Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Trennung und Wiederfinden.

In Malodeczno befand sich das kaiserliche Hauptquartier und der geringe Rest der Garden; hier erließ Napoleon das berühmte neunundzwanzigste Bulletin, in welchem er erklärte, daß die große Armee nicht mehr existiere. Da es mir im Gedächtnis lebt, als wenn ich es heute gelesen, würde ich es mitteilen, wenn ich nicht voraussetzen könnte, daß es dem größten Teil meiner Leser so bekannt wäre wie mir selber. Dort erfuhren wir aber auch mit Gewißheit, daß Wilna von unsern Truppen besetzt sei, und daß sich dort gefüllte Magazine befänden, eine Nachricht, die nun so nahe am Ziel unsere Kräfte von neuem belebte und anspornte. Nun ward beschlossen, so rasch wie möglich, ohne Rast und Aufenthalt diesem Ort zuzustreben; denn wir selbst sehnten uns, den Endpunkt so vieler Strapazen zu erreichen, und für unsere Verwundeten war bessere Verpflegung die schreiendste Notwendigkeit. So eilten wir, so schnell es gehen wollte, vorwärts; doch als wir nach Smorgoni kamen, traf uns hier eine neue niederschlagende Kunde. Unter lauten Flüchen über seine Treulosigkeit teilten uns die Garden mit, daß in der verwichenen Nacht Napoleon sie heimlich verlassen und das Kommando dem König von Neapel übertragen habe. Allerdings sanken mit dieser Entfernung die Erwartungen der Zurückbleibenden um ein Bedeutendes; denn sie bewies, wie hoffnungslos die Sache sei, die hier aufgegeben war. Von nun an hieß es: sauve qui peut; was noch beisammen gewesen, lief auseinander; jetzt waren nur noch ferne Länder das weitere Ziel!

Napoleons Flucht im Schlitten. (Nach einem Original im historischen Museum Napoleonstein, Leipzig.)

Wir erlangten an diesem Ort – ich weiß wieder nicht mehr durch wen – ein großes Brot. Da es zu Stein gefroren war, zerschlugen wir es mit Äxten und verzehrten von der uns zugefallenen Portion die Hälfte, während wir die andere Hälfte für den kommenden Tag in unseren Tschackos verwahrten, wo sie einstweilen auftaute.

In der Nacht vom 7. zum 8. waren wir bis um 9 Uhr abends umhergeirrt, ohne ein Feuer oder Obdach finden zu können; doch gelangten wir um diese Zeit an einen großen vereinsamten Kretscham (Krug), in den wir eintraten. Mit unendlicher Mühe und nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es uns, einiges Holzwerk abzubrechen, um davon, wie immer, innerhalb des öden Hauses, d. h. auf bloßer Diele, Feuer anzumachen; aber bei diesem Werk konnten wir schon von unsern erfrorenen Händen die Haut der Fingerkuppen wie Handschuhe abziehen, und kaum schlug die Flamme in die Höhe, so füllte sich der Raum um uns her dergestalt mit Flüchtlingen, daß wir, eingeengt wie wir waren, zum erstenmal unsere Verwundeten nicht an das Feuer bringen konnten; sie mußten in der fürchterlichen Winternacht draußen ausharren. Kaum war es uns gelungen, uns Luft zu machen, so brachen wir wieder auf, als es kurz nach Mitternacht sein mochte. Doch als nun das Gelände hügeliger wurde, zeigte es sich zu unserm größten Schrecken, daß die Pferde nicht mehr weiter konnten. Ein kurzer Aufenthalt und darauf neue Versuche, sie zum Fortgehen anzutreiben, zeigte sich fruchtlos, und so wurde denn beschlossen, daß zwei von uns vorangehen sollten, um womöglich Hilfe zu schaffen. Oberst Pfuhl und ich wurden dazu ausgewählt. Wir versprachen, unser möglichstes zu tun, sagten unsern Freunden Lebewohl und zogen von dannen. Ich ließ bei ihnen mein Hab und Gut, ausgenommen eine wohlgefüllte Geldkatze um den Leib und meine oben beschriebenen Kleidungsstücke auf demselben; ich empfahl meinem Burschen die Sorge für meine so lange gehegten, jedem Kavalleristen so werten Pferde, – aber ich habe weder Freunde, noch Bagage, noch meine Pferde je wiedergesehen!

