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Schloß Traun.

Es waren einige Jahre vergangen, ohne in der vom Glück so begünstigten Familie Gorm irgend ein widriges Ereigniß zu bringen. Peregrin war nahe daran, seine Studien zu vollenden, die er auf des Vaters Wunsch und eigenen Antrieb so gründlich machte, als ob sie ihm zum Broderwerb verhelfen sollten. Sein jüngerer Bruder Alarich, geistig minder begabt als Peregrin, aber ein liebenswürdiges, biegsames Naturell, war im Beginn seiner Universitätsjahre – und die Ferien sollten beide Brüder nach Schloß Traun führen, wo die Eltern den größten Theil des Jahres zubrachten. Es war ein großartiger Herrensitz mit all dem Luxus und Comfort eingerichtet, welchen diejenigen Schlösser zu haben pflegen, die seit Jahrhunderten im Besitz einer reichen Familie und deren Lieblingsaufenthalt sind. Es lag unfern der böhmischen Grenze in freundlicher Gegend. In der Nähe war der Oybin mit den Ruinen einer Cistercienser-Abtei – in der Ferne der blaue Höhenzug des schlesischen Gebirges, ein Punkt, der den Blick anzog und fesselte. Diese Magie haben nun einmal die Berge.

Graf Gorm war sehr gastfrei. Er hatte gern viel Besuch und machte seinen Gästen den Aufenthalt sehr angenehm. Die Gräfin, mochte in dieser Beziehung ihr Geschmack ein anderer sein, ging viel zu sehr auf den seinen ein, um nicht in liebenswürdigster Weise die Pflichten der Hausfrau zu erfüllen. Aber gewisse Stunden – und nicht eben wenige – behielt sie für sich, um sie mit ihren Geschäften und nach ihren Neigungen auszufüllen – und zu den letzteren gehörte wesentlich eine stille trauliche Frühstückstunde mit ihrem Mann.

So saßen denn auch jetzt Beide im Cabinet der Gräfin am Theetisch. Es war ein herrlicher Augustmorgen. Die breite Fensterthür öffnete sich auf eine kleine Terrasse, die in einen Blumenkorb verwandelt und mit einer Marquise überspannt war. Die frische Morgenluft streifte die Blumen und trug ihren Arom in das Cabinet, welches durch das gedämpfte Sonnenlicht ungemein traulich aussah. Zuweilen verirrte sich ein Schmetterling oder ein Bienchen hinein und die Papageien, die mit einer Kette am Fuß in großen Ringen zwischen den Blumen der Terrasse sich schaukelten, blickten ihnen mit neugieriger Wendung des Kopfes und mit metallisch glänzenden, seelenlosen Augen nach.

Die heitere Umgebung paßte in diesem Augenblick keineswegs zu der Stimmung, worin Graf und Gräfin Gorm sich befanden. Auf seiner Stirn lag eine Wolke von Unmuth; auf der ihren von tiefer Niedergeschlagenheit. Sie spielte mit dem Theelöffel in ihrer Tasse und führte ihn an ihre Lippen; aber das Herz war ihr zusammengeschnürt und die Nerven bebten: sie konnte nichts genießen.

»Lucia,« sagte der Graf endlich in dem liebevollen Ton, den er immer ihr gegenüber hatte; – »sei nicht traurig und zürne mir nicht. Ich kann Deinen Wunsch unmöglich erfüllen. Schloß Traun gehört dem ältesten Sohne, so lange es im Gorm'schen Besitz ist. Die jüngeren Söhne werden in keiner Weise verkürzt, da das Allodialvermögen groß ist. Du bist sogar entschlossen, Dein Vermögen ganz und gar Alarich zuzuwenden: wie kannst Du mir zumuthen, daß ich Deiner Vorliebe für Alarich Gehör geben und Peregrin so tief kränken soll, daß ich von dem alten Gebrauch abgehe!«

»Peregrin wird sich hier nie glücklich fühlen – Alarich sehr!« rief die Gräfin.

»Das ist eine ganz willkürliche Annahme,« entgegnete der Graf. »Alarich ist gern hier – aus einer gewissen Gemütlichkeit und Hinneigung zu dem Comfort. Das ist aber noch keine Bürgschaft für späteres Glück. Ich bin hingegen geneigt zu glauben, daß Peregrin in späteren Jahren, vermöge seiner größeren Thätigkeit, mehr Interesse für das Landleben entwickeln werde; und von dieser thätigen Teilnahme hängt ein großem Theil unserer Zufriedenheit ab.«

Die Gräfin schwieg. Ihre Bitten waren erschöpft, ihre Gründe nicht stichhaltig – denn der erste wie der letzte war eine Umschreibung ihrer Vorliebe für den jüngeren Sohn. Dem Grafen that es weh, sie zu betrüben; allein er hatte sich vorgenommen, unerbittlich in diesem Punkt zu sein, weil seine Nachgiebigkeit eine Ungerechtigkeit gegen Peregrin gewesen wäre. Das machte ihn stark wider die Bestürmung, mit welcher Lucia ihn seit Jahren von Zeit zu Zeit heimsuchte. Im Durchschnitt erliegen von hundert vernünftigen Männern nennundneunzig der unerhörten Zähigkeit, mit welcher Frauen oft die allerunvernünftigsten Bitten standhaft wiederholen.

»Wie gefällt Dir die kleine Lydia Hohenfels?« fragte Graf Gorm, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Lucia ermannte sich, fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle sie trübe Gedanken und jede Spur von Niedergeschlagenheit verscheuchen und sagte.

