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Der Übergang über die Beresina.

Der Übergang über die Beresina. (Nach einem Original im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

Da ich nun zu dem wichtigsten und unvergeßlichsten Abschnitt in diesem denkwürdigen Erlebnis gelange, nämlich zu dem Übergang über die Beresina, wird es nötig sein, zuvörderst den Zustand näher zu beschreiben, in welchem ich mich für meine Person sowie diejenigen meiner Kameraden sich befanden, zu denen ich mich hielt. Diese waren bereits gänzlich wehrlos gemacht; weder General Alix noch Oberstleutnant Schulz hatten noch Pferde. Dagegen war es mir gelungen, im Besitz eines kleinen offenen Wagens, einiger Reitpferde sowie meines großen Moskauer Staatswagens zu bleiben, welcher ebenfalls mit vier Pferden bespannt war, die wir kümmerlich und mühsam mit halb verfaultem, altem Dachstroh ernährten, das sich jedoch nur noch selten vorfand. In meinem großen Wagen befand sich der oben erwähnte Leutnant Brand, dem sich fünf andere, bei Moschaisk verwundete Kameraden zugesellt hatten. Auf dem Bediententritt war unsere Kasse befestigt, und in den Sitzkästen befanden sich meine sämtlichen sehr wertvollen Uniformgegenstände sowie eine Menge der schönsten Kleidungsstücke anderer Art, als Pelze, Schals und dessen mehr. Unter diesem Reichtum traf ich später, wie man sehen wird, eine bunte, ungeträumte Auswahl, doch blieb auch das wenige, was ich zu mir nehmen konnte, nicht mein Eigentum, und wer das übrige erhalten, mag Gott wissen.

So näherten wir uns denn in wilder Flucht dem Ufer der Beresina, wo der Kaiser einen Teil seiner Armee dem Feinde entgegengestellt hatte, um die Russen über den Übergang der Garden zu täuschen, welcher an einer ganz anderen Stelle bewerkstelligt wurde, als an der man sich denselben streitig zu machen suchte.

Gegen Abend erreichten wir die am Flußufer versammelten Garden, welche dort ihre Biwaks aufgeschlagen hatten, und lagerten uns an ihren Feuern. Während über Nacht die Brücken geschlagen wurden, erfreuten wir uns hier einer zwar unerquicklichen, aber doch notwendigen Ruhe, wenig ahnend von den schauderhaften Ereignissen, die in den kommenden Tagen unsere doch an Schrecknisse mancher Art gewöhnten Augen schauen sollten. Als die Sonne des beginnenden Tages aber ihr Licht auf unsere Umgebung verbreitete, wie hatte sich in dem kurzen Zeitraum da alles um uns her verändert, seit ihr Strahl zum letztenmal dies öde Feld beschienen! Tausend und abermals Tausende von Nachzüglern und Flüchtlingen, Männer, Weiber und Kinder – unter ersteren Beamte, Bürger – in buntem Gemisch, bewegten sich in unruhigem, ängstlichem Treiben durcheinander oder um ihre gerettete Habe, während ihre Besorgnisse und Befürchtungen fast in allen Sprachen Europas sich Luft machten. Es war ein entsetzliches, jammervolles Bild, diese Massen wehrloser Menschen durcheinanderwogen zu sehen, die aber damals noch nicht das nackte Leben zu retten strebten, sondern meist noch Beute allerlei Art oder teure Angehörige durch ihre Anstrengungen, unbekümmert um das Wohl und die Sicherheit ihrer Nebenmenschen, zu bergen hofften. Nicht von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute nahm dieses fürchterliche Gedränge und Toben zu, – bald sollte es in schaudervoller Weise durch neue Ereignisse seinen Höhepunkt erreichen, diejenigen Truppenabteilungen, welche die Brücke passiert hatten, warfen sich sogleich auf den Feind, um den nachrückenden Korps Platz zu machen, aber nun schossen sowohl die Russen von den jenseitigen Ufern, wo sie sich bereits aufgestellt hatten, als auch Kutusow im Rücken mit Kartätschen in den vorerwähnten Menschenknäuel, welcher sich so verdichtet hatte, daß er nur noch eine Masse zu bilden schien.

