehängten Wintervollmondsmelone lustwandelnd, von Tod und Unsterblichkeit sprachen. Geschah es dann am nächsten Vormittag, daß einer von uns das Gelächter der Klasse erweckte (meistens war es ja Binder!), so dachten wir an das hohe Erlebnis unserer Geister vom Abend vorher und blickten wie von einem nicht ganz geringen Bergesgipfel auf die plumpe Masse der Uneingeweihten und Banausen hinab.

Dieses Urteil war hart und hatte natürlich auch nur relative Geltung. Denn aus dieser »amorphen« Masse hatten sich doch mit der Zeit, wie ich schon sagte, einige mir genähert und mein Vertrauen gewonnen, so wie ich das ihre. Es war mit ihnen keine Schwärmerei in den höchsten Höhen, wie mit Binder. Hier ging es mehr um die Wirklichkeit, um die Fragen des Augenblicks, um das lateinische Extemporale oder das französische Exerzitium und nicht zuletzt um den deutschen Aufsatz, den ich bereits früh als meine Domäne in Anspruch nahm. Aber schließlich waren ja auch dies geistige Interessen, über die zu sprechen sich lohnte.

Ich fühlte mich in der neuen städtischen Umgebung, die sich mir erst jetzt erschloß, bald um so vieles leichter, freier, unbefangener. Ich war bis dahin gleichsam mit geballten Fäusten, mit zusammengebissenen Zähnen umhergegangen, jedes Angriffs gewärtig und immer bereit, mich zur Wehr zu setzen und dem vermeintlichen Feind an die Gurgel zu springen. Jetzt begann dies von mir abzufallen; bald hier, bald da löste sich ein Stück des unleidlichen Stachelpanzers, der mich eingezwängt und für die andern ungenießbar gemacht hatte. Ganz und gar – ich will es offen bekennen – habe ich ihn ja nicht abwerfen können: er muß wohl in den langen Jahren meiner einsamen Kindheit zu eng mit mir verwachsen sein. Was noch von ihm da ist, das werde ich wohl ins Grab mitnehmen.

Vielleicht war im übrigen bei diesem ganzen Entwicklungsvorgang auch das Gesetz der Polarität mit im Spiel. Der Landjunge, der ich doch war, fühlte sich von dem städtischen Gegenpol auf das stärkste angezogen, ohne darum doch jemals ganz von seinem eigenen Pol loskommen zu können. Was geschieht physikalisch in solchem Fall? Es werden Ströme von Pol zu Pol in Bewegung gesetzt, Magnetismus entwickelt sich, Elektrizität springt herüber, hinüber, Blitze zucken durch den Raum, Nordlichter treten in besonders großartigen Fällen auf. Nun ja! Ist die Phantasmagorie des geistigen, des künstlerischen, des dichterischen Schaffens etwas wesentlich anderes? So groß oder so klein sie in meinem eigenen Fall sein mag, ich verdanke sie jener Polarität zwischen Stadt und Land, zwischen dem Ewig-Gestrigen und dem Ewig-Morgigen, die ich als Erbteil meines Blutes mit in die Welt gebracht habe.

Der neugewonnene freundschaftliche Verkehr erweiterte sich rasch und erweckte dadurch auch den so lange in mir schlummernden Trieb zur Geselligkeit. Bücher waren bis dahin eigentlich meine einzigen Freunde gewesen. Die Bibliothek des verstorbenen Herrn Dormann hatte mir in ihrer Reichhaltigkeit genug Lesestoff vornehmlich belehrenden Inhalts geboten. (Romane wurden mir noch nicht in die Hände gegeben.) Jetzt begann ich meine Freunde zu besuchen, oder diese kamen zu mir. Oder es wurden gemeinsame Spaziergänge auf dem Nogatdamm, ins Werder hinein, vor allem auch unter den Lauben unternommen, wo am späteren Nachmittag, wenn die Schulen aus waren, ein regelrechter Korso der heranwachsenden Jugend beiderlei Geschlechts stattfand. Diese löbliche Einrichtung bestand offenbar schon seit altersher, denn ich fand sie bereits vor, als ich nach Marienburg kam, und bei meinem Weggang, siebeneinhalb Jahre später, sah es ganz so aus, als ob sie nicht so bald aufhören werde. Ich habe auch in der Tat, bei gelegentlichen Besuchen dort wie in anderen Schulstädten des Ostens, mich überzeugen können, daß in diesem Punkt noch alles so ist wie in meiner Jugendzeit. Das Menschenherz ändert sich nicht so schnell. Und so ist es gut.

Wir hatten von Schule wegen gewisse Sperrstunden, in denen wir uns nicht auf die Straße begeben durften. Sie lagen gegen Abend, überschnitten sich also zum Teil mit jenen Korsostunden, was aber dem Korso keinen Abbruch tat. (Man durfte sich nur nicht erwischen lassen.) Diese Sperrpause sollte vermutlich den Schularbeiten und überhaupt unserer inneren Einkehr dienen. Leider wurde dieser Zweck öfters nicht erreicht. Viele von uns saßen, statt über den Büchern, beim Kartenspiel. Es herrschte geradezu eine Seuche des Kartenspiels. Schon der kleinste Quintaner wußte Bescheid mit des »Teufels Gebetbuch«. Mit Sechsundsechzig fing es an. Die höhere Stufe, die man spätestens in der Quarta erklomm, war das Skatspiel.

Auch mir eröffneten sich jetzt seine Listen und Geheimnisse. Sechsundsechzig war mir schon aus den »Übungsstunden« mit meinem Großvater, ja schon vordem von Tante Lieschen her bekannt. Aber war es nicht eine Schande, daß ich noch nichts von Reizen und Passen, von Vorhand und Hinterhand, von Solo, Null und Grand-ouvert wußte? Meine neuen Freunde schüttelten die Köpfe über einen derartigen Grad von Unwissenheit und Weltfremdheit. Es mußte schleunigst Abhilfe geschaffen werden. Ich sah das ein und versprach mich zu bessern.

Ich war ein aufmerksamer Schüler und lernte schnell. Schon nach wenigen Lektionen konnte ich in die da und dort tagende Partie eintreten, stand meinen Mann und erntete Lobsprüche. Wir spielten natürlich um Geld. Wenn die Beträge auch nicht gerade hoch waren, so überstiegen sie doch manchmal das vorhandene Taschengeld, so daß andere Mittel und Wege gesucht werden mußten. Es war plötzlich eine neue Grammatik anzuschaffen, das Lesebuch war veraltet oder es war aus dem Tornister verlorengegangen; es mußte wohl auch neu eingebunden werden. Den städtischen Eltern gegenüber waren diese Verschleierungen nicht so ganz leicht zu bewerkstelligen, da der Weg der Nachprüfung jederzeit beschritten werden konnte.

Viel einfacher war die Prozedur natürlich gegenüber den Eltern, die auf dem Lande wohnten. Sie waren gar nicht imstande, diese Dinge zu kontrollieren. Auf die Gefahr hin, vor der Nachwelt und vor meinen Enkeln meinen Ruf heillos bloßzustellen, muß ich hier, errötend und dennoch mit erhobener Stirn, das Geständnis ablegen, daß auch ich jene Manöver mitgemacht und es darin zu einer gewissen Übung gebracht habe. Ich sage: »mit erhobener Stirn«, denn ich glaube, trotzdem ein anständiger Mensch geworden zu sein. Aber ich leugne nicht, daß für manchen von uns, am Ende auch für mich selbst, eine gewisse Gefahr darin gelegen hat. Vielleicht ist es so, daß wir auf unserem menschlichen Entwicklungsgange eben auch dieses kritische Stadium zu durchlaufen, auch an solchen Lebensklippen vorüberzusteuern haben.

Neben Karten- und Würfelspiel, das in unserer Quartanerrunde ebenfalls nicht fehlen durfte, wurde ich um diese Zeit auch bereits in das Spiel aller Spiele, in das »königliche« Schachspiel eingeführt. Es trat mir also neben dem Leichtsinn oder der Leichtfertigkeit, wenn man es so nennen soll, auch der Ernst, die Nachdenklichkeit, die Problematik des Spiels entgegen. Merkwürdigerweise war es ein Mädchen, ein zwölfjähriges Mädchen, von dem ich das Schachspiel erlernte. Diese Göhre – sie war nämlich eine solche, war in der ganzen Stadt wegen ihrer Ungezogenheit berühmt oder berüchtigt, ist aber trotzdem später eine sehr tüchtige Jugendbildnerin geworden –, diese Göhre also, die Tochter eines Steuerkontrolleurs, hatte mit ihrem pensionierten Vater bereits als achtjähriges Mädchen Schach gespielt und war eine auch von Erwachsenen gefürchtete Gegnerin. Sie brachte es mir bei, aus welchem Grunde weiß ich nicht; wir wohnten ziemlich nahe beieinander, sahen uns wohl öfters, und so kam es. Aber ich muß, der Wahrheit gemäß und um keinen Makel auf die Tugend der Dame kommen zu lassen, hiermit feststellen, daß uns wirklich auch weiter nichts als das Schachspiel verbunden hat. Übrigens waren wir beide ja auch höchstens zwölf Jahre alt, ich noch nicht einmal.

Meine Lebensführung in der Quarta, wie ich sie eben geschildert habe, dürfte auch bei heutigen Eltern und Lehrern kaum auf einmütige Zustimmung rechnen. Nun denn! Sie hat sie auch damals nicht gefunden. Es war ja nicht so, daß ich meine Schulpflichten geradezu vernachlässigte, aber ich machte doch wohl auf meine Lehrer, im Gegensatz zu bisher, einen etwas leichtfertigen Eindruck. Trotz der vielen Ablenkung kam ich in allen übrigen Fächern gut mit, nur mit der Mathematik haperte es. Hier setzte der Hebel der pädagogischen Vorsehung ein. Es gab eine greuliche, eine gefürchtete Einrichtung an unserem Gymnasium und wahrscheinlich auch an den anderen Gymnasien jener Zeit: die Admonition. Sie wurde im dritten Schulvierteljahr, nicht lange vor Weihnachten, erteilt. Admonition heißt auf deutsch Ermahnung, schärfer noch Verwarnung.

Und die war es. Sie wurde durch Beschluß der Lehrerkonferenz über alle diejenigen Schüler verhängt, deren Aussichten für die kommende Osterversetzung zweifelhaft waren. Ihren eigentlichen Bittergeschmack erhielt sie dadurch, daß sie nicht nur dem Inkulpaten feierlich vom Direktor in Person ausgesprochen, sondern in einem amtlichen Schreiben auch an die Eltern weitergeleitet wurde. Schon tagelang vorher war im Gymnasium von nichts anderem die Rede als von den bevorstehenden Admonitionen. Jeder von uns, den es anging – und nicht wenige fühlten sich ja getroffen –, kratzte sich mit dem Federhalter bedenklich am Kopf und sah mit recht bänglichen Gefühlen dem Kommenden entgegen. Dann und dann, so hörte man, sei die bewußte Lehrerkonferenz gewesen. Gerüchte gingen, diesmal seien besonders viele Admonitionen erteilt worden. Ein schreckliches Strafgericht sollte in Aussicht stehen. Man versuchte, in den Mienen des Ordinarius oder des Mathematiklehrers zu lesen. Als besonders aufgeknöpft und zugänglich galt der Lehrer des Französischen, ein allgemein beliebter Kriegsteilnehmer von 1870, der immer nur halb beim Unterricht, halb wo anders war und durch seine kavalierhafte Art dem ganzen Schulbetrieb den Stempel einer Bagatellsache aufzudrücken schien: deshalb liebten wir ihn. Aber auch er war verschlossener als sonst und noch zehnmal zerstreuter. Das waren üble Vorzeichen für uns Strafanwärter.

Ungewisse schreckliche Novembertage vergingen. Die Sonne schien schon seit Wochen nicht. Ein grauer, nasser Nebel hing in die alten schmuddligen Gassen hernieder und tropfte von den Dächern. Es war zum Weinen! Zum Sterben! Jedesmal, wenn auf den öden leeren Gängen zwischen den Klassenzimmern Tritte laut wurden, zuckten wir zusammen und hielten den Atem an. War er es, der Direktor, der Gefürchtete? Wir kannten seinen langen, ausgreifenden Schritt. Alles lauschte. Niemand war bei der Sache. Auch nicht der Lehrer, der gerade den Unterricht erteilte. Aber der Gefürchtete kam nicht! Kam noch immer nicht! Das Gewitter blieb weiter am Himmel stehen, schwül, unheildrohend. Tagelang.

Und plötzlich kam es, brach es aus, war es da! Gerade als wir es am wenigsten erwarteten. An einem Freitag nachmittags. Die Woche ging ja nun doch zu Ende. Man dachte, daß es jetzt wohl erst Montag kommen werde. Also noch ein paar Tage Galgenfrist, so schrecklich sie auch anderseits war. Und jetzt kam es bereits am Freitag! Freitag nachmittags! Auf tat sich die Tür des Klassenzimmers, man hatte gar nichts vernommen, keine herannahenden Schritte ... Auf tat sich die Tür und herein trat Er, lang und dürr, wie ein Laternenpfahl, schwarz begehrockt, das zitronengelbe Antlitz in noch viel schrecklichere Falten gelegt als sonst. Hinter ihm der Pedell, und er trug eine lange Liste in der Hand. Die Klasse erhob sich. Viele zitterten. Ich sicherlich nicht am wenigsten.

Und die knarrende Stimme des Direktors hub an. Es sei eine traurige Pflicht, die ihn hierher in die Klasse rufe, er hoffe, man werde es sich zur Warnung dienen lassen, diejenigen, die er jetzt aufrufen werde und denen eine letzte Frist zur Besserung gegeben werde. Aber nicht nur sie, auch alle anderen, die ganze Klasse möge sich ein abschreckendes Exempel daran nehmen. Sprach's, griff nach der Liste, die ihm der Pedell reichte – sie erschien uns ellenlang –, und verlas langsam, nachdrücklich, mit scharfer Betonung jedes Buchstabens die Namen derjenigen, denen die Lehrerkonferenz eine Admonition erteilt hatte und an deren Eltern auch bereits geschrieben worden sei. Ich hörte auch meinen Namen darunter und glaubte zu versinken, sieben Klafter tief in die Erde und noch mehr. Wie ich dann vorgerufen wurde, von dem Gefürchteten angeredet wurde, den Zettel mit der Admonition in Mathematik in die Hand gedrückt bekam und wieder auf meinen Platz zurückfand – ich erinnere mich heute nicht mehr daran. Es war wie ein wüster, schrecklicher, grauenvoller Traum, der kam und wieder ging.

Daß es kein Traum war, sondern eine recht unangenehme Wirklichkeit, sollte ich bereits am nächsten Tage erfahren. Mit dem ersten erreichbaren Frühzug waren meine Eltern (beide! Vater und Mutter!) in Marienburg erschienen und traten zuerst bei Frau Dormann, meiner Pensionsmutter, an, um sich bei ihr zu erkundigen, wie denn das Schreckliche, das Unbegreifliche habe geschehen können: ihr Sohn, auf den sie Hoffnungen gesetzt hätten, eine Admonition?! Admonition in Mathematik! Es sei ja immer noch besser als in Lateinisch oder Griechisch! Aber immerhin und dennoch ...! Auch für Frau Dormann werden einige nicht schmeichelhafte Wendungen abgefallen sein. Die gute Frau, die sich wirklich nicht sehr um uns kümmerte, war wie vom Donner gerührt. So etwas hatte einem Zögling ihrer Pension zustoßen müssen!

