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30. November.

Heute kamen wir bei unserm Morgenspaziergang an einem Bauernhause vorüber, das in einem Olivenhain liegt. Blühende Rosen kletterten bis zum Dach hinauf; einige Orangenbäume mit goldenen Früchte standen neben einem rieselnden Brunnen. Zwei kleine bildschöne, schwarzäugige Bübchen füllten mit wichtiger Geschäftsmiene einen Krug am Brunnen und leerten ihn in dem kleinen Graben, der den Fuß des Orangebaumes stets umgibt, damit das Wasser nicht ablaufe. Ein drittes Bübchen, das kaum gehen konnte, spielte mit zwei jungen schneeweißen Kätzchen, griff sie, würgte sie in seiner Zärtlichkeit halb todt, so daß sie ihre feinen Krallen ein wenig brauchen mußten und er sie nun voll namenlosen Entsetzen über diese schwarze Unthat der winzigen Spielkameraden zu Boden fallen ließ – um sogleich wieder nach ihnen zu haschen. Auf einem umgestürzten Trog vor der Hausthür saß die glückliche Mutter, die Bäuerin, und spann, wie es hier zu Lande üblich ist und ungemein graziös aussieht – an der Spindel. Mit einer geschickten Fingerbewegung schnellte sie zuweilen die Spindel in die Katzengruppe hinein und versetzte dieselbe damit in die höchste Aufregung um das hüpfende Ding zu erhaschen, das doch stets ihnen entwischte und untere die geschickte Hand der Spinnerin zurückkehrte. Solche Bilder von Mutterglück und Kinderfreuden sind meine wehmüthige Wonne. Gerade in diesem Alter wären jetzt meine drei Söhne.

 
3. December.

Seit fünf Wochen bin ich hier – und keine Zeile von Alarich! O wäre ich doch in Deutschland geblieben! Alarich hätte ich freilich nicht abhalten können, nach Rußland zu gehen, da er sagte: »Mein Herz lechzt nach Krieg gegen Napoleon – und ist Deutschland unterjocht und geknechtet: so ziehe ich nach jedem andern Lande, das die Waffen wider den Tyrannen erhebt.« Schön wie der Kriegsgott Mars sah er aus, wenn er so sprach und wie zwei blaue Flammen erstrahlten seine Augen. Ach! warum denn ging er nicht nach Spanien? warum nach Rußland? – weil es ihre Heimath ist und sie ihn dahin lockte. Wäre ich in Deutschland geblieben, so bekäme ich doch früher seine spärlichen Briefe – wenn er mir überhaupt schreibt! Ach, mehr und mehr wendet er sich von mir ab. Nach drei seligen Jahren umwölkte sich die Sonne meines Glücks und hat sich seitdem nie wieder ganz gelichtet, sondern nach jedem flüchtigen Lichtblick folgte um so tieferes Dunkel. Damals begann mein Unglück, als mein zweite Sohn todt, wie der erste, zur Welt kam. Das machte Alarich nicht nur sehr traurig, sondern es erzürnte ihn, daß ich, die alle seine Wünsche, so wie er sie nur dachte, auch schon erfüllte – diesen Hauptwunsch seines Herzens unerfüllt ließ. Aber bin ich denn wie Gott, daß ich das entfliehende Leben fesseln könnte? Während ich meinen Schmerz zu bemeistern und Alarich zu trösten suchte, machte er es gerade umgekehrt und ließ mich eine gewisse schmerzliche Erbitterung fühlen. In dieser Stimmung traf er jene verführerische Frau, jene Circe – und er, der den Eroberer haßt, weil derselbe unrechtmäßige Herrschaft übt – er ließ sich von dieser Frau erobern und scheint nichts Unrechtmäßiges darin zu finden. Welch ein Widerspruch! – In welcher gräßlichen Besorgniß, ja Todesangst ich in der Zeit vor der Geburt meines dritten Sohnes lebte – daran kann ich gar nicht denken, ohne daß sich alle meine Gedanken verwirren. Mir war, als wandelte ich beständig unter einem Richtschwert, obschon Alarich freundlicher als zuvor gegen mich war. Und es fiel auf mich herab, auf mein Herz, das fürchterliche Schwert! – auch mein drittes Söhnchen war todt. Da sagte Alarich mit eisiger Kälte: »Sie tödtet meine Kinder!« – und während der schweren Krankheit, die ich durchzumachen hatte, war er in Carlsbad – bei ihr. Justine erfuhr durch Freunde, daß ihre Absicht sei, Alarich so zu fesseln, daß er sie heirathe nach dem Tode ihres alten gebrechlichen Mannes. Bleibt unsere Ehe kinderlos, so wird Alarich unschwer einen Vorwand finden, um sie auflösen zu lassen. Und was sollte dann wohl aus mir werden! ich liebe ihn gerade so wie vor sechs Jahren, vielleicht noch mehr, weil ich ihm so oft vergeben habe. Aber Justine sagt: »Nein, er darf und wird Dich nicht verstoßen! Du mußt ihn retten vor seiner eigenen Thorheit und vor der Russin, die an Alarich nichts höher schätzt, als seinen Reichthum. Seine Rettung ist Deine höchste, Deine erste Pflicht. Würdest Du ihn unter Mördern und Räubern lassen, ohne zu versuchen, ihn mit List, mit Gewalt, gleichviel wie! zu retten – und begeht die Russin nicht an Dir den Mord Deines Glückes und an Alarich den Raub seiner Ehre, seiner Treue, seines Vermögens?« – –

