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Die Familie Torrigi.

In dem stolzen prächtigen Genua mit seinen Marmorpalästen, die von lauter Königen erbaut zu sein scheinen, deren Kunstschätze unermeßlich sind und deren Majestät durch die wundervolle Lage der Stadt erhöht wird, welche sich in unregelmäßigen Terrassen vom blühenden Abhang des Appenin bis zum warmen, leuchtenden Meere hinabsenkt: in diesem herrlichen Genua gibt es auch sehr enge finstere Gassen mit unfreundlichen, höhlenartigen Häusern, in welche kein Strahl von all dem Glanz und all der Schönheit fällt. Aus einem solchen Hause und zwar aus dem fünften Stockwerk ertönte eine Musik, die keinen Namen hat – dermaßen war sie ohrzerreißend. Es wurden verschiedene Instrumente gespielt; doch keines bekümmerte sich um das andere. Jeder Musiker machte seine Uebungen so rücksichtslos, als sei er allein im Hause. Drei Personen führten dies entsetzliche Trio aus – jede von ihnen in einem besonderen Kämmerchen, die jedoch alle unmittelbar neben einander lagen.

In dem einen saß ein junges Mädchen am Violoncell. Es war eine kräftige, breitschulterige Gestalt, mit starken Armen, starkem Nacken, starkem schwarzen Haar, das ziemlich unordentlich geflochten und mit einer großen silbernen Haarnadel, deren Knopf eine Blume in genuesischer Filigranarbeit war – festgehalten wurde. Die mühsame Stellung an dem so höchst schwierigen Instrument schien ihr ganz leicht zu werden und in ihrem Bogenstrich war eine Fülle und eine Weichheit, die sich nur in einer Meisterhand vereinigt finden. Diese ungewöhnliche Kraftentwickelung war aber auf Kosten der weiblichen Anmuth geschehen. Ihre Züge waren breit und hart, wie von schwerer Arbeit ausgeprägt – und der Ausdruck fast roh, insofern Rohheit Mangel an Erziehung und an Seelenbildung ist.

In dem andern Kämmerchen stand ein anderes junges Mädchen mit einer Violine, gerade so fein, so mager, so schwächlich, wie die erste derb und gesund war. Sie sah übermüdet aus und hatte in ihrem großen schwarzen, von schweren Augenlidern und langen Wimpern beschatteten Auge den unbewußt melancholischen Blick von Kindern, die da leiden, ohne zu wissen, was ihnen fehlt.

Dieser Ausdruck trat im verstärktem Maß bei dem Knaben hervor, der ebenfalls mit einer Violine im dritten Zimmer stand und mit der größten Spannung und Anstrengung spielte. Es that weh, dies Kind zu betrachten, denn es war augenscheinlich in seiner körperlichen Entwickelung znrückgeblieben, um seinen Mund zitterte etwas wie Angst, und das dunkle Geäder, das sein Auge umgab, verrieth die Ueberreizung seiner Nerven.

Plötzlich verstummte die Violine im zweiten Zimmer; das junge Mädchen horchte auf. Nach ein Paar Minuten öffnete sie die Thüre und sagte:

»Ruh' Dich aus, Ors' Anton! Dein Strich ist nicht mehr rein . . . und Du hörst es nicht! Du bist zu müde, ruhe aus!«

»Ist der Strich nicht mehr rein? . . . O Marietta, ich bin wohl sehr müde, aber ich fürchte mich zu sehr vor dem Vater! . . . ich will lieber etwas anderes üben.«

Das unglückliche Kind hatte einen Augenblick den Bogen sinken lassen und sich auf einen armseligen Strohstuhl gesetzt. Aber es fuhr auf und sagte hastig:

»Der Vater kommt, Marietta! ich hörte ihn unten vor der Hausthür husten. Geschwind an Deine Violine!«

»Nein, Ors' Anton! ich kann nicht zugeben, daß Du weiter spielst. Du bekommst wieder Deinen Nervenkrampf.«

»Besser zehnmal Nervenkrämpfe, als einmal vom Vater geschlagen zu werden, Marietta.«

»Er wird Dich nicht schlagen, Ors' Anton! er sieht ja, daß Du ganz erschöpft bist – und ich werde ihm sagen, ich hätte mich ein wenig ausruhen müssen und Dich gehört.«

»Er kommt!« flüsterte Ors' Anton zitternd.