»Sehr gut! man kann sie zu einer vornehmen Frau bilden . . . . ich meine zu einer solchen, die nicht die Allüren einer verwöhnten hochmüthigen Theaterprinzessin oder einer geldstolzen Jüdin hat. Sie ist klug und taktvoll, bescheiden und freundlich in ihrem Benehmen.«

»Das alte bekannte Wort »Noblesse oblige« wird gewöhnlich nur in Bezug auf die Männerwelt angeführt,« sagte der Graf. »Wir sollen die Tugenden, die Beispiele, die Verpflichtungen üben, zu denen eine höhere Stellung und der Einfluß, der in weiteren Kreisen von ihr ausgeht, uns hinweist, ja hindrängt . . . . und gewiß bin ich der Letzte, der eine solche Pflicht verleugnen möchte. Allein ich glaube, daß auch der vornehmen Frauenwelt der Gedanke »Noblesse oblige« recht sehr abhanden gekommen ist. Die Frauen vergessen allzusehr, daß sie es sind, die in der Gesellschaft den Ton angeben und beherrschen sollen. Dazu gehört aber eine gewisse Selbstbeherrschung und sie finden es bequemer, sich nach Launen des Augenblicks in frivolster Oberflächlichkeit zu bewegen. Aber die Frivolität der Frauen macht die Männer unerträglich gemein, so daß sie allmälig in ihrem Benehmen gegenüber einer vornehmen Frau und einer Tänzerin kaum einen Unterschied zu machen wissen.«

»Du hast ganz Recht!« entgegnete Lucia; – »Niemand will sich heutzutage den geringsten Zwang anlegen – weder in der großen allgemeinen Gesellschaft, noch in ihren Unterabtheilungen; und wer es in dieser Zwanglosigkeit am Weitesten bringt und durch Insolenz Andere verblüfft, wird am liebenswürdigsten gefunden. Zu solchen Allüren hat aber Lydia weder Neigung noch Anlage.«

»Du beobachtetest sie genau?« sagte der Graf lächelnd.

»Man beginnt alt zu werden und sich nach einer Schwiegertochter umzuschauen,« entgegnete Lucia.

»Den Vordersatz streiche ich unbedingt!« rief der Graf; »dem Nachsatz stimme ich bei . . . . obschon ich glaube, daß Peregrin dies Geschäft selbst übernehmen wird.«

»Peregrin?« fragte die Gräfin gedehnt.

»Du wirst doch nicht für Alarich schon auf die Brautschau gehen!« erwiderte der Graf mit einem Anflug von Unmuth.

»Warum nicht?« entgegnete Lucia schnell gefaßt; »Du bist ja so gut wie ich der Meinung, daß Peregrin uns dieser Sorge entheben werde.«

»Auf jeden Fall ist es gut, wenn er jetzt hier bei uns junge angenehme Personen kennen lernt,« versetzte Graf Gorm, »damit er sich mit dem Gedanken vertraut mache, keine exotische Pflanze in unsern heimischen Boden zu versetzen.«

»Ich kann mir Peregrin gar nicht als Ehemann vorstellen!« sagte Lucia.

»Das geht allen Müttern so!« rief der Graf lachend. »Ueberdas ist er erst dreiundzwanzig Jahre alt . . . . und das ist offenbar zu jung für einen Ehemann. Wie alt mag Lydia sein?«

»Kaum achtzehn Jahre . . . . aber ich rathe Dir, lieber Alarich, Dich nicht allzu großer Hoffnung in Beziehung auf Lydia und Peregrin hinzugeben,« erwiderte Lucia.

»Wie? bist Du Lydia's Vertraute?« fragte er überrascht.

»Das nicht . . . . nein, durchaus nicht! . . . . aber . . . . ich kenne Peregrin.«

»Nun, in den nächsten Tagen kommt er . . . . dann wollen wir ihn beobachten!« sagte der Graf und stand vom Frühstückstisch auf. »Hast Du Pläne für heute?« setzte er hinzu.

»Einen Spazierritt mit Lydia . . . . sonst nichts – und auch den erst später. Jetzt will ich an Justine schreiben.«

»Wie geht es ihr?« fragte Graf Gorm teilnehmend.

»Leider nimmt ihre Augenschwäche zu.«

»Die Aermste!« rief er; »was soll aus ihr werden, wenn sie nicht mehr im Stande ist, sich zu beschäftigen und dennoch ihr zurückgezogenes Leben nicht aufgeben will. Lade sie doch recht dringend ein, jetzt herzukommen, gerade jetzt, Lucia, wenn die Kinder hier sind! das wird sie zerstreuen und unterhalten.«

»Mein guter Alarich,« sagte die Gräfin gerührt, »Du bist der beste und liebenswürdigste Mann, den ich kenne.«

»O mache mich nur nicht eitel!« rief er, küßte liebreich ihre schöne Stirn und verließ das Cabinet.

Lucia blieb allein mit ihren Gedanken. Lydia muß Alarichs Frau werden – sprach sie zu sich selbst. Die reichste Partie des Landes darf ihm nicht entgehen . . . . Nur ist er gar jung, nicht zwei Jahre älter als sie! . . . Faßt sie keine entschiedene Neigung für ihn, so könnte sie leicht einem anderen Bewerber Gehör geben, bevor Alarich seine Studien vollendete. Und wenn Peregrin dieser Bewerber würde? . . . Nein! das glaub' ich nimmermehr . . . sie passen nicht zusammen . . . . und ich könnte ihm vielleicht sagen, daß er meinen Plan für seinen Bruder nicht durchkreuzen dürfe. Daran ließe sich vielleicht auch Schloß Traun knüpfen! . . . . O Gott . . . . – wenn das Alles nur nicht genau das Gegentheil von dem wäre, was Gorm wünscht! –

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und lehnte sich im Sopha zurück, als sei sie müde, ihren Gedankengang zu verfolgen oder erdrückt von dessen Wucht. So saß sie lange und regungslos da. Mitten in dem Glanz, der sie umgab, von Tausenden bewundert, von Tausenden beneidet, gewiegt vom Glück, getragen von Liebe – war ihr Herz zermalmt . . . . und Niemand durfte es wissen. Endlich raffte sie sich auf und seufzte.

