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[Vorwort]

Als ich dieses niederzuschreiben begann, war ich fünfundsechzig Jahre Gast auf Erden. Das ist eine lange Reise, wenn man sie erst vor sich hat. Vom Ende aus gesehen, erscheint sie als Ganzes kurz. Vertiefen wir uns aber dann in die Betrachtung zurückgelegter Einzelstrecken, so schwindelt es uns bald vor der unübersehbaren Bilderfülle und Gestaltenreihe, vor all den zahllosen, einst lebendig gewesenen, für unverlierbar, unentrinnbar gehaltenen und dennoch längst gestorbenen Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen, Plänen, Leidenschaften, Sehnsüchten, Träumen, Wünschen, Bedürfnissen, Irrtümern, Verfehlungen, Enttäuschungen, Überstürzungen, Verblendungen, Seligkeiten, Verzweiflungen – vor diesem nicht abreißen wollenden Filmband mit seinen Hunderten, Tausenden von scheinbar gleichen Szenen, Szenchen, Situationen, von denen doch jede ein ganz klein wenig anders ist als die vorhergehende oder die folgende, so daß nach einem verhältnismäßig kleinen Zeitraum vollständig neue Bilder, Gesichter, Szenen vor unserem rückwärts gerichteten Auge auftauchen, vorüberziehen und auf gleiche Weise wieder verschwinden, um abermals einer neuen Reihe von Ereignissen und Gestalten Platz zu machen.

Ich sage, es schwindelt uns auf unserem Beobachtungsposten der erreichten Altershöhe, mag dies nun ein majestätischer Gipfel sein mit der Fernsicht über viele andere Gipfel, über Eis und Schnee, über Weiten und Länder und Meere, oder mag es sich nur um eine bescheidene Ruhebank auf einem Gartenhügel handeln. Es schwindelt uns vor unserer eigenen unfaßbaren, undefinierbaren Vielgestaltigkeit und Unübersehbarkeit, vor der Unendlichkeit unseres Mikrokosmos, dessen Dauer doch nur siebzig Jahre und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre beträgt; und das Gefühl der absoluten Traumhaftigkeit unseres eigenen und alles Daseins übermannt uns ganz.

»Ein Schatten nur, der wandelt, ist das Leben ... Ein Märchen ist's, erzählt von einem Schwachkopf, Voll wilden Wortschwalls, doch bedeutungsleer.«

Was uns hier Macbeth-Shakespeare als Quintessenz aller Erdenweisheit kredenzt, dünkt uns in der Tat in vielen Augenblicken der tiefste Trunk aus dem Becher der Erkenntnis, das letzte Wort eines vom Schein zum Sein der Dinge Vorgedrungenen.

Und doch! Sollte es wirklich das letzte Wort sein? Darf es das letzte Wort sein? Wollen wir das gelegentliche Opiat eines hoffnungslosen Pessimismus und Nihilismus zum Rezept für die Dauer werden lassen? Wäre nicht eine kleine nebensächliche Folge dann auch die, daß dieser Versuch der Niederschrift eines Lebenslaufes aus dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts gar nicht erst unternommen würde? Denn welchen Zweck hätte es, eine sinnlose, bedeutungsleere Folge von Gedanken, Erfahrungen, Stimmungen, Erlebnissen eines langen Erdendaseins zu Papier zu bringen? Etwa nur um an einem bunten, chaotischen Gewoge unsere Ergötzlichkeit zu haben? Nein! Verhielte es sich in der Tat so, – wie es sich niemals verhalten kann, wofern nicht angenommen wird, daß ein ungeheuerlicher Frevelsinn von Ewigkeitsausmaß diese Welt erschaffen hat – wäre es, sage ich, wirklich so, daß das Leben ein vollendeter Widersinn wäre: der Künstler, der Dichter, der Weise, der Staatsmann, ja jeder Besonnene in seinem Daseinskreise müßte diesem Widersinn, diesem ungestalten Tonklumpen, der da vor seinen Füßen läge, Sinn, Zweck, Bedeutung, Leben, Seele, Dauer einzuhauchen und das armselige nichtige Erdenstäubchen zu einem winzigen Stückchen Ewigkeit umzuprägen suchen.

Man sieht, ich bekenne mich zu den in der gegenwärtigen Weltstunde vielleicht gar nicht mehr so altmodischen Menschen, die wieder an eine verborgene Zielstrebigkeit, an eine geheime Zwecksetzung alles irdischen Tuns und Geschehens glauben. Wenn ich also im folgenden den Bericht meines Lebens niederlege, so wird es wesentlich sein, dessen Leitmotive aufzuzeigen, seinem eigentlichen und hauptsächlichen Sinn nachzugehen und ihn meinen Lesern zum Bewußtsein zu bringen: gleichsam die Kubikwurzel aus dem dreidimensionalen Gebilde von Raum, Zeit und Kausalität auszuziehen, als welches unser Dasein sich in unseren irdischen Augen abspiegelt.

Ob das Exempel am Ende aufgeht oder mit einem ungelösten Rest abschließt, wieviel Selbsttäuschung, Befangenheit, Vorurteil, Haß, Liebe mitunterläuft und ob schließlich der ganze Fall die Untersuchung gelohnt hat: das zu entscheiden bleibe dem Leser überlassen, der die Stelle des Richters oder der Nachwelt vertritt. Ist der eine oder der andere darunter, der diesen Blättern eine Nutzanwendung für sich selbst entnimmt, sie zum Gleichnis seines eigenen Lebens werden läßt, und darüber hinaus die Gestalt ihres Verfassers in Fleisch und Blut vor sich erstehen sieht, so darf der Versuch als geglückt gelten, und diese Arbeit wäre nicht umsonst getan.

Woher kommen wir des Wegs? Wohin geht die Fahrt? Es gibt keine endgültige Antwort darauf, nicht einmal innerhalb eines und desselben Lebens. Mit fünfundzwanzig Jahren kann sie anders lauten als aus dem Munde des Sechzigjährigen oder Siebzigjährigen. Ja, sie lautet oft genug entgegengesetzt. Ich dachte und empfand in meiner Jugend als festgegründeter Materialist. Büchner (Kraft und Stoff), Darwin, so wie ich ihn verstand, Häckel waren meine Leitsterne. Heute – und schon seit langem – bin ich von der metaphysischen Verwurzelung unseres Ichs überzeugt und glaube, daß unser Leben nur ein Fragment ist, dessen Anfang und Schluß außerhalb unserer gegenwärtigen Optik, vor und hinter unserer heutigen Erscheinungsform liegt. War ich einst soviel dümmer? Bin ich heute soviel klüger? Oder liegt es gar umgekehrt? Es wird gewiß viele geben, die je nach ihrem Standpunkt so oder so urteilen werden. Was mich selbst betrifft, so kann ich natürlich nicht umhin, von heute aus meine einstige Stimmung, das Weltbild meiner Jugend, als Irrtum zu betrachten. Aber was ändert das an der Tatsache, daß eben doch ich selbst es war, der einmal so dachte, mit der gleichen Inbrunst und Leidenschaft so dachte, wie ich jetzt vom strikten Gegenteil überzeugt bin, und wie ich vielleicht – vielleicht! wer weiß! wenn auch unwahrscheinlich genug! – wie ich vielleicht am Schluß meiner Tage abermals wieder denken werde.

Man kann das als haltlosen Relativismus bezeichnen oder wie man will. Aber jeder der Selbstbeobachtung, der Selbsterforschung Fähige weiß und erinnert sich: Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir das unser Ich zusammenhaltende geistige Band plötzlich sich lockern fühlen; wo wir über die Grenzen unserer individuellen Sphäre hinauszuquellen, gleichsam über unsere Ufer zu treten glauben; wo wir unsere eigene Identität, den Zusammenhang zwischen unserem vergangenen und unserem gegenwärtigen Selbst mit Bangen und Grauen uns entschwinden sehen. Vorgänge an der Schwelle des Wahnsinns! Gewiß! Aber doch wohl noch diesseits der Schwelle!

So wären wir denn wieder da, wo wir anfingen? Bei der unfaßbaren, unausdenkbaren Vielgestaltigkeit, Unübersehbarkeit unseres eigenen Mikrokosmos? Und wieder hören wir die Stimme aus dem Dunkel: Ein Märchen ist's ... Aber sie erschreckt und verwirrt uns nicht mehr. Wissen wir doch jetzt, daß es nur an uns sein wird, dem Märchen einen Sinn zu geben, für den Traum eine Deutung zu finden, mögen sie sich nun bewahrheiten oder nicht.

Vielheit, die zur Einheit drängt. Einheit, die sich nach Vielheit sehnt. Gestaltenfülle und Erscheinungswelt, die keine wären ohne den Geist, der sie treibt, ohne die Idee, die sie beseelt. Aber was wäre wiederum der Geist, was wäre die Idee für unsere sterblichen Sinne, wenn sie sich nicht in Haß und Liebe, in Geburt und Tod leibhaftig zu materialisieren vermöchten?

So hebe sich denn der Vorhang über meiner Lebensbühne und das Traumspiel oder Märchenstück beginne, wobei hinzuzufügen ist, daß es auch sehr wirklichkeitsnahe Träume und Märchen geben kann.


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