Alle unsere Bemühungen, Hilfe herbeizuschaffen, blieben, wie man sich denken kann, erfolglos; die Gegend war selbst eine Einöde, und bald gerieten wir wieder in einen Strom von Flüchtlingen, die uns unaufhaltsam mit sich fortrissen, und die auch, wenn wir sie um Beistand angesprochen hätten, ihn nicht zu leisten vermochten. Gegen 6 Uhr morgens kamen wir endlich bei den vor Wilna aufgestellten Vorposten an; hier nahm das Gedränge in sinnverwirrender Weise zu, dazu war ich nun an dem Punkt tödlicher Ermattung angelangt, in welcher mir Gedanken und Überlegung zu schwinden begannen, und hier verlor ich meinen letzten Kameraden, den mir das Schicksal gelassen hatte, den Obersten Pfuhl, von meiner Seite.

Ich fragte nach dem Billettamt und dem Magazin. Beide waren so umlagert, daß an kein Ankommen zu denken war; doch traf ich, als ich das erstere verließ, einen jüdischen Händler, durch den man, wie mir bekannt war, hier allein etwas ausrichten konnte. Mit der letzten Kraftanstrengung forderte ich denselben auf, mich in eine warme Stube zu bringen, indem ich ihm reichliche Belohnung zusicherte. Der Mann war glücklicherweise augenblicklich dazu bereit; er brachte mich zu einer Frau in ein wohlgeheiztes Zimmer, ich verschlang einige Speise, bestellte den Juden auf den Nachmittag wieder und fiel augenblicklich in einen so festen Schlaf, daß ich nur mit Mühe um 4 Uhr, wo der Mann wirklich zurückkam, geweckt werden konnte. Ich fragte den Juden, ob wir hier sicher wären, worauf er mir antwortete, daß dies durchaus nicht der Fall sei, daß man schon Kosaken gesehen habe, die sich der Stadt näherten, und diese füllte sich jeden Augenblick mehr mit wehrlosen Flüchtlingen. Ich war so müde, daß ich für jetzt noch nichts weiteres bestimmen konnte, halb im Traum verzehrte ich einige warme Speise, gab dem Juden den Auftrag, mir für den kommenden Morgen um 6 Uhr ein Brod und eine Flasche Rum zu bringen, und schlief sogleich wieder ein.

Ziemlich gestärkt erwachte ich am andern Morgen und fand den Juden schon meiner wartend, der zwar meine Bestellung ausgeführt, sonst aber wenig trostreiche Nachrichten brachte. Er sagte mir, daß in den Straßen, die zu den verschiedenen Toren führten, ein solches Gedränge herrsche, daß an kein Durchkommen zu denken sei, daß er aber doch versuchen wollte, mich auf ihm bekannten Seitenwegen womöglich bis vor die Stadt zu bringen. Schnell war ich gerüstet, durch mein Brot ward eine Schnur gezogen, der Rum fand in einer Tasche meines Rockes Platz, und so zog ich nach reichlicher Belohnung meiner Wirtin von dannen. Wie der Händler es versprochen hatte, geschah es. Eine kleine Weile trieben wir mit dem großen Strom fort, dann wandten wir uns links und gelangten durch ein kleines Seitenpförtchen auf das freie Feld. Hier blies der Wind so scharf, und die Kälte war auf eine so fürchterliche Höhe gestiegen, daß mir, besonders nach dem Aufenthalt in der warmen Stube, der Atem versetzte. Noch ging es immer wacker vorwärts, bis wir wieder auf die große Straße kamen, wo ich meinen braven Juden sehr zu seiner Zufriedenheit ablohnte, mich dabei aber wohl hütete, ihn meinen großen Schatz sehen zu lassen; denn Hunderte und Tausende sind bei solchen Gelegenheiten von den Wilnaer Juden erschlagen und beraubt worden. Bei meinem Austritt aus dem Quartier hatte ich schon Klein-Gewehrfeuer und den Donner des Geschützes gehört; die Gefahr war nahe, Eile also nötig.

Auf der Straße, ganz in der Nähe der Stadt, fand ich unser viertes westfälisches Infanterie-Regiment, im Viereck stehend, welches, da es zum St. Cyrschen Korps gehörte, die Beresina nicht passiert hatte und also noch vollständig war. Ich verweilte nur kurze Zeit bei demselben, um einen bekannten Offizier, den Hauptmann von C..., zu sprechen, nicht ahnend, daß mein Schicksal so bald nachher auf das engste mit dem seinen verknüpft werden sollte. Die Straße war außerdem beinahe leer; denn als die Flüchtlinge bei dem Austritt aus der Stadt die russischen Geschütze auf den unfernen Höhen erblickten und den Donner derselben hörten, stutzten sie und wußten nicht, welche Partei sie ergreifen sollten. Ich besann mich aber nicht lange und eilte vorwärts, mit schwerem Herzen an das Schicksal meiner zurückgebliebenen Kameraden denkend.