Der zweite Gang war zum Direktor, zum Klassenlehrer. Jener war ganz in Düsternis, in Feierlichkeit gehüllt. Es sei ja wohl noch nicht alles verloren, aber es stehe schlecht, sehr schlecht. Ein bißchen hoffnungsvoller sah der Ordinarius die Geschichte an. Er hatte Lateinisch und Griechisch und konnte den Mathematiklehrer sowieso nicht leiden, ließ auch durchblicken, daß er gegen die Admonition gewesen sei. Etwas kalmierend wirkte das ja auf meine Eltern. Aber als es dann nach beendigtem Unterricht an mich kam, wurde es doch eine schwere Stunde. Ich versprach, mich zu bessern und alles dranzusetzen, um zu Ostern nach Tertia versetzt zu werden. Meine Eltern beruhigten sich allmählich, der Schreck war auch zu groß gewesen, schöpften langsam neuen Mut für ihren verloren geglaubten Sohn, hinterließen mir noch einen Goldfuchs in Gestalt eines Zehnmarkstücks, und nachmittags fuhren sie, in jeder Beziehung etwas erleichtert, nach Güttland zurück. Ich werde den greulichen Alpdruck dieser Tage bis an mein Ende nicht vergessen.

Der Zweck der schrecklichen Prozedur wurde in der Tat erreicht. Ich kam zu Ostern nach Untertertia. Auch der unangenehme Mathematiklehrer ließ mich mit einer glatten Drei hinüberrutschen. Mein Schifflein gelangte damit in eine günstigere und glücklichere Zone der langen Schulreise. Es war, als ob die Passatwinde, die ihm bis dahin entgegen gewesen waren, sich plötzlich gedreht hätten, und es glitte in rascher Fahrt vor dem Winde seiner fernen Bestimmung zu. Damals bestand noch die sicher aus scholastischer oder humanistischer Zeit herrührende Übung im Gymnasium, daß wir nach der Güte unserer Leistungen, wie sie sich in den Noten der Zeugnisse ausdrückte, gesetzt wurden. Klassenprimus wurde derjenige, der die beste Notensumme im Zeugnis aufzuweisen hatte. Die Fächer wurden dabei natürlich verschieden bewertet. Lateinisch, Griechisch, Mathematik zählten um ein Mehrfaches höher als etwa Turnen oder Singen oder auch Geographie. So entstand eine Rangordnung, die im Vierteljahrszeugnis obenan vermerkt war und sich im nächsten Zeugnis wieder ändern konnte: eine zweischneidige und nicht unbedenkliche Waffe der Schule, da sie zwar einerseits den Ehrgeiz heftig anstachelte, andererseits aber auch den schwächerer Schüler vor sich selbst herunterdrückte und des letzten Restes von Selbstvertrauen beraubte.

Auf mich traf das erstere zu. Ich war schon von Natur aus mit starkem Ehrgeiz erfüllt. Diese Peitsche tat noch ein übriges. Ich hätte es, nachdem ich einmal an die erste Stelle gerückt war, nicht leicht ertragen, sie wieder abtreten zu müssen. Die Folge war, daß ich im Unterricht sowohl wie auch bei den häuslichen Arbeiten mich immer mit ganzer Wucht einsetzte, um nur ja nicht herunterzusteigen. Da ich sehr leicht lernte, rasch auffaßte und in meiner geistigen Entwicklung (ganz im Gegenteil zur körperlichen) den meisten meiner Klassenkameraden voraus war, so brachte mich dieser Wettlauf um die Palme des jeweiligen Klassenprimats nicht weiter außer Atem. Ich habe den Platz durch alle Klassen hindurch bis zum Abiturientenexamen behauptet. Dies soll keine Ruhmredigkeit bedeuten. Ich bilde mir nichts Besonderes darauf ein, denn ich bin lange genug durch die Welt gegangen, um zu wissen, daß gerade für besondere und außerhalb der Norm liegende Begebungen die Leistungen in der Schule gar keinen Maßstab abgeben, im Gegenteil sogar oft zu Unterschätzung und Verkennung verleiten. Für den Durchschnittsschüler aber kommt es nachher im Leben viel mehr auf Entschlossenheit, Zuverlässigkeit, Ausdauer, also auf den Charakter an, als auf schulmäßiges Wissen, so schätzbar es nebenbei auch ist.

Es reifte der Tag heran, wo ich zum erstenmal zur Beichte und zum Empfang der heiligen Kommunion gehen sollte. Ein großer und wichtiger Abschnitt im Leben jedes Heranwachsenden: der Augenblick, wo der Knabe zum Jüngling wird, das Mädchen zur Jungfrau. Die toga virilis, die auf dem Forum dem römischen Knaben zum Zeichen seiner neuen Würde umgelegt wurde. Die Beglaubigung der beginnenden Pubertät, wenn dies auch nicht offen gesagt wird. Meine evangelischen Mitschüler gingen erst mit vierzehn zum Abendmahl. Für uns Katholiken war bereits das zwölfte Jahr der Termin. Wir hätten uns also etwas darauf einbilden können, daß wir den andern zwei Jahre in der Mannwerdung voran waren. Aber es war nur ein gemischtes Vergnügen. Denn es ging ein längerer Vorbereitungsunterricht voraus, der außerhalb der gewöhnlichen Schulstunden lag und uns unsere freien Nachmittage nahm.

Unser Religionslehrer, Kaplan Pohlmann, ein wohlbeleibter, behaglicher, gütiger Mann so um die Fünfzig, mit einem Kopf, der rund gedrechselt und glatt poliert wie eine Kegelkugel war, versammelte uns paar katholische Schäfchen im Pfarrhause um sich. Es lag am Rande der Hohen Lauben, eine Burg im kleinen angesichts des gewaltigen Aufbaus des benachbarten Ordensschlosses selbst. Hier wurden wir vor allem auf den ersten Beichtgang vorbereitet, der nach dem Brauch der Kirche schon geraume Zeit vor dem Empfang der Kommunion stattfinden sollte. Ich sah dem Ereignis mit recht ungemütlichen Empfindungen entgegen. Eine Reihe von Fragen wurde im Unterricht durchgenommen, die dann im Beichtstuhl an uns gestellt und wahrheitsgemäß vor dem Angesicht Gottes beantwortet werden sollten. Einige von diesen Fragen waren peinlich genug; am peinlichsten die, ob man unkeusch in Gedanken, Worten und Werken gewesen sei. Ich konnte mir zwar noch keinen rechten Begriff von dieser Art Sünden machen, fühlte mich aber doch ziemlich unsicher: es war wie ein Stachel, der in mich hineingesenkt war, mich quälte, beunruhigte und jedenfalls meine Wißbegierde reizte. Eine Atmosphäre geheimer, mir selbst noch kaum bewußter Lust nach irgend etwas sehr Schönem, aber auch sehr Verbotenem erwuchs aus diesen Stunden, wovon der herzensgute Seelsorger sich gewiß nichts hat träumen lassen; oder er war durch seine Beichttätigkeit Menschenkenner genug, um auch dies unter die kleinen Läßlichkeiten zu rechnen, die schon vom Sündenfall herrührten. Als endlich der gefürchtete Tag des ersten Beichtgangs da war, erging es mir mit ihm, wie es mit den meisten Ereignissen im Leben geht, vor denen wir zittern und die wir nicht glauben überstehen zu können. Ich erkannte, daß meine Phantasie, indem sie das Kommende vorauskostete, weit übertrieben hatte. Das ist der Lauf der Welt, im Unangenehmen und leider auch im Angenehmen.

Es war aber, außer diesen Regungen und Ahnungen der erwachenden Pubertät, auch noch etwas anderes, viel Größeres, was mich gegenüber dem Religionsunterricht und auch persönlich gegenüber meinem verehrten Kaplan Pohlmann in schwere Gewissensnot versetzte: ich glaubte nicht mehr an Gott. Richtiger gesagt: ich glaubte, daß ich nicht mehr an Gott glaubte. In der Wirkung für mich war das ja dasselbe. Ich übersehe es heute nur besser und weiß, daß es nur eine der vielen Metamorphosen war, die unser Geist zu durchlaufen hat, um zu einem vollkommeneren Anschauen des göttlichen Wesens zu gelangen. Damals litt ich auf das schwerste unter dem Bewußtsein, ein schlechter und verworfener Mensch zu sein, der keinen Gott mehr hatte, denn so stand es im Katechismus, aus dem wir zu lernen hatten, und so hörte ich es auch von meinem zukünftigen Beichtvater selbst. Wie ihm im Beichtstuhl gegenübertreten? Wie ihm das Schreckliche sagen? Konnte nicht ein Blitz vom Himmel herunterkommen und mich erschlagen? So gläubig war dieser ungläubige Junge! Auch das ist in jener gefürchteten Stunde vorübergegangen, ohne daß ich von Kaplan Pohlmann verflucht worden wäre und ohne daß auch nur ein Wölkchen am Himmel jenes wunderschönen Frühlingsnachmittages erschienen wäre.

Ich liebte. Liebte zum erstenmal. Zwölf Jahre war ich alt. Vielleicht einige Monate darüber. Sie war dreizehn. Vielleicht auch sie etwas darüber. Aber dieses eine Jahr Unterschied zwischen Knabe und Mädchen bedeutet ja so viel mehr für das Mädchen. Sie war dreizehn und also für mich schon wie eine große Dame. Oder wie eine Göttin. Oder wie eine Heilige. Oder wie dies alles zusammen. Sie hieß Josepha und war eines von den hübschen Polenmädchen, die ich schon mehrfach erwähnt habe. Sie stammte von einem der polnischen Güter des Kreises Stuhm – eben jenes Stuhm, welches mein mennonitischer Klassengenosse zur Hauptstadt des österreichischen Kaiserstaates erhoben hatte. Von dort war sie gekommen, etwa gleichzeitig mit mir. Wir hatten uns täglich gesehen, hatten an den gleichen Mahlzeiten teilgenommen, an Käsebrot, Tee und »Armen Rittern«. Und doch war mir nie etwas an ihr aufgefallen. Sie war blond. Aschblond. Nun ja. Sie hatte graublaue Augen, von denen es hieß, daß sie tief seien. Sie war hübsch. So sagte man. Sie sah aus wie eine kleine Madonna. So hörte ich. Aber das alles hatte gar keinen Eindruck auf mich gemacht. Ich war an ihr vorübergegangen und hatte nicht einmal den Kopf zu ihr hingewandt. Wie kam es, daß das auf einmal anders wurde?

Ich weiß nicht, wie es kam. Ich weiß nur, daß ich mit einem Schlag in Flammen stand. Mein Herz brannte lichterloh. Mein ganzes Sein und Wesen war in einer einzigen Entzückung. Ich erzählte früher, daß in jenem Schlafzimmer, das von dem unsrigen durch die Glastür mit der undurchsichtigen Gardine getrennt war, auch eine von den polnischen Pensionärinnen schlief. Eben sie war die Flamme meines Herzens. Es war Josepha. Früher hatte es mich ganz kalt gelassen, welches von den Mädchen dort schlief, ob Josepha oder irgendeine andere Gans. Denn so erschienen sie mir im Grunde alle zusammen. Wie anders wurde das jetzt! Der bloße Gedanke, daß nebenan, nur durch eine dünne Glasscheibe getrennt, meine Angebetete leibhaftig umherwandelte, lebte, webte, atmete, ins Bett ging oder, wie man es klassisch ausdrücken konnte, ihr Lager bestieg, versetzte mich in einen namenlosen Rausch, in einen Zustand glückseligen Traumwachens, den ich zum erstenmal erlebte.

Und schon meldete sich der Stachel der Eifersucht. Da waren diese sechs, sieben Jungen, die mit mir das Zimmer teilten und die abends, wenn es bei uns bereits dunkel war, jenseits noch das Lämpchen brannte, hinter der verhängten Glastür Ausguck nach drüben hielten! Wie kamen sie dazu! Was erlaubten sie sich! Was waren das für freche Redensarten, die sie im Munde führten! Ich schäumte vor Wut und war doch machtlos. Einer gegen sieben! Und da war unter diesen andern nun gar ein schon Halb-Erwachsener, ein Fünfzehnjähriger! Ich hatte ihn schon nicht gemocht, als er kam. War übrigens ein Berliner. Was ihn nach Marienburg verschlagen, ist mir nicht mehr erinnerlich. Genug, ich haßte ihn! Haßte ihn wie die Pest! Denn er war es, der mir Josepha stahl! Ich wußte es zwar noch nicht genau, ich hatte noch keine Beweise, aber meine Ahnung sagte mir alles! Sie sprachen bei Tisch miteinander, sie sahen sich in die Augen, o ganz tief, wie mir schien! Mir wurde kein Blick von Josepha geschenkt. Sie ging mit erhobenem Kopf an mir vorüber! Sah über mich hinweg, durch mich hindurch, als ob ich gar nicht vorhanden gewesen wäre! Ich war Luft für Josepha! O wie anders vor wenigen Wochen erst! Damals hatte ich in ihren Blicken gelesen, zu lesen geglaubt, daß auch sie ... Nun, das war vorbei! Ich litt rasende Qualen ...

Ich sagte vorhin, daß mir nicht mehr bewußt sei, wie alles gekommen ist. Ich muß mich verbessern. Vielleicht findet sich doch ein Anhalt in meiner Erinnerung, bis zu dem ich den Faden des Erlebnisses zurückverfolgen kann. Ich hatte damals aus der Dormannschen Bücherei Immermanns »Münchhausen« entnommen. Ob mit oder ohne Erlaubnis meiner Pensionsmutter, sei dahingestellt. Es war der erste Roman, den ich in die Hand bekam. Ich las ihn, vielmehr, ich verschlang ihn in einem Zuge, von Anfang bis Ende. Er fängt – ich darf nicht sagen, bekanntlich, denn heutzutage liest ihn kaum jemand mehr, wenigstens nicht in seiner Ganzheit – er fängt also mit dem elften Kapitel des ersten Buches an. Die ersten zehn Kapitel folgen erst später, wobei der Dichter vorgibt, daß dies durch die Schuld des Buchbinders geschehen sei. Diese gewollt romantische Unordnung und Verwirrung verblüffte mich zuerst und imponierte mir dann. Ich war schon reif genug, dahinter einen künstlerischen Zweck zu vermuten. Zwischen der krausen Phantasie des Dichters und meiner eigenen fanden sich, wie ich es heute sehe, offenbar viele Berührungspunkte. Je wirrer und dichter das Gestrüpp der Handlung wurde, mit desto mehr Feuereifer schlug ich mich hindurch. Eine Menge von persönlichen Bemerkungen und Anspielungen, alle diese zeitsatirischen Einstreusel konnte ich natürlich nur unvollkommen oder gar nicht verstehen, aber das focht mich nicht an. Es war eher noch ein Reiz mehr, ich machte mir meinen eigenen Vers auf alles, geheimniste durch die Gefilde des Romans, wie dessen »wilder Jäger« durch die tiefen, sonnendurchlichterten Waldgründe des Schwarzwalds.