Ein harter kurzer Schritt wurde im Gang gehört, auf welchen die drei Kammern sich öffneten. Eine harte Hand riß Ors' Antons Thür auf und ein stämmiger untersetzter Mann von mittleren Jahren, mit Gesichtszügen, die alle in die Breite gingen, und mit einem allgemeinen cholerischen Ausdruck, trat ein und rief zornig:

»He, was ist das! Nennt Ihr das Uebungsstunden, Ihr Tagediebe? Haltet Ihr Euch für solche Genies, daß Euch die Kunst ohne Uebung nur so angeflogen käme? Da sieht man recht, was Ihr für Tröpfe seid! Marsch! in Deine Kammer, Marietta! ich nehme jetzt den Ors' Anton vor; er soll mir zeigen, ob er sich diesen Morgen gut geübt hat.«

»Nimm mich zuerst vor, Vater!« sagte Marietta; – »Ors' Anton hat vier Stunden hintereinander gespielt: er muß sich ein wenig ausruhen.«

»Albernes Käsegesicht!« sagte der Vater, gab im Vorübergehen dem Knaben einen Schlag an den Kopf und ging durch Marietta's Kammer hindurch nach derjenigen, aus welcher ununterbrochen die prächtigen Töne des Violoncellos in den reichsten und feinsten Uebungen erklangen. Da rief er mit neuem Zorn:

»So höre doch endlich einmal auf, Tota, mit Deinen ewigen Fiorituren, daß man ein vernünftiges Wort reden kann, wenn ich komme.«

»Ah bah, Vater, sei nicht wunderlich!« rief Tota mit ihrer tiefen lauten Stimme; – »studiren wir nicht, so brummst Du – und studiren wir, so brummst Du auch. Das ist ja ein Hundeleben . . . . immerfort angeschnauzt zu werden! und wir müssen doch das Brod verdienen!«

»Ja, ja, mein Täubchen, mein Lämmchen,« sagte der Vater plötzlich besänftigt durch diese Bemerkung; – »wir müssen Alle das Brod verdienen – und mehr als Brod, meine Kinder! Geld, Ehre, Berühmtheit, Vermögen – viel Vermögen! Das Alles sollt Ihr haben. Aber natürlich müssen wir es zuvor erwerben – und sehr mühsam, besonders jetzt, da durch den Tod unserer armen Cecca das Quartett gestört ist. Marietta wird es nie über die zweite Violine hinaus bringen; – sie ist keine Torrigi! Und der Tropf, der Ors' Anton, der es könnte, der schon jetzt ein kleiner Paganini sein könnte, wenn sein Fleiß mit seinem Talent Schritt hielte – der ist trag' und faul.«

Als Ors' Anton die gesänftigte Redeweise seines Vaters hörte, schlich er leise herbei, und sagte nun schüchtern.

»Nicht träge, aber schwach, Vater! Wenn meine Hand könnte, wie das, was in mir ist, will – dann solltest Du schon Deine Freude an mir haben. Aber mitten drin . . . brech' ich zusammen. Das ist nicht meine Schuld – gewiß nicht, Vater.«

»Wie alt bist Du, Ors' Anton?« fragte Torrigi.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete der Knabe.

»Er ist genau vier Jahre jünger als ich – und ich bin fünfzehn,« sagte Tota.

»Schau, Ors' Anton, bei eilf Jahren war Mozart ein Wunder von Berühmtheit als Clavierspieler in ganz Europa, wo alle Höfe des Kaisers und der Könige ihn angafften, bewunderten und priesen. Und was bist Du, Ors' Anton? ich frage, was bist Du?«

»Was ich bin, Vater!« rief der Knabe und ein Blitz von feurigem Stolz belebte sein kleines, blasses und welkes Gesicht; – »Mozart war ein großer Maestro . . . und das bin ich nicht; aber ich bin ein Violinspieler und das ist etwas ganz Anderes, als auf dem hölzernen Clavier zu klimpern.«

»Wie kannst Du nur das Clavier neben unsern Instrumenten nennen,« rief Tota beleidigt ihrem Vater zu.

»O meine Kinder! o mein Fleisch und Blut! o Ihr ächten Torrigi!« rief der Vater entzückt, riß Ors' Anton in seine Arme und setzte ihn auf seine Knie: – »Ja, das ist richtig gesprochen, richtig empfunden. Mit der irdischen Musik befassen wir uns nicht! uns gehört die himmlische an. Habt Ihr je auf schönen Bildern Engel am Clavier handthieren sehen? – Niemals! – Hingegen Geigen, Violen, Harfen . . . das ist die Musik des Himmels, des Paradieses. Ihr seid wie die Engel, meine Kinder! – Also betragt Euch auch gleich den Engeln – gehorsam, fleißig, bescheiden! Erleichtert die Sorgen Eures Vaters, der Euch so mühsam bildet und der durch Cecca's Tod so tief gebeugt ist.«

»Warum müssen wir denn so reich werden, Vater?« fragte Ors' Anton unbefangen.