» Er hatte Recht . . . . wäre ich Ihm gefolgt, so wäre ich die glücklichste Frau auf Erden!« – –

Sie schrieb ihrer Schwester und einige andere Briefe. Dann ließ sie Lydia benachrichtigen, daß die Pferde gesattelt würden, ging in ihr Toilettenzimmer, um ihr Reitkleid anzulegen, und fand, als sie damit fertig war, Lydia schon ganz bereit im Salon. Lucias Auge ruhte mit mütterlichem Wohlgefallen auf dem schönen Mädchen, dessen Sylphiden-Gestalt durch den langen dunkeln Reitanzug noch größer und schlanker erschien.

»Ich entführe Dich Deiner Mutter, liebe Lydia; . . . . zürnt sie nicht?« fragte die Gräfin liebreich.

»Nie . . . . wenn es mir Freude macht!« rief Lydia.

»Dann bist du wohl, was man ein verzogenes Kind nennt?« fragte Lucia neckend.

»Ich glaube . . . ja!« entgegnete Lydia leicht erröthend. »Seit dem Tode meines Katers hat meine gute Mutter ihre ganze Liebe auf mich übertragen – und ich bin wohl sehr verwöhnt . . . in allen Dingen.«

Ein Diener meldete die Reitpferde und sie ritten von dannen. Nach einiger Zeit sagte die Gräfin:

»Es wird hier munterer werden, wenn meine Söhne kommen. Jetzt bist Du ganz allein unter einem halben Dutzend alter Leute, meine arme Lydia. Du thust mir leid.«

»Nicht doch, gnädige Gräfin,« entgegnete Lydia lebhaft; »ich gehe gern mit älteren Personen um.«

»Erinnerst Du Dich noch meiner Söhne?«

»Des älteren sehr gut! des jüngeren kaum.«

»Und auch das aus Vorliebe für ältere Leute?« fragte die Gräfin Lydia fixirend.

»Diesmal nicht!« entgegnete Lydia, indem sie mit eigenthümlich stolzer Bewegung ihren schönen Kopf hob – und dann schwieg.

»Du machst mich neugierig, Lydia!« sagte die Gräfin.

Lydia fühlte, daß sie dieser indirecten Frage Antwort geben müsse und die Gräfin fühlte, daß sie es widerstrebend thue. Lydia sagte:

»Es sind schon einige Jahre seitdem vergangen . . . . da schickte meine Mutter einmal ihre Haushälterin zu einem armen alten Mann, der das Bein gebrochen hatte. Um einer dahinsausenden Schlittenpartie auszuweichen, that er den bösen Fall. Ich weiß nicht wie es kam . . . . aber ich bat die Haushälterin so lange, bis sie mich mitnahm – heimlich. Denn meine Mutter ist unaussprechlich gut und wohlthätig – doch sie erlaubt mir nicht zu armen Leuten zu gehen. Als wir in das enge, dumpfe, heiße Stübchen des alten Mannes traten, fanden wir an seinem Bett sitzend seine ebenso alte Frau . . . . und Ihren ältesten Sohn, gnädige Gräfin – und das ist mir unvergeßlich geblieben! besonders deshalb . . . . weil er da saß. Wir setzten uns nicht; die Haushälterin sagte, wir hätten keine Zeit dazu. Ihr Sohn hatte Zeit dazu . . . . er nahm sie sich! Er saß ganz traulich da und hörte die Klagen des alten Mannes freundlich an. Da ich etwas Aehnliches nie gesehen noch gehört hatte, und da ich es auch seitdem nie wieder sah noch hörte, so ist das ein unauslöschlicher Eindruck.«

»Ja, er hat ein goldenes Herz . . . . der Peregrin!« sagte die Gräfin mit lebhafter Zufriedenheit; – »und wenn ich es in diesem kleinen Zug erkenne: so erkenne ich zugleich, liebe Lydia, wie zart das Verständniß des Deinigen ist.«

Lydia, halb dankbar und halb verlegen, neigte sich ein wenig gegen die Gräfin – und beide Damen setzten ihre Pferde in schnellere Bewegung.

Als sie nach einigen Stunden heimkehrten, eilten ihnen zwei junge Männer am Schloßportal entgegen und Peregrin und Alarich hoben frohlockend die Gräfin vom Pferde und führten sie in den Salon, wo die übrige Gesellschaft beisammen war. Lydia folgte ihnen und setzte sich still hinter einen großen, mit Büchern und Albums bedeckten Tisch, von wo sie die beiden Brüder mit einiger Neugier beobachten konnte. Mit weiblichem Instinkt ahnte sie, daß man auf beiden Seiten Pläne habe und daß die Anwesenheit ihrer Mutter in Schloß Traun gerade in diesem Augenblick wohl nicht zufällig sei. Lydia wußte, daß sie schön und reich sei. Sie war sehr wohl erzogen und sehr bescheiden, aber das wußte sie doch, denn sie hatte bereits einen Winter in der Welt gelebt. Sie war fest entschlossen, sich nur nach ihrer Neigung zu verheirathen – wobei sie mit Zuversicht auf die Zustimmung ihrer Mutter rechnete – daher konnte sie sich einer gewissen beobachtenden Spannung nicht erwehren.

Alarich fiel ihr zuerst auf. Er hatte frappant schöne Züge, fein, regelmäßig und edel, eine große, schlanke Gestalt und eine leichte Anmuth in Haltung und Bewegung, die ihn als den Sohn seiner Mutter kennzeichnete. Auch sein Ausdruck war sehr angenehm, verständig und freundlich. Es war unmöglich, ihn nicht sogleich als eine wohlthuende Erscheinung in einem Salon zu bemerken. War das aber geschehen, so war man zufrieden und er verschwand neben Peregrin.

