Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölfter Vortrag.

Arbeitstheilung und Formspaltung. Divergenz der Species. Fortbildung und Rückbildung.

Arbeitstheilung (Ergonomie) und Formspaltung (Polymorphismus). Physiologische Divergenz und morphologische Differenzirung, beide nothwendig durch die Selection bedingt. Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Art oder Species. Bastard-Arten. Personal-Divergenz und Cellular-Divergenz. Differenzirung der Gewebe. Primäre und secundäre Gewebe. Siphonophoren. Arbeitswechsel (Metergie). Angleichung (Convergenz). Fortschritt und Vervollkommnung. Entwickelungs-Gesetze der Menschheit. Verhältniss der Fortbildung zur Divergenz. Centralisation als Fortschritt. Rückbildung. Entstehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung. Unzweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie.

 

Meine Herren! Wenn Sie die geschichtliche Entwickelung der organischen Welt im Grossen und Ganzen betrachten, so treten Ihnen als allgemeinste Erscheinungen zunächst zwei grosse Gesetze entgegen, das Divergenz-Gesetz und das Fortschritts-Gesetz. Das Princip der Divergenz oder Sonderung lehrt uns zunächst als Thatsache, auf Grund der Versteinerungs-Kunde, dass die Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Lebensformen auf unserem Erdball von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart beständig zugenommen hat. Das zweite Princip, das des Fortschritts oder der Vervollkommnung, lehrt uns auf Grund derselben paläontologischen Urkunden, dass diese Divergenz im Grossen und Ganzen mit einem stetigen Fortschritt, mit einer zunehmenden Vollkommenheit der Organisation verknüpft gewesen ist. Für beide Gesetze liegt der Grund zunächst grösstentheils in der physiologischen Arbeitstheilung der Organismen (Ergonomie) und in der damit verknüpften morphologischen Sonderung oder Formspaltung (Polymorphismus).

Nachdem man auf Grund sehr ausgedehnter paläontologischer Untersuchungen die allgemeine Geltung dieser beiden grossen historischen Principien erkannt hatte, glaubte man ihre Ursache zunächst in einem zweckmässigen Schöpfungsplan, oder unmittelbar in einem übernatürlichen Endzweck suchen zu müssen. Es sollte in dem zweckmässigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und immer vollkommener zu gestalten. Wir werden offenbar einen grossen Schritt in der Erkenntniss der Natur thun, wenn wir diese teleologische und anthropomorphe Vorstellung zurückweisen, und die beiden Gesetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampfe um's Dasein nachweisen können.

Das erste grosse Gesetz, welches unmittelbar und mit Nothwendigkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, ist dasjenige der Sonderung oder Differenzirung; dieselbe wird auch häufig als Arbeitstheilung (Ergonomie) oder Formspaltung (Polymorphismus) bezeichnet, ersteres in physiologischem, letzteres in morphologischem Sinne. Darwin nennt dieses allgemeine Princip Divergenz des Charakters. Wir verstehen darunter die allgemeine Neigung aller organischen Formen, sich in immer höherem Grade ungleichartig auszubilden und von dem gemeinsamen Urbilde zu entfernen. Die Ursache dieser allgemeinen Neigung zur Sonderung und der dadurch bewirkten Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichartiger Grundlage ist nach Darwin einfach im Kampf um's Dasein zu suchen; dieser muss zwischen je zwei Organismen um so heftiger entbrennen, je näher sich dieselben in jeder Beziehung stehen, je gleichartiger sie sind. Eigentlich ist dies wichtige Verhältniss äusserst einfach; es wird aber gewöhnlich gar nicht genügend in's Auge gefasst.

Jedem von Ihnen wird einleuchten, dass auf einem Acker von bestimmter Grösse neben den Kornpflanzen, die dort ausgesäet sind, eine grosse Anzahl von Unkräutern existiren können, und zwar an Stellen, welche nicht von den Kornpflanzen eingenommen werden könnten. Die trockeneren, sterileren Stellen des Bodens, auf denen keine Kornpflanze gedeihen würde, können noch zum Unterhalt von Unkraut verschiedener Art dienen; und zwar werden davon um so mehr verschiedene Arten und Individuen neben einander existiren können, je besser die verschieden Unkrautarten geeignet sind, sich den verschiedenen Stellen des Ackerbodens anzupassen. Ebenso ist es mit den Thieren. Offenbar können in einem und demselben beschränkten Bezirk eine viel grössere Anzahl von thierischen Individuen zusammenleben, wenn dieselben von mannichfach verschiedener Natur, als wenn sie alle gleich sind. Es giebt Bäume (wie z. B. die Eiche), auf welchen ein paar Hundert verschiedene Insecten-Arten neben einander leben. Die einen nähren sich von den Früchten des Baumes, die anderen von den Blüthen, die dritten von den Blättern, noch andere von der Rinde, der Wurzel u. s. f. Es wäre ganz unmöglich, dass die gleiche Zahl von Individuen auf diesem Baume lebte, wenn alle von einer Art wären, wenn z. B. alle nur von der Rinde oder nur von den Blättern lebten. Ganz dasselbe ist in der menschlichen Gesellschaft der Fall. In einer und derselben kleinen Stadt kann eine bestimmte Anzahl von Handwerkern nur leben, wenn dieselben verschiedene Geschäfte betreiben. Die Arbeitstheilung, welche sowohl der ganzen Gemeinde, als auch dem einzelnen Arbeiter den grössten Nutzen bringt, ist eine unmittelbare Folge des Kampfes um's Dasein, der natürlichen Züchtung; denn dieser Kampf ist um so leichter zu bestehen, je mehr sich die Thätigkeit und somit auch die Form der verschiedenen Individuen von einander entfernt. Natürlich wirkt die verschiedene Thätigkeit oder Function umbildend auf die Form und Structur zurück; die physiologische Arbeitstheilung (oder Ergonomie) bedingt