Meine Kameraden und ich hatten uns aus Wagen, Lafetten, Kasten und tausend verschiedenen Sachen eine Art Brustwehr gebildet, welche einen kleinen Kreis umschloß, in dem wir um ein Feuer kauerten und keinen Eindringling duldeten; denn leider waren wir durch unser Elend schon bei demjenigen Standpunkt angelangt, wo Mitleid mit unsern Nebenmenschen aufhört und der Trieb der Selbsterhaltung zum Gebieter unserer Handlungen wird. Eine Vorstellung von dem Elend und Jammer sich zu machen, welches die niederschlagenden Kugeln unter den zusammengedrängten Unglücklichen anrichteten, möchte selbst der lebhaftesten Phantasie kaum gelingen; aber uns Leidensgefährten und Mitkämpfern gab das laute Geächz, das Geschrei und die Verwünschungen der zum Tode Verwundeten und der Sterbenden, Zerschmetterten nur zu getreue Kunde von den fürchterlichen Vorgängen um uns her.

Inzwischen ward der Übergang auf beiden Brücken mit möglichster Schnelle bewerkstelligt. Auf der zweiten passierten Geschütze und Fuhrwerke aller Art, obgleich man sich denken kann, daß auch eine Menge Menschen mit hinüberkamen; die unsrige war ausschließlich für bewaffnete Fußtruppen bestimmt, und nur solche wurden hinübergelassen, alles übrige ward von der Elite-Gendarmerie zurückgewiesen, und so half es denn selbst den Beherzten jener Unglücklichen nichts, sich einzeln bis an jenen Rettungspunkt durch die sich wehrenden Knäuel hindurchgearbeitet zu haben. So standen die Sachen, als auf einmal das Gedränge um uns her in schauderhafter Weise sich mehrte, die Verzweiflung den höchsten Grad erreichte! In banger Ahnung, doch nicht lange in Ungewißheit ward uns eine schreckliche Kunde: die Brücke für das Fuhrwerk war eingestürzt! Nun war an Mäßigung, an Berücksichtigung irgend einer Art nicht mehr zu denken. Die Tausende, welche dort keine Rettung mehr fanden, warfen sich in wilder, rasender Eile auf uns. Jeder drängte seinen Vordermann mit solcher Unwiderstehlichkeit, daß ganze Glieder der vordersten in den Strom geschleudert wurden. Diese Unglücklichen fanden mit wenigen Ausnahmen sogleich ihren Tod, denn die Eisschollen trieben und zermalmten wie Mühlräder, und gelang es gar einem oder dem andern, mit Anstrengung aller seiner Kräfte das jenseitige Ufer zu erreichen, so versank er sogleich in dem schlammigen und morastigen Erdboden desselben.

In diesem Augenblick der höchsten Aufregung und des ersten Schreckens verloren auch wir unsere Kaltblütigkeit; es wurde beschlossen, unsere Kasse wie unsere übrige letzte Habe zurückzulassen und den Übergang zu erzwingen. Oberstleutnant Schulz nahm den verwundeten Kapitän Vollmar, dem ein Bein amputiert war, auf den Rücken; diesem Beispiel folgten wir übrigen mit den andern Verwundeten und so, ein einziges geschlossenes Knäuel bildend, strebten wir der Brücke zu. Kaum aber hatten wir fünfzig Schritte unter den unbeschreiblichsten Anstrengungen vorwärts getan, als der flutende Menschenstrom uns erfaßte und auseinanderzubringen drohte. Dagegen anzukämpfen war unmöglich, das war unsere gleichlautende Ueberzeugung, und so ließen wir uns denn, um nur beieinander bleiben zu können, seitwärts hinausschieben; aber dies mußte auf einem greulichen Wege geschehen.

Fürst von Sayn-Wittgenstein. Gemalt von Dählin. (Aus: Schulze, Franzosenzeit in deutschen Landen. Leipzig, Voigtländer.)

Nicht auf ebener Bahn, sondern über eine Masse lebender und toter in den Kot getretener Menschen und Pferde, über Pferde, Geschütz, Trümmer und Habe aller Art, unsere Verwundeten Schritt vor Schritt bei solchen Hindernissen uns nachziehend, kehrten wir zu dem aufgegebenen Schutzpunkt zurück. Hier machten wir uns lebhafte Vorwürfe über unser tolles Unternehmen, und der Erfolg davon war das erneute Versprechen, zusammen auszuharren und geduldig die Ankunft der Nacht abzuwarten, ob eine zweite Unternehmung vielleicht günstiger ausfallen möchte; weil dann die Erschöpfung der Zurückbleibenden den Andrang verringern, auch seitdem eine Menge Menschen den Strom passiert haben mußten. Als wir diesen Entschluß gefaßt hatten, setzten wir uns, vom heftigsten Hunger geplagt, um unser Feuer. Da wurden wir durch eine Öffnung unserer Barrikade eines Gardisten ansichtig, welcher eine Menge Zwiebäcke trug. Dies erblicken und ihn bestürmen, uns um reichlich dargebotenes Gold nur etwas davon abzulassen, war eins. Doch der Mann eilte, seinen Schatz hoch in der Hand haltend, rasch vorüber, und indem er unter krampfhaftem Lachen den Kopf schüttelte, schlug er, in unbewußtem Hohn vielleicht, mit seiner freien Hand an seine klingenden Taschen, indem er rief: »O voilà de l'argent, messieurs!«

