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Wenn die Not am höchsten ...

Am andern Morgen wurden wir nach Preny gebracht, das wir voll russischer Einquartierung fanden. Man ließ uns trotz der fürchterlichsten Kälte auf dem freien Marktplatz stehen, wobei meine armen Kameraden, fast unbekleidet, wie sie waren, außerordentlich litten. Einer derselben, der Leutnant Schwindt, wagte es, sich von unserm geschlossenen Trupp zu trennen; doch augenblicklich ergriffen ihn einige herumstreifende Plünderer und zogen ihn bis auf das letzte, unentbehrlichste Kleidungsstück aus. Man kann sich unsere Wut bei diesem Anblick denken, doch steuerte ein jeder von uns nach Maßgabe seines Vermögens bei, um den so schmählich Beraubten aufs neue notdürftig zu kleiden, wozu ich selbst meine Uniform hergab. Eine lange Zeit riefen wir vergebens nach unsern Kosaken, welche sich in den Häusern gütlich taten, und als sie endlich erschienen und wir sie nun fragten, ob sie endlich für unsere Unterkunft sorgen würden, machten sie uns durch Zeichen und Worte deutlich, wie die russische Einquartierung durchaus nicht leiden wolle, daß wir hier blieben, und daß wir daher weiter müßten.

Jetzt stellte sich aber ein neues Unglück ein. Unsere Bauern hatten einen unbewachten Augenblick wahrgenommen und waren mit unsern Schlitten davon gefahren, in denen sie zwar kein Gepäck entführten, die aber für die Schwachen und Kranken von Station zu Station nötiger wurden. Vor Kälte und Hunger zitternd, machten wir uns nun abermals auf den Weg; unsere Kosaken waren durch reichlich zugeflossene Dosen Schnaps lustig und guter Dinge und trieben uns deshalb wie eine Herde Schafe vor sich her, denen ich als der Rüstigste und, Gott sei Dank, noch ungebrochenen Mutes voranging. Die Hinfälligen wurden von ihren Kameraden in die Mitte genommen, unter diesen auch mein vorerwähnter Freund v. C....., der dem Tode nahe war. Der Zustand dieser Unglücklichen mochte wohl unsere Führer rühren; denn sie suchten uns abermals durch halbe Worte und Gebärden zu verstehen zu geben, daß es nur noch eine Meile bis zu einem Edelhofe sei, wo wir übernachten sollten. Diese Aussicht vermehrte, wo nicht unsere Kräfte, so doch unsere Anstrengungen, und so sahen wir bald das Gut vor uns liegen, welches Roduppen hieß. Leider bemerkten wir zu unserm Schrecken, daß der Hof von russischen Dragonern besetzt sei, und schon am Tor desselben trat uns ein junger Mann entgegen, welcher sogleich, ohne unsere Bitte anzuhören, auf Französisch zu mir sagte: »Meine Herren, es tut mir leid, Sie nicht aufnehmen zu können, da ich, wie Sie sehen, das Haus voll russischer Einquartierung habe und diese sich Ihrem Eintritt auf das Entschiedenste widersetzt!« Wirklich sahen wir, wie die Dragoner mit gezogenem Säbel fluchend und lärmend in den Hof stürzten, um uns abzuwehren; aber dennoch wollte ich noch einen Versuch machen, das Mitleiden des Gutsherrn anzuregen. »Unmöglich,« sprach ich zu ihm, »können Sie es über Ihr Herz bringen, uns in diesem Augenblicke, entblößt von allem, wie Sie uns sehen, und vor Kälte und Hunger erstarrt, in die harte Winternacht hinausstoßen zu wollen! Jeder, auch der elendeste Raum, welcher uns vor der Witterung schützt, die schlechteste Speise, die Sie uns bieten mögen, soll mit Dank angenommen werden, nur lassen Sie uns ein!« – »Wahrlich, Ihr Unglück geht mir tief zu Herzen,« antwortete der junge Gutsherr, »aber ich darf Sie nicht aufnehmen. Glauben Sie mir, ich bin ein Freund der französischen Nation und also nur zu geneigt, Ihnen Hilfe angedeihen zu lassen; aber eben weil man mich als solchen kennt, muß ich um so vorsichtiger sein, wenn ich nicht will, daß Haus und Hof über unsern Häuptern brennen soll. Aber ich will Ihnen einen Rat geben: zwei Büchsenschüsse von hier wohnt in Schmitischken ein Herr von Corries, dessen Hof, soviel ich weiß, ohne Einquartierung ist; versuchen Sie dort unterzukommen, wozu ich Ihnen von Herzen Glück wünsche!« Er beschrieb mir darauf die einzuschlagende Richtung, und als er geendet hatte, sah ich, wie die Kosaken ein paar Worte zu ihm sprachen, die der junge Gutsherr achselzuckend beantwortete; darauf ertönte ein Pfiff, ein lautes russisches: »Hol sie der Teufel« – und fort waren sie wie der Blitz.