Peregrin fiel nicht auf wegen seiner Schönheit, sondern wegen des ungemein geistigen Ausdrucks, der seine ganze Erscheinung von Innen heraus illuminirte. Obschon die allzu große Lebhaftigkeit seiner früheren Jahre etwas gedämpft und sein Wesen ruhiger geworden war, so bemerkte man doch leicht, daß diese Ruhe aus seinem Willen hervorging, nicht aus seiner Natur – wie das bei Alarich der Fall war. Darum war auch Alarich, obgleich drei Jahre jünger, ihm überlegen in einer gewissen vornehmen Haltung. Doch darauf beschränkte sich seine Ueberlegenheit. Der Eine gefiel immer und überall. Der Andere gefiel vielleicht nicht immer – aber wenn er gefiel, so fesselte er auch. Die Gäste seiner Eltern waren ihm lauter Bekannte, die er freudig begrüßte; am freudigsten seinen alten Gönner, den General. Gräfin Hohenfels kannte er am wenigsten, weil sie ein Paar Jahre nach dem Tode ihres Mannes in großer Zurückgezogenheit gelebt hatte. Sein Benehmen gegen sie war äußerst höflich, aber zurückhaltend – und noch mehr gegen Lydia. Seine Mutter bemerkte dies sogleich, heimlich froh, daß sie richtig prophezeiht habe.

Das Leben auf Schloß Traun ging seinen angenehmen Gang fort. Die glücklichen Familienverhältnisse theilten sich auch der Geselligkeit mit und verbreiteten eine allgemeine zufriedene Stimmung. Man that und trieb zwar ganz gewöhnliche Dinge, die man überall auf dem Lande zu thun und zu treiben pflegt, aber man that es mit Vergnügen: man fuhr und ritt spazieren, man ging auf die Jagd, man spielte Billard, man las Zeitungen, man politisirte und disputirte – zuweilen machte man Musik. Gräfin Hohenfels war eine ausgezeichnete Klavierspielerin, und wenn Peregrin mit seiner Violine erschien, so jubelten Alle. Am wenigsten froh, innerlich, war Lydia. Gräfin Gorm beobachtete sie und freute sich dessen, denn sie brachte es in Zusammenhang mit Peregrins kühler Höflichkeit – und irrte nicht.

Es war beschlossen, daß Peregrin jetzt eine größere Reise antreten solle. Er hatte schon in den Universitätsferien theils mit seinen Eltern, theils mit Freunden nähere Reisen gemacht, er kannte London und Paris, die Schweiz und Oberitalien; aber das genügte ihm nicht. Er wollte in den Orient, der damals noch nicht so offen und leicht erreichbar wie jetzt, aber eben deshalb um desto anziehender war. Wenigstens behauptete Peregrin, die europäischen Spazierfahrten hätten eine so alltägliche Physiognomie, daß sie jeden Gedanken an Abenteuer oder Entdeckungen unmöglich machten. Studiren könne man auf Reisen in Europa, Land und Leute, Kunst und Wissenschaft, bürgerliche und politische Institutionen; – und das werde er mit der Zeit auch thun; doch jetzt habe er seit circa zehn Jahren dermaßen studirt, daß er ein Jahr des Vagabundenthums in Anspruch nehme.

»Ich stelle mir den Orient ungemein melancholisch vor,« sagte der General, der als Pole und frommer Katholik den Verfall des Christenthums im Auge hatte.

»Und ich denke ihn mir kindlich träumerisch,« sagte Peregrin, – »mit seinen Nomadenvölkern und seinem Hirtenleben.«

»Nein, lieber Peregrin!« rief der General, »wenn der Orient träumt, so ist es von seiner Vergangenheit . . . . der großen, herrlichen Vergangenheit, als »der Stern aus Jacob,« den der Prophet verkündigt hatte, mit seinem wunderbaren Licht aufging. Aber jetzt sind diese Stralen erloschen – und ich fürchte sehr, daß Sie unter der Herrschaft des Türken eher greisenhaft kindische, als frische jugendliche Zustände finden werden.«

»Ja,« sagte Peregrin, »Schlaftrunkenheit ist überall, wo keine großen Ideen herrschen und Rausch überall, wo sie verzerrt und gefälscht werden. Das Letztere geschieht in Europa. Ich muß mich überzeugen, ob Ersteres im Orient statt findet.«

»Nebenbei wirst Du hoffentlich daran denken, mir aus dem Bazar von Damascus einen persischen Schawl mitzubringen,« sagte Gräfin Gorm.

»Und mir eine damaszener Klinge als Hirschfänger,« sagte Alarich, der eifrige Jäger.

»Ich bitte um einen arabischen Hengst!« sagte der Graf lachend.

»Und ich hätte gar gern ein kleines Geschmeide aus einem Mumiengrabe,« bat Gräfin Hohenfels.

»Nun, Herr General, geben Sie mir keinen Auftrag?« rief Peregrin scherzend.

»Doch! – und zwar ein wenig Erde vom heiligen Grabe.«

»Hat Comtesse Lydia nichts zu befehlen?« fragte Peregrin.

»Wenn Sie das bekommen können, was ich wünsche.«

»Es wird doch nicht die Pyramide des Cheops sein!« rief Peregrin munter.

»Es ist ein Talisman,« sagte Lydia.

»Entspringt der Wunsch aus Aberglaube oder Neugier?« fragte Graf Gorm.

»Ich habe gelesen, die Orientalen trügen kleine Goldplättchen, in welche geheimnißvolle Schrift gegraben sei – der Name Allahs, glaube ich . . . und ein solcher Talisman bewahre sie vor Unheil. Den hätte ich gern.«

»Aber, liebes Kind,« sagte Gräfin Hohenfels, »das ist ja baarer Aberglaube.«

»Gleichviel, Mama!« entgegnete Lydia; »ich hätte nun einmal gern so einen glückbringenden Talisman.«

»Und wenn er kein Glück bringt?« fragte der General.