Wir verbrachten einen schrecklichen Winter in Dresden, denn die Circe war da – wegen der guten Aerzte, die ihres Mannes Gesundheit herstellen sollten – als ob das möglich sei bei einem Greise von dreiundsiebzig Jahren! – Als im Sommer das Gerücht vom Kriege zwischen Frankreich und Rußland aufkam und Alarich vor Freude electrisirte, da faßte ich mir einmal ein Herz und fiel ihm weinend zu Füßen und bat und flehte, er möge mich nicht verlassen. Das rührte ihn ein Paar Tage; doch kaum hatte ich einige Hoffnung geschöpft, so entschwand sie schon wieder und Rußland – oder die Russin zog ihn von mir fort! – – Als mir die Aerzte kurz vor Alarichs Abreise riethen – um zu thun, als wüßten sie einen Rath! – ich möchte den Winter im Süden zubringen, willigte er gleichgültig in meine Reise ein und sagte kalt: »Besser keine Hoffnung. als unerfüllte.« Das war im August. Einige Wochen später trat ich mit Justine meine Reise nach Nizza an.

 
7. December.

Wie ein Alp drückt mich die Aussicht in die Zukunft: Justine wiederholt mir unaufhörlich: »Du hast eine Liebe, Du hast eine Pflicht – und Du schwankst, ob Du das thun sollst, was sie gebieten?« – Justine liebt mich aber so ausschließlich, so rücksichtslos, daß ich mich der Sorge nicht erwehren kann, ob sie nicht verblendet sei. O dürfte ich doch mit einem andern zuverlässigen Menschen mich berathen, der ohne persönliche Vorliebe für mich wäre und nur die Sache selbst im Auge hätte – mit dem Priester z. B., der im Dom im Beichtstuhl war. Ich habe ihn nicht gesehen und nicht gehört; aber ich kann mir vorstellen, wie klug, wie erfahren und wie barmherzig ein Mann sein muß, dem so Viele ihr Gewissen erschließen – denn wer das thut, will eben kluge, erfahrne, milde Worte und Rathschläge, und fände man sie nicht bei jenem Priester, so würde man sich nicht an ihn wenden.

 
12. December.

Mein Gott! – was habe ich gethan! – was soll ich thun – o welche Thorheit! Aber wenn es nicht Thorheit, sondern höhere Fügung gewesen wäre! –O liebes, stilles Buch, du bester Vertrauter, dir will ich sagen, was geschehen ist. Das pflegt mich ja immer für den Augenblick zu beruhigen und vielleicht gelange ich zu einiger Klarheit und Entschiedenheit, wenn ich mein Gespräch aufzeichne, um es desto gründlicher zu überlegen.

Justine ist seit einigen Tagen durch ein Erkältungsfieber an das Bett gefesselt und ich mache meine Ausfahrten allein. Der Diener, den ich hier angenommen habe, ein guter freundlicher Mensch, ist sehr begeistert für seine Vaterstadt und bemüht sich, mich auf alle ihre Vorzüge und Schönheiten aufmerksam zu machen. Da er schon ein Paar Mal von der herrlichen Musik gesprochen hatte, die jeden Sonnabend zur Vesper im Dom stattfinde, so fuhr ich heute dahin und dachte an Dresden und an die wunderschöne Musik, die ich dort in der katholischen Kirche so oft gehört hatte – mit Entzücken, wenn Alarich den Genuß mit mir theilte und in namenloser Traurigkeit, als später meine Freuden nicht mehr die seinen waren. Das Alles flutete mir durch die Seele, als ich den Dom betrat und mir war, als müsse ich der Uebermacht streitender Gefühle mit meiner armen Vernunft erliegen. Die Musik löste die Geierkralle von meinem Herzen und gab mir Thränen; – aber keinen Frieden. Wie ein ruheloser Geist irrte ich im Dom umher, setzte hier und kniete dort mich nieder. So kam ich an den gewissen Beichtstuhl, der seit drei Wochen nicht aus meinen Gedanken weichen will. Der Priester war darin und einige Personen knieten in der Nähe; aber er sprach gerade mit Niemand, sondern las in einem großen Buch. Ich weiß nicht wie es kam, was mich trieb, welchem Zug ich nachgab – genug, ich kniete plötzlich zur Seite des Priesters, durch ein Gitter von ihm getrennt. Meine Thränen stockten und mein Herz schlug dermaßen heftig, daß mir bange war, er könne es hören und davor erschrecken. Ich vermummte mich tief in Schleier und Shawl, damit er mich nicht sehe und ich nicht ihn – und ich bemerkte nur, daß er, als er sich zu mir wendete, das Zeichen des Kreuzes machte und einige lateinische Worte sagte. Dann schwieg er und wartete auf das, was ich zu sagen hätte. Aber ich war dem Ersticken nah – ich konnte nicht sprechen; ich ächzte nur und rang nach Athem. Da sagte er mit sanfter Stimme und in einem ruhigen, ermunternden Ton:

»Confiteor.«

Das brachte mich zur Besinnung und ich sagte ihm in französischer Sprache, ich sei protestantisch.

»Dann ist es unnütz, daß Sie beichten, denn ich kann Ihnen nicht die Absolution geben,« entgegnete er sanft.