»Um in der Welt zu Ansehen und in späteren Jahren zu Wohlbehagen zu gelangen, mein Sohn.«

»Aus dem Ansehen mache ich mir nicht so viel!« sagte Tota und schnippte mit den Fingern. »Und ich hätte lieber jetzt einige Annehmlichkeiten des Lebens als in meinen alten Tagen, die ich vielleicht gar nicht erlebe.«

»Nun, ich möchte wahrhaftig wissen, wie sich die Signorina jetzt Annehmlichkeiten des Lebens verschaffen wollte!« entgegnete Torrigi mit gerunzelter Stirn, indem er Ors' Anton heftig von sich stieß. »Sie scheint zu vergessen, daß sie eine Null ist . . . eine unwissende, ungebildete Nullität . . . daß sie nichts ist, als das Violoncello im Quartette . . .« – –

»Und wenn ich nichts Anderes bin,« rief Tota aufbrausend, »wer ist daran Schuld? Wer hat mich zum Violoncello dressirt und torquirt, daß nicht bloß ich, sondern auch die selige Mutter Thränenströme darüber vergossen haben? . . . Hatte ich Zeit, in die Schule zu gehen? Hatte ich Gelegenheit, etwas zu lernen? – Nein! Hat es Marietta . . . hat es Ors' Anton? – Nein! Wir sind zum Quartett verdammt, wie die Galeerensklaven zur Zwangsarbeit. Aber Gott Dank! durch Cecca's Tod ist es aus und vorbei mit dem Quartett! Es fehlt die erste Violine.«

Und frohlockend in die Hände klatschend wiederholte sie ein Paarmal.

»Es fehlt die erste Violine! Gott Dank . . . sie fehlt.«

Marietta und Ors' Anton hatten sich in das Nebenzimmer geflüchtet, wo sie mäuschenstill und bebend das Ende einer Scene abwarteten, die, wenn Tota und der Vater ihren Paroxismus von Wildheit hatten, mit der letzten Brutalität durch thätliche Mißhandlung der Tochter zu schließen pflegte.

Hätte Torrigi auch gern diesen Schluß eintreten lassen, so sah er doch ein, daß Tota jetzt die Säule seiner Zukunftspläne, seiner Hoffnungen sei. Wenn das wilde Mädchen ihm den Gehorsam aufsagte – ihm davonlief – was dann? Um mit zwei kleinen Violinspielern in der Welt umher zu reisen, dazu war Ors' Anton zu kränklich und Marietta nicht genialisch genug. Ueberdies war es nicht ganz neu. Aber ein Quartett aus Kindern einer Familie gebildet – das war etwas ganz Neues, ganz Unerhörtes, was man noch nicht auf Erden erlebt hatte. Freilich genossen damals die vier Brüder Müller aus Braunschweig durch ihr wunderbar schönes Quartettspiel den höchsten Ruf in ganz Deutschland; aber eben darauf hatte Torrigi seinen Plan gebaut, als ihm die Kunde von den berühmten Brüdern zu Ohren kam. Was diese ausgezeichneten Männer leisteten, sollten seine Kinder, seine kleinen Mädchen leisten! – und da es musikalische Genies waren, so begann er schon in frühester Kindheit sie zu diesem Zweck zu dressiren und zu torquiren – wie Tota ganz richtig gesagt hatte. Als die beiden ältesten Mädchen, ein Zwillingspaar, zehn Jahr zählten, reiste er mit ihnen umher und gab Conzerte für Violoncello und Violine, die ungeheures Aufsehen machten, denn Antonia Torrigi erschien als Knabe gekleidet in einer Blouse von rothem Sammt, um ihr Instrument gehörig handhaben zu können – und Francesca Torrigi, ein wunderschönes Kind, sah bei ihrer Violine wie ein träumender Engel aus. Nach einiger Zeit kam auch Marietta dazu; und nun wurden Trios durch die kleinen Mädchen aufgeführt. Marietta war ein verwaistes Kind, die Nichte von Torrigi's Frau, und schon seit ihrem dritten Jahr der Familie einverleibt, so daß sie ganz zu derselben zählte. Wendete die zärtliche Mutter der armen Kleinen alle Sorgfalt und Liebe, wie den eigenen Kindern, zu, so that auch der Vater dasselbe in seiner Weise, und Marietta erhielt ihre musikalische Dressur so gut, wie die Zwillinge. Sie hatte aber nicht deren immenses Talent. »Ganz natürlich!« sagte der Vater, halb unmuthig, halb selbstzufrieden: Marietta ist keine ächte Torrigi, nur eine adoptirte! wie käme sie zum Genie der Torrigi?« Endlich war auch der kleine Orso-Antonio so weit, daß er im Quartett die Bratsche übernehmen konnte und nun begann Torrigi mit der kleinen Schaar seinen neuen Alexanderzug – wie er ihn nannte – um die Welt zu erobern. Er war ein tüchtiger, gründlich gebildeter Musiker, im Orchester der großen Oper zu Genua bei der Violine angestellt, aber keinesweges durch die Opernmusik gegen die Kammermusik eingenommen. Er wendete der letzteren umsomehr sein ganzes Studium zu, als sie das Feld war, auf dem seine Kinder Lorbeerzweige mit goldenen Früchten pflücken – und ihm mittheilen sollten. Ein fieberhafter Durst nach Berühmtheit und nach Glücksgütern brach jetzt bei ihm aus, da er sich auf dem Punkt sah, diese Ziele zu erreichen, nach denen er mit solcher Mühe, solcher Geduld, solcher Anstrengung, solcher Beharrlichkeit gestrebt – und ihnen die ganze Kindheit seiner Kinder geopfert hatte.