Als wir eben traurig zu unserm Feuer zurückkehrten, schrie der Oberstleutnant Schulz: »Garde à vous, garde à vous!« Aber noch ehe die Warnung ausgesprochen war, schlug eine Granate nieder und überdeckte uns mit Trümmern, Erde, Blut- und Fleischmassen. Als wir umhersehen konnten, geschah es nicht ohne neugierige Bekümmernis, wen von uns die Kugel getroffen haben würde. Dieselbe war in den hohlen Bauch eines unserer Pferde geschlagen, war darin krepiert und ein Stück derselben hatte darauf einem bei uns befindlichen Unteroffizier das Bein zerschmettert! Natürlich war der Unglückliche verloren, hier gab es keine Hilfe! – So hatte denn das Geschick bereits einen der unsrigen ereilt, wie bald mochte uns übrigen das Todeslos fallen!

Am Abend ließ das feindliche Feuer nach, wie wir es vorausgesehen hatten. Die Gärung und der Tumult unter den bedrängten Flüchtlingen legte sich wie das Toben der erregten Wellen, sobald die Stürme schweigen; unsere Hoffnung auf glücklicheren Erfolg ward dadurch wieder neu belebt. In Begleitung eines Kameraden und meines Burschen verließ ich unsern Ruheplatz, um uns umzusehen und danach unsere Operationen einzurichten.

Weit uns zu entfernen wagten wir nicht, doch das Glück wollte uns wohl; denn nach einigen Kreuz- und Querzügen gelangten wir an eine Menge Wagen, deren Untersuchung wir sofort begannen. Die meisten der darin befindlichen Sitzbänke waren leer, doch fanden wir endlich zu unserer unaussprechlichen Freude zwei große geräucherte Schinken, mehrere Pfund Schokolade und einen halben Anker Rotwein. Welcher Fund unter den Umständen, in welchen wir uns befanden! Kein Krösus betrachtete gewiß je seine Schätze mit entzückterem Auge als wir die unsrigen, und kein Schatzgräber ward je in höherem Grade in seinen Hoffnungen befriedigt! Alles Geld in dem nebenstehenden Kassenwagen wog diesen herrlichen Fund nicht auf. Die Fäßchen wurden entzwei geschlagen, und nur, wenn sie Gold enthielten, davon beigesteckt, Silber ließ man gleichgültig auf den Boden fallen, es achtete dies niemand. So bestimmen die Umstände den Wert der Güter dieser Welt! Ehe wir aber unsere Goldgrube verließen, füllten auch wir, nach dem Beispiel unserer Vorgänger, unsere Taschen bis an den Rand mit dem edlen Metall, und wenn die habgierigen Plünderer später auch beinahe alles an sich rissen, so hat mir doch das wenige, was ich davon gerettet, das Leben gefristet in dem Augenblick, als die Not und Bedürftigkeit den höchsten Grad erreicht hatte.

Beladen mit unsern Schätzen kehrten wir zu unsern harrenden Kameraden zurück, die uns mit lautem Jubel empfingen und unser gutes Glück wie unsere Geschicklichkeit nicht genug preisen konnten. Wie der Soldat in der Freude der Gegenwart nur zu leicht auch die grauseste Vergangenheit vergißt, so auch hier. Unsere Feldkessel wurden in so freudiger Eile mit dem herrlichen Rotwein gefüllt, als es nur unter den gefahrlosesten Umständen hätte geschehen können. Dann ließen wir die Schokolade darin zu einem dicken Brei einkochen, und an diesem Göttermahl erquickten sich General wie Gemeiner mit gleichem Recht und gleichem Appetit. Mit dem Schinken jedoch wurde haushälterischer umgegangen; denn nachdem wir davon genossen, ward er eingepackt und über eines meiner Reitpferde geworfen, wie denn gleich beschlossen wurde, daß nur in Zeiten der höchsten Not zu demselben Zuflucht genommen werden sollte.