Dazwischen geriet ich auf den Oberhof, wurde mit dem Dorfschulzen bekannt, hörte vom Schwert Karls des Großen, las von der heiligen Feme und von der roten Erde, deren fette Schollen mir nicht nur meine eigene Werderheimat zurückriefen, darüber hinaus noch eine ferne, kaum faßbare Erinnerung an irgend etwas weit Zurückliegendes, vor Jahrhunderten Erlebtes, in mir weckten. Doch dies alles war nur ein Vorspiel. Denn jetzt erschien Lisbeth, das Findel- oder Pflegekind von geheimnisvoller Abkunft, schön und blond und fein, unschuldig und doch eine geheime Sinnlichkeit atmend. Ich liebte sie auf der Stelle und fühlte so ganz mit, wie auch der wilde Jäger sie liebte, litt mit ihm und mit ihr, als er sie anschoß, sie an ihrer weißen Schulter oberhalb der Brust verwundete und ihr die kleinen Blutstropfen wegküßte, und war selig, als sie für immer sich fanden und sich dann herausstellte, daß er ein verkleideter Graf und sie, das Findelkind, zwar ein Kind der Liebe, aber doch die Tochter der halbverrückten Baronesse Emerenzia war.

Wie das alles so ganz mit meinem eigenen Leben übereinstimmte! Der wilde Jäger, der durch die Lande streifte und den keiner als das erkannte, was er wirklich war: das war ich! Und Lisbeth, die schöne blonde Lisbeth, das war Josepha! Auch ich hätte sie anschießen mögen, tun dann ihre zarte weiße Schulter zu küssen. Aber leider fehlte mir das Gewehr, hier war doch ein Unterschied, der mich mit denn Kopf gegen die Wirklichkeit stieß. Sie war auch im übrigen hart und rücksichtslos genug, so daß ich erwachen mußte, ob ich wollte oder nicht. Josepha liebte mich nicht mehr! Sie liebte den andern, den Fünfzehnjährigen! Dies war eine Tatsache, der ich je länger desto weniger mich verschließen konnte. Vielleicht hatte Josepha mich nie geliebt, alles hatte nur in meiner Einbildung bestanden. Mein Tertianerherz zerbrach nicht, aber es war doch wund zum Sterben und genas nur langsam.

Zum erstenmal hatte ich dies erlebt: wie meine Phantasie mir eine graue und rauhe und arme Wirklichkeit in einen Wundergarten umschuf und sich dazu des Zauberstabs der Dichtung, eigener und fremder, bediente. Und doch frage ich mich heute, indem ich dies niederschreibe, ob es überhaupt jemals war und ob ich das alles auch wirklich gelebt, nicht nur geträumt habe. Denn war es nicht von gleichem Stoff wie immer Träume sind: töricht, unzusammenhängend, verworren, überstürzt, abenteuerlich, märchenhaft, toll und sinnlos, dabei voll tiefer Bedeutung? Es ist zerronnen wie ein Morgentraum, kurz bevor wir erwachen, und wie die kleine Schaumwelle, die gischtend sich am Strand bricht. Aber aus vielen solchen kleinen Wellen entsteht doch in unserer Seele das Bild des Meeres, und nichts überzeugt uns stärker von der Wirklichkeit, als alle jene Träume, die uns durchs Leben begleiten. Ich habe sie nachmals noch manchesmal geträumt, und wenn auch alles vorüber ist, so gehören sie mir doch, als ob sie wirklich wären, ich wäre ohne sie nicht der, der ich bin.

Daß auch jener allerersten Jugendliebe ein Körnchen Wirklichkeit innegewohnt haben muß, habe ich viele Jahre später erfahren, als ich, schon in mittleren Jahren stehend, auf einem Bahnhof meiner Heimat jener einstigen Angebeteten begegnete. Ich hätte sie nicht wiedererkannt, aber sie erkannte mich, nach Bildern, die sie gesehen hatte. Sie sprach mich an, reichte mir die Hand und lächelte und sagte, daß ich doch einmal recht in sie verschossen gewesen sei. Sie war eine reife Frau, aber noch wohlerhalten. Ich lächelte ebenfalls, verbeugte mich, wir schüttelten uns noch einmal die Hand und schieden, wahrscheinlich für immer.

Eine neue Figur erschien in der Pension: Kunz aus Trunz. Trunz war ein Bauerndorf auf der Elbinger Höhe, Kunz ein Müllerssohn daher, mehrere Jahre älter als ich, groß und breitschultrig, in seinem damaligen Flegelstadium wie ein ungeschlachter Riese wirkend und auch manchmal von der unbewußten Komik eines solchen. Dies war auch der erste Eindruck bei uns »Älteren« in der Pension, aber er war nur von sehr kurzer Dauer, denn Kunz aus Trunz schlug sofort mit seinen gewaltigen Pranken drauf los, wenn er sich von irgend jemand gehänselt glaubte. Mit dem war also nicht zu spaßen, das merkten wir bald. Selbst den Vorwitzigsten unter uns – denen, die ihrer Behauptung nach zu Reuterbuschs Besuchern gehörten – erstarb die Grimasse um die breiten Mäuler, wenn Kunz langsam und breitbeinig, mit den schwankenden Schritten eines Müllergesellen, der einen Zweizentnersack auf den Schultern trägt, auf sie zutrat, seine Ärmel aufkrempelte und zugleich das Weiße in seinen Augen bedrohlich zu glimmen anfing. Dabei war Kunz, wenn man ihn nicht reizte, von friedfertiger Gemütsart und äußerst gescheit, wie sich bald herausstellte. Wir hatten uns zuerst nicht besonders leiden können, der äußere Gegensatz zwischen uns war auch zu augenfällig, aber dann kamen wir uns näher und wurden schließlich recht gute Freunde, vorbehaltlich eines nie ganz auszugleichenden Temperamentsunterschiedes, der öfters zutage trat.

Kunz besuchte fürs erste die Landwirtschaftsschule, wollte aber aufs Gymnasium, um später Medizin zu studieren. Das war eine Geldfrage, die ihm und seinem Vater viel zu schaffen machte. Dieser kam öfters von Elbing herüber, um mit seinem Sohn Rat zu halten. Er war ein echter ostpreußischer Charakterkopf mit seinem klugen faltigen Gesicht, den hellblauen durchdringenden Augen, der ganze Mann aus einem Guß: Leibl hätte ihn malen können. Ich wurde, so jung ich war, von Vater und Sohn ins Vertrauen gezogen, wir kamen überein, daß ich Kunz in Lateinisch und, wenn ich nicht irre, auch in Griechisch unterrichten sollte.

Ich ging mit Feuereifer an meine Aufgabe, um mich des mir geschenkten Vertrauens würdig zu erweisen. Ich glaube, daß es mir doch sehr schmeichelte. Wir kamen schnell vorwärts, denn auch Kunz gab sich die größte Mühe und brachte alles dafür mit. Ein Anblick für Götter muß es gewesen sein, unsere Unterrichtsstunde mitanzusehen: der dreizehnjährige Knirps, der dem siebzehnjährigen Riesen die Verba in mi beibrachte. Wir fühlten das beide wohl selbst und verzogen uns meistens in irgendeinen gerade unbenutzten Winkel. Bisweilen haben wir unsere Stunde abends auf der Treppe abgehalten, wenn niemand mehr kam. Ich glaube, unsere Pensionskameraden machten sich im stillen über uns lustig, aber es getraute sich niemand damit heraus, dafür sorgte schon Kunz. Ein forschender Blick aus seinen wasserblauen Augen – es waren die eines Seeungetüms – genügte, um jeden sofort nachdenklich zu stimmen.

Dieses Bündnis mit Kunz half mir sehr in der Pension, setzte mich, trotz der Komik, die ihm anhaftete, allgemein in Respekt und hat mir überdies zu einer noch jetzt bestehenden Lebensfreundschaft verholfen. Der nachmalige Dr. August Kunz wurde ein berühmter Augenarzt Westpreußens, Geh. Sanitätsrat oder Medizinalrat. Ich habe ihn oft in seinem späteren Wohnsitz Thorn, der dann polnisch wurde, besucht. Er hat Griechisch von mir gelernt, ich aber auch durch ihn, da ich natürlich, behufs schnellerer Bewältigung des Pensums, darauf bedacht sein mußte, ihm vor allem die Grundformeln der Sprache, die Zerlegung der Haupt- und Zeitwörter in Stamm und Endungen zu erschließen, was wiederum nicht möglich gewesen wäre, wenn ich mir nicht zuvor selbst über diese Gesetze Klarheit verschafft hätte.

Die Verbindung mit meinen Großeltern in Dirschau und mit meinem Elternhause in Güttland war nach wie vor rege. Ich fuhr öfters an Sonnabenden und vor Feiertagen hinüber und verbrachte natürlich die Ferienzeit ganz dort. Aber es war doch jetzt so weit gekommen, daß ich schon nach einigen Ferientagen Sehnsucht nach Marienburg und nach meinen Freunden, wenn auch nicht gerade nach der Schule bekam. Ich machte von Güttland aus lange Spaziergänge auf dem Weichseldamm, wo mich im Wechsel der Jahreszeiten das grüne sonnenbeglänzte Land, reifende, wehende Fluren, gelbe Stoppelfelder, braune Getreidestaken, buschig grüne Zuckerrüben grüßten. Wenn ich dann meine Blicke nach Osten wandte und jenseits des silbrigen Weichselstroms in die dunstige Weite spähte, so erschien ganz fern am Horizont die Nadel des Schloßturms von Marienburg. Dort wußte ich meine Kameraden, meine Freunde, an denen mein Herz hing; dort sah ich unter den Hohen Lauben beim Bummel das eine oder andere Mädchengesicht, das mir gefiel, zu dem es mich hinzog, das ich »verehrte« und mit dessen Trägerin ich doch nie ein Wort gewechselt hatte. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide! Die Verse aus Wilhelm Meister, den ich eben um diese Zeit zu lesen begann, klangen mir in der Seele wieder und wollten nicht von mir weichen.

Zur Sommerszeit jener letzten Siebzigerjahre pflegten erwählte Gäste nach Güttland zu kommen. Es war die Familie Marschalk aus Berlin. Frau Laura Marschalk – sie hatte ihren gleichnamigen Vetter geheiratet – besuchte in den großen Ferien ihren alten Vater, von dem ich schon erzählt habe, und als dieser gestorben war, ihre hier lebenden Schwestern. Sie brachte meistens auch ihre Kinder mit, ihren Sohn Max und ihre zwei älteren Töchter Mathilde und Lisbeth. Die beiden jüngeren, Trude und Grete, die heutige Frau Margarete Hauptmann, lagen noch in den Windeln und traten nicht in Erscheinung. Die Familie Marschalk machte, wie es hieß, ein großes Haus in Berlin. Die Zeit der Gründerjahre lag ja noch nicht lange zurück. Viel Geld war damals verdient worden, andererseits aber auch verloren gegangen. Zur ersteren vom Glück begünstigten Klasse gehörte, wie man erfuhr, auch die Familie Marschalk. Es wurde viel über ihren Reichtum gefabelt. Kein Wunder, daß ihr Besuch im alten efeuumsponnenen Lehrerhause jedesmal die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes erregte.

Auch von Frau Lauras Schwester Julie war öfters die Rede. Sie war eine namhafte Opernsängerin jener Tage, die viele Jahre am Stuttgarter Hoftheater wirkte. Sie hätte in einer Zeit, die vor meinem Wissen lag, einen unserer Nachbarn, einen großen Besitzer, heiraten sollen, alles war schon für die Hochzeit vorbereitet gewesen. Da war Julie Marschalk eines Morgens abgereist, die geplante Heirat fiel ins Wasser. Des Kopfschüttelns in Güttland war kein Ende gewesen. Wie man sich solch eine Partie hatte verscherzen können! Eine Lehrerstochter! Aber die war weg und kümmerte sich nicht darum, was die Leute klatschten. Das Glück, wie gesagt, war ihr hold. Sie brachte es mit ihrer Stimme und ihrer Kunst zu Stellung und Namen. Also hatte sie doch recht gehabt, so erklärten jetzt dieselben Leute, die vorher das Gegenteil behauptet hatten. Mich stimmte das schon damals sehr mißtrauisch gegenüber der öffentlichen Meinung, ich mußte an die Wetterfahne auf unserer Scheune denken.

Frau Laura Marschalk war damals noch immer eine schöne Frau von südlichem Typus, der auch auf ihre Kinder übergegangen ist. Ihr blauschwarzes Haar fiel allgemein auf. Sie hatte sich, trotz der vielen Jahre, die sie schon in Berlin lebte, noch ihre volle ländliche Natürlichkeit und Urwüchsigkeit bewahrt, ohne darum als Dorfpomeranze zu wirken. Sie war eine prächtige Frau von angeborener Hilfsbereitschaft und unversieglichem Humor. Es gab wohl niemand, der sie nicht gern hatte. Auch in meinem Elternhause, wo man doch ziemlich streng urteilte, war sie immer ein gern gesehener Gast, wenn sie mit ihren Kindern nach Güttland kam. So war es nur natürlich, daß auch ich Max Marschalk und seine beiden Schwestern kennenlernte. Max war etwa zwei Jahre älter als ich, aber als geborener Großstädter, Berliner, mir an Erfahrung und Weltkenntnis noch viel weiter voraus. Er hatte für mich eine sehr überlegene und ironische Art, von Menschen und Dingen zu reden, die mich oft zu scharfem Widerspruch reizte. Wenn ich ihn nicht immer laut werden ließ, so geschah es nur, weil es sich doch um Gäste handelte. Er fraß sich allerdings um so tiefer nach innen, so daß unser Verhältnis in diesen ersten Jahren nicht gerade das wärmste war.

Desto lieber verkehrte ich mit seinen Schwestern, die ja ebenfalls sehr zur Ironie neigten, dies aber durch ihr nettes herzliches Wesen immer wieder gutmachten und schließlich eben auch Mädchen, angehende Backfische waren. Sie hatten in ihrer offenen, natürlichen Art viel von ihrer Mutter, was mich besonders anzog. Mutter und Kinder wurden entweder zu Tisch bei uns eingeladen, dann gab es ein feierliches Paradeessen, da meine Mutter sehr darauf bedacht war, was Küche und Tischgedeck anbetraf, vor den Berliner Gästen nicht zurückzustehen. Oder es fand eine mehr zwanglose Kaffeegesellschaft im Garten statt, unter dem alten mächtigen Lindenbaum, über dessen ragender Wipfelkrone schon damals wenigstens hundertfünfzig Jahre dahingezogen waren. Es hat mich das erstemal, als wir die Berliner bei uns hatten, einen nicht geringen inneren Kampf gekostet, meine schreckliche Schüchternheit und Unsicherheit soweit zu überwinden, daß ich überhaupt zum Vorschein kam. Am liebsten wäre ich oben in meiner Stube bei meinen Büchern, beim Wilhelm Meister oder bei der ägyptischen Königstochter des damals in Mode stehenden Ebers geblieben und hätte die fremde Gesellschaft ihrem Schicksal überlassen. Aber dann siegten doch die Neugierde und der Ehrgeiz, wohl auch die Furcht vor der Lächerlichkeit, nicht zuletzt half ein geharnischter Befehl meiner Mutter nach.