In Mailand begannen die Quartetts der »kleinenTorrigi's«; denn sie waren alle klein und schmächtig, bis auf Antonia, die wie ein derbes Bauermädchen aussah und längst ihren Knabenanzug abgelegt hatte. Die Kunstkenner gaben ihrem wundervollen Bogenstrich entschieden den Vorzug, während das große Publikum für Francesca schwärmte wegen ihrer idealischen Schönheit und ihres seelenvollen Vortrags. Alle aber vereinigten sich dahin, daß die kleinen Virtuosen aus einem Guß, in einem Geist, mit einer Hand spielten, so daß ihre Quartette den so höchst seltenen Genuß der musikalischen Vollendung boten.

Von Mailand gingen sie nach Florenz, nach Venedig, nach allen größeren Städten Ober-Italiens. Immer sicherer wurde das Zusammenspiel der Kinder, immer mehr entwickelte sich ihre Fertigkeit, immer feiner wurde ihr Ausdruck, immer lebendiger ihr Vortrag. Torrigi ging mit ihnen nach Paris. Er hatte dort gute Freunde bei der italienischen Oper und die kleine Gesellschaft wurde gut aufgenommen. Beifall und Theilnahme steigerten sich, je mehr man sich mit ihren seltenen Leistungen vertraut machte und Torrigi hoffte mit immer größerer Zuversicht, das Rad des Glückes fest an seine Sohle geschnallt zu haben.

Da traf ihn ein schwerer Schlag: seine Frau starb mitten im Winter in Paris. Sie hatte auf Reisen wie in der Heimath die ganze materielle Seite des Lebens, die physische Pflege der Kinder, ein geordnetes, regelmäßiges Hauswesen – mit großer Sorgfalt in Händen gehabt. Bei dem Bildungsplane der Kinder, den Torrigi mit äußerster Strenge verfolgte, durfte sie ihm freilich nicht in den Weg treten; allein sie konnte ihnen tausend kleine Erleichterungen zukommen lassen, tausend kleine Freuden und Genüsse bereiten, an die Torrigi nie dachte. Sie war die Vorsehung der Kinder, so daß diese buchstäblich in's Elend geriethen, als ihr Platz leer war. Torrigi war nicht geldgierig genug, um die Kinder aus Ueberlegung darben zu lassen; jedoch viel zu sehr mit seinen Ideen beschäftigt und immer sinnend, wie dieselben zu verwirklichen und wo die größere Ausbeute zu machen sei, fiel es ihm nie ein, zu fragen: »Habt Ihr Hunger, habt Ihr Durst? Braucht Ihr Kleider, braucht Ihr Schuhe?« Den Kindern aber fiel es wo möglich noch weniger ein, dem Vater ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse auszusprechen; sie fürchteten ihn viel zu sehr durch die tausend Marterstunden des musikalischen Unterrichts, den er ihnen angedeihen ließ und bei dem er nie anders als im barschen, zornigen Ton sprach, um ihnen jede Anwandlung von Leichtsinn und Flüchtigkeit als ein Verbrechen erscheinen zu lassen. Die Mutter hatte für Alles gesorgt und trotz beschränkter Mittel die Kinder nie darben lassen. Jetzt waren die Mittel größer; aber Torrigi legte lieber das Geld bei einem Banquier an, als es für die Bedürfnisse der Kinder auszugeben. Litten sie nun auch nicht gerade Noth, so war doch keine Ordnung in ihrer Existenz und es fehlten die Erholungen, die kleinen Zerstreuungen, welche bei ihren nervenangreifenden Musikstunden ebenso nothwendig waren, wie das tägliche Brod.