»Aber doch einen Rath,« sagte ich bittend.

»Gern, wenn es Sie beruhigt! Fassen Sie sich und reden Sie!« erwiderte er.

Ich sagte ihm Alles so kurz und klar wie möglich. Als ich fertig war, sagte er immer ganz sanft, doch sehr bestimmt:

»Das dürfen Sie nicht. Es ist eine Versündigung gegen das achte Gebot, welches jede Art von Lüge verdammt, indem es heißt: Du sollst kein falsches Zeugniß ablegen. Die Lüge ist eine Verhöhnung der Allwissenheit Gottes.«

»Nun und was rathen Sie mir denn zu thun?« fragte ich.

»Zu leiden, so lange Gott will, und kindlich zu vertrauen, daß Er dabei seinem weisen, väterlichen Plan folge.«

»Und mein Mann?«

»Haben Sie Geduld mit ihm, die Welt ist verlockend. Seien Sie immer bereit, ihm liebevoll zu verzeihen und beten Sie viel, sehr viel für ihn.«

»Aber ich gehe ja zu Grunde an meinem Schicksal!«

»Ausharren! ausharren! Gott sorgt für Sie und für uns Alle. Aber es gilt auch uns Allen, was der heilige Psalmensänger gesagt und gethan hat: »Drücke dein Herz nieder und leide.«

»Können Sie denn gar keinen Trost mir geben,« seufzte ich klagend.

»Wenn Sie den Trost nicht haben, der aus dem Glauben fließt – wenn Sie nicht in der liebenden Vereinigung ihres Willens mit dem ewig anbetungswürdigen Willen Gottes, trotz aller Trübsal, Ihren Frieden finden – wie sollte da menschlicher Trost Ihnen genügen?«

»Ich dachte, Sie könnten himmlischen Trost spenden, weil Sie ein Priester sind,« sagte ich traurig.

»O arme Seele,« sagte er mit tiefem Mitleid, »arme Seele, die einen Instinkt von der göttlichen Wahrheit hat! Ja, der Priester kann übernatürlichen Trost spenden, weil er als Gottes Stellvertreter im heiligen Bußsacrament zum reuigen Sünder sagen darf: Deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin in Frieden! – und dieser Trost ist denn freilich der Art, daß aus seiner überströmenden Fülle, die der Ewigkeit angehört, auch ein Bächlein über die Trübsal der Zeit und des Lebens sich ergießt.«

»Auch ich hoffe auf Vergebung meiner Sünden, allein das vermindert meinen Kummer nicht,« sagte ich ganz aufrichtig.

Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er:

»Für Alle ist Christus gestorben; Alle dürfen auf seine Barmherzigkeit hoffen. Aber Sie werden begreifen, daß Sie auf diese Hoffnung hin nicht absichtlich und mit Vorsatz eine so schwere Sünde begehen dürfen, wie diejenige sein würde, von der Sie geredet haben. Ihre Unruhe ist ein untrügliches Zeichen, daß Ihr Gewissen sich dagegen sträubt. Nehmen Sie Ihr Kreuz aus Gottes Hand, tragen Sie es so lange, wie Gott will – und Sie werden, trotz Kummer und Sorgen, inneren Frieden haben.«

Ich bemerkte, daß sich einige Personen genaht hatten und augenscheinlich warteten, bis an sie die Reihe käme. Das beängstigte mich. Ich sagte nur noch:

»Gottes Lohn für die Güte, mit der Sie mich anhörten, und für Ihren frommen Rath.«

»Befolgen Sie ihn und Gottes Gnade wird Ihnen nicht fehlen,« erwiderte er.

Ich verließ den Beichtstuhl, den Dom, stieg in den Wagen und ließ mich ein Paar Stunden umher fahren, so daß es ganz dunkel war, als ich endlich zu Hause kam. Ich war wie betäubt, wie im Traum und ganz abgespannt in Folge der ungeheuern Aufregung, die mein ungewöhnlicher Schritt veranlaßt hatte. Als ich meine Wohnung, mein Zimmer betrat, die tägliche Umgebung sah und Justine, die sich etwas besser befand und mir liebreich meine Spazierfahrt in der Abendkühle vorwarf: da kam ich wieder zu mir und fühlte sofort, daß eine neue Angst und Unruhe in mir geweckt sei, nämlich die, daß der Priester Recht habe, daß mein Gewissen ihm beistimmen müsse, daß ich am Besten thue, meine Sache in die Hand Gottes zu legen, ohne sie nach meinem Sinn wenden zu wollen – und daß ich mich zu ergeben hatte, wenn Alarich für mich verloren sei. Allein diese letzte Möglichkeit ruft in mir ein so intensives Sträuben wach, daß jede Faser meines Herzens sich gegen sie aufbäumt und Einsprache thut. Und so bin ich denn elender als zuvor, denn ich habe einen Dorn mehr im Gewissen.