Ich glaube, ich muß mit einem Gesicht wie ein Richter der Heiligen Feme vor die fremden Eindringlinge hingetreten sein und einen recht komischen Eindruck auf die Kaffeegesellschaft, besonders auf Max und seine Schwestern gemacht haben. Ich hatte auch selbst das Gefühl meiner Lächerlichkeit, meine Wut wurde dadurch nur um so größer. Aber nachher ging es doch besser, als ich gedacht hatte. Ich fühlte, daß ich beobachtet wurde, und setzte alle meine Kraft daran, das Examen vor den Berlinern zu bestehen. Es schien mir auch schließlich zu gelingen, trotz aller Ironie und Spötterei, mit der man mich bedachte. Ich beobachtete aber auch selbst und entdeckte auf der Gegenseite ebenfalls den oder jenen Zug, den ich meinerseits kritisierte. Es wurde ein scharfes Treffen, dieses erste Mal, und eigentlich wiederholte es sich in jedem Jahr von neuem, obwohl ich mich inzwischen sehr mit den beiden Mädchen angefreundet hatte und sie höchst reizvoll fand. Es war die erste Begegnung mit dem Berliner Wesen, mit Witz, Schärfe, Ironie, Sarkasmus des Berlinertums. Kein Wunder, daß die Funken sprühten und es manchmal heiß herging, denn auch ich konnte mit jenen Dingen aufwarten und wußte herauszugeben, wenn auch meiner ganzen Natur nach auf eine andere Art. Aber wie wir uns auch neckten und bekriegten, es hat nicht gehindert, daß ich mich zuerst in Mathilde, nachher in Lisbeth verliebte, ohne es mir natürlich anmerken zu lassen. Ich wäre mir sonst wie kein Mann vorgekommen, der ich doch begonnen hatte zu sein. So manche Stimmungen und Empfindungen jener anhebenden Pubertätszeit kann der Leser in meiner Erzählung »Der Ring des Lebens« wiederfinden.

Den endgültigen amtlichen Stempel unserer Mannwerdung brachte uns die Untersekunda: das Sie. Wir bildeten uns viel darauf ein und hätten es nicht leicht hingenommen, wenn uns einer unserer Lehrer plötzlich wieder mit dem traulichen Du angeredet hätte. Die innere Reife der meisten von uns entsprach aber nur sehr wenig der äußeren Würde, die wir in Anspruch nahmen. Es war geradezu eine Horde von Lümmeln und Flegeln beieinander, was ja auch mit ihrer durchschnittlichen Altersstufe, etwa sechzehn, übereinstimmte. Wir hatten auch einen dieser Horde ungefähr artgleichen Ordinarius, einen bösartigen, rüpelhaften Patron: ein kleiner, dickwanstiger, spitzbäuchiger Mann mit einer vorspringenden, stechenden Nase und puterrotem Kopf, der in der Tat wie ein wildgewordener Truthahn im Klassenzimmer umherkollerte. Mich konnte er auf den Tod nicht leiden, ich ihn ebensowenig. Wahrscheinlich war ich ihm, abgesehen von anderem, zu jung, da ich ja mit meinen kaum vierzehn Jahren weit hinter dem Klassendurchschnitt zurückblieb.

Ich war schon zu den großen Ferien wieder Klassenprimus geworden. Mein Ordinarius hatte das nicht hindern können. Dies war mein Triumph ihm gegenüber, den er mir vom Gesicht ablas. Seine Stimmung gegen mich konnte dadurch nicht besser werden. Aber auch die Stimmung der Klasse war nichts weniger als freundlich und verschlechterte sich noch mehr. Ich hatte eine Anzahl von Feinden, besonders unter den sogenannten »Alten«. Das waren die Sitzengebliebenen vom vorigen Jahr, die die Klasse noch einmal durchmachen mußten. Ich war ein »Neuer«. Die Vermischung von Alten und Neuen vollzog sich schon sonst nicht leicht; in meinem Falle kam noch der Altersabstand hinzu. Ich galt, wie ich annehme, als ein schrecklicher Streber und zugleich als ein ganz grüner Junge, der noch nicht hinter den Ohren trocken war. Ich trank ja nicht einmal Bier, niemand hatte mich noch in einer der verbotenen Schülerkneipen gesehen, wo dralle Mädchen, meistens aus Königsberg, die Sekundaner und Primaner in Empfang nahmen und sich recht gefällig zeigten. Die bekannten roten und grünen Laternen wiesen den Weg dorthin. Ich hatte ihn noch nicht gefunden.

Das war eines von meinen verschiedenen Verbrechen. Ein anderes war, daß ich dazumal wahrscheinlich in der Tat ein recht unleidlicher Bursche war oder mich wenigstens so anließ, wiewohl es im Grund meiner Seele anders aussah. Aber den konnte und wollte ich niemandem von meinen Widersachern zeigen. Erst jetzt meldeten sich so recht die Folgen meiner einsamen Kindheit und Jugend sowie meiner außerordentlichen Frühreife: Weltverachtung und Menschenfeindschaft, frühzeitiger Skeptizismus und sein Gegenstück, maßloser Weltschmerz. Verschiedene von meinen bisherigen Freunden waren inzwischen zurückgeblieben, kamen nicht mehr mit mir mit; wir sahen uns nur noch selten. Ich war wieder ziemlich allein, wie in meiner Anfangszeit. Es gab aber auch noch einen dritten Grund, der war sogar entscheidend: ich galt als Anarchist.

Im Mai 1878 hatte Hödel das Attentat auf den alten Kaiser Wilhelm verübt, das mißlungen war. Der Kaiser war unverwundet geblieben. Aber die Empörung im Volk war ungeheuer. Eine Woge von Feindschaft erhob sich gegen alle, die auch nur im geringsten Verdacht standen, der bestehenden Ordnung zuwider zu sein. Dazu gehörten nicht nur, wie selbstverständlich, Anarchisten und Nihilisten, deren große Zeit gerade in Rußland war; es gehörten, außer der damals ohne Zweifel sehr radikalen Sozialdemokratie, auch die Zentrumsleute, ja verallgemeinert, die Katholiken dazu. Wenigstens war es bei uns in Marienburg so, sicher auch sonst in weiten Kreisen Norddeutschlands. Der gegenseitige Glaubenshaß aus der Kulturkampfzeit wirkte noch in seiner ganzen Bitterkeit nach. Auf katholischer Seite blieb man dem Gegner nichts schuldig. Auch ich war ja einer von den wenigen Katholiken des Gymnasiums: ein erschwerender Umstand, dessen Gewicht noch dadurch verstärkt wurde, daß ich gleichzeitig wegen meiner äußersten Freigeisterei bekannt war. Das reimte sich eigentlich nicht recht zusammen, Glaube und Unglaube, aber meinen Feinden kam es nicht darauf an, sie warfen alles in einen Topf und ließen es über dem Feuer jener allgemeinen Empörung zu einem saftigen Gulasch zusammenkochen.

Am 2. Juni 1878 schoß Nobiling auf den unter den Linden vorbeifahrenden alten Kaiser und verwundete ihn schwer. Zuerst schien es, als werde der einundachtzigjährige Mann nicht wieder aufkommen. Nur zu begreiflich, daß die Volkswut groß war und überall Anarchisten und Vaterlandsfeinde witterte, auch wo keine waren. Auch ich sollte schließlich ein Opfer jener Psychose werden. An jenem 2. Juni – es war ein schöner Frühsommernachmittag, ich sehe den Tag und den Himmel wie heute – hatte ich mit ein paar Freunden, es war wohl auch Binder dabei, eine Kahnfahrt auf der Nogat gemacht. Wir hatten gesungen und große Reden geführt, während wir uns von dem Punkte oberhalb, bis zu dem wir hinaufgerudert waren, von den Wellen des gelben Stroms sacht wieder talwärts gen Marienburg tragen ließen. Hoch über uns auf dem Steilufer sahen wir die Türme und Zinnen des Schlosses im roten Glanz der sinkenden Abendsonne zum blauen Sommerhimmel emporragen. Es war ein unvergeßlich schönes Bild, und unvergeßlich ist es mir in der Erinnerung geblieben. Als wir an Land stiegen, jugendselig und zukunftsfroh, wie es auch der menschenfeindlichste und weltschmerzlichste Gymnasiast manchmal sein kann, hörten wir von dem zweiten und diesmal gelungenen Attentat auf den Kaiser. Extrablätter waren erschienen. Die ganze Stadt war in höchster Erregung. Wohl möglich, obwohl ich mich dessen nicht entsinne, daß damals aus meinem Munde, im angeborenen Widerspruchsgeist, irgendein Wort gefallen ist, das mißdeutet werden konnte. Ich weiß es nicht mehr. Es hatte auch zunächst weiter keine Folgen.

Man schrieb das Jahr 1879. Der alte Kaiser war gegen alles Erwarten wieder genesen. Zu Ende August wurden in Ostpreußen, nahe der russischen Grenze, die großen Manöver abgehalten, an denen der alte Herr wieder teilnehmen konnte. Seine unverwüstliche Lebenskraft hatte alles überstanden. Anfangs September – es war um den Tag der Sedanfeier herum – sollte die Rückreise des Kaisers über Marienburg stattfinden. Am Bahnhof würde der Hofzug ein paar Minuten halten und von den Spitzen der Behörden begrüßt werden. Alle Schulen hatten am Bahnhof Aufstellung zu nehmen. Die Aufregung bei uns war groß. Ein schulfreier Tag obendrein. Und man würde den alten Kaiser zu sehen bekommen, der schon eine fast sagenhafte Gestalt war.

Der große Tag war da. Ein heiterer spätsommerlicher Vormittag, nachdem der weiße Septemberhimmel sich gelichtet hatte. Wir umgaben, nach Schulen und hier wieder nach Klassen geordnet, in langgestrecktem Rechteck das Bahnhofsgebäude. Es traf sich, daß unsere Untersekunda gerade den freien Ausblick auf die Bahngeleise hatte und also Hoffnung für uns bestand, des Kaisers auch wirklich ansichtig zu werden. Dies sollte sich erfüllen, wenn auch auf unerwartete Weise. Ich befand mich in der ersten Reihe der Klasse; vermutlich hatte man uns nach der Größe aufgestellt, so daß die Kleineren nach vorne kamen. Gerade hinter mir stand einer von den »Alten« der Klasse: eben derjenige, der mein eigentlicher Todfeind und der Anstifter aller gegen mich gesponnenen Ränke war. Wenigstens hielt ich ihn dafür, und was dann geschah, hat mir recht gegeben.

Der Zug war bereits von Elbing her gemeldet und konnte jeden Augenblick eintreffen. Wir waren alle im Fieber der Erwartung. Die Bahnlinie machte vor der Einfahrt eine scharfe Biegung um den sogenannten Galgenberg herum. Hier war in alter Zeit die Richtstätte von Marienburg gewesen; seine Bestimmung war noch nicht vergessen. Wir hatten alle unsere Blicke dorthin geheftet, wo die Lokomotive des Zuges zuerst erscheinen mußte. Auch ich tat das gleiche, während meine Gedanken vielleicht um den Galgen kreisten, der einst sich dort erhoben hatte. Und was jetzt kam, war das Werk weniger Augenblicke. Der Zug tauchte plötzlich hinter dem Galgenberg auf und fuhr mit großer Geschwindigkeit in den Bahnhof ein. Wir waren ja darauf gefaßt und doch überraschte es die meisten von uns, so jäh vollzog sich die Einfahrt. Zu den ganz Aufmerksamen, die den Zug sofort erspäht hatten, gehörte auch mein feindlicher Hintermann. Er riß sofort seine Kopfbedeckung herunter und rief aus Leibeskräften: Es lebe der Kaiser! Hoch! Hoch! Viele von uns, vielleicht die meisten, stimmten auf der Stelle ein. Das ging so schnell, daß der Zug noch gar nicht im Bahnhof war, als schon die Mützen flogen und die Hochrufe daherbrausten.

Mir kam das alles zu rasch. Ich stand, trotz aller Spannung, zerstreut, verträumt wie immer, dachte wohl auch, des Widerspruchsgeistes voll, der ganze Jubel sei verfrüht, es sei Zeit genug dazu, wenn der Zug im Bahnhof sei. Jedenfalls lag mir nichts ferner, als den alten Herrn nicht grüßen zu wollen, vor dem als dem Begründer des Reichs auch ich den höchsten Respekt hatte. Einerlei, was mir durch den Kopf schoß, ich hatte keine Zeit zur Besinnung, denn mein Hintermann, wahrnehmend, daß der verhaßte Feind noch mit der Mütze auf dem Kopf dasteht, schlägt sie mir, gerade als ob er eben auf dieses gewartet habe, von hinten herunter und schreit über die Menge hinweg: »Er hat den Kaiser nicht gegrüßt! Er hat den Kaiser nicht gegrüßt!« Alle Blicke wenden sich mir zu. Neugierde, Verblüffung, Haß, Feindschaft in aller Augen. Mich packt blinde Wut, Raserei: habe ich das gewollt? Ist das Gerechtigkeit? Ein Schurkenstreich! Das Blut schießt mir zu Kopf. Blind vor Zorn, mit einem jähen Ruck, wende ich mich um, schlage mit geballten Fäusten auf meinen Hintermann los. Der, einen Augenblick verblüfft, schlägt mit den Fäusten zurück, wir packen uns, balgen uns ... Inzwischen ist der Hofzug – ich wiederhole, es ging alles schnell wie der Blitz – nun wirklich im Bahnhof angelangt, bremst, steht. Der Salonwagen des Kaisers hält gerade gegenüber unserer Klasse. Genau so hatten wir es uns ausgerechnet. Nur das Schauspiel der aufeinander losholzenden Jungen war nicht vorausgesehen. Schon werden wir von kräftigen Armen auseinandergerissen. Ich reibe mir die Stirn, die Augen, starre hinüber zum Zuge. Dort im offenen Fenster steht Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen, der noch die Freiheitskriege mitgemacht hat, zweiundachtzigjährig, und schaut mit etwas verblüfftem Lächeln auf unsern eben unterbrochenen Hahnenkampf. Ja, ich sehe es wie heute, das lächelnde und gar nicht ungehaltene Greisenantlitz des alten Kaisers, der sich in diesem Augenblick gedacht haben mag: Schau! Schau! Wird das noch immer gemacht?

Hofzüge halten nur kurz. Auch dieser war nach wenigen Augenblicken verschwunden. Das Ganze erschien mir wie eine Vision. Hatte ich es geträumt oder war es wirklich? O ja! Es war nur zu wirklich! Wie ich aus den Reihen der aufgestellten Klassen fortgekommen bin und den weiten Weg vom Bahnhof nach den Hohen Lauben hinter mich gebracht habe, ist mir nicht mehr erinnerlich. Mein Bewußtsein kehrte erst wieder, als ich nach einer halben Stunde, ich weiß nicht mehr warum, den Marktplatz von meinem Hause nach den Niedern Lauben überquerte; Da kommt mir der ganze Troß des Gymnasiums im geschlossenen Zuge vom Bahnhof her entgegenmarschiert: ein unabsehbarer Heerwurm. Und in aller Augen entdecke ich wieder, wie vorhin, nur noch verdoppelt, verdreifacht, Ablehnung, Feindschaft, Haß, Wut. Als ich am nächsten Morgen in die Klasse kam, fand ich die Bescherung vor: keiner sprach mit mir. Ich war boykottiert.