»Wie ich mich dann mit ihm benehmen würde, weiß ich nicht,« erwiderte Lydia munter. »Vor der Hand lockt mich der Zauber.«

»Man erzählt von der Königin Cleopatra,« sagte Alarich unbefangen, »sie habe einen Talisman besessen, welcher bewirkte, daß Niemand sie vergessen konnte, der sie einmal gesehen hatte.«

»O,« rief Peregrin lebhaft, » der Zauber ist unabhängig von jedem Talisman, lieber Alarich. Seien Sie versichert, Comtesse Lydia, ich werde mir alle Mühe geben, so ein geheimnißvolles Goldplättchen für Sie aufzufinden.«

Einige Tage später reiste Gräfin Hohenfels mit Lydia ab und Lucia sagte triumphirend zu Graf Gorm:

»Aus dem Heirathsproject wird nichts!«

»Vielleicht später,« entgegnete der Graf. »Peregrin ist jetzt so erfüllt von seinem Reiseproject, daß er an nichts Anderes denkt.«

Darin irrte der gute Graf ganz außerordentlich und Peregrin selbst klärte ihn darüber auf. Beide Brüder pflegten mit den Eltern im Cabinet der Gräfin zu frühstücken. Eines Morgens war Peregrin mit ihnen allein und Alarich auf der Jagd. Peregrin ergriff die Hand der Gräfin, küßte sie zärtlich und fragte:

»Hast Du wohl je an die Möglichkeit gedacht, liebe Mutter, daß ein weibliches Wesen, außer Dir, das Herz des wilden Peregrin fesseln könne?«

»In Zukunft – ja! . . . In der Gegenwart – nein! Du bist noch zu unruhig, Peregrin.«

»Du hast Recht . . . . es ist eine ungebändigte – oder wenigstens nur äußerlich gebändigte Unruhe in mir, die daher kommt, daß ich gern die Welt aus ihren alten Angeln heben möchte – was nicht gut thunlich ist. Aber dies betrifft nur einen Lebenskreis meines Wesens. Es gibt einen andern . . . . und da bin ich ruhig.«

»Wie!« rief die Gräfin, »Du hättest Dich gebunden!«

»Das ist verkehrt, Peregrin!« sagte der Graf unmuthig. »Verlobungen auf der Universität gehen äußerst selten in glückliche Eben über, denn sie werden von beiden Theilen mit einer allzu starken Dosis Leichtsinn geschlossen.«

»Ich bin nicht verlobt und nicht gebunden,« entgegnete Peregrin sanft, »denn ich würde nie einen solchen Schritt ohne die Einwilligung meiner Eltern thun. Von einem oberflächlichen, leichtsinnigen Liebesverhältniß ist noch viel weniger die Rede – wohl aber von einer ernsten Liebe.«

»Und zu wem? . . . Wer ist sie? . . . Kennen wir sie?« fragten die Eltern.

»Ihr kennt sie nicht . . . und die Welt kennt sie nicht« . . .

»Peregrin, nur nicht etwa so ein unbekanntes, göttliches Bauermädchen . . . . das verbitte ich mir als Schwiegertochter!« unterbrach ihn der Graf sehr lebhaft und besorgt.

»Wie schön das ist, so ungekannt von der Welt – und dabei eine Heliade zu sein!« sagte Peregrin. »Nein, lieber Vater, beruhige Dich: sie ist uns ebenbürtig, sie hat aber kein Vermögen.«

»Das ist Nebensache!« rief der Graf zufrieden.

»Vor fünf Jahren in Dresden sah ich sie zuerst und sie war damals ein Kind. Da sie aber für mich jenen Talisman der Cleopatra besaß, von welchem mein Bruder neulich sprach, so vergaß ich sie nie, obschon ich sie äußerst selten sah und – mit Ausnahme der letzten Zeit – auch niemals sprach; und weil etwas unbeschreiblich Himmlisches in ihr ist, wurde sie der geliebte Schutzgeist meiner Jugend.«

»Und liebt sie Dich?« fragte die Gräfin gerührt.

»Das kann nicht wohl anders sein – obwohl ich zuweilen dies Glück so groß finde, daß ich es bezweifle. Gefragt hab' ich sie nie.«

»Also noch ganz im Aether?« sagte der Graf.

»Nein!« rief Peregrin, »ganz im Herzen. Aber jetzt, nachdem ich mit Euch gesprochen und Eure Einwilligung habe, jetzt will auch ich sprechen – oder eigentlich – sie. An ihr ist die Entscheidung. Meine Reise wird nicht dadurch gestört werden. Nur die Ungewißheit würde mich stören.«

»Aber wer ist sie, Peregrin!« rief die Gräfin ungeduldig.

»Und wenn ich Dir nun ihren Namen nenne. Heliade von Horburg – was weißt Du denn von ihr, liebste Mutter?«

»Beschreibe sie uns,« sagte die Gräfin theilnehmend.

»Das kann ich nicht,« entgegnete Peregrin und legte die Hand über die Augen. »Als ich ein Kind war, hörte ich Dich zuweilen eine wunderliebliche Melodie singen, dessen Worte ich damals nicht verstand, die mir aber mit der Melodie im Ohr geblieben sind: »»Namen nennen Dich nicht! Dich bilden Griffel und Pinsel – Sterblicher Künstler, nicht nach.«« Das paßt auf Heliade.«

»Bist Du ein Schwärmer geworden, Peregrin?« sagte der Graf liebevoll; denn ihn freute des Sohnes zartes inneres Glück – das schönste, das im Kreise der jugendlichen Empfindungen existirt. Wohlverstanden, nur der Empfindungen! also nicht in der höchsten Sphäre des innern Menschen.