Da erblickte ich, als ich ungefähr eine halbe Meile von der Stadt entfernt war, einen kleinen Schlitten mit einem erbärmlichen Pferde bespannt, auf das der nebenher gehende Kutscher unbarmherzig losschlug; daß eine andere Person im Schlitten lag, bemerkte ich gleichfalls. Dann und wann pfiff eine Kugel über den Weg, wonach ich jedesmal ein vermehrtes Losschlagen des Schlittenführers auf den ermüdeten Gaul gewahrte, der kaum noch fort konnte. Bald hatte ich den Schlitten eingeholt, und wer malt meine Überraschung, als ich in dem unbarmherzigen Rosselenker meinen treuen Burschen erkannte und in dem Herrn des Schlittens meinen armen Brand. Ein Schrei der Überraschung und der Freude tönte zu gleicher Zeit aus aller Mund; Brand weinte wie ein Kind und schöpfte neue Hoffnung aus diesem glücklichen Wiederfinden. Da beide noch gar nichts genossen hatten, eilte ich, ihnen von meinem Brot und dem zu mir gesteckten Rum mitzuteilen, was beiden neues Leben in die Adern goß.

Meine erste Frage war nun nach meinen Kameraden, und ich erfuhr, daß sie noch eine geraume Zeit versucht hatten, das Fuhrwerk fortzuschaffen; doch waren sie endlich, als sie bei einer Brandstätte angelangt waren, wo sie etwas Schutz gegen die fürchterliche Kälte fanden, genötigt gewesen, den letzten Versuch dazu aufzugeben. Mittlerweile hatte mein Bursche den kleinen Schlitten mit dem abgetriebenen Pferd angeschafft, auf welchen er Brand, als einen näher zu mir gehörigen Leutnant, gepackt und die andern verlassen hatte, in der Hoffnung, mich wieder aufzufinden. Durch Wilna hindurchzukommen war ihm trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, sondern er hatte die ganze vergangene Nacht damit zugebracht, auf Seitenwegen die große Straße zu erreichen, auf der ich die Armen, in möglichster Eile vor den feindlichen Kugeln fliehend, wiederfand.

Die Mehrzahl der von Moskau Kommenden war zwar in Wilna geblieben und dort aus Mangel und infolge der übermenschlichen Anstrengungen gestorben; doch war, als wir aus dem Bereich des feindlichen Feuers gelangt waren, unsere Straße wieder gedrängt voll Flüchtlinge, und dies mehrte sich später so, daß wir, an eine Anhöhe gelangend, unsern Weg durch Lebende, Tote, Trümmer, Equipagen und Hindernisse aller Art versperrt fanden und mit unserm Schlitten nicht weiter konnten. Wir sahen uns also genötigt, unser Pferd auszuspannen, legten auf dasselbe eine Menge Decken und oben darüber die gerettete Parade-Schabracke Brands, als bequemen Sitz für unsern Verwundeten, um so, unsern Gaul am Zügel führend, dies Chaos zu durchschreiten.

Transportwagen mit Verwundeten auf dem Rückzuge. (Aus: Schulze, Franzosenzeit in deutschen Landen, Leipzig, Voigtländer.)

Als uns dies gelungen war und der Weg wieder freier wurde, suchten wir aus dem großen Magazin um und neben uns einen andern Schlitten, spannten unser abgetriebenes Pferd wieder ein und eilten weiter. Wir glaubten sicher zu sein, wenn wir erst den Njemen überschritten hätten, und darum strebten wir, Kowno zu erreichen, was uns auch nach drei Tagen gelang. Jedoch fanden wir die Stadt auf der Seite gegen Wilna hin mit Schanzpfählen versehen, das Gedränge vor den Toren war fürchterlich, so daß ich mir durchaus keine Hoffnung machen durfte hineinzukommen. Abermals getäuscht in meinen Erwartungen, entschloß ich mich kurz und bog von der Straße ab, um über den Njemen zu fahren, was sich ganz gut bewerkstelligen ließ. Als wir jenseits der Stadt die große Straße wieder erreicht hatten, umfing uns abermals dichtes Gedränge, doch führte mich mein gutes Geschick in die Nähe eines Soldaten, der einen großen Feldkessel voll Rum trug. Unbemerkt schlich ich hinter ihm her, nahm meinen silbernen Becher hervor und senkte ihn vorsichtig in das duftende Getränk. Der erste Raub ward mir zuteil, dann wiederholte ich mein Experiment für Brand und endlich für meinen Burschen; doch bei dem letzten Eingriff in meines Nachbars Eigentum bemerkte dieser den ungebetenen Gast und wandte sich mit geballter Faust wütend gegen mich um. Einige Napoleons beschwichtigten ihn zwar hinsichtlich des Geschehenen, doch wollte er sich selbst durch neue Geldanerbietungen nicht dazu verstehen, mich noch einen Becher schöpfen zu lassen.


 << zurück weiter >>