Beinahe ein Jahr hat dieser erbauliche Zustand gedauert. Vom September 1879 bis zum Juni 1880. Also noch ein gutes Stück in die neue Klasse, in die Obersekunda hinein. Zuerst war es schrecklich. Schien unerträglich. Aber dann fing ich an, mich daran zu gewöhnen. Ich biß die Zähne zusammen und sprach mir zu, daß es wohl so sein müsse. Es werde wohl auf meinem Wege so liegen. Eigentlich habe es gar nicht anders kommen können. Hatte ich es in meinem Weltschmerz, meiner Menschenverachtung nicht beinahe vorausgeahnt? Es tat mir ordentlich wohl, ein so guter Prophet gewesen zu sein. Ich zerfleischte mich selbst und freute mich doch darüber! Auch Binder sprach nicht mit mir. Aber der hatte Glück gehabt. Wir hatten uns nämlich gerade wieder einmal erzürnt, bevor noch die Katastrophe geschehen war. Es war nur natürlich, daß er auch weiter nicht mit mir sprach. Ich konnte ihm nicht vorwerfen, daß auch er mich boykottiert habe, wir waren nun mal erzürnt. Aber ich fühlte wohl, daß es ihm innerlich sehr gelegen kam. Das kränkte mich eigentlich am meisten.

Wie die Dinge lagen, konnte der Vorfall am Bahnhof nicht ohne Folgen von amtlicher Stelle bleiben. Er hatte sich angesichts des ganzen Gymnasiums, ja der ganzen Stadt ereignet. Noch schlimmer: sogar der alte Kaiser hatte ihn vom Zuge beobachtet. Wer weiß, was noch für ein Rüffel zu erwarten war! Auch in einem Teil der Lehrerschaft herrschte starke Mißstimmung gegen mich. Es schien sich nun doch zu bestätigen, daß ich Anarchist war. Dies war schon seit längerer Zeit über mich erzählt worden. Vielleicht ging es auf unbedachte Äußerungen an jenem Attentatstage zurück. Jener bewußte Hintermann vom Tage des Kaiserbesuchs hatte meinem liebenswürdigen Ordinarius schon längst das Gerücht davon zugetragen. Jetzt hatte man den Beweis.

Der Ordinarius stellte beim Direktor und beim Lehrerrat den Antrag auf meine sofortige Entfernung aus dem Gymnasium. Er konnte unter den harmlosen Lämmern seiner Untersekunda unmöglich ein so räudiges Schaf dulden. Immer deutlicher trat zutage, daß hier ein Kesseltreiben gegen mich, eine Art von Komplott im Gange war. Einige von meinen Lehrern waren vorurteilsfrei genug, dies zu durchschauen oder wenigstens zu vermuten. Dazu gehörte besonders der Doktor Stuhrmann, der als die hervorragendste Lehrkraft unseres Gymnasiums galt, so jung er noch war. Er hatte eine in jener Zeit noch ganz ungewohnte kameradschaftliche Art, mit seinen Schülern zu verkehren und ihr menschliches Vertrauen zu gewinnen. So kam es, daß man ihn allgemein liebte und verehrte. Ihm ist denn auch eine glänzende pädagogische Laufbahn beschieden gewesen. Stuhrmann ist vor einigen Jahren hochbetagt als Oberstudiendirektor im Ruhestande zu Deutsch-Krone (Grenzmark) gestorben. Ich habe ihn dort nicht lange vorher besucht, er war noch von höchster geistiger Klarheit und erinnerte sich an alles, was sich einst auf dem Gymnasium mit mir zugetragen hatte, und wobei er mir hatte helfen können.

Mein eigentlicher Retter aber wurde in diesem Fall der Direktor selbst. Es war dies beileibe nicht mehr jener »Schreckliche«. Er hatte uns, zur allgemeinen Erleichterung, schon vor einiger Zeit verlassen und schwang jetzt in Danzig sein gefürchtetes Zepter. Sein Nachfolger, Dr. Michael Hayduck, war fernher von einem Gymnasium in Holstein gekommen. Er war für seinen hohen Posten noch verhältnismäßig jung, hatte aber schon schneeweißes Haupthaar, von dem der tiefschwarze kurzgeschnittene Vollbart merkwürdig abstach. Sein Kopf mit der griechischen Nase und den klassisch geformten Gesichtszügen erinnerte an den des Zeus von Otricoli. Sein ganzes Wesen war edle Würde, ohne jeden Anhauch von Pedanterie. Wenn ich mir später einen der Humanisten um Fünfzehnhundert oder eine klassische Gelehrtengestalt aus der Goethezeit vorstellen wollte, so habe ich immer an ihn, an meinen Marienburger Direktor, denken müssen. Er wurde nachmals Direktor des Gymnasiums in Thorn und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, hat also auch hier die ihm gebührende Anerkennung gefunden. Der Dank aller seiner ehemaligen Schüler ist ihm über das Grab hinaus gewiß.

Dr. Hayduck war es, der mich schon wenige Tage nach jenem Vorfall zu sich ins Direktorialzimmer beschied. Ich kannte ihn noch kaum, da er nicht bei uns unterrichtete. Aber gelegentliche Klasseninspektionen hatten ihn auch zu uns geführt, dabei mußte ich wohl seine Aufmerksamkeit erregt haben. Nichts vom bakelschwingenden Schultyrannen war an ihm, ein schlichter, natürlicher Mensch stand vor mir, als er mich mit seiner tiefen Stimme niedersetzen und frei von der Leber weg reden hieß, wie alles gekommen sei. Ich hatte sofort Vertrauen, schilderte den ganzen Vorgang mit allem Drum und Dran, legte die Fäden des wirren Knäuels bloß, und schüttete mein Herz aus, das zum Brechen voll war. Es war die Sprache der Wahrheit und der Unschuld; und so wirkte sie auch auf Hayduck. Er stand auf, klopfte mir auf die Schulter und sagte, ich sei ein tüchtiger junger Mensch und ich solle es mir nicht weiter zu Herzen nehmen. Er werde auch in Zukunft für mich sein, wie er es in diesem Falle sei, denn erst jetzt könne er mir sagen, daß meine Sache sehr schlecht gestanden habe. Und nun erfuhr ich von dem Antrag meines Ordinarius und von dem feinmaschigen Netz, das man für mich gesponnen hatte. Die feste Hand des Direktors zerriß es. Ich glaube, mir sind die Tränen heruntergelaufen, so sehr sich mein Sekundanerstolz auch dagegen wehrte. Aber noch heute frage ich mich, was bei der damals herrschenden Stimmung aus mir geworden wäre, wenn ich wegen eines solchen Delikts von der Schule gejagt worden wäre.

Da ich keine Menschenseele hatte, mit der ich mich aussprechen konnte, so griff ich wieder auf meine erste Liebe zurück, auf meine Bücher. In jenen Jahren war eine umfängliche Klassikerausgabe des Bibliographischen Instituts in Lieferungen erschienen, denen nachher die rotbraunen Einbände folgten. Ich hatte sie mir von meinem Taschengeld und von den reichlichen Zuschüssen des Großvaters angeschafft und besitze sie noch heute. Jetzt war die Zeit gekommen, sie zu lesen, mich in sie zu vertiefen. Methodisch, wie man es auf dem Gymnasium ist oder wird, machte ich mir aus allem, was ich las, schriftliche Auszüge, Inhaltsangaben. Der ganze Lessing, ich meine jetzt sein dramaturgisches, kunstästhetisches und philosophisches Werk – die Stücke kannte ich natürlich längst – wurde auf diese Weise aufgenommen und verarbeitet, so daß ein wirklicher geistiger Besitz daraus wurde. Ebenso Schillers historische und philosophische Schriften. Auch vieles von Herder. Und die Krone des Ganzen: Goethes Wahrheit und Dichtung. Wenn ich später auf der Universität eine stille Gewissensprüfung über die eigentlichen Quellen meiner Bildung anstellte, so erkannte ich, daß sie fast alle in diese Zeit meines Schulboykotts, meiner öffentlichen Verfemtheit zurückführten. Es waren Tage, Wochen, Monate tiefsten äußeren Dunkels und doch eines blendenden inneren Lichts.

Es mag wundernehmen, daß die Klasse den Boykott gegen mich noch weiterführte, nachdem die Untersuchung vom Direktor niedergeschlagen und damit doch meine Unschuld erwiesen war. Aber wer dies meint, verkennt das Wesen der »kompakten Majorität«. Das Wort stammt von Ibsen und sein Sinn ist so durchsichtig, daß er keiner weiteren Erläuterung bedarf. Die kompakte Majorität hat immer recht, auch wenn sie tausendmal im Unrecht ist, und es ist sehr schwer, fast unmöglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen, nachdem sie sich einmal auf einen bestimmten Standpunkt gestellt hat. Es gibt sie auf allen Gebieten, besonders auch in der Kunst.

Auch ich habe damals in der Untersekunda eine fürs ganze Leben ausreichende Bekanntschaft mit ihr gemacht, und ich danke nachträglich meinem Geschick, daß es mir schon in einer so frühen Periode diese Lehre erteilt hat. Damals freilich vermochte ich die Weisheit der mich führenden Schicksalshand noch nicht ganz zu ermessen. Es wollte nicht in meinen Kopf, daß meine Mitschüler, meine Klassenkameraden ihr offenes Unrecht gegen mich nicht zugaben, während ich doch ganz genau fühlte, daß inzwischen viele von ihnen sich davon überzeugt hatten. Ich wußte eben noch nicht, daß unter Umständen wohl der einzelne bereit sein kann, einen begangenen Irrtum einzugestehen, aber sehr viel schwerer eine feierlich festgelegte Majorität. Ich erblickte Bosheit und Niedertracht dort, wo es sich nur um die kleine Feigheit des schlechten Gewissens handelte. Und je hartnäckiger ich die andern in ihrer Schuld gegen mich beharren sah, desto mehr verhärtete ich mich selbst in dem Gefühl des gegen mich verübten Verbrechens. Keiner von beiden Teilen dachte daran nachzugeben.

Der Selbsterhaltungstrieb zwang mich, von der Erbitterung, die in mir fraß, möglichste Ablenkung zu suchen. Das konnte, wie ich bald einsah, nur durch unausgesetzte Arbeit, Beschäftigung, Tätigkeit geschehen. Ich durfte einfach keine Zeit haben, über mich und mein Schicksal nachzudenken. Die Schulaufgaben reichten dafür nicht aus. Ich bewältigte sie spielend, gleichsam mit einer Hand. Ich brauchte tieferen, reicheren Lebensstoff, um mich in meiner grenzenlosen Einsamkeit und Verlassenheit auszufüllen und mir über den träge schleichenden Fluß der Tage hinwegzuhelfen. Eben deshalb hatte ich zu meinen Büchern gegriffen und mir einen vollständigen Stundenplan für meine freie Zeit entworfen, den ich streng befolgte. Ich stand jeden Morgen – es war Winterszeit – um sechs Uhr auf und studierte meine Klassiker, bis ich zur Schule ging. Nachmittags nach Schulschluß setzte ich das bis um elf Uhr abends fort, mit kurzen Unterbrechungen durch die notwendigen Schularbeiten, einen flüchtigen Spaziergang und das schnell eingenommene Abendessen.

Um die Dämmerstunde besuchte mich der einzige Bekannte aus der Klasse, der den Boykott nicht mitgemacht hatte und noch mit mir verkehrte. Da uns aber keine engere Freundschaft verband, nur gute Kameradschaft, so konnte das meiner beinahe verdurstenden Seele nicht genügen. Er war, um es mit einem heutigen Ausdruck zu benennen, der Verbindungsoffizier zwischen der Klasse und mir. Meine lateinischen Aufsätze und griechischen Exerzitien erfreuten sich, ganz im Gegensatz zu meiner Person selbst, allgemeiner Beliebtheit bei meinen Klassengenossen. Es gab eine sehr nützliche Einrichtung, von der allerdings die Herren Lehrer nichts wissen durften: das »Stimmen«. Dies bestand darin, daß die lateinischen oder griechischen häuslichen Arbeiten in möglichst genaue Übereinstimmung mit dem Aufsatz oder dem Exerzitium desjenigen gebracht wurden, der sie am besten zu machen pflegte. Da mir nun einmal dieser Ruf anhaftete, trotz des im übrigen auf mir ruhenden Makels, so hielt es die Klasse für das Richtigste, wenigstens in dieser Beziehung die Fühlung mit mir aufrechtzuerhalten. Der eben genannte Freund, von dem man ja wußte, daß er noch mit mir zusammenkam, wurde also mit dieser Aufgabe betraut und versah sie auch aufs beste. Wenn schriftliche Arbeiten vorlagen, so kam er zu mir und »stimmte« die seinige mit der meinen, nachher jene wieder mit den andern, so weit sie es wünschten. Ich hatte durchaus das Gefühl, welche Komik dem allen innewohnte; auch der andere war sich dessen bewußt. Wir haben oft darüber gelacht, aber es war nicht gerade geeignet, meine Meinung von meinen Mitschülern und von den Menschen im allgemeinen sehr zu verbessern.

Ich teilte seit einiger Zeit mein Zimmer mit Kunz. Naheliegende Gründe hatten veranlaßt, daß wir aus dem allgemeinen Schlafsaal in ein Sonderzimmer verpflanzt wurden. Es waren der Störungen und Reibereien mit der unbändigen Gesellschaft zu viele geworden. Diese Pensionskameraden mit ihren wilden und lüsternen Renommistereien rückten jetzt mehr und mehr in die Ferne. Um so enger wurde natürlich meine Berührung mit Kunz. Aber sie war nicht immer von der friedlichsten Art. Wir vertrugen uns nicht besonders, der Temperamentsunterschied war zu groß. Auch der Altersabstand. Kunz sah es als selbstverständlich an, daß er das Kommando in der Stube hatte. Wenn er schlafen ging, meistens früher als ich, so sollte die Lampe ausgelöscht werden. Mir paßte das nicht, ich wollte weiterlesen. Es gab einen Wortwechsel, Kunz stand auf und kam in seiner ruhigen, aber immer etwas bedrohlich wirkenden Art näher. Würde er die Lampe auslöschen oder nicht? Das war die Frage. Wenn er es tat, so war ich entschlossen, sie wieder anzustecken. Was dann kam, war erst recht die Frage. Eigentlich keine. Es kam eine Keilerei, bei der ich unbedingt den kürzeren ziehen mußte. Aber mein Eigensinn war groß genug, um auch dem entgegenzusehen. Es waren manchmal ungemütliche Augenblicke. Wir sind trotzdem, wie ich schon sagte, gute Freunde geblieben.