»Nenne das nicht Schwärmerei,« antwortete Peregrin bittend. »Ich habe, so lange ich denken kann und meiner selbst bewußt bin, ein Etwas vor meinem inneren Auge gehabt, eine Idee, ein Ideal, das zugleich in mir und außer mir lebte – und die damit naturgemäß verknüpfte Sehnsucht, dies Ideal außerhalb meines Wesens zu finden und innerhalb desselben zu verwirklichen. Heliade ist dies menschgewordene Ideal: – was sie ist, will ich werden. Du siehst also, daß es keine Schwärmerei, keine Gefühlsübertreibung ist, bester Vater! Es ist zwar die intensivste aller Empfindungen . . . . aber verbunden mit einem gewissen Licht der Erkenntniß und Thatkraft des Willens. Ich bin nicht bloß für Heliade begeistert, sondern sie begeistert mich für Alles, was gut und schön und wahr ist.«

»Mein guter Sohn, möge diese wunderbare Heliade nicht nur den Talisman besitzen, der Dich begeistert, wohl aber auch den, der Dich dauernd beglückt,« – sagte Graf Gorm. »Deine Mutter und ich werden sie mit Freuden Tochter nennen, wenn sie, wie Du sagst, einen edlen, fleckenlosen Namen trägt. Ich begreife, daß Du eine Entscheidung wünschest: also suche sie nach. Aber ich wünsche, daß Deine Reise weder aufgeschoben noch abgekürzt werde, da Du vorauf sichtlich auf Jahre hinaus nicht über so viel freie Zeit wirst verfügen können, wie eben jetzt vor Deinem Eintritt in den Staatsdienst.«

»Wäre es nicht vernünftiger, Deine Begeisterung etwas auf die Probe zu stellen, Peregrin, und mit Deiner Bewerbung um diese wundersame Heliade zu warten bis nach Deiner Rückkehr?« wendete die Gräfin ein.

»O, es ist unerhört, daß die Mutter strenger sei, als der Vater!« rief Peregrin und kniete neben der Gräfin nieder. »Das ist vernünftig, was mir Ruhe gibt. Bin ich gewiß, daß Heliade mir unverlierbar ist, so reise ich getrost ein Jahr . . . . auch zwei – wenn Ihr es wünscht. Muß ich aber bis zu meiner Rückkehr auf Heliadens Entscheidung über meine Zukunft warten: so werde ich unwillkürlich suchen, meine Reise so viel wie möglich abzukürzen.«

»Das ist begreiflich!« sagte der Graf; – »nein, Lucia, laß ihn gehen und möge er sich die Gewißheit seines Glückes verschaffen.« – –

Peregrin traf alle Anstalten zu seiner Reise in den Orient. Dazu gehörte auch ein Besuch bei der Tante Justine in Tannhof. Es bestand keine Sympathie zwischen ihr und ihren Neffen – am wenigsten zwischen ihr und Peregrin. Ihr trockenes Wesen und ihr erfrorenes Herz befähigten sie nicht zum Umgang mit der beweglichen warmherzigen Jugend – und da Peregrin beides im hohen Grade war, so war auch die Kluft zwischen ihm und ihr besonders tief. Wegen des unruhigen und stürmischen Lesens seiner früheren Jahre und eingedenk der verschiedenen Tassen und Teller, welche sein Besuch ihr zu kosten pflegte, nannte sie ihn nie anders als den »Sausewind.« Freilich hatte sich Peregrin in diesem Punkt außerordentlich gebessert, allein ihr blieb eine unvertilgbare Erinnerung an seine früheren Unthaten – und wäre es nicht eine Verletzung des schuldigen Respekts von seiner Seite gewesen, so hätte sie sich leicht getröstet, wenn er nicht nach Tannhof gekommen wäre – besonders jetzt, da ihr sinkendes Augenlicht nicht mehr die frühere scharfe Beobachtung von Allem, was in ihrem Hause geschah und nicht geschah, zuließ.

»Ich denke immer an das Märchen von der verzauberten Prinzessin, die mit sammt ihrer ganzen Umgebung hundert Jahre schläft, wenn ich nach Tannhof komme,« sagte Peregrin zu Alarich, als sie in den Hof einfuhren.

Alarich lachte hellauf und rief:

»Welche bewundernswürdige Phantasie, hier an Märchen zu denken, hier . . . . wo die dürrste Prosa zu Hause ist!«

»Nein, Alarich!« entgegnete Peregrin, »so ein versteinertes Menschenbild, wie die Tante Justine, ist nicht Prosa – sondern Nachtseite des Lebens.«

Mit maschinenmäßiger Pünktlichkeit ging Alles auf Tannhof seinen alten Gang. Wie jene künstlichen Uhrwerke, die zu einem bestimmten Glockenschlag allerhand Figuren hervorschieben und in verschiedene Bewegungen setzen, wurden die Geschäfte und Obliegenheiten von jedem Einzelnen vollzogen und die Brüder erinnerten sich nicht, je ein anderes Gesicht in Haus und Hof gesehen zu haben, als die gegenwärtigen – wobei jedoch Peregrin die Bemerkung machte, die Leute würden dermaßen dressirt und geschult, daß sie gewiß dieselben Mienen und Ausdruck – und vielleicht dieselben Züge bekämen, ohne doch dieselben Persönlichkeiten zu sein.

Das Parquet der drei großen leeren Zimmer knarrte und knisterte wie sonst, als die Brüder hinter einander – auch nach alter Gewohnheit! – auf dem grauen Leinwandstreif zum Zimmer der Tante schritten. Der alte Diener öffnete die Thür und Fräulein Justine kam ihnen entgegen – ganz wie sonst im carmeliterfarbenen Merinokleide, und nur hagerer und blasser wie sonst – übrigens unverändert. Kleine grüne Vorhänge an den untern Fensterscheiben war die einzige Veränderung in ihrem Zimmer und deuteten gleich ihr Augenleiden an. Aber sie erwähnte desselben mit keiner Sylbe. Sie wollte nicht bedauert, nicht bemitleidet sein. Sie schloß sich immer mehr von aller Theilnahme für Menschen ab, weil die Interessen für die todten Güter der Erde wuchsen. Durch den Kauf eines großen Gutes, das sie mit ihrer strengen Oeconomie selbst verwaltete, hatte sie ihr Vermögen sehr vergrößert und sie fand einen hohen Genuß in dieser steigenden Progression ihrer Einkünfte.

