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Hunger und Kälte.

Wir befanden uns nun auf einem zwischen Moorgrund und Heideland fortlaufenden Damm, welcher so dicht mit Fliehenden angefüllt war, daß man, so weit das Auge reichte, nichts als ein sich fortschiebendes Chaos sah. Schritt vor Schritt bewegte sich diese Masse vorwärts. Manchmal trat ein augenblickliches Stocken ein; doch hielt dies selten lange an und würde vielleicht gar nicht stattgefunden haben, wenn wir verfolgt worden wären, was aber durch die Vernichtung der Brücke unmöglich geworden war. So schoben wir denn in dem allgemeinen Strudel immer mit fort, doch nun überfiel uns ein neuer und fürchterlicher Feind in der am Nachmittag eintretenden Kälte. Ner Sturm blies scharf und schneidend, und anhaltendes Schneegestöber trieb in ganzen Wolken kleine, haarscharfe Flocken auf uns ein. Vergebens suchten unsere schon mit Blut unterlaufenen Augen in dieser unwirtbaren Steppe um uns her nach einem Hause, nach irgend einem Schutz gegen dieses fürchterliche Wetter; eine trostlose Fläche dehnte sich vor uns aus, und wir waren beinahe erstarrt. Endlich, als wir den ganzen Tag unaufhörlich gegangen waren, erweiterte sich der Damm zu einem öden, sandigen Landstrich, auf dem kümmerlich etwas Nadelholz wuchs, und wir erreichten einen kleinen Weiler, dessen Häuser aus übereinandergelegten Balken bestanden. Was davon noch stand, wurde sogleich niedergerissen, und unsere erstarrten Hände zogen und schleppten unter größter Anstrengung einige derselben zu den Feuern Früherangekommener. Auf solche Art wurden diese auf jedem Ruhepunkt erhalten, so daß sie sich oft viertelmeilenweit in einer Linie hinzogen, auf beiden Seiten dicht besetzt mit unglücklichen Flüchtlingen.

Im Kampf gegen Hunger und Kälte. (Nach einer zeitgenössischen Karikatur im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

Natürlich befand sich in diesen Häusern keiner ihrer früheren Einwohner. Diese hatten bei Annäherung der Feinde sich und ihre geringe Habe in den Wäldern geborgen, und so fanden selbst die ersten Flüchtigen keine Speise irgend einer Art. Als wir uns einigermaßen erwärmt hatten, begannen wir unserem kleinen Vorrat verstohlen zuzusprechen; aber lange konnte dieser auch bei der haushälterischsten Einteilung nicht währen, und wie sollte es dann werden auf einem Wege von beinahe vierzig deutschen Meilen?

Wovon ernährte sich überhaupt nur diese in Flucht begriffene Menschenmasse, in deren Mitte wir uns befanden? Ich weiß es nicht; denn jedes Hilfsmittel war auf dem verlassenen jenseitigen Ufer geblieben, wo es, wenn alles fehlte, doch noch Pferde zu schlachten und zu essen gab. Aber hier gab es nichts, gar nichts, und als wir am folgenden Tage bereits an unserem Wege zahllos aufgehäufte Leichen sahen, gab ihr Ansehen Kunde davon, mit welchem Feinde die hier Gefallenen gekämpft. Ihre hohlen eingefallenen Gesichter zeigten, daß Hunger, grimmiger Hunger sich mit den übrigen Entbehrungen und Anstrengungen verbündet hatte, um sie aufzureiben. Zu Hügeln, zu Wällen aufgetürmt, lagen, wenn wir morgens unser Biwak verließen, die Opfer der letzten Nacht beieinander.

In der Frühe des zweiten Tages eilten wir weiter, aber mit sehr geschwächten Kräften; denn der Rest des Schinkens hatte zu unserm Frühstück nur sehr kleine Portionen abgeworfen. Der Sturm blies mit erneuter Heftigkeit, die Kälte war furchtbar und die Verzweiflung ringsumher nicht geeignet, unsern Mut aufrecht zu erhalten. Tote und Lebende, letztere meist in stillem schwermütigem Wahnsinn, niedergesessen auf einen Stein oder eine Erdscholle, mehrten sich auf unserm Weg, und als wir abends schwach, matt und erschöpft vor unserm Feuer niedersanken, wurde auch unter uns mancher hoffnungslos. Am andern Morgen, als ich mich etwas von meinen Kameraden entfernt hatte, erspähte ich einen Mann, welcher einen großen straffen Beutel trug, hinter dem ich so schnell wie möglich her war. Auf meine Frage antwortete der Mensch, daß Mehl in dem Sack enthalten sei, und für reichliches Gold trat er mir die Hälfte des köstlichen Vorrats ab. Triumphierend kehrte ich damit zu meinen verschmachteten Kameraden zurück, die Aussicht auf ein so erquickliches Frühstück stählte aller Kräfte, und schnell ward unser Feldkessel mit Schnee gefüllt, um Suppe darin zu kochen. Eine Patrone diente als Würze, und heißhungrig, wie wir waren, fielen wir, sobald sie fertig war, über dieselbe her; doch wie ward uns, als wir darin eine Menge jener ekelhaften Würmer entdeckten, wie sie sich öfter in altem Mehl finden. Oberstleutnant Schulz vermochte zwar noch über unsere Suppe zu scherzen, indem er sie Seelenkleister taufte, und als das einzige Mittel empfahl, Leib und Seele fein verträglich beieinander zu erhalten; aber obwohl keiner den ihm dargebotenen Teil verschmähte, so konnte man doch nur mit ungeheurer Überwindung diese Suppe und ihre ekelhafte Beimischung hinunterbringen.