In diesem Winter starb meine alte Pensionsmutter, Frau Dormann. Es war kurz vor Weihnachten. Ich war zu den Ferien in Güttland. Meine Mutter trauerte sehr um die brave Frau, unter deren Obhut sie ihre glücklichsten Schul- und Mädchenjahre verlebt hatte. Wir fuhren mit dem Wagen zum Begräbnis nach Marienburg. Dies erschien wohl als eine feierlichere Art, am Leichenbegängnis teilzunehmen. Auch mein Vater kam mit. Wir fuhren lange vor Morgengrauen von Güttland ab, hielten in Dirschau bei den Großeltern an, um unser Frühstück einzunehmen, passierten die mächtige, achthundert Meter lange Weichselbrücke und fuhren durch das Große Werder, das eigentliche Stromdelta, den andern Weichselarm, die Nogat, ebenfalls überquerend, nach Marienburg. Es war eine stundenlange, mühselige, mark- und beindurchrüttelnde Fahrt auf holprigen, festgefrorenen Landwegen und einer keineswegs mustergültigen Chaussee. Mit verklammten Fingern, trotz Pelz und Decken vor Kälte bibbernd, kamen wir am Ziel an, wo uns nur einige steife Grogs wieder ins Leben zurückriefen. Nach dem Begräbnis wurde die Rückfahrt angetreten, die uns spät abends wieder nach Hause brachte.

Es waren beschwerliche Unternehmungen, die Wagenfahrten jener Zeit. Sie fanden auch sonst öfters statt, wenn wir unsere geistliche Verwandtschaft besuchen wollten, den Dekan in Mewe, einen sehr lebenslustigen Herrn, Vetter meines Vaters, der in seiner höchst repräsentativen Erscheinung, besonders im geistlichen Ornat, Ähnlichkeit mit dem späteren Kardinal Rampolla hatte. Man trank ausgezeichneten Ungarwein bei ihm. Seine Mutter war die früher erwähnte Großtante, die in der Krugwirtschaft meiner Urgroßeltern noch die Tanzereien der französischen Offiziere mitangesehen hatte. Sie war jetzt »erst« achtzigjährig und von äußerster Regsamkeit, ich verdanke ihr einen großen Teil jenes Berichts aus der Franzosenzeit.

Ein anderes beliebtes Ziel unserer Überlandfahrten war Adlig-Liebenau, ein Dorf in der oberen Weichselniederung, unweit des Bischofssitzes Pelplin. Der dortige Pfarrherr war ein Vetter meiner Mutter, Dr. Wygocki, ein zarter, schmächtiger, feingebildeter Pole, der in München studierte, den polnischen Aufstand von 1863 mitgemacht hatte und dann auf Jahre ins Ausland hatte flüchten müssen. Erst nach der Amnestie war er zurückgekehrt, und hatte die fette Pfarrstelle bekommen. Er war von übersprudelndem Temperament, noch immer fanatischer Pole und äußerst streng im Glauben. Aber auch bei ihm trank man ausgezeichneten Ungarwein. Manche Züge von ihm sind in meinen Kaplan Schigorski des Liebesdramas »Jugend« übergegangen, dessen Quellen überhaupt auf diese ganze geistliche Verwandtschaft und Umwelt meiner jungen Tage zurückführen. Deshalb erwähne ich es hier. Es ist für meine ganze Entwicklung wichtig geworden. Von einem dritten geistlichen Herrn, von Onkel Rompf, der das Urbild meines Pfarrers Hoppe werden sollte, werde ich bald zu erzählen haben.

An Stelle ihrer verstorbenen Mutter übernahm jetzt ihre Tochter Valerie, Tante Wally, die Dormannsche Schülerpension. Sie war des unsteten Gouvernantenlebens auf den polnischen Grafenschlössern und aller damit verbundenen Anfechtungen müde geworden und suchte, nachdem ihre stolze Tugend alle Freier abgeschreckt hatte, nach einem ruhigen, gesicherten Plätzchen für ihre reiferen Mädchenjahre. Es sollte sich freilich bald herausstellen, daß das Pensionat mit seinem Dutzend heranwachsender Jungen und Mädchen auch nicht gerade eine Stätte klösterlichen Friedens für sie war. Zunächst blieb alles beim alten. Betty hatte ihren Predigtamtskandidaten geheiratet, den sie schon in seiner Schülerzeit mit Beschlag belegt hatte, und war glücklich installierte Pfarrersfrau irgendwo in Ostpreußen. Neue Gesichter tauchten in der Pension auf, darunter hübsche Mädchengesichter, altgewohnte verschwanden, auch Josepha, das Polenmädchen, in der ich das Traumbild Lisbeth aus dem »Münchhausen« geliebt hatte. Das Antlitz des Lebens wandelte sich langsam, aber stetig. Zu Ostern kam ich nach Obersekunda, was gleichbedeutend mit dem Einjährigenzeugnis und mit dem Abschied zahlreicher Klassenkameraden vom Gymnasium war. Meine Lage veränderte sich auch in der neuen Klasse nicht. Ich blieb nach wie vor in Acht und Bann.

Es war jetzt Frühling. Maienzeit. In den Kämpen am Nogatstrom – so nannte man das Dickicht von Weiden- und Brombeergesträuch am Uferrand – schlugen in diesen weißen Nächten die Nachtigallen. Es gab ihrer noch viele dort, ihr Gesang klang betörend in unsere Herzen, so lächerlich das einer heutigen Sachlichkeit vorkommen mag. Im Schloßgraben und auf der Bastei blühten der Faulbaum und der Flieder. Man atmete ihren Duft, wenn man zur Nogatbrücke ging, allein oder zu zweien und dreien. Ich ging allein. Ich war es schon nicht anders gewöhnt. Auf dem Strom wurde Kahn gefahren. Töchterschülerinnen, Gymnasiasten und unsere Feinde, die »Ackerbauer«. Lieder wurden gesungen, Tücher geschwenkt. Man konnte das alles sehen, wenn man oben auf der Brücke stand und auf den tief unten vorbeiziehenden gelben Strom hinabblickte. Ich hatte keine Augen dafür, ging meiner Wege, aber es war trotzdem da und des Nachts träumte ich davon.

An einem dieser schmachtenden Frühlingstage eröffnete mir Dr. Stuhrmann – ich nannte ihn bereits –, daß die Klasse demnächst ihren Maiausflug unternehme und ich mit von der Partie sein müsse. Ich weigerte mich entschieden, indem ich auf die Feindschaft der Klasse hinwies, die mir jede Teilnahme an der Fahrt verbiete. Stuhrmann erwiderte, es sei jetzt genug des Unsinns, er habe schon alles Nötige eingeleitet, auf dem Maiausflug werde Versöhnung zwischen der Klasse und mir gefeiert werden. Es sei eine glänzende Gelegenheit, die nicht verpaßt werden dürfe. Ich zögerte noch, schlug aber endlich ein.

Unser Ausflug – es war Juni geworden – ging nach Swaroschin zwischen Dirschau und Pr. Stargard. Es war eine sehr schöne, schluchtenreiche Hügel- und Waldlandschaft von thüringischem Charakter, aber außerdem mit Seen darin, die es ja in Thüringen kaum gibt. Die Bahnfahrt dorthin war unangenehm genug für mich. Während alles durcheinanderlärmte, saß ich allein und abseits. Nur Dr. Stuhrmann, der Führer unserer Schar, unterhielt sich mit mir. Ich fragte ihn, wie das mit der Ausführung seines Planes werden solle. Er winkte nur ab: später! Offenbar hatte er wirklich seinen Plan. Im Walde von Swaroschin nahm die Unannehmlichkeit ihren Fortgang. Sie ganze Gesellschaft zerstreute sich, kleinere und größere Gruppen verteilten sich da- und dorthin, verschwanden im tiefen Tannenforst, erschienen wieder auf buchengekrönten Hügelkuppen, im Erlengrund, am plötzlich aufblinkenden Seegestade. Ich trottete allein hinterher, mißmutig, verdrossen, und verwünschte meine Schwachheit, die mich dem Rat Stuhrmanns hatte folgen lassen. Eine entlegene Waldwiese war als gemeinsames Ziel für die Nachmittagsrast vorgesehen. Ortskundige Klassenkameraden wußten mit Weg und Steg dorthin Bescheid.

Nach stundenlangem Marsch, teilweise an Stuhrmanns Seite, in einsilbiger Unterhaltung mit ihm, der öfters bedeutsam lächelte, waren wir am Ziel. Ein wunderschöner saftiger Wiesengrund, von hellgrünem Buchenwald umkränzt, lachte uns an und lud zum Verweilen. Am Waldrand, halb im schattigen Gebüsch versteckt, stand ein kleiner Leiterwagen, mit einem vergnügt grasenden Braunen davor. Auf dem Wägelchen befanden sich ein paar ansehnliche Bierfässer, für die schon rechtzeitig in der Klasse gesammelt worden war. Auch sie lachten uns allen ins Herz. Der Durst der zwanzig Obersekundanerkehlen war riesengroß. Auch der meinige. Ich hatte ja bis dahin im Leben nur wenig getrunken, außer bei Hochzeiten und unsern Besuchen bei der geistlichen Verwandtschaft. Jetzt kam es, wie es kommen mußte. Ich betrank mich. Betrank mich, zuerst aus brennendem Durst, nachher aus allgemeiner Verzweiflung und unergründlichem Weltschmerz. Und dies war der Plan Stuhrmanns gewesen. Er war geglückt. Stuhrmann wußte, daß im Augenblick, wo ich mich einmal gründlich betrinken würde, alle Hemmungen von mir abfallen würden und mein Herz überfließen werde. Er wußte aber auch – und dies bewies, wie gut er in damaligen Schülerherzen zu lesen verstand –, wußte auch, daß meine Mitschüler im Grunde nichts so unleidlich an mir gefunden hatten wie meine bisherige Enthaltsamkeit, und daß ich in dieser großen Stunde, wo ich mich zum ersten Male betrank, erst richtig meinen Befähigungsnachweis als ganzer Kerl und als Obersekundaner erbrachte.

Wie es dann im einzelnen kam und wie alles zusammen sich abspielte, wie ich mich feierlich mit der ganzen Klasse versöhnte und mit jedem noch besonders, wie wir dann zurückfuhren, wie ich nach Hause fand und schließlich ins Bett gefallen bin: ich erinnere mich an nichts! Erst als ich am nächsten Morgen um acht mit einem furchtbar dicken Kopf im Gymnasium erschien, konnte ich die Kette der Tatsachen notdürftig wieder zusammenflicken. Die Klasse empfing mich mit einem einzigen Hallo. Ich war der Held des Tages, brüderlich mit jedem vereint, weil ich sozusagen mit ihnen allen im Straßengraben gelegen hatte. Doch nein! Soweit war es nicht gekommen. Ich war nur, als meine Beine nicht mehr mitwollten, auf dem Leiterwägelchen neben den leeren Bierfässern hinterher gefahren worden. Ob als einziger, wurde nicht weiter verraten. Es muß ein recht fröhlicher Bierleichenzug vom Wald bis zum Bahnhof gewesen sein.

Das Ereignis hatte mich nicht nur mit meiner Klasse versöhnt und mich von einem Tag auf den andern in ihren Mittelpunkt gestellt. Es hatte auch noch Folgen anderer Art. Wir gründeten fast unmittelbar danach eine Schülerverbindung. Ein engerer Kreis von Gleichgesinnten war schon längst mit dem Plan umgegangen; es fehlte nur am letzten Mut. Das Verbot der Schule war streng. Dimission drohte, man konnte von der Schule gejagt werden. Jene Gleichgesinnten hatten bisher gezögert. Jetzt trat ich in ihren Kreis. Ich fürchtete mich auf einmal vor nichts. Eine Art von seelischem Rausch, stärker als jener Bierrausch von Swaroschin, hatte mich plötzlich erfaßt. Meine neuen Freunde sagten, der Knopf sei mir endlich aufgegangen. Unter ihnen war einer von herrischem, befehlerischem Wesen, schmalen, eingefallenen Wangen, gerader, messerscharfer Nase, der nahm das Ding in die Hand, stellte sich an die Spitze, wurde Präside. Er ist später Pfarrer, Superintendent, vielleicht sogar Kirchenrat geworden.

Das Kind, das wir in Willenberg, dem »Bierdorf« bei Marienburg, aus der Biertaufe hoben, hieß Markomannia. Ich wurde Vize-Präses und Fuchsmajor. Die Toten reiten schnell. Eben war ich noch der Abscheu der Klasse gewesen. Jetzt amtierte ich an zweithöchster Stelle bei einer Schülerverbindung und kommandierte eine Anzahl von Füchsen. Wir hatten einen schön entworfenen Verbindungszirkel, der es mit jedem studentischen aufnehmen konnte. Markomannia vivat crescat floreat! »Tante Hintz«, ein Dorfkrug in Willenberg, war die Stätte, wo wir unsere Konvente und Kommerse abhielten. Die hintern Räumlichkeiten dieser bierehrlichen »Tante« hatten schon früheren Verbindungen als Schlupfwinkel gedient. Sie hatten alle nur ihre Zeit gehabt, waren dann aufgeflogen. Jetzt kamen wir und wollten dem Philistertum zeigen, was eine Harke ist! Blutsbrüderschaft einte uns. Auf Verrat stand Ächtung, Verfemung. Studentischer Komment und Jargon gingen bald wie am Schnürchen. Bier, viel Bier wurde getrunken, die Schläger dröhnten auf den Tisch, Präses und Fuchsmajor kommandierten Salamander, daß es krachte. Bierjungen flogen. Die alten Kommersbuchlieder schallten durch den Saal. Gaudeamus igitur. Bruder, deine Liebste heißt? Es war eine Lust, Sekundaner, Primaner zu sein.

Bruder, deine Liebste heißt? Wir sangen es im Chorus und jeder mußte den Namen der seinigen nennen, der dann von der Runde mitgesungen wurde. Wer keine hatte, nannte eines von den klassischen Mädchen aus dem Horaz oder Catull, die Lydia oder die Clodia oder so eine, oder er benutzte diese als Decknamen für die Wirkliche, die er nicht nennen wollte. Auch ich gab damals eine Lydia an, aber sie stammte nicht aus dem Altertum. Sie war leibhaftig vorhanden, wandelte in Fleisch und Blut in die Selekta der Töchterschule und war die Schwester meines Freundes und Bundesbruders, des Präsiden der Markomannia. Ich verehrte sie, wie der Fachausdruck lautete, und hatte in diesem Ausnahmefall sogar ihre Bekanntschaft gemacht, da ich ja öfters zu ihrem Bruder kam. Aber ich verriet natürlich nichts von dem, was ich für sie fühlte, das war Ehrensache. Es war sogar noch ein Reiz mehr, dieses Uneingestandene: man ging mit seiner großen Liebe umher, das Herz voll Sehnsucht, die Brust wollte zerspringen, und niemand wußte etwas, am wenigsten die, der es galt. Es war »pyramidal«.

Ja, wie hießen sie alle, die Blonden, die Braunen, die Schwarzen, denen ich täglich unter den Lauben begegnete, die mir den Kopf verdrehten, die ich verehrte, anbetete und die ich vom Sehen kannte und weiter nichts? Wo sind sie hin, die Käthchen und Gretchen und Annchen? Die Elsen und Truden und Miezen? Die meisten von ihnen werden sicher recht praktische, verständige, gescheite Mädchen gewesen sein, wie man es dem Frauenschlag meiner Heimat nachsagen kann. Ich aber stellte mir mit meiner von Wilhelm Meister, von Philine und Mignon entflammten Primanerphantasie ganz etwas anderes unter ihnen vor und liebte in ihnen, wenn ich es recht erkenne, im Grunde mein eigenes Spiegelbild.