»Nun, Herr Sausewind,« sagte sie zu Peregrin, »Du beabsichtigst eine Reise in den Orient, wie ich höre. Das ist ja ein formidables Unternehmen, eine ungeheure Verschwendung von Zeit und Geld.«

»Das fürchte ich nicht, liebe Tante. Reisen bilden.«

»Das ist so eine hergebrachte Redensart: bilden! ja, was denn bilden? Man geht nach England und bildet den Geschmack für Pferde und Wettrennen – in Paris für französische Kochkunst und Ballet – in Italien für Gemälde und Statuen aus. Ist das Bildung? sind diese Kenntnisse der großen Opfer an Zeit und Geld werth, die mit ihnen verbunden sind?«

»Gewiß nicht, liebe Tante! aber ich denke nicht mit jener Oberflächlichkeit zu verfahren, die Du mit vollem Recht tadelst. Ich möchte den Menschen in Zusammenhang mit der Natur und unter dem Einfluß der Gesetze, der Institutionen und Sitten bei verschiedenen Völkern kennen lernen, um die Bedingungen herauszufinden, unter denen er am glücklichsten ist.«

»Und dann?«

»Dann die Erfahrungen in Anwendung zu bringen suchen.«

»Um diese Erfahrung zu machen, brauchst Du weder Europa noch Asien – ja nicht einmal Deutschland zu durchstreifen: das lernst Du überall, wo Menschen sind. Die Bedingung ihres Glückes ist – ein friedlicher Besitz, der ihren Bedürfnissen genügt.«

»Gewiß! das ist die materielle Grundlage ihrer Zufriedenheit . . . . doch genügt sie nicht, wenn nicht ein höheres, geistiges Prinzip sie beseelt. Allein den Fall angenommen, daß jene materielle Grundlage allgenügend wäre – wie fängt man es an, um sie der Menschheit zu geben?«

»Ah . . . . bist Du auch angesteckt von den Tendenzen des Socialismus!« rief Fräulein Justine empört; – »dann wird das Ende Deiner Reisen und Beobachtungen ohne Zweifel darin bestehen, daß Du Schloß Traun in ein Phalanstère verwandelst. Was sagst Du dazu, Alarich?«

»Ich sage, liebe Tante, daß Socialismus Eines – und Staatsöconomie ein Anderes ist.«

»Im Prinzip – ja! aber die Staatswirthschaft sucht doch auch den Grundbesitz ungemein auszubeuten. Welche Steuerlast müssen wir Grundbesitzer nicht tragen und wir sind doch der Schwerpunkt des Staatshaushaltes. Schont man uns nicht, so kann einmal die ganze Maschine umschlagen. Nur ein Schiff, das tief geht, ist sicher im Sturm und die revolutionären Bewegungen, die in der Zeit grassiren, wie die Cholera, bringen Stürme.«

»Tantchen!« sagte Alarich munter, »sei doch froh über Deine großen Steuern und danke Gott dafür – denn wer nichts hat, kann nichts zahlen.«

»Das ist ja eben das Traurige!« rief Peregrin, »daß auch der zahlen muß!«

Fräulein Justine brachte das Spinnrad, an welches sie sich nach der ersten Begrüßung sogleich wieder begeben hatte, in einen sausenden Schwung, als wolle sie die Reden ihrer Neffen nicht hören. Indessen mochte es ihr doch zweckmäßig erscheinen, Beiden einen Verweis zu geben, denn sie mäßigte das schnurrende Rad und sagte scharf:

»Dies Lamento über die sogenannte Armuth des gemeinen Mannes, mein guter Peregrin, erklingt im Lager der Socialisten und ist der Schlachtruf, mit welchem sie das Proletariat unter ihre Fahne und gegen den Besitzenden führen. Ein Gentleman sollte sich hüten, in dies rohe Gebrüll einzustimmen. Der gemeine Mann ist an eine gewisse Beschränktheit seiner Verhältnisse gewöhnt und fühlt sie nur deshalb als einen Druck, weil man es ihm fort und fort wiederholt. Du siehst mich ungläubig an? – Aber ich sage Dir, so ist es. Eine lange Erfahrung steht mir in diesem Punkt zur Seite. Ich zähle neunundfünfzig Jahr und lebe seit vierzig Jahren hier auf Tannhof in unmittelbarem Verkehr mit dem gemeinen Mann. Er hat es nicht so schlimm, wie die Socialisten behaupten, um in unsern Seckel zum Besten ihrer Theorien zu greifen.«

»Jedenfalls hat er es doch beträchtlich schlimmer wie wir, trotz all unserer Steuern,« sagte Peregrin.

»Natürlich!« erwiderte Fräulein Justine mit tiefer Gleichgültigkeit.

»Dann wirst Du es doch ebenfalls natürlich finden, wenn man, ohne im mindesten den ungerechten und falschen Tendenzen des Socialismus zu huldigen, den Druck des Elends, der auf ihm liegt, zu erleichtern sucht. Und dies zu thun ohne ungerechte Eingriffe in den Besitz und die Verhältnisse anderer Stände zu machen, ist eben das große soziale Problem der Zeit.«

»Man wird es nicht lösen und nur das Proletariat m Gährung bringen,« sagte dictatorisch Fräulein Justine – und dann zu Alarich sich wendend: »Dir aber muß ich auf Deine Bemerkung antworten, daß ich mir selbst und meiner Thätigkeit und Sparsamkeit einen großen Theil meines Besitzes – und keinem Andern verdanke.«

»Beste Tante!« rief Alarich bestürzt, »ich habe nicht entfernt an eine Schmälerung Deiner Verdienste, Talente und Einsicht gedacht.«

»Ganz gut, mein Kind! Du mußt Dich hüten, mit leeren Redensarten zu sprechen. – Jetzt wollen wir zu Tisch gehen und dann einen großen Spaziergang im Gut machen. Ich werde Euch zeigen, wie ich mich mehr und mehr arrondire und noch jüngst eine schöne und sehr einträgliche Mühle, die sogenannte Obermühle, gekauft habe.«

»Ist der Müller todt . . . . der junge Mann?« fragte Alarich teilnehmend.