Mit erheitertem Geist und erneuertem Lebensmut begannen wir nach diesem stärkenden Mal Kriegsrat zu halten, in welchem wir verabredeten, wie wir unsere Verwundeten und uns selbst hinüberbringen wollten. Dann begannen wir unsere Toilette zu machen, die ich spaßeshalber hier beschreiben muß, da wir nach derselben eher wandelnden Kleidermagazinen als unsern eigenen Personen glichen. Über zwei Paar seinen Nanking-Beinkleidern folgten die reichgestickten Paradehosen sowie die goldgestickte Scharlachweste, über die wiederum unsere grünen, an den Seiten zugeknöpften und sehr hoch hinaufgehenden Reithosen gezogen wurden, dann die Staatsuniform mit Epauletts und Achselschnüren, ein Überrock, ein Mantel, und über dies alles endlich ein russischer Pelz! Als wir so weit gekommen waren, verließen wir auf wenige Schritte unsern Schutzort, um auszukundschaften.

Eine tiefe Stille herrschte nun – es mochte Mitternacht sein – auf dem kürzlich so belebten Raum, auf welchem vor wenigen Stunden die Hölle selbst gewaltet und losgelassen zu sein schien. Jetzt war die Ruhe nur unterbrochen von dem Geächze sterbender oder zertretener Menschen oder dem noch grauenvoller tönenden Gestöhn zerschmetterter Pferde. Oberstleutnant Schulz hatte sich weiter von uns entfernt, als wir auf einmal seine Stimme hörten, wie er jemand anrief, in dessen Begleitung er bald darauf zu uns trat. Es war dies ein französischer Artillerieleutnant namens Leroi, der zu der Zeit, als wir in Moskau standen, bei seinem Durchmarsch durch Moschaisk einige Freundschaftsdienste von Schulz empfangen hatte, die nun unsere Rettung bewirken sollten. Leroi teilte uns mit, daß er mit zwei Geschützen zurückgeblieben sei und bis zu diesem Augenblick weitere Befehle erwartet habe. Doch da diese nicht angekommen, wolle er die Kanonen auf eigene Gefahr hinüberzubringen versuchen. Er versprach, unsern großen Wagen mit den Verwundeten zwischen die Geschütze zu nehmen; Leutnant Brand, welcher sich allein auf meinem kleinen Wagen befand, ward auf den Bock des großen gesetzt, mein Bursche, ein gewandter Mensch, schaltete zwei meiner besten Pferde aus eigener Machtvollkommenheit ein, und so bewegte sich der Zug vorwärts. Welche Hindernisse wir zu besiegen hatten, ehe wir die Brücke erreichten, und durch welches Labyrinth von Menschen, Trümmern und Pferden wir uns durcharbeiten mußten, kann man nach der Zeit berechnen, die wir darauf verwandten; denn als wir zugleich mit einer großen Anzahl von Flüchtlingen, aber, da die Geschütze noch bedient waren, immer beschützt von den wachthabenden Gendarmen, bei der Brücke anlangten, war es 2 Uhr. Nur noch kurze Zeit, und wir waren verloren, denn nach wenigen Stunden ward die Brücke angezündet.

Mit welchen Gefühlen betraten wir nun dieselbe, die an dem verwichenen Tage der Schauplatz so vieler Greuelszenen gewesen! Wie viele Unglückliche waren, als sie voll Hoffnung auf Errettung die Brücke betraten, von dem schmalen, schrankenlosen Raum hinabgedrängt worden in die eistreibenden Fluten der Beresina! Gott sei es gedankt, uns wurde der Schmerz erspart, Zeuge und Miturheber solcher Jammerszenen zu sein; denn vergleichungsweise waren es um diese Zeit wenige, die übergingen, und wenn man sich auch nach und vor unsern Geschützen drängte, so geschah es doch nicht im Übermaß. Wir selbst schritten schweigend, aber von neuer Hoffnung belebt neben unserm Wagen her. Dieser Übergang schien uns der in ein neues, wiedergeschenktes Leben, in welchem, so glaubten wir, unsere Leiden sich vermindern und eine Verbesserung unserer Lage durch Willenskraft und Tat herbeizuführen sein müßte! Und wie glücklich waren wir, daß damals diese Hoffnung unsere Kräfte stählte; hätten wir eine Ahnung gehabt von den unsäglichen Leiden, Entbehrungen und Qualen, die unserer warteten, wie sehr wäre unsere physische und moralische Kraft herabgestimmt worden!


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