Drei Monate nach dem Tode seiner Frau ging Torrigi nach Brüssel, um Belgien zu durchwandern und dann nach England zu gehen. In London wurde er bereits erwartet – da erkrankte Francesca und zwar so sehr, daß die Aerzte, die sogleich das Uebel erkannten, unumwunden erklärten, wenn das Kind zu retten sei, so sei das nur möglich in der Heimath, an der sonnenwarmen linden Meeresküste Liguriens.

Torrigi war in wüthender Verzweiflung. Nie hatte er an den Tod eines seiner Kinder gedacht – jetzt bedrohte er Francesca . . . seine erste Violine, den Mittelpunkt seiner ganzen künstlerischen Schöpfung, das Fundament und den Schlußstein seines Glückgebäudes! Francesca, die eben so zart und anmutig von Charakter als in ihrer äußern Erscheinung war und keine Ahnung von ihrer tödtlichen Krankheit hatte, suchte den Vater durch die Versicherung zu beruhigen, daß vier bis sechs Wochen in Genua sie ganz herstellen würden, und daß sie dann während des Sommers in England um desto fleißiger »arbeiten« könne und werde.

»Und die weite, kostspielige Reise von hier nach Genua und zurück von Genua nach London – rechnest Du sie für nichts?« fuhr er sie an. »Ich sage Dir, der Verlust an Zeit, an Geld, ist immens, Cecca! . . . ist immens! – Wenn Du doch krank werden mußtest – warum denn nicht an einer Krankheit, die in England zu heilen ist!«

»Vielleicht ist sie auch in England zu heilen, lieber Vater,« sagte das unglückliche Kind; »nur fürchte ich, daß ich jetzt dort nicht im Quartett zu brauchen wäre.«

»Und Ors' Anton, der mir epileptisch wird!« rief Torrigi und schlug sich selbst mit geballten Fäusten dröhnend an den Kopf.

»O nicht epileptisch! . . . der arme kleine Ors' Anton ist ein Paarmal ohnmächtig geworden . . . o sei ihm deshalb nicht böse, lieber Vater!« bat Francesca.

»Mit Tota und Marietta allein kann ich nichts anfangen – gar nichts! Wenn Du fehlst und Ors' Anton auch fehlt, so ist es gerade, als hätte ich gar kein Kind. Du und Tota . . . das ging! Ihr steht beide auf gleicher Linie. Aber die Marietta! die Marietta! . . . Im Quartett, wenn Ihr Andern sie hebt, tragt, fortreißt – nun ja, dann ist sie zu brauchen . . . doch nur dann! – O verlorene Zeit und Mühe! . . . O ich unglückseliger Vater!«

Und abwechselnd zornwüthig und jammernd, als hätten seine Kinder die größten Missethaten begangen, reiste er mit ihnen nach Genua zurück. Für Francesca war es zu spät. Die galloppirende Schwindsucht hatte sich vollständig entwickelt und riß ihr Opfer in's Grab. Torrigi's Verzweiflung war grausamer als die Krankheit. Diese bringt es mit sich, daß der Kranke sich nicht sogleich als verloren betrachtet, daß er die Hoffnung auf Genesung oft bis zum letzten Augenblick behält. Ist mit dieser Hoffnung die vollkommene Vereinigung des Willens mit dem Willen Gottes in Betreff von Tod oder Leben verbunden – und hält sie nicht zurück vom Empfang der heiligen Sakramente: so ist sie eine große Wohlthat, die dem Leidenden den schweren Kampf durch den Hinblick auf Genesung erleichtert. Sie sollte aber nicht der armen Francesca zu Theil werden. Mit sehendem Auge ging sie in den Tod, denn der Vater wehklagte.

»Hab' ich's nicht dem Arzt in Brüssel gesagt, hab' ich's nicht der ganzen hochweisen Facultät prophezeit? . . . Es ist zu spät! – Keine heimathliche Luft, keine warme Meeresküste macht meine Cecca gesund. O Kind, o meine Perle! mit Dir geht meine Hoffnung . . . geht mein Glück zu Grabe! Es bleibt mir nichts übrig, als mich mit Dir unter die Erde zu legen.«

»Was wird dann aus meinen armen Geschwistern?« fragte sie mit einer Selbstverleugnung, die gegen des Vaters Selbstsucht rührend abstach.