»Am Typhus gestorben,« entgegnete die Tante. »Er hinterließ eine Frau und acht – sage acht! kleine Kinder, das älteste von zwölf Jahren, das jüngste von drei Wochen.«

»Wie traurig!« riefen die Brüder.

»Niemand hat ein Brevet der Unsterblichkeit,« bemerkte Fräulein Justine trocken; »folglich laufen diese Leute bei ihrer merkwürdigen Neigung, sich früh zu verehelichen, immer große Gefahr, eine zahlreiche, unversorgte Progenitur zu hinterlassen, aus welcher sich dann das amöne Proletariat nach und nach vermehrt.«

»Warum verkaufte die Wittwe ihre Mühle?« fragte Peregrin.

»Weil ich ihr ein hübsches Sümmchen bot und sie in einiger Verlegenheit war,« entgegnete Justine selbstzufrieden.

»So entsteht auch Zuwachs zum Proletariat!« rief Peregrin. »Nichts schützt so sehr dagegen, als festes Eigenthum . . . und sei es noch so gering. Aber die Leute sind oft so unbesonnen und um sich aus einer vorübergehenden Verlegenheit zu retten, die durch eine kleine Anleihe hätte beseitigt werden können, opfern sie ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder.«

»Ich bin froh,« rief Fräulein Justine lebhaft entrüstet, »daß meine alten Augen nicht mehr das Regiment sehen werden, welches Du dereinst auf Schloß Traun führen wirst. Das wird ein El-Dorado für alle Habenichtse sein . . . . und nur den einen Nachtheil haben, daß Deine Nachkommen in die Kategorie der Junker von Habenichts verfallen. Wer Grundbesitz hat, muß ihn weise vergrößern und fort und fort vergrößern. Je breiter die Basis, desto fester der Sitz. Hat man diese Festigkeit erlangt, so kann man auch etwas für die Leute thun. Du aber scheinst damit anfangen zu wollen . . . und noch dazu mit Darlehen! die ruiniren Dich . . . denn Du bekommst sie nie vollständig . . . nie mit allen Zinsen zurück.«

»Wenn ich nicht damit anfange, so höre ich auch nicht damit auf, liebe Tante,« sagte Peregrin unerschütterlich. »Jede Epoche hat ihre Lieblingsideen. Die unsere beschäftigt sich gern mit der Wohlfahrt der unteren Klassen der menschlichen Gesellschaft. Sie thut es vielfach in verkehrter Weise, braucht gefährliche Hebel, verfolgt theils einseitige Theorien, theils untergeschobene Zwecke: das Alles gebe ich zu! aber das Alles ist durchaus kein Grund, um die Idee selbst zu verwerfen. Im Gegentheil! es ist ein Grund, um nach ihrer vernünftigen Verwirklichung wenigstens annäherungsweise zu streben . . . . und ich gestehe Dir gern, daß sie einen großen Theil meiner lebhaftesten Interessen für die Zukunft in Anspruch nehmen wird, da ich ja dereinst auf breiter Basis des Grundbesitzes – wie Du sagst – operiren kann.«

»O Schloß Traun! o armes Schloß Traun!« seufzte Justine und wiegte sorgenvoll ihr Haupt wie eine Norne in den alten Balladen, die das tragische Schicksal eines Hauses im Geist vorhersieht und sagt.

Zur großen Zufriedenheit der Brüder fuhr ein Wagen in den Hof und Doctor Münzner wurde gemeldet. Sie kannten ihn seit ihrer Kindheit und hatten ihn gern. Die Gespräche nahmen eine andere Wendung und die Brüder ließen ihn und die Tante reden, so daß allzu lebhafte Gegensätze nicht mehr erörtert wurden. Am Nachmittag führte Fräulein Justine ihre Gäste vier Stunden lang spazieren durch Feld, Wiese und Wald – und als sie bei einbrechendem Abend zurückkehrten, schlug sie ihnen eine Whistparthie vor, die natürlich angenommen wurde. Der Schluß des Abends war ein fröhlicher, denn Fräulein Justine gewann 2 Thaler 19 Groschen. Doch bemerkte sie mißbilligend, daß Peregrin zerstreut spiele.

Am andern Morgen verabschiedeten sich die Brüder und Fräulein Justine entließ sie mit der gewissen Freundlichkeit, die es unbestimmt läßt, ob der Gast durch seine Ankunft oder seine Abreise die größere Freude macht. Als der Wagen mit den beiden jungen Männern vom Hof rollte, sah Fräulein Justine ihm scharfen Blickes nach und sagte dann zu Doctor Münzner:

»Hätte ich nicht den Alarich schon vor Jahren zu meinem Universalerben bestimmt, so thäte ich es heute. Peregrin ist ein socialistischer Schwärmer, voll Insolenz gegen den gesunden Menschenverstand und die reiche Erfahrung, dabei zur Verschwendung geneigt. Und der soll Schloß Traun bekommen? . . . . Nimmermehr, Herr Doctor.«

»Es heißt, es hätten schon lebhafte Scenen zwischen der Frau Gräfin und dem Herrn Grafen Gorm über diese Frage stattgefunden,« entgegnete Doctor Münzner; »allein man sagt, der Herr Graf sei unerschütterlich wie ein Felsen im Meere, gnädige Baronesse . . . . und zwar zu Gunsten des Grafen Peregrin, mit dem er sehr zufrieden sein – und der es auch verdienen soll.«

»Kann sein, Herr Doctor! aber der und Schloß Traun? . . . . – Nimmermehr!«


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