 
14. December.

Eine neue Versuchung, die mich martert! – ich möchte abermals mit dem Priester sprechen und ihn bitten, mich zu belehren, wie man zur Ergebung in den Willen Gottes kommt – wie man es überhaupt anfängt, um so recht innig an Gott zu denken. Ich liebe Gott – im Menschen! Mein Vater war mir das Ideal der Vaterliebe; Justine ist mir das Ideal der schwesterlichen Liebe; Alarich war mir das Ideal aller und jeder Vollkommenheit – ach! er ist es noch – nur verschleiert, umwölkt. Gott hat diese Wesen erschaffen und sie so herrlich begabt. Darum liebe ich dankbar seine Liebe, seine Güte, seine Vollkommenheit und Allmacht – in diesen theuern Geschöpfen; aber das ist doch nur eine indirecte, eine mittelbare Liebe; ja, ist es überhaupt eine Liebe? – Aber wie kann man eigentlich Gott mit dem Herzen lieben? ein so immens erhabenes Wesen, das so ganz außerhalb unserer Natur in seinem ewigen Himmel lebt und webt – ist zu hoch, zu groß, zu gewaltig für mein Herz. Und doch hat der Priester gesagt: »die liebende Vereinigung Ihres Willens mit dem göttlichen.« Das weist doch hin auf eine wirkliche, unmittelbare Liebe. Ach! wie habe ich Alarich's Willen geliebt! ich bemühte mich, ganz willenlos mich zu machen, damit sein Wille in mir lebe und wir ganz Eins sein möchten. O Alarich! – –

 
16. December.

Es ist etwas Unvergeßliches in den Worten des Priesters: »Ausharren! ausharren! – Drücke das Herz nieder und leide! – Das achte Gebot verdamm jede Art von Lüge!« – –

 
23. December.

Justine liebt mich so sehr, daß sie leicht Alles erräth, was in mir vorgeht; darum kann ich ihr nichts verhehlen. Da sie aber einen dominirenden Charakter hat und ich einen sehr schmiegsamen: so nimmt ihre Liebe manchmal eine Färbung von Despotie an. Ich fühle das, ich möchte mich vertheidigen, aber ich bin wehrlos und leicht unterjocht. Es ist nun einmal mein Schicksal, durch Liebe zu leiden.

Er, den ich am meisten geliebet,
Der hat mir am weh'sten gethan! –

Ja – ich hatte eine kleine Scene mit Justine. – In Folge jenes Rathes des Priesters erklärte ich ihr gestern, ich wolle die Sache Gott anheim stellen.

»Und Alarich dem russischen Einfluß überlassen?« fragte sie scharf.

Der Gedanke machte mich zittern und ich antwortete mit schwankender Stimme:

»Ich fürchte, Unerlaubtes zu thun.«

»Seit wann sind Nothwehr und Selbstvertheidigung – seit wann ist die moralische Rettung eines Gatten unerlaubt?« fragte sie weiter.

»Nicht die Selbstverteidigung und nicht die Rettung; – nur das Mittel,« sagte ich zaghaft.

»Weißt Du ein anderes?« fuhr sie fort und setzte hinzu, als ich schweigend verneinte: »Nun, vielleicht brauchen wir es nicht. Aber Lucia, wie kommst Du zu diesem Gedanken?«

Ich fühlte, wie mir alles Blut in die Wangen stieg. Sie sagte lebhaft:

»Du hast mit dem Priester geredet, thörichtes Kind.«

Ich ermannte mich und entgegnete: »Ja, ich that es! und Alles, was er mir gesagt hat, ist im Einklang mit meinem Gewissen.«

»Auch mit Deinem Glück, Deiner Liebe, Deiner Bestimmung als Alarich's Frau?«

»Mit Glück und Liebe – nein! mit meiner Bestimmung – vielleicht!«

»Entschieden nicht, Lucia! Deine Bestimmung ist Dir von der Vorsehung angewiesen; Du mußt sie festhalten. Ein Wesen wie Du erträgt nicht herbe Schicksalswendungen, die Dich aus dem Boden herausschleudern würden, in welchem Du mit Deinem liebenden Herzen Wurzel faßtest.«

»O, darin hast Du Recht!« rief ich überwältigt.

»Wozu also die Selbstquälerei!« fuhr sie fort.

»Stehe ich Dir nicht treu zur Seite? bin ich Dir je etwas Anderes gewesen, als ein sicherer Rathgeber? hältst Du mich plötzlich für böse und schlecht?«

»Nein, nein!« rief ich lebhaft und umarmte sie.

»Warum denn begehst Du die große Unvorsichtigkeit, Dich einem wildfremden Mann anzuvertrauen? War er jung, war er alt? Fragte er nach Deinem Namen, Deiner Herkunft, Deiner Heimath?«

»Nach nichts hat er gefragt! ob er jung oder alt ist, weiß ich nicht! einem »wildfremden Mann« aber habe ich mich keineswegs anvertraut, sondern einem Priester.«

»Da Du nicht katholisch bist, so gilt diese subtile Distinction nicht für Dich.«

»Aber für ihn, Justine! Er brauchte den Ausdruck: der Priester als Stellvertreter Gottes; – folglich muß er nach höheren Grundsätzen und von einem höheren Gesichtspunkt aus die menschlichen Handlungen beurteilen.«

»Es ist sehr merkwürdig,« sagte Justine, »welche Gewalt die Idee des Priesterthums auf kindliche und schwache Gemüther übt und immer geübt hat! Nimm doch Deine Vernunft zusammen, meine arme Lucia, und dann sage mir einen Grund, auf den Du jenen Ausdruck und Deine Ansicht stützen könntest.«

Ich mußte schweigen, denn ich hatte keine Gründe.