»Was wird jetzt aus ihnen? . . . so, meine Tochter, solltest Du vernünftiger Weise fragen. Jetzt ist das Quartett zerstört, zum Trio sind die zwei Kleinen nicht in dem Grade reif, daß sie Mirakelkinder wären – mein Platz im Orchester der Oper ist besetzt – ich bin darauf angewiesen, die ganze Gesellschaft einzig und allein zu erhalten, indem ich Musikunterricht gebe! . . . Und ist es schon eine Folter, für ein gebildetes Ohr große Talente, ja Genies zu unterrichten: so sprechen keine Worte die Höllenqualen aus, die der Unselige erduldet, der stumpfsinnigen Creaturen, welche nicht cis von des unterscheiden können, Unterricht zu geben hat. Was sagst Du nun, Cecca!«

»Vergib mir, lieber Vater, daß ich sterbe,« sagte sie, faltete ängstlich ihre abgezehrten, brennenden Hände und eine Thräne milderte den Fieberglanz ihres Auges.

»O meine Cecchina, bleibe bei Deinem armen, alten Vater! o stirb mir nicht in so zarter Jugend, und so schön, so gut, so genialisch wie Du bist!« schrie Torrigi, fiel auf die Knie neben ihrem Lager, bedeckte ihre Hände mit Küssen und raufte sich in die Haare.

»Vater, steh doch auf! treibe keine Tollheiten!« sagte Antonia in ihrer barschen Weise, mit der sie zuweilen dem Vater entgegentrat, seitdem die Mutter todt war. »Der Doctor will Ruhe für Cecca haben . . . und sieh, wie sie zittert, wie ihre Hände fliegen!«

»Das kommt vom Fieber,« sagte Cecca leise.

»Ja, Du bist ein Lamm!« versetzte Antonia.

»Was Lamm! ein Engel bist Du!« rief Torrigi; »ein Engel, der mit den himmlischen Heerschaaren ganz bald göttlich musiciren wird.«

»Ach, dann wäre ich ja selig!« sagte Francesca mit verklärtem Lächeln.

Der Pfarrer besuchte sie häufig und freute sich, daß ihre kindliche Seele so ganz unberührt von dem verderblichen Weihrauch der Welt geblieben war. In der Beziehung war die eiserne Strenge Torrigi's ein Glück für sie gewesen: unter seiner Zuchtruthe und in der beständigen Furcht vor seiner Unzufriedenheit erstarb jede Anwandlung von Eitelkeit. Ihr Kreuz war ihr Heil. Aber sie starb am Kreuz, wie sie gelebt hatte – ein kleines, stummes, leidenvolles Opfer der Selbstsucht ihres Vaters.

In den ersten Tagen nach ihrem Tode war Torrigi wie wahnsinnig.

»Keiner von Euch rühre sein Instrument an!« rief er den Kindern zu; – »keiner von Euch lasse mich einen Bogenstrich hören! Er würde mir das Herz und das Gehirn sprengen. Geht spazieren, fahrt auf dem Meer, macht was Ihr wollt . . . ich kann Euch nicht brauchen.«

Antonia ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm ihre Geschwister bei der Hand, verließ die unfreundliche, himmelhohe Wohnung, und streifte mit ihnen in der theuern Vaterstadt, in den Kirchen, auf der Aqua sola, auf dem Molo umher. Dabei verzehrten sie einige Orangen und beklagten nur, daß die liebe Cecca nicht diese goldene Freiheit mit ihnen theile.

Inzwischen besuchte der Pfarrer den verzweifelten Torrigi, theils um ihn zu trösten, theils um ihm das Wohl der Kinder an's Herz zu legen.

»Wenn Ihr es mit den Kindern forttreibt, wie mit der armen kleinen Cecca, so bringt Ihr die zwei Kleinen unter die Erde – und die Große, die Tota . . . seht Euch vor, was aus der wird! sie kommt mir vor, wie ein wildes Füllen!« sagte der Pfarrer.

»Schrecklich! schrecklich!« murmelte Torrigi. »Zehn Jahre der Arbeit – und welcher Arbeit, Herr Pfarrer! sind begraben . . . und meine Aussichten mit ihnen! ich bleibe arm und die Kinder bleiben arm.«

»Vielleicht ist es ein Fingerzeig Gottes, daß Sie minder heftig nach Glücksgütern streben sollen,« versetzte der Pfarrer.

»Warum hat denn Gott meinen Kindern ihre großen Talente gegeben,« brauste Torrigi auf, »wenn ich sie nicht gehörig entwickeln darf.«

»Gehörig wohl – aber nicht ungehörig,« entgegnete der Pfarrer; »nicht auf Kosten der Gesundheit, der Jugendfrische und Freude, ja . . . der unsterblichen Seele Ihrer Kinder.«

»Herr Pfarrer,« sagte Torrigi beleidigt, »ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Ihnen dereinst ein Plätzchen im Paradiese neben meiner Cecca zu Theil werde.«

»Das wünsche auch ich, Herr Torrigi. Allein Sie werden mir eingestehen, daß Sie sich nicht bestrebt haben, das Paradies für Cecca zu gewinnen. Irdischen Glanz – nicht die himmlische Glorie – dachten Sie ihr zu. Der liebe Gott aber dachte anders und nahm sie für die ewige Herrlichkeit, denn Ihr Kind ist auch sein Kind und er wollte es nicht fahren lassen.«

»Nun, die drei Andern laufen ja jetzt herum nach Herzenslust, und freuen sich ihres Lebens, während ich hier in Jammer sitze!«

»Herr Torrigi, das ist Alles verkehrt! Sie behandeln Ihre Kinder nach Ihrer Laune, wie Sklaven. Heute halten Sie sie wie Antomaten den ganzen Tag bei der Musik fest – und morgen lassen Sie ihnen eine Freiheit ohne Zügel und ohne Aussicht.«

»Kann ich mich verdoppeln?« brauste Torrigi auf; »muß ich nicht Musikunterricht geben, um das liebe Brod zu verdienen? und nun soll ich den Kindern nachlaufen? – O mein Weib, mein armes Weib! seit ihrem Tode ist alles Glück von mir gewichen!«

Der Pfarrer sah, daß auf diesen, von unbändiger Selbstsucht aufgeregten Charakter durch keinen vernünftigen Zuspruch Einfluß zu gewinnen sei. Er sagte nur noch bittend:

»Nicht wahr, Sie halten darauf, daß die Kinder Sonntags den Gottesdienst nicht versäumen . . . und auch in die Christenlehre gehen?«

»Bin ich ein Jude? bin ich ein Heide?« rief Torrigi. »Das ist Verleumdung, Herr Pfarrer! Das muß ich mir höflichst verbitten! – Ich bin ein römisch-katholischer Christ, Herr Pfarrer – und zwar ein sehr guter . . . daß Sie es wissen! Sonntags wird die Messe gehört und in der österlichen Zeit zu den heiligen Sacramenten gegangen. Ich bin correct . . . was wollen Sie mehr?«

»Ich, mein bester Herr, will überhaupt gar nichts!« sagte der Pfarrer mit stillem Lächeln über die Zuversicht, womit sich Torrigi als einen guten Christen pries. »Es handelt sich nur immer darum, was unser Herrgott will.«

»Ja, ja, der will mich geißeln! . . . und ich muß still halten, bis ich eine erste Violine gefunden habe.«

Nach einigen Tagen war aber Torrigi's gedrückte Stimmung spurlos verschwunden. Eifrig suchte er Schüler, eifrig trieb er seine Kinder zur musikalischen »Arbeit«, eifrig schrieb er nach allen vier Winden, um Erkundigungen einzuziehen, ob nicht irgendwo in der Welt ein junges genialisches Wesen, gleichviel ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, aufzufinden sei, um Cecca's Platz zu füllen. Die Kinder waren sich gänzlichst selbst überlassen und kämpften oft mit den größten Versuchungen, um des Vaters Abwesenheit zu kleinen Spaziergängen zu benutzen. Antonia hatte einmal dies Wagestück ausgeführt: sie hatte, anstatt der Magd, Einkäufe gemacht. Das machte ihr viel Vergnügen, denn es war eine Veränderung, und sie sah und hörte andere Leute. Zum Unglück aber prallte sie, um eine Ecke biegend, gerade gegen ihren Vater an und ihr Schreck darüber war so groß, daß sie vollkommen den Kopf verlor. Sie stellte ihm blitzschnell den Korb vor die Füße, kehrte sich auf dem Absatz um und lief nach Hause. Als sie dort athemlos und besinnungslos ankam, machte ihr die Magd heftige Vorwürfe über ihr unsinniges Benehmen und was denn nun zu kochen sei. Zum Glück kam während dieser Verhandlungen ein Knabe mit dem Gemüsekorb, denn Torrigi hatte sogleich seine vorwitzige Tota erkannt – und da er nicht Zeit hatte, den Korb selbst nach Hause zu tragen, mußte er sich, innerlich wüthend, entschließen, einen Träger zu nehmen und zu zahlen. So war denn wenigstens die Köchin beschwichtigt. Aber diese zitterte mit den Kindern vor dem Strafgericht, das bei des Vaters Heimkehr über sie sammt und sonders einbrechen werde. Es erfolgte aber nichts und Tota, die sich schon zu einer Verteidigungsrede gerüstet und ermuthigt hatte, mußte sie für sich behalten. Als aber Torrigi Nachmittags wieder ausging, schloß er die Außenthüren ab und steckte die Schlüssel zu sich, so daß die Kinder eingesperrt waren – und zu der Köchin sagte er:

»Noch ein solcher Fall und ich werfe Dich alle fünf Stiegen hinunter . . . und aus dem Hause.«

Am andern Morgen verschloß er wieder die Thüren, zuerst bei Ors' Anton, dann bei Marietta; – als er aber an Tota' s Thür kam, öffnete sich dieselbe, seine Tochter trat ihm auf der Schwelle entgegen, stolz wie eine Semiramis, und sagte in demselben Ton:

»Vater! ich bin weder ein Kind, noch eine Verbrecherin, also will ich auch nicht so behandelt werden. Einsperren lasse ich mich nicht. Schließe also nicht meine Thür ab, denn ich würde sie in Deiner Abwesenheit sprengen – und fortlaufen.«

»Bist Du rasend geworden, Tota?« sagte der Vater mit gezwungenem Lachen, weil er einsah, daß er das Mädchen nicht allzu geringschätzig behandeln dürfe: – »Gib mir Dein Wort, daß Du nicht wieder mit dem Korb voll Salat umherlaufen und dadurch an Marietta und Ors' Anton ein schlechtes Beispiel geben willst: dann schließe ich keine einzige Thür ab.«

»Ich sehe keine Schande darin, etwas Salat über die Gasse zu tragen,« versetzte Tota; »die selige Mutter that es oft genug.«

»Dafür war sie eine Hausfrau und spielte nicht das Violoncello!« rief Torrigi entrüstet.

»Wollte Gott, auch ich wäre eine Hausfrau! das Violoncello sollte vor mir Ruhe haben,« sagte Tota und trat stolz in ihre Kammer zurück, denn sie hatte dem Vater ihre Meinung gesagt und fühlte sich siegreich.

Eine namenlose Entrüstung wogte durch Torrigi's Brust; aber Tota's Thür blieb unverschlossen. O Gott! murmelte er halblaut, was bin ich für ein geschlagener Mann. Setzt man denn dazu Kinder in die Welt, daß die Eine stirbt und die Andere eine Hausfrau werden möchte? . . . Wie kommt nur Tota auf einen solchen Gedanken? . . . Ich muß sie schonen . . . muß ihr Vertrauen beweisen . . . muß sie nicht quälen . . . damit sie nicht davonlaufe. Aber quäle ich denn die Kleinen? . . . ich verhelfe ihnen ja nur zu ihrem Glück. Kann ein guter Vater mehr thun?

Von diesem Augenblick an behandelte er Tota mit etwas mehr Rücksicht; aber das Mädchen blieb mürrisch und unfreundlich. Der unnatürliche Druck ihres maschinenhaften Lebens lastete allzu schwer auf ihrer Jugend. Zuweilen wünschte sie heftig, ihre Kunstreise wieder anzutreten – nicht wegen der Kunst oder dem Geldgewinne, sondern nur, um Veränderung und Bewegung zu haben und Neues zu sehen an Menschen und Dingen. Und zuweilen wünschte sie noch heftiger, es möchte sich das geschwisterliche Trio auflösen und nur um's Himmelswillen nicht wieder zum Quartett sich vervollständigen.

»Ich bitte den lieben Gott alle Tage,« sagte sie in ihrem Unmuth zu den beiden Kleinen, »daß der Vater keine erste Violine finde.«

Ist das auch Recht?« fragte Marietta.

»Ja, sehr Recht!« rief Tota; – »er hat genug an uns Dreien, um uns zu quälen.«

»Aber er quält uns doch nur zu unserm Besten,« wendete der Knabe ein.

»Sieh, Ors' Anton! wenn ich Dich anschaue, so möcht' ich heulen!« sagte Tota. »Es ist ja ein Jammer, wie elend Du bist! . . . und das sollte zu Deinem Besten sein?«

»Nun, wenn ich ganz elend werde,« sagte Ors' Anton freimüthig, »so sterbe ich, wie Cecca; . . . und bin ich brav gewesen, so nimmt mich der liebe Gott dann zu sich und bei Ihm bin ich am Besten aufgehoben – und Cecca auch! der Pfarrer hat's gesagt.«

»Nein!« rief Tota, indem ihr große Thränen aus dem Auge rollten, »Du sollst aber nicht sterben, mein Ors' Anton! Es ist schon traurig genug, daß wir unsere gute Mutter und unsere Cecca verloren haben, denn für die, welche zurückbleiben, wird es dann immer härter zu leben.«

Sie setzte sich und fing an so bitterlich zu weinen, daß Marietta und Ors' Anton nach Kinderart von Herzen einstimmten und die kleine betrübte Gesellschaft in Thränen und Schluchzen aufgelöst beisammen saß, ohne ein wiederholtes Anklopfen an den vermiedenen Thüren zu beachten.


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