Zu dem sechzehnjährigen Don Quichotte, als der ich unter den Lauben umherspazierte und jeden Tag eine andere Dulcinea besang, gesellte sich auch bald, wie durch ein Naturgesetz, der dazugehörige Sancho Pansa. Es war ein dicker, untersetzter, schon zwanzigjähriger Primaner, das richtige Bierfaß, den wir erst seit kurzem in Marienburg hatten. Er war schon auf vielen Gymnasien gewesen, überall mit Gestank abgeschoben worden und versuchte jetzt bei uns noch ein letztesmal sein Glück. Auch er trug das Band der Markomannia wie ich, natürlich nur, wenn es niemand sah. Wir hatten ihn sofort in unsere Burschenschaft aufgenommen, das war ein »Bursche« nach unserm Herzen. Er wußte Bescheid mit dem ganzen Komment wie der bemoosteste Korpsstudent. Mich schloß er sogleich in sein Herz, ich weiß nicht recht warum. Vielleicht weil ich ihm noch unbändig naiv vorkam und er mich nach seinem Ebenbilde erziehen wollte. Wir gingen täglich unter den Lauben, Arm in Arm, ich dünn wie ein Faden, er dick wie ein Faß, hatten beide mächtige schwarze Schlapphüte auf, jene Demokratenhüte von 48, die damals noch in Mode waren, und schwankten leicht angesäuselt unseres Weges dahin. Das heißt, er war es häufig in Wirklichkeit, ich meistens tat nur so, weil ich es meiner Freundschaft zu ihm schuldig zu sein glaubte und mir überhaupt auf diese Weise sehr männlich vorkam. Ich war jetzt eben auch sechzehn Jahre alt und holte nun in der Prima meine Flegeljahre nach.

Zu einer richtigen Verbindung gehörten nicht nur Burschenband, Cerevis, Kommersbuch und Schläger. Wir mußten natürlich auch eine Bierzeitung haben. Es verstand sich von selbst, daß ich sie verfaßte. Ich habe mir damit meine ersten literarischen Sporen verdient. Damit ist nichts über ihren Wert gesagt. Ich bin weit entfernt, ihn zu überschätzen. Das Merkwürdige nur war, daß ich, der ich doch sonst die Welt auf eine romantische und überschwengliche Weise sah, sie nun plötzlich im Hohlspiegel der Satire erblickte. Dies brachte ja freilich das Wesen einer Bierzeitung mit sich. Aber es ergab sich, daß mein eigenes Wesen dem aufs glücklichste entgegenkam. Meine Bierzeitungen gewannen einen gewissen Ruf, nicht nur bei uns in der Verbindung und in der Prima überhaupt; er verbreitete sich auch in der Stadt. Meine Pfeile richteten sich gegen alles, was uns verhaßt war, gegen Menschen und Zustände. Ich glaube, ich habe einmal auch eines von den hübschesten Mädchen der Stadt, das unsern Zorn erregt hatte, mit dem Hohn meiner Verse überschüttet, so daß ganz Marienburg davon sprach. Es gab Leute, die sich vor unseren Bierzeitungen fürchteten. Ich selbst bildete mir damals ein, ich sei, wenn überhaupt zu etwas, zum Satiriker geboren, ein warmer Gefühlston werde mir wohl niemals gelingen.

Der Übergang von völliger Abgeschlossenheit zu äußerster Ungebundenheit, gleichsam aus der Isolierzelle zur Kneipe, war allzugroß und plötzlich gewesen. Jetzt fing ich an, zu mir selbst zurückzufinden, mein seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen. Nicht daß ich mich wieder, wie früher, von allem zurückgezogen hätte und neuerdings ins andere Extrem verfallen wäre. Ich setzte meinen Verkehr in der Verbindung und mit den Freunden fort, aber die Schule und meine anderen geistigen Interessen kamen doch wieder mehr zu ihrem Recht.

Es fehlte auch nicht an einer äußeren Notwendigkeit dazu. Meinen Lehrern, die seit jenen geschilderten Vorfällen meiner Entwicklung doppelte Aufmerksamkeit schenkten, war die neue Veränderung meines Wesens nicht verborgen geblieben. Vielleicht hatte sich auch das Gerücht von der Verbindung herumgesprochen, der ich angehörte und die ich mitbegründet hatte. Ich sagte schon, daß das Gymnasium sehr scharf gegen alles Verbindungswesen vorzugehen pflegte. Wenn diesmal eine Ausnahme gemacht und unsere Markomannia stillschweigend geduldet wurde, so geschah dies tatsächlich nur aus Rücksicht auf mich. Dies ging deutlich genug aus einem privaten (nicht amtlichen) Schreiben von Dr. Stuhrmann – er war es meines Erinnerns – an meine Eltern hervor. Darin wurde, allerdings in sehr behutsamer Weise, auf den ungeeigneten Verkehr hingewiesen, den ich neuerdings pflegte, und das Vorhandensein einer Schülerverbindung erwähnt, der ich anzugehören schiene. Man wolle in diesem Ausnahmefall vorläufig ein Auge zudrücken, da es sich um einen besonders befähigten Schüler handle, möchte aber doch den wohlmeinenden Rat erteilen, etwas mehr auf mich achtzugeben und mir nicht allzusehr die Zügel schießen zu lassen.

Es schlug nicht wieder gleich einer Bombe bei meinen Eltern ein, wie einst jene Admonition. Ein nicht geringer Grad von Vertrauen war doch durch meine Zeugnisse und mein allgemeines Verhalten bereits vorhanden. In aller Stille nur wurde eine Maßregel getroffen, die eine völlige Veränderung meiner äußeren Lage zur Folge hatte: ich kam in eine neue Pension. Meine Mutter wird sich, in Anbetracht ihrer engen Freundschaft mit »Tante Wally«, sicher nur schwer zu diesem Schritt entschlossen haben; er wurde damit begründet, daß ich in meinem jetzigen Alter einer festen männlichen Hand bedürfe. Ein Taubstummenlehrer Stoll wurde mit dieser Aufgabe betraut. Er hatte eine junge hübsche Frau, die auf meine mich besuchenden, meist schon recht ausgewachsenen Freunde tiefen Eindruck machte. Ich selbst war von derartigen Gefühlen vollständig frei. Sie war mit ihren siebenundzwanzig, Jahren für mich einfach eine »ältere« Frau. Jenes Stadium, das ich eben damals bei meinen Freunden und nachmals im Leben oft genug beobachten konnte – die Anziehungskraft der reiferen Frau für den eben erwachsenden Jüngling –, ist meinem eigenen Leben fremd geblieben. Frau Stoll ist mir während der zwei Jahre, die ich in ihrem Hause zubrachte, immer nur wie eine freilich recht jugendliche Mutter vorgekommen. Aber auch dieser Umstand war schon dazu angetan, mir meine anfangs recht übel empfundene Strafversetzung in freundlicherem Licht erscheinen zu lassen.

Das Ehepaar Stoll bewohnte in einem neueren einstöckigen Hause den ersten Stock. Das Haus lag draußen vor dem Marientor, gegenüber der evangelischen Kirche. Ich sah von meinem Fenster gerade auf den Kirchhof hinüber. Unter den Wipfeln der alten Ulmen, Eschen und Trauerweiden blinkten die Tafeln, Steine und Kreuze vergangener Geschlechter. Aber auch schon mancher, den ich von Ansehen oder persönlich gekannt hatte, schlief hier seinen letzten Schlaf. Manchesmal, wenn ich an Winterabenden längs der Kirchhofsmauer meiner Behausung zuschritt, traten mir die wohlvertrauten Gesichter entgegen, die jetzt nebenan im Grabe moderten, und riefen mir ihr Memento mori zu. Oder der Herbststurm fuhr durch die Kronen der alten Bäume, wirbelte die welken Blätter über die Kirchhofsmauer bis zu meinem Fenster empor und sang auf seine Weise das Lied der Vergänglichkeit. Gerade in den ersten Monaten meines neuen Pensionsdaseins war einer unserer beliebtesten Lehrer, den wir in der Obersekunda als Ordinarius gehabt hatten, auf tragische Weise gestorben. Er hatte in der Nacht, statt einer ihm verordneten Medizin, versehentlich eine Flasche Karbolsäure ausgetrunken. Keine ärztliche Kunst konnte ihn retten. Wir trauerten alle sehr um ihn, veranstalteten eine Sammlung und setzten ihm einen würdigen Grabstein. Mir war die Aufgabe zugefallen, namens der Schüler zu sprechen. Es war das erste Mal, daß ich eine Grabrede hielt. Wie viele sind ihr im Leben gefolgt!

Vergänglichkeit! Ich las sie von den Kreuzen und Steinen dort drüben ab. Die Ulmen und Trauer-Eschen flüsterten und rauschten sie mir zu. Und selbst wenn sie schwiegen, war es wie ein stummer Gruß von ihr. Konnte es ausbleiben, daß dies alles mich wieder ernster, nachdenklicher machte und mir meine eigentlich tiefere Bestimmung zurückrief? Ich wurde wieder häuslicher, wandte mich von neuem meinen Büchern zu. Auch das nicht mehr ferne Abiturienten-Examen warf seine Schatten voraus. Man sollte mir nicht nachsagen dürfen, daß ich meine Pflichten gegen die Schule vernachlässigt hätte. Ich war das, von allem anderen abgesehen, schon meinem Direktor Hayduck schuldig, den wir jetzt in der Prima als verehrtes, aber doch auch gefürchtetes Klassenoberhaupt hatten. Ich kam dadurch täglich mit ihm in Berührung und erfreute mich seines offenkundigen Wohlwollens, das doch auch mit Strenge gepaart sein konnte. Eine Arbeit von mir erweckte damals seine besondere Aufmerksamkeit und brachte mir schwerwiegendes Lob von ihm ein. Es handelte sich um einen großen deutschen Aufsatz. Wir hatten uns das Thema selbst aussuchen können. Ich hatte Goethes Straßburger Zeit und seine Beziehungen zu Friederike frei nach Wahrheit und Dichtung gewählt. Vielleicht war dem Direktor schon die Wahl selbst aufgefallen. Die Ausführung befriedigte ihn ungemein. Hier war ein Keim in mich gepflanzt, der einst aufgehen und Frucht tragen sollte.

Englisch war im Gymnasium Wahlfach. Damals herrschte noch Französisch in den deutschen Schulen. Für uns, die wir nahe der Wasserkante lebten, hatte doch auch das Englische seine Bedeutung. Wenn ich in den Ferien nach Danzig kam, sah ich im Hafen die großen Kohlenschiffe ausladen, deren Heimathafen Hull, Liverpool oder Glasgow war. Die englischen Matrosen schwärmten in ihren Urlaubsstunden aus und bevölkerten die Hafenschenken und die Mädchenkneipen der Breitgasse. Englische Faktoreien und Kommissionsgeschäfte gab es eine Menge in Danzig. Holz und Weizen, die auf der Weichsel oder auf dem Bahnwege aus dem polnischen, russischen Hinterlande kamen, gingen über Danzig nach England. Seit dem späten Mittelalter bestand diese Handelsverbindung. Schopenhauers Vater hatte sich halb als Engländer gefühlt und seinen großen Sohn in diesem Sinne erziehen lassen. Dies war kein vereinzelter Fall. Mit den Hamburger und Bremer Kaufleuten teilte die Danziger Kaufmannschaft die Vorliebe für englisches Wesen, dem sie auch in ihrem äußeren Auftreten nachzueifern suchte.

Es lag also für mich nahe genug, Englisch zu lernen, obwohl dies auch wieder einen Teil der freien Nachmittage kostete. Wir hatten am Gymnasium einen Lehrer der neusprachlichen Fächer, der darin auch an der Töchterschule unterrichtete. Von dieser Tätigkeit haftete ihm selbst etwas Feminines, Weichliches, Verschwommenes an. So war wenigstens unser Gefühl. Sein Haus lag zwischen Gymnasium und Töchterschule. Auch dies kam uns wie ein Symbol vor, und wenn man hineintrat, so schien eine gleichsam weibliche Atmosphäre uns zu empfangen. Dr. Kirschstein, so hieß er, war übrigens deshalb nicht weniger beliebt. Er konnte keinem ein böses Wort sagen und ließ es sich gutmütig gefallen, wenn man ihm auf der Nase herumtanzte. Wir waren unser nur ein paar, die den englischen Unterricht bei ihm nahmen, und kamen dadurch rasch vorwärts, obwohl unser guter Kirschstein uns die Zügel recht locker ließ. Wenn ich an jene englischen Stunden zurückdenke, so ist es mir immer wie ein schläfriger Sommernachmittag, durch dessen halben Trancezustand ich die englischen Worte Kirschsteins eintönig heruntertropfen höre.

Am 1. März 1881 wurde Zar Alexander II. von Rußland von nihilistischen Verschwörern ermordet. Ich erinnere mich deutlich der außerordentlichen Aufregung, die die Nachricht bei uns in Marienburg hervorrief. Man darf nicht vergessen, daß es bis nach Mlawa, der nächsten russischen Grenzstation, kaum 150 Kilometer war. Rußland bedeutete für uns Menschen des Ostens eben doch eine sehr nahe und greifbare Wirklichkeit, wenn dies auch vielen nicht recht zum Bewußtsein kam. Täglich fuhren die großen Kurierzüge, wie man sie damals noch nannte, von Eydtkuhnen nach Berlin und hielten ein paar Minuten in Marienburg. Wir Gymnasiasten standen auf dem Perron – Bahnsteige und Bahnsteigkarten gab es noch nicht – und blickten ehrfürchtig nach den verhängten Fenstern des Schlafwagens, hinter deren jedem wir einen russischen Großfürsten vermuteten. Ab und zu hörte man einen Bahnbeamten von den Zuständen jenseits der Grenzpfähle erzählen und schüttelte ungläubig den Kopf.

Wie fern erschien uns dann dieses Rußland, dieses Asien, das in Mlawa oder Wirballen zunächst mit der größeren Spurweite der Schienen begann und wo auch sonst alles ganz im Gegensatz zu uns war. Aber wie nah es in Wirklichkeit lag, das enthüllte sich mit erschreckender Deutlichkeit bei solchen Ereignissen, wie jetzt bei der Ermordung des Zaren. Wie es wenige Jahre zuvor der russisch-türkische Krieg gewesen war, dessen beklemmenden Atem wir deutlich über die Grenze herübergespürt hatten. Dann zerriß der Schleier, mit dem wir uns nach guter deutscher Weise gegen politische, historische, geographische, wirtschaftliche und sonstige Notwendigkeiten abzuschließen suchten; ein Blick in eine vielleicht noch ferne, aber unausweichliche Zukunft eröffnete sich, der uns erschauern machte. Auch an jenem Vormittag, als unser Ordinarius uns von dem Ereignis Kunde gab, war es wie das Flügelschlagen eines in unabsehbarer Weite herannahenden Schicksals um uns. Der Unterricht fiel an jenem Tage aus. Man mag daraus entnehmen, daß auch schon uns Damaligen manchmal die Politik in den Weg trat. Nur nahm sie mehr von außen Gestalt an, heute von innen.