»Wenn wir die Menschen für das halten wollten, wofür sie sich ausgeben,« fuhr sie fort, »so würden wir aus einer Täuschung in die andere fallen. Die Weltgeschichte hat gerichtet über das Priesterthum: Es ist eine geistige Tyrannei, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern von einer gewissen Caste über geistig Unmündige, über schwache Charactere, über zaghafte Gemüther geübt wird. Ob die einzelnen Priester den Tempeln von Memphis, dem Hain von Dodona, der großen Pagode von Zagernaut oder dem Vatican zu Rom angehören – ändert im Wesentlichen gar nichts. Knechtung der Geister, um sie zu beherrschen, Knechtung fremder Selbstständigkeit, um die eigene Selbstsucht zu nähren, Knechtung des fremden Willens, um Zeit und Welt nach dem Plan dieser im Finstern schleichenden und von Werken der Finsterniß sich nährenden Caste zu leiten: das war und das ist bei jedem Einzelnen dasselbe Mittel, dieselbe Absicht, dasselbe Ziel.«

»Ich kann Dich nicht widerlegen,« erwiderte ich, »denn ich habe nicht so viel wie Du gelesen und gedacht. Aber das glaube mir: von dem Allen, was Du sagst, war nicht die mindeste Spur in den Worten des Priesters.«

»Wußte er, daß Du protestantisch bist?«

»Ja, ich sagte es ihm.«

»Du bist ein gutes, naives Kind!« sprach Justine lächelnd. »Es versteht sich, daß er sich jetzt gehütet haben wird, mit der Thüre in's Haus zu fallen. Ach Lucia! was wäre Dein Schicksal, wenn ich nicht neben Dir stände!«

Weil das so richtig ist und mich so schmerzlich an Alarich's Treulosigkeit mahnte, brach ich in Thränen aus. Justine umschlang mich zärtlich und sprach tröstend:

»Wirf alle Deine Sorge auf mich und es wird gut gehen! Du findest Dein Glück wieder und ich habe dann nicht mehr den Kummer – den einzigen Kummer, dessen mein Herz fähig ist! – Dich leiden zu sehen.«

So endete unser Gespräch. Ich war überwältigt, nicht überzeugt; – und das geschieht mir öfter Justinen gegenüber; – ihr starker Wille beherrscht meine Unmündigkeit. War es aber nicht ungefähr das, was sie den Priestern vorwarf?

 
Genua, den 1. Februar 1813.

Justine hatte keine Ruhe in Nizza. Ich hatte mich eingewohnt und wäre gern dort geblieben; allein sie stellte mir den Aufenthalt in einer kleinen Stadt als höchst gefährlich für unseren Plan vor. Ich glaube, sie fürchtete den Priester! Ach, ich hatte nicht mehr den Muth, mich an ihn zu wenden, da ich ja entschlossen war, das Recht der Selbstbestimmung zu üben – wie Justine es nennt; d. h. Justinens Rath und nicht dem seinen zu folgen. Ach! ich folge jedem Rath, der mir die Vereinigung mit Alarich in Aussicht stellt! – Besonders jetzt, da er mir recht liebevoll geschrieben hat, teilnehmend, hoffnungsvoll, fast zärtlich. Es scheint, als hätten die Kriegsereignisse ihn wirklich mehr beschäftigt, als die Circe. Wenigstens athmet sein ganzer Brief Kriegslust und Siegesfreude. Die französische Armee vernichtet, Napoleon auf schleunigster Flucht, die russische Armee weiter und weiter gen Deutschland vordringend, wo man nur das Signal des allgemeinen Aufstandes erwartet: das ist so recht, wie er es immer gewünscht hat! und ich freue mich darüber. Ich liebe seinen Muth, seinen Thatendurst, seine warme Vaterlandsliebe. Ich liebe Alles, was ihn veredelt, was seine schöne Natur entwickelt. Aber mein muß er sein! Deshalb bin ich auch jetzt ganz entschieden, Alles zu thun, was ihn an mich fesselt. Ich bin jetzt ein halbes Jahr von ihm getrennt. Was ich dadurch leide, sprechen Worte nicht aus! Es werden noch Monate vergehen, bis ich wieder mit ihm vereinigt sein werde. Aber dann! – dazu bin ich fest entschlossen – dann trenne ich mich nie wieder von ihm! Mag kommen, was wolle! – mag es gehen, wie es geht! – mag ich auf's Neue leiden und trauern – ich trenne mich nie wieder von Alarich!

 
12. Februar.

Unaussprechlich schön ist Genua »die herrliche!« Genova – la superba; Firenze – la bella; Padova – la dotta; Bologna – la grassa; Roma – l'eterna: nennt der Italiener einige seiner berühmtesten Städte. Magisch ist der Blick längs der Riviere nach Porto fino, dessen Felsen wie eine dunkle Sphynx am Gestade liegt und ernst hinausschaut in das unendliche Meer. Magisch sind einige Aussichten auf der Aqua sola, die schon mit den ersten Reizen des Frühlings sich schmückt. Aber was geht das mich an! ich bin getrennt von Alarich! und kein Paradies kann mir gefallen ohne ihn.