Unsere Pferde, die noch immer fortschritten, nährten wir teilweise von wenigem Dachstroh, oder es fanden sich hier und dort auf den am Weg befindlichen Wiesen Heuschober, aus denen wir uns versorgten. Man wird, wenn ich von unserm gräßlichen Mangel erzähle, vielleicht den Einwurf machen, daß wir eins dieser Tiere zu unserm Unterhalt schlachten konnten; aber erstens hätten wir dann unsere Verwundeten nicht fortgebracht, und dann rückten wir von Station zu Station Wilna näher, wo, wie es hieß, wir uns stellen und sammeln würden, und für diesen Fall mußten, um dann gleich dienstfähig zu sein, die Mittel dazu bis auf den äußersten Punkt geschont werden.

Als wir an diesem Tage unser Biwak erreichten, lieferte dieses ein schon durchaus verändertes Bild. Das Elend, der Mangel, die Erschöpfung hatten in furchtbarem Grade zugenommen. Tausende der Ankömmlinge taumelten am Feuer nieder, versuchten mit kraftlosen Händen dasselbe zu erweitern und sanken bald darauf, die Fruchtlosigkeit ihrer Anstrengungen erkennend, auf das eisige Feld zum Todesschlafe nieder, dazwischen tönten Flüche, Verwünschungen, laute Klagen um teure Anverwandte, und namentlich hörte man die jungen Soldaten oft in Ausdrücken des tiefsten Schmerzes um ihre daheimgebliebenen Mütter jammern. Einige, die zu ihrem Feuer kein trockenes Holz mehr fanden, suchten von den Bäumen die grünen Zacken abzubrechen, doch meist vergebens. Ihre kraftlosen Hände glitten an den glatten Rinden ab; sie sanken dabei nieder, und wer einmal fiel, stand, wenn nicht von Freundeshand erhoben, nicht wieder auf. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar, gebückt, kraftlos, in einen großen Mantel gehüllt, trat an die Feuer der Soldaten. Mit bittender Gebärde wandte er sich an diese: »Pour l'amour de Dieu, une petite place au feu.« – »Va t'en au diable.« – »Mais je suis général!« »Il n'y a plus de général!« war die Antwort. »Nous sommes tous généraux.« (»Um Gotteswillen, ein Plätzchen am Feuer.« – »Geh zum Teufel!« – »Aber ich bin doch General.« – »Es gibt keinen General mehr! Wir sind alle Generale.«)

Vater und Sohn auf der Flucht in den Schneefeldern. (Nach einem Original im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

So schrecklich nun die Flüche und Verwünschungen waren, die von allen Seiten uns umtönten, nichts glich dem Eindruck, den das Leiden derjenigen auf uns machte, deren Verstand die übermenschlichen Entbehrungen und die nun stündlich sich steigernde Kälte zerstört hatten. Einige stürzten sich unter greulichem Lachen in die prasselnden Feuer, andere fluchten Gott und den Menschen, während sie die Köpfe an den Baumstämmen zerschellten, und wieder andere sangen mit schmerzlichem wahnsinnigem Lächeln in den blassen, hohläugigen Totengesichtern die Lieder ihrer Heimat oder sie saßen am Wege und weinten, weinten mit all der schmerzlichen Inbrunst, mit der Kinder es zu tun pflegen, und mit dem lebhaften heftigen Schluchzen jenes Lebensalters.

Am vierten Tage, als wir kaum vor Hunger uns weiterzuschleppen vermochten, gelangten wir, ich weiß nicht mehr durch welchen glücklichen Zufall, wahrend des Marsches zu einem großen Stück rohen Fleisches. Wir versuchten es bei unserem Feuer zu kochen; aber inzwischen war der Hunger so groß, daß wir ein Stück am Feuer auftauten, kleine Teile davon abschnitten und, mit etwas Schießpulver bestreut, roh verschlangen.

In der Nacht vom 28. auf den 29. November hatte der Übergang über die Beresina stattgefunden, und am 5. Dezember erreichten wir in der Gegend von Malodeczno einen bewohnteren Landstrich; wenn auch hier keine Lebensmittel zu finden waren, so gab es doch in Häusern und Schuppen oder hinter denselben vor dem stürmenden Wind gesicherte Lagerstätten. Oft waren die Häuser so gedrängt voll, daß der Vorflur und jeder Raum von Flüchtlingen besetzt war; doch hatten wir hier einmal das Glück, die Zuerstangekommenen in einer der Hütten zu sein. Alsbald machten wir es uns bequem und legten uns zum Schlummer nieder. Als es ungefähr 3 Uhr sein mochte, erwachte ich wieder, und indem ich Brand und meinen Burschen weckte, trieb ich zum Wiederaufbruch. Alle Kameraden waren dazu bereit, nur der Leutnant Schrader und der Leutnant Köhler suhlten sich zu behaglich in der seltenen Wärme und wollten nicht fort. Der ganze Weiler stand bei unserem Weggang, wie wir das immer gewohnt waren, in Flammen; doch entdeckten wir, nachdem wir eine Strecke entfernt waren, daß auch unsere Nachtherberge, von dem Feuer ergriffen, bereits hell aufloderte. Nach weiteren hundert Schritten sahen wir den Leutnant Schrader atemlos herankommen, der uns berichtete, daß das Feuer auf dem Vorflur zuerst ausgebrochen sei, niemand durch die Tür sich habe retten können, und daß er selbst sich nur mit genauer Not durch ein kleines Fensterchen gequetscht habe, die übrigen aber, unter ihnen unser Köhler, rettungslos umgekommen seien.


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