Je näher die Zeit meines Abiturienten-Examens heranrückte, desto mehr drängte sich meinen Eltern sowie mir selbst die Frage meines Studiums, meines zukünftigen Berufs, nicht zuletzt auch die Wahl einer geeigneten Universität für mich auf. Eine Zeitlang hatte sich meine Mutter mit dem absonderlichen Gedanken getragen, daß meines jugendlichen Alters wegen mein Examen um ein Jahr verschoben werden solle. Es wurde ihr aber von zuständiger Stelle bedeutet, daß dies aus Rechtsgründen unmöglich sei, außer wenn man mich ein Jahr von der Schule nehme. Daß dies geradezu ein Unglück für mich gewesen wäre, bezweifle ich nicht. Ich hörte mit Entsetzen von dem Plan, als er glücklicherweise schon fallen gelassen war, und kam mir vor wie der Reiter über den Bodensee. Ich weiß nicht, wozu ich in meiner Verzweiflung fähig gewesen wäre!

Was mein Studium betrifft, so schwankte die Waage zwischen Philologie und Jurisprudenz. Sollte ich Gymnasiallehrer werden? Sollte ich einmal als Richter amtieren oder als Rechtsanwalt praktizieren? Letzteres war der Lieblingswunsch meines Großvaters. Wir hatten ja auch schon mehrere Juristen in der Familie, die Brüder meines Vaters und andere. Medizin kam nicht in Frage. Theologie war wohl einmal als ferne Möglichkeit erschienen, aber das war vorbei. Mein ganzes Gehaben schloß geistliche Betätigung aus. Also Lehrfach oder Rechtsfach. Meine Mutter hätte mich gern als Gymnasialprofessor mit sicherem Einkommen gesehen. Dies war die Hauptsache: Staatsanstellung und Pension. Mir war das alles herzlich gleichgültig. Ganz andere Pläne gaukelten vor meiner Phantasie: Schriftsteller. Dichter. Wie man das wird? Ich wußte es nicht, sah nur das Ziel, aber nicht den Weg. Aber da doch ein Weg beschritten, eine Wahl getroffen werden mußte, so zog ich zunächst einmal Jurisprudenz vor. Juristen können ja alles mögliche werden. Auch Goethe war doch Jurist gewesen. Also warum nicht ich? Schiller war Mediziner. Das war ausgeschlossen. Es blieb beim Juristen.

Ein Ereignis aus dem letzten Jahr meiner Gymnasialzeit ist mir merkwürdig im Gedächtnis haften geblieben. Es war der Tod Darwins im April 1882. Ich erfuhr ihn aus der Zeitung, die meine Pensionseltern hielten. Sie waren streng katholisch und auch ihre Zeitung war es. Ich weiß nicht mehr, in welchem Sinne das Blatt sich über die Persönlichkeit und die Lehre Darwins äußerte; ich glaube, der Ton war im ganzen zurückhaltend und auf Sachlichkeit bedacht. Die Zeit war ja nun doch vorüber, wo in gut katholischen Häusern der Name Darwins gleich hinter dem Gottseibeiuns gekommen war. Ich hatte ihn in meinen Kinderjahren wohl manchmal auf derlei Weise erwähnen hören. Das hatte merkwürdigerweise meinen Widerspruchsgeist erweckt, ohne daß ich natürlich wußte warum.

Ich erkläre es mir heute so: Es gibt geistige Ansteckungs- und Befruchtungskeime, wie es sie in Gestalt der unzähligen Bakterienarten körperlich, wenn auch unsichtbar gibt. Jene geistigen Keime oder Strahlen, die von den großen Genien der Menschheit ausgehen, erfüllen die Atmosphäre eines Zeitalters auf mehr oder weniger intensive Weise, je nach der Stärke ihrer Emanation, und teilen sich den Geistern der Zeitgenossen dementsprechend mit. Dieser Einfluß kann sich, wenn er stark genug ist, auch auf den Geist besonders empfänglicher Kinder erstrecken. Ich denke mir also eine direkte Beeinflussung und Befruchtung dabei, vielleicht durch in Bewegung gesetzte kosmische Strahlen, und habe nicht etwa eine Beeinflussung durch Lektüre im Sinn, was ja für dieses Lebensalter ausscheidet. Wie dem auch sei, der Name Darwins war für mich, sehr im Gegensatz zu meiner häuslichen Umgebung, von Kindheit an mit dem Nimbus einer der großen Menschheitsleuchten umgeben gewesen. Jetzt war sie erloschen. Ein ganzes Zeitalter schien mir mit ihr dahin zu sein, was ja wohl auch der Wirklichkeit entsprach. Das Bewußtsein ergriff mich tief. Ich erinnere mich, an jenem Abend bis spät gegen Mitternacht mit meinen Pensionseltern darüber debattiert zu haben. Sie wollten nichts von dem gelten lassen, was ich sagte, waren in allem entgegengesetzter Ansicht, aber ich blieb bei der meinen.

Im Sommer desselben Jahres machte ich meine erste größere Reise. Meiner Mutter war vom Arzt eine Kur in Franzensbad verordnet worden. Sie war in jenen Jahren, wie ich schon erzählte, viel leidend und kränklich gewesen. Niemand hätte ihr damals wohl ein so langes Leben vorausgesagt. Es wurde beschlossen, daß ich sie nach Franzensbad begleiten sollte. Die großen Ferien sollten dazu ausgenutzt werden. Ich bekam auch noch eine Woche Nachurlaub. Das Fieber meiner Erwartung steigerte sich kurz vor den Ferien aufs höchste. Ich fürchtete bis zum letzten Augenblick, es könne alles wieder abgesagt werden. In Anbetracht der sprunghaften Entschlüsse, die ich schon oft in meinem Elternhause erlebt hatte, war dies auch durchaus nicht unmöglich. Erst als ich mit meiner Mutter und meinem Vater, der uns das Geleit gab, in dem gotisch monumentalen Wartesaal des Dirschauer Bahnhofs saß und wir dann in dem zur Mittagszeit abfahrenden Kurierzug unsere Plätze einnahmen, glaubte ich an die Wirklichkeit des Unternehmens. Abends waren wir in Berlin. Aber ich bekam nicht viel davon zu sehen: eigentlich nicht viel mehr als die Stadtbahn, die damals erst vor kurzem eröffnet war und als größte Sehenswürdigkeit galt. Dazu gehörte auch, daß sie in gleicher Höhe mit dem ersten oder zweiten Stockwerk der Häuser durch ganz Berlin fuhr. Ich hatte mir das gar nicht recht vorstellen können; als ich es dann sah, fand ich es nicht weiter verwunderlich. Wir sind mit dem Selbstverständlichen schnell bei der Hand. Wie viele »Selbstverständlichkeiten« umgeben uns, mit wie vielen hantieren wir, die bis zum Augenblick ihrer Erfindung oder Entdeckung – das war manchmal erst gestern – noch vollkommene und unbegreifliche Wunder waren!

Wir nahmen ein Hotel in nächster Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße, ich glaube, es war in der Schadowstraße, dicht bei den Linden. Wir gingen natürlich zu Fuß dorthin, ein Gepäckträger trug unsere Sachen. Meine Mutter fürchtete jeden Augenblick, er könne uns durchgehen. Ich mußte mich fortwährend nach ihm umsehen, was mir in meiner überlegenen Welt- und Menschenkenntnis ein bißchen komisch vorkam. Das damalige Berlin wies natürlich die Ruhe eines Friedhofs auf im Vergleich zu heute, seine Straßenbeleuchtung, an der jetzigen gemessen, war die eines Negerdorfs. Trotzdem erschien sie mir von überirdischer Helligkeit, das Straßenleben als ein brausender Strom. Am nächsten Morgen, als Berlin noch halb im Schlaf lag, fuhren wir in einer Droschke zweiter Güte zu dem damals noch sehr majestätisch wirkenden Anhalter Bahnhof. Der Zug war recht voll, es war doch Reise- und Ferienzeit, die dazumal allerdings erst einen kleineren Teil der Menschheit auf Räder setzte. Wieder hatten wir die Tragödie mit dem Gepäckträger, diesmal weil er erst im »letzten Augenblick«, nämlich etwa zehn Minuten vor Abgang des Zuges mit unsern Sachen erschien.

Über Leipzig, Plauen, Adorf, Elster erreichten wir am späten Nachmittag Franzensbad. Unterwegs gab es gehörig viel zu sehen, soweit nicht auf das Gepäck aufzupassen war, daß niemand es stahl. Die Bilder jagten sich in schneller Folge, die märkische Heide, das schon damals von Rauchschwaden überzogene Leipzig, die Wälder, Höhen und Täler des Vogtlandes, wo es ebenfalls nicht an Fabrikschloten mangelte. Die Grenzrevision in Voitersreuth. Sie imponierte mir gewaltig, wie überhaupt dieser Übertritt in ein fremdes Land und Reich, mit dem ich doch, als alter Kenner der Schlosserschen Weltgeschichte, sehr ausgeprägte geschichtliche Vorstellungen verband. Österreich, Böhmen, was hatten sie nicht für eine Rolle auf dem Welttheater gespielt! Jetzt betrat ich zum erstenmal ihren Boden. Die Uniformen der Grenzbeamten, der Soldaten und Offiziere waren an sich schon ein Ereignis.

Die vier Wochen, die wir in Franzensbad zubrachten, waren voll des Neuen und Ungewohnten. Schon mit dem Geld fing es an. Gulden und Kreuzer. Wir mußten uns jede Ausgabe, auch die kleinste, erst in die eigene Währung umrechnen. Ich brachte es bald zu einer großen Übung darin, so daß ich wie von selbst zum Bankier meiner Mutter wurde. Wir hatten zwei hübsche Zimmer in einem Logierhaus unweit der Brunnenanlagen, kauften uns unsern Aufschnitt zum Frühstück und Abend, wo man ihn am besten bekam, und vollführten eine Art von Junggesellendasein, wie zwei gute gleichaltrige Kameraden. Wir waren uns in diesen Jahren meiner beginnenden Reife immer näher gekommen und verstanden uns gerade damals aufs allerbeste. Meine Mutter war ja in ihrem innersten Wesen noch eine sehr jung fühlende Frau, ich wiederum meinen Jahren weit voraus. Auch rein zeitlich war die Wegspanne zwischen uns ja nicht allzugroß. Geistige Regsamkeit und Empfänglichkeit hatten wir beide gemein. Es gab so viel Neues, das uns interessierte, verwunderte, oft auch lachen machte. Da war diese betonte Dienstfertigkeit und Unterwürfigkeit des Dienstpersonals, das »Küß-die-Hand« von Kellnern, Hausmädchen, Verkäuferinnen, Kutschern, Lohndienern, Portiers. Man lächelte und hatte doch das Gefühl, daß jedes »Küß-die-Hand« ein paar Kreuzer kostete. Echt österreichisch! dachte man sich und nahm es hin. So haushälterisch und sparsam wir lebten: man war schließlich auf Reisen. Echt österreichisch waren aber auch der köstliche Prager Schinken und das herrliche Pilsener Bier, das wir uns mittags und abends auf mein Betreiben leisteten. Zum erstenmal trat mir die bequeme, läßliche, large, genießerische, kavalierhafte Lebensauffassung des alten Österreichertums entgegen mit allen ihren Vorzügen und Schattenseiten.

Wir statteten zum Schluß unserer Badekur Prag einen kurzen, aber an Eindrücken beinahe überreichen Besuch ab. Schon die Fahrt durch das wildpittoreske Berauntal von Pilsen nach Prag war bezaubernd. Prag in seiner unvergleichlichen Lage zu beiden Ufern des Moldaustroms, mit seinen hundert Türmen und Kuppeln und Kirchen, mit seinem Judenviertel und Judenkirchhof, mit den alten schicksalumwitterten Gassen, mit seiner Kleinseite und dem mächtigen Terrassenaufbau seines Hradschins überwältigte mich. Aber ähnlich wie in dem von Franzensbad aus besuchten Eger, nur noch stärker, war der Eindruck ein schwermütiger, finsterer, ja beinahe mit Grauen gemischt. Wie viel heimtückisch vergossenes Blut war hier geflossen! Hier lag die große Wesensverschiedenheit gegenüber deutschen Städten von ähnlicher geschichtlicher Vergangenheit, wie etwa Danzig oder Nürnberg, das ich erst später kennenlernen sollte: man glaubte in Prag gleichsam den Blutgeruch der böhmischen Geschichte und ihrer charakteristischen Materialisation, des Hussitentums, zu wittern. So oft ich Prag seit jenem ersten Male auch wiedergesehen habe, stets war der Eindruck von neuem überwältigend, aber stets hat sich auch jener Blutgeruch für mich wiederholt. Vielleicht ist es neben den sonstigen dichterischen Schönheiten von Schillers Wallenstein keine seiner geringsten Leistungen, daß er uns in dem Charakterbild seines Helden das Düstere, Zerrissene, Problematische Böhmens und der böhmischen Seele, dieser seltsamen Grenzland-Komposition aus Deutschtum und Slawentum, gezeichnet hat. Schon damals sah ich Wallensteins Schatten geheimnisvoll und rätselhaft gleichsam vor dem Eingangstor des Böhmerlandes stehen und auf seine blutüberströmte Brust deuten. Dieses Gefühl ist mir bis heute geblieben.

Am 14. März 1883 machte ich in Marienburg mein Abiturienten-Examen. Ich wurde auf Grund meiner schriftlichen Arbeiten von der mündlichen Prüfung dispensiert. Meine Schülerlaufbahn schloß im Zeichen eines großen Ereignisses ab. An dem Tage, wo wir im schriftlichen Examen unsern deutschen Aufsatz zu machen hatten, starb Richard Wagner. Es war am 13. Februar 1883. Ein schneller Tod hatte den gewaltigen Mann in Venedig aus seinem rastlosen, schicksalsschweren Leben abgerufen. Mir war zumute, wie nicht lange zuvor bei Darwins Tode, nur noch um so vieles bestimmter und erschütternder: daß – wenn jemals mit einem großen Menschen – mit diesem eine ganze Epoche dahinschied. Aber gebar nicht der Tod immer wieder das Leben? Die Morgenröte eines neuen Zeitalters brach an. Eine neue Jugend sah ihre Sonne aufsteigen und neue Sternbilder in ihren Nächten glänzen. Waren wir nicht jung und überschäumend von Hoffnung und Kraft? Als ich mit gepacktem Ränzel über die Nogatbrücke gen Westen fuhr und die zackige Silhouette des Ordensschlosses im Nebelgrau des frostigen Märztages verdämmern sah, kam mir die Frage an mich selbst, an die ich mich erinnere, als ob ich sie mir gestern gestellt hätte: Werde auch ich mich einmal, wie es von alten Leuten heißt, nach meiner Jugend zurücksehnen, die dort im Nebel versinkt? Nein! Nein! Und abermals nein! war die Antwort, die ich mir gab. Hat das Leben sie mir bestätigt? Kann ich auch heute das gleiche sagen wie einst? Ich glaube, ich weiß es selbst heute noch nicht.


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