 
15. Februar.

Justine ist fast entsetzlich in ihrer Liebe, in ihrer Vorsicht, mit ihrer Ueberlegung. Ich sagte vorhin, der Gedanke, hier vielleicht zu sterben, ohne Alarich wiedergesehen zu haben, quäle mich dermaßen, daß ich zuweilen auf dem Punkt sei, ihn zu bitten herzukommen. Sie sagte gelassen:

»Gib den Gedanken auf! die Erwartung des Erfolges würde Dich in eine nervenzerstörende Spannung versetzen. Und wie langsam und unsicher geht jetzt ein Brief! Du würdest Dich verzehren in Aufregung und Alarich's Tod oder was weiß ich für Schrecknisse Dir ausmalen, wenn die Antwort lange ausbliebe. Auch muß ich Dir gestehen, daß ich schon vor längerer Zeit an Alarich geschrieben habe, er möge unter keiner Bedingung kommen, da jede Alteration, auch die freudigste, für Dich von den übelsten Folgen sein würde, während wir jetzt die besten Hoffnungen hätten. Sei also überzeugt, daß Alarich, wenn er auch könnte, nicht kommen wird. Übrigens ist Dein Befinden ja so gut, daß ich zu Deinen Todesgedanken nur lächeln kann.«

 
22. Februar.

Auch hier erzählt mir mein Lohndiener viel von den Merkwürdigkeiten Genuas, mit denen sich freilich das kleine Nizza nicht messen darf. Genua hat nicht bloß die stolzesten Palläste der Welt für reiche und vornehme Leute, sondern auch für die Armen. Die Wohlthätigkeitsanstalten sollen ungemein großartig sein. Der gute Luigi schreibt das dem Einfluß und der Fürbitte einer edlen Genueserin zu, die vor Dreihundert Jahren gestorben ist, der heil. Catharina Fieschi-Adorno. Sie diente mit übermenschlicher Aufopferung den Kranken – erst in der Stadt und dann im großen Spital, wo sie viele Jahre lebte. Ich fragte Luigi, warum sie das gethan habe? sie hätte doch wenigstens in ihrem Hause bleiben sollen.

» Per amore del Nostro Signore e della Gran Madre de Dio, Maria sanctissima,« antworte er ganz ruhig und als ob ihm das gar nicht so ungeheuer auffallend sei, die Dogentochter im Spitaldienst zu sehen.

»Es ist nur zu erklären durch die Schwärmerei, die den Katholiken eigen ist,« bemerkte Justine.

»Schwärmerei!« rief ich; – »wie kann man die jahrelange furchtbare Praxis des Krankendienstes im Spital – Schwärmerei nennen, da er doch in der That ein Mittel gegen alle Schwärmerei ist.«

»Ich wollte nur sagen, der Ursprung dieser Handlungsweise sei Schwärmerei, d. h. eine verkehrte und überspannte religiöse Auffassung von Leben und Pflicht. Da die Katholiken durch ihre guten Werke den Himmel erobern wollen: so gilt ihnen die Excentricität auf dem Gebiet der Werkthätigkeit als die Sturmleiter zur himmlischen Citadelle.«

»Aber welche Himmelssehnsucht setzt es voraus, daß man ein solches Leben sich wählen könne!« rief ich. – –

Heute gab mir Justine ein Buch und sagte:

»Dies ist die Lebensbeschreibung der heil. Catharina von Genua – wie man sie nennt. Ich durchblätterte es nicht ohne Interesse, denn man sieht hier der Sache auf den Grund. Die arme Frau lebte in einer höchst unglücklichen Ehe und litt an somnambulen Zuständen. Das trieb sie in's Spital!« –

Auch ich habe so eben das Buch durchblättert. Ja, es ist wahr, Catharina war mehrere Jahre höchst unglücklich, bis ihr Gemahl sich vollständig besserte und mit ihr versöhnte. Allein ich kann durchaus nicht den Zusammenhang zwischen ihrem Unglück und dem Spitaldienst einsehen. Sollte ich noch zehn Jahre im Jammer um Alarich leben müssen: so würde mir tausendmal der Gedanke kommen, meinem elenden Leben ein Ende zu machen; aber nicht Einmal der: – Krankenwärterin im Spital zu werden.

 
Den 22. März.

Es ist geschehen. Alles ist vorüber. Alarich wird bereits erfahren haben, daß sein Sohn lebt, daß ich nicht zum vierten Mal »die Mörderin seines Kindes« bin. Aber ich bin in Verzweiflung. Gott verfährt zu hart mit mir! O Alarich, Deinetwegen, um Dich zu retten, um Dich zurückzuführen auf den Weg der Pflicht und des Glückes – verdamme ich mich zu einem Comödienspiel, das so lange dauern wird, wie mein elendes Leben! – Justine hatte Alles auf's Beste vorbereitet. Ich ließ sie gewähren und fragte nicht. Sie versuchte mich zu täuschen, aber das gelang ihr nicht. Als man mir das Kind in die Arme legte, sagte Justine:

»Freue Dich, es lebt.«

Ich antwortete mit einem Strom von Thränen.

»Sieh, wie die Vorsehung Alles so günstig gefügt hat!« setzte sie zweideutig hinzu.

Möge Alarich bald kommen. Seine Freude wird mir Kraft geben. Der schmerzlichste Tag meines Lebens war – trotz der vorhergehenden Jahre! – dieser schreckliche 1. März.

Als Peregrin so weit gelesen hatte, entsank ihm die Blätter: der 1. März, der seine Mutter zu einem lebenslänglichen Comödienspiel verdammte, war sein Geburtstag. Es ist also richtig, murmelte er: nicht der Sohn meines Vaters, nicht der meiner Mutter . . . kein Gorm bin ich . . . und dies teuflische Weib – diese Justine . . . hat das Alles zuwege gebracht! Aber wer bin ich denn? wer sind meine Eltern? – Er fiel über die Blätter her und las weiter:

 
Genua, den 3. April 1813.

Ich kann dies arme Kind nicht lieben! was liegt mir überhaupt an einem Kinde, wenn es nicht Alarich's ist! – Ich sagte heute an Justine:

»Ich kann nicht länger auf dieser Folterbank aushalten! ich gebe den Knaben fort, lasse ihn seiner Herkunft gemäß erziehen, schreibe an Alarich, er sei gestorben und kehre nach Deutschland zurück.«

»Thue, was Dir gefällt,« sagte sie mit eisiger Ruhe; »aber dann ermanne Dich auch und wimmere nicht mehr um Alarich. Du hast Einmal das unerhörte Glück gehabt, Dein und sein Schicksal zu beherrschen – das wird Dir zum zweiten Male nimmermehr geboten. Also fasse Deinen Entschluß und handele.«

Wenn ich aber so ganz allein und ohne Rath einen Entschluß fassen soll, der über mich und Alarich entscheidet und dessen Ausführung, nach zwei Seiten hin, mich in Meere von Trübsal stürzt, so faßt mich ein Grauen und ich weiß mir nicht zu helfen. Es sprechen dann zwei Stimmen in mir. welche von Beiden ist die unfehlbar richtige? Jetzt halte ich diese dafür und morgen jene – und Niemand steht mir bei! Ach, ich zittere dermaßen vor jedem wichtigen Entschluß, daß ich lieber die Dinge gehen lasse, wie sie eben gehen. Justine kennt genau diese Schwäche meines Charakters. Sie sagte nach einiger Zeit:

»Arme Lucia, quäle Dich doch nicht durch das Raffinement Deiner Gefühle! Es ist ja keineswegs nothwendig, daß Du dies arme Bübchen anbetest. Du verhilfst Dir dazu, Deinen Mann wieder anbeten zu können und Du verhilfst ihm dazu, Graf Gorms Sohn zu sein. Das sind zwei Dienste, die einander werth sind und die drei Menschen glücklich machen. Was verlangst Du mehr? – Mütterliche Gefühle vielleicht? – Sei versichert, daß sie erwachen werden, wenn Du Alarich in Jubilo sehen wirst, und wenn der genuesische Aufenthalt nach und nach in Deiner Erinnerung verblaßt. Für den Augenblick beunruhigt Dich die fremde Situation; doch mit der Zeit wirst Du dich vollkommen in sie hineinleben – darüber habe ich nicht den leisesten Zweifel.«

Justinens Zuversicht that mir wohl; sie enthob mich eines Entschlusses: ich folgte dem ihren.

 
17. April.

Alarich ist da! seine Freude ist grenzenlos. Auch die meine . . . über ihn! Aber ein leises Zittern . . . ich glaube mehr seelischer als körperlicher Art, verläßt mich nicht. Oeffnet sich plötzlich eine Thür, höre ich einen schnellen Schritt, wird ein Brief gebracht: so schrecke ich zusammen und es überläuft mich heiß und kalt. Aber ich bin glücklich und Alarich ist glücklich: dem Glück muß ich ein Opfer bringen.

 
28. April.

Hätten wir nur erst Genua verlassen. Ich dringe auf die Heimreise. Alarich findet hier Alles so schön und sich selbst so beseligt, daß er tausend Gründe weiß, um länger zu bleiben. Wir führen ein paradiesisches Leben, ohne alle fremde Gesellschaft. Unsere Villa liegt an einem Felsenabhang, und die frische Meeresluft trägt den Duft der blühenden Orangen- und Citronenbäume zu uns hinauf. Der Blick senkt sich auf einen Theil der wunderbar schönen, malerischen Stadt und schweift hinaus in die unendliche Ferne des blauen Meeres, dessen Brandung am zerklüfteten Gestade zu uns herauftönt. Alle Sinne schwelgen. Die junge berauschende Frühlingsschönheit hat Erde und Himmel und Meer in Besitz gekommen; – und ich genieße das Alles mit Alarich, dem geliebten, dem liebenden Alarich! – Aber ich verließe doch gern all' die Herrlichkeit und sehne mich hinweg aus ihr nach Schloß Traun.

 
Schloß Traun, den 26. August.

Längst sind wir heimgekehrt; längst ging Alarich zur Armee zurück und Justine begab sich gleich nach Tannhof. Ich bin hier allein mit dem Kinde – mit Peregrin.

»Warum nanntest Du ihn Peregrin? warum nicht Alarich?« fragte Alarich, als ich ihm zum Erstenmal des Knaben Namen nannte.