»Freiwilliger Rückzug der großen Armee.« (Nach einer zeitgenössischen Karikatur im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

Da standen wir nun am Abend des 21. Dezember bei einer Kälte von 30 Grad vor dem mittlerweile geschlossenen Tore, hungrig und erstarrt, zerlumpt und hinsterbenden Mutes, den Tod in unserer Mitte, welcher geschäftig umherging, seine nahen Opfer zu bezeichnen, ohne Obdach, das uns geschützt, oder Speise, die uns gestärkt, und mehr als dieses, ohne Feuer, das unser Blut kreisend erhalten hätte. Da standen wir hilflos, zwar unserer harten Führer, aber doch immer noch unserer Beschützer beraubt, von denen wir doch endlich ein Unterbringen erwarten konnten. Als die Tür vor unsern sehnsüchtigen Blicken sich schloß, fühlten gewiß viele unter uns, daß der Tod ihr sicherster Gewinn sein würde, und wahrlich, wenige davon haben sich getäuscht. Von den 300 Menschen, die wir da beisammen waren, sind, soviel mir bekannt geworden, außer dem in Soldin verstorbenen Major Weißhuhn und einem andern Leutnant vom vierten Regiment, namens Bode, nur ich und mein Freund von C..... davongekommen. Bis zum vorigen Tage war unsere Lage, verglichen mit der, in welcher wir uns jetzt befanden, beneidenswert gewesen; aber seit wir zum letztenmal unter Obdach gewesen, hatte unsere Bekleidung bei steigender Kälte sich nicht allein verringert, sondern wir wurden immer tiefer hineingejagt in ein unwirtbares ödes Land, und wir waren ohne Verpflegung. An diesem schrecklichen Abend, vielleicht dem fürchterlichsten meines Lebens, verlor auch ich beinahe meinen so lange bewährten frischen Mut.

Doch ich suchte mich wieder zu fassen, bat meine Kameraden, zu mir zu halten und uns noch einmal unser Glück auf dem angegebenen Weg verfolgen zu lassen. Wie Automaten folgten die übrigen dem von mir gegebenen Impuls, nicht allein die mir Befreundeten, der ganze Zug in bunter Mischung aller Nationen, wie sie ein launenvolles Geschick zusammengewürfelt, zog hinter mir her. So näherten wir uns Schmitischken; doch bemerkte ich auch aus diesem Hofe ein Hin- und Herrennen, und als wir vor die Hoftür gelangten, versuchte man eben, dieselbe zu schließen. Glücklicherweise gelang es mir indessen noch, die Tür mit einem starken Stoß der Schulter zu öffnen, und mir nach stürzte der ganze Haufe und erfüllte augenblicklich den inneren Hofraum. Der Besitzer jedoch eilte, nun er das erste Bollwerk erstürmt sah, seinem Hause zu, welches ihm auch zu verschließen gelang; doch erschien er auf unser lautes, lärmendes Rufen bald darauf, gefolgt von zwei jungen Leuten, an einem der Fenster und fragte nach unserem Begehr. Wir verlangten Einlaß, er wurde uns verweigert! – »So nehmen Sie uns doch auf,« rief ich aus, »Sie sehen, daß wir vor Erschöpfung nicht mehr weiter können, dazu ist die Nacht vor der Tür, Sie haben den Tod so vieler Menschen zu verantworten, wenn Sie unbarmherzig uns Ihre Tür verschließen. Übrigens,« fuhr ich fort, »besitze ich noch etwas Geld, Ihre Gastfreundschaft zu lohnen; nehmen Sie uns nur auf!« – Bei dem Worte Geld, diesem mächtigen Zaubermittel und dem Hebel aller Dinge, veränderte sich die Miene des alten Herrn, und ich bemerkte eine günstigere Stimmung, zu der auch wohl hauptsächlich das Zureden der jungen Leute beitragen mochte, die ich sagen hörte: So nimm sie doch auf, es sind ja Deutsche! – »Na,« sagte endlich der kleine dicke Hausherr, »die wirklich deutschen Offiziere will ich aufnehmen, aber für die andern kann ich nichts tun; Sie, meine Herren, mögen hereinkommen!« Wir also vom Glück Begünstigten waren unser zehn, und uns nach drängte ein alter französischer Kapitän, welcher jämmerlich rief: »Ick sein Deutsch, ick sein Deutsch!« mit welcher Rede er natürlich sein Schicksal besiegelte: die Tür schloß sich vor seinem bittenden Ruf! Das Jammern und Wehklagen, welches sich aber nun erhob, vermag ich nicht zu schildern, es hätte einen Stein erbarmen können, und den Gefühllosesten mußte es weichherzig machen. Ich erklärte den jungen Leuten, daß ich selbst, so sehr ich mich nach Obdach sehne, das Haus wieder verlassen wolle, wenn für die Unglücklichen nicht wenigstens diese Nacht gesorgt würde. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß mit einiger Anstrengung von ihrer Seite die Leute in dem Dorfe, welches frei von russischer Einquartierung sei, wohl untergebracht werden könnten. Sie versprachen, ihr möglichstes zu tun, und zu ihrer Ehre muß es gesagt sein, sie hielten Wort; denn sie brachten es wirklich dahin, daß in dieser Nacht alle übrigen Obdach und Speise fanden.

Man wies uns nun in die Gesindestube, deren großer Ofen sogleich noch einmal tüchtig geheizt wurde. Der alte Herr von Corries brachte reichlich Brot und für jeden ein Schnäpschen, und ließ uns dann eine tüchtige Wassersuppe kochen, die von einer alten mitleidigen Tante des Hauses so gut wie möglich bereitet wurde. Dann ward für uns eine reichliche Streu besorgt. Doch nun nahm mich der alte Herr beiseite und erinnerte an mein Versprechen, bezahlen zu wollen. »Und hier haben Sie meine Barschaft, Herr von Corries,« erwiderte ich, sie ihm übergebend. »Ich weiß, daß das Geld in Ihren Händen sicherer sein wird als bei mir. Den Dukaten bitte ich für unsere Bewirtung zu rechnen, das übrige mir aufzuheben.« Er versprach, das zu tun, und bald darauf traten die jungen Leute, ein Sohn und ein Neffe des Hausherrn, wieder ein, setzten sich zu uns an den Ofen, und es gelang mir noch an demselben Abend, ihre Freundschaft in dem Grade zu gewinnen, daß sie mich aufforderten, bei ihnen zu bleiben. In diesen Vorschlag willigte ich, wie man denken kann, nur zu gerne ein, jedoch nur unter dem Vorbehalt, daß mein Freund von C.... auch bleiben dürfe. Dieser lag währenddessen, eher einem Abgeschiedenen als einem Lebenden gleich, in dumpfer Betäubung auf der Streu, in gänzlicher Besinnungslosigkeit, den Dingen dieser Welt entrückt, und der Zustand allein, in welchem er sich befand, sprach mehr für ihn, als alle meine Worte es vermocht hätten; er durfte bleiben, weil er nicht fort konnte.

Wir legten uns nun schlafen; doch mochte es gegen 3 Uhr morgens sein, als ich von einem unwiderstehlichen Appetit geweckt wurde, den ich alsbald zu befriedigen beschloß. Ein junger Offizier aus Ansbach-Bayreuth wachte eben auch, fühlte ein gleiches Verlangen wie ich und stand mit mir auf, um mitten in der Nacht eine Suppe zu kochen. Brot fand ich noch in Menge; wir fachten die Glut des Ofens wieder an, stellten einen Topf mit Wasser hinein, und während dies kochte und mein junger Kamerad die Suppe, freilich nur mit ein wenig Salz gewürzt, fertig machte, kletterte ich auf den Ofen und nahm mir hier mittels eines elenden Messers den Bart ab. Man kann sich dessen Länge vorstellen, wenn man bedenkt, daß ihm seit Monden freies Wachstum gelassen worden, er daher mein Gesicht wie ein Wald von Haaren umgab. Darauf suchte ich mich seit ebenso langer Zeit zum erstenmal wieder rein zu waschen, was mir aber nur kümmerlich bei der oberen Hälfte des Gesichts gelang, die von Schmutz und Fett ganz bedeckt war. Sie bildete so einen grellen Abstich gegen die Leichenweiße der geschorenen Teile, so daß ich bei meinem herabgekommenen Zustand einem wandelnden Gespenste glich. Die Hände blieben gleichfalls noch sehr dunkel, nur wenn ich sie schloß, kamen weiße Ritzen darauf zum Vorschein. Doch war ich im ganzen genommen ziemlich befriedigt von dem Erfolg meiner Mühe, aß mit dem größten Appetit und schlummerte darauf wieder ein. Gegen Morgen ging ich in das Zimmer des Hausherrn, erhielt hier eine Mütze, die ich mir tief ins Gesicht rückte, und setzte mich, wie wir es verabredet hatten, hinter einen Tisch, anscheinend sehr mit Schreibarbeit beschäftigt. Mein Schafpelz leistete mir dabei treffliche Dienste, indem er meine übrige militärische Kleidung verbarg, und so hatte ich, besonders da ich auch meinen schönen Schnurrbart geopfert hatte, kein sehr verdächtiges Aussehen.

Richtig erschien, kaum graute der späte Wintermorgen, einer unserer Kosaken, trieb die Kameraden mit einem » stopey Franzus« von der Streu auf, rüttelte an C....., wiewohl vergebens, herum, und da er ihn für tot halten mochte, beraubte er ihn des letzten ihm gebliebenen Kleidungsstückes. Ohne den Kameraden Zeit zu lassen, sich mit etwas Brod zu versehen oder Abschied zu nehmen, trieb er sie von dannen, holte sich bei Herrn von Corries noch einen Schnaps, wobei er fragte, ob ich zum Hause gehöre, und als mein Wirt bejahte, ging er davon und war bald unseren Blicken entschwunden.

Wie pochte mein Herz, als man meine bisherigen treuen Gefährten so aus dem Hause jagte, dessen Dach mich selber gastfreundlich barg, wo ich nun meine Zufluchtsstätte, gleichviel auf wie lange, vor so bitteren Drangsalen gefunden hatte. Ich kann es nicht leugnen, daß ihr Schicksal mir Tränen auspreßte, die ich bisher nicht meinem eigenen geweint, und ich blieb, den Kopf auf den Tisch gelehnt, tief in Gedanken der schmerzlichsten Art versunken. Da weckte mich plötzlich aus demselben ein starkes Gepolter, dem ein heftiger Niederschlag folgte. Es schien aus der Küche zu kommen, und als man dem Orte zueilte, fand man den Backtrog umgestürzt, hinter welchem sich soeben unser junger Ansbach-Bayreuther hervorarbeitete. Wir waren alle ziemlich überrascht, lachten dann herzlich über des jungen Mannes Hilfsmittel; doch Herr von Corries nahm die Sache gar nicht so leicht, behauptete, den jungen Offizier nicht dabehalten zu können und traf Anstalten, ihn dem Transport nachzuschicken. Aber dieser, voll Witz und Laune, nahm den alten erzürnten Herrn beiseite, bekannte ihm, daß er sich nur für einen Offizier ausgegeben, wirklich aber nur Gemeiner und in seiner Heimat Knecht gewesen sei, und daß er dem Herrn von Corries für Brot und Wohnung in gleicher Eigenschaft ohne weiteren Lohn dienen wolle. »Können Sie dreschen?« war die Frage des Gutsbesitzers, die mit einem überzeugenden »Jawohl« beantwortet wurde, und nach einigen weiteren Worten war der Handel abgemacht und an die Stelle der höflichen Anrede trat das für den neuen Stand des Bayreuthers gebräuchliche »er«.

Ich merkte den Schalk hinter der treuherzigen Rede gar wohl, doch hütete ich mich, etwas zu sagen, auch sollte es nicht lange dauern, daß Herr von Corries enttäuscht ward. Am nächsten Tage trat er zu seinem neugeworbenen Knecht, gab ihm einen Flegel in die Hand und schickte ihn zum Dreschen. Da nun aber der junge Offizier alles in der Welt eher verstehen mochte als dies ländliche Geschäft, trat er seinem Brotherrn lächelnd näher und sagte: »Verzeihen Sie, Herr von Corries, ich täuschte Sie, ich bin allerdings Offizier und verstehe nichts von der Arbeit, welche Sie mir soeben übertrugen.« – »Aber wat denn, wat is denn det,« fiel der Hausherr zornig ein; doch er wurde von unserm lauten Lachen überstimmt, das sich wie im Chor in ziellosen Ausbrüchen Luft machte. Was wollte der alte Papa tun? Er mußte seinen Pflegling wider Willen dabehalten, nannte ihn von nun an wieder »Sie«, doch hielt es der junge Mann nicht lange mehr aus; er zog bald von dannen, sein Glück aufs neue zu versuchen, und ich habe nicht wieder von ihm gehört.


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