»Peregrin bedeutet Fremdling,« sagte ich. »Und da ich an einem so wichtigen Wendepunkt meines Lebens in der Fremde war, habe ich ihm zur Erinnerung daran den schönen, sanften Namen gegeben.«

Ach, das arme Kind! es ist mir wohl ein Peregrin. Nichts knüpft mich an ihn, als daß er die Brücke schlug. die Alarich wieder zu mir führte. – Und wer weiß, ob das nicht auch ohne ihn geschehen wäre! –

 
2. Mai 1814.

Mein Gott, bin ich denn für ein immerwährendes Leiden geboren? – ich ertrug es nicht, daß Alarich die Circe liebte; – aber ich kann es auch nicht ertragen, daß er den Knaben so übermäßig liebt. Peregrin ist der Mittelpunkt seiner Gedanken. Allerdings immer in der Voraussetzung, über diesen Punkt mit mir zusammenzustimmen. Peregrins Entwickelung und Erziehung, Peregrin's Fähigkeiten und Zukunft, sind in unserer Intimität sein Lieblingsgespräch. Wohl liebt er mich zärtlich, wohl zeigt er es mir auf jede Weise, ganz ungesucht; aber der Gedanke, daß es dies Kind ist, dies fremde Kind, welches mich in seine Liebe wieder eingesetzt hat, erfüllt mein Herz mit namenloser Bitterkeit, die ich vor jedem menschlichen Auge tief verbergen muß. O, es gibt eine Nemesis, eine in der Stille rächende Gottheit, die uns da einen Dorn finden läßt, wo wir die Rose pflücken wollten, welche uns nicht bestimmt war. Ich klammerte mich bis zum Wahnsinn an den Gedanken fest, durch ein Kind Alarich's Liebe wieder zu gewinnen; ich führte den wahnsinnigen Gedanken durch eine eben so wahnsinnige Handlung aus; sie hatte den erwünschten Erfolg – und jetzt möchte ich verzweifeln, daß ich diesem Kinde Alarich's Liebe danken soll.

 
1. März 1815.

Peregrin war krank und Alarich in einer solchen Aufregung und Trostlosigkeit, daß ich denken muß, er wäre dem Kinde in's Grab gefolgt, wenn Gott es nicht erhalten hätte. Deshalb zitterte auch ich für dies kleine Leben; ach! nur deshalb! denn mich würde Peregrin's Tod von einer furchtbaren Last erlösen. Armes Kind! Heute ist er zwei Jahr alt geworden. Ein liebes, früh entwickeltes, glücklich begabtes Kind, so recht dazu geeignet, die Wonne eines Mutterherzens zu sein. Aber mein Herz ist wie todt für ihn. – –

 
10. November.

Früher war es mir eine Erleichterung, diesen Blättern meine Gedanken und Empfindungen anzuvertrauen. Auch dieser schwache Trost ist dahin. Ich darf nicht aus der Uebung kommen mich zu beherrschen, denn ich darf ja nie, nie! niemals in mein Herz schaue lassen, muß immer auf der Hut sein, um mich nicht unwillkürlich einmal zu verrathen.

 
Dresden, den 8. Januar 1816.

Gestern waren wir im Schauspiel. Es wurde Macbeth gegeben. Das ist wohl eine der großartigsten Tragödien – nicht bloß von Shakespeare, sondern überhaupt! So, gerade so, geht es her in der Menschenbrust! da erwachen die Gedanken, zuerst nur träumerisch, dann ganz, schlagen die Augen auf, sehen uns an mit verlockendem Blick und wir schauen so tief in diesen bethörenden Blick hinein, bis wir uns ganz in ihn versenken und verlieren und bis er unser Licht und unsere Leuchte wird. Dann fassen wir Alles auf im Sinne dieser Gedanken; Alles, was uns begegnet, drängen wir in ihre Richtung, deuten wir in ihrem Verständniß. Und dann, wenn wir uns innerlich ganz vertraut mit ihnen machten, dann kommen die äußern Umstände herzu – und der Gedanke wird zur That. Ein Unbefangener hätte die Prophezeiungen der Hexen verlacht oder stolz zurückgewiesen; – Macbeth wird tief ergriffen, denn sie sprechen die Sprache seiner Gedanken. Kommt dann ein übermächtig drängender Impuls dazu – eine Lady Macbeth – – so wird es vollbracht! denn das schwache träumende Kind der Gedanken ist ein Riese geworden, der sich in ihrem Schooß nicht mehr bergen kann und nicht länger thatlos und doch ruhelos verbergen will. – Und nun das, was folgt! . . . Mitten in dem Pomp der Majestät und dem Glanz des Festes – Banco's Schatten! Mitten in der Ruhe der Nacht – die Aengste des Traumes von der blutigen Hand. – Nie habe ich eine Tragödie so mitgelebt wie gestern den Macbeth! aber es war ein grausiges Leben – und als der Vorhang fiel, dachte ich: Dort ist es nun zu Ende, aber . . . . hier nicht. Alarich gab mir den Arm, um mich fortzuführen.

»Wie Du zitterst!« sagte er teilnehmend.

»Ja, es ist eine grausige Tragödie,« entgegnete ich; »und durch die vortreffliche Darstellung ist sie mir so lebendig geworden, daß ich sie durchlebte.«

»O,« sagte er scherzend, »das Furchtbarste darin trifft nicht Dich – sondern mich.«

»Hast Du Macbeths-Gedanken?« fragte ich lächelnd.

»Nein!« erwiderte er, »ich gönne allen Königen ihre Kronen lieber als mir. Aber Macbeth hat mir wieder gezeigt, wie ungeheuer weit der Einfluß eines geliebten Weibes geht . . . . und wie wir auf der Hut sein müssen gegen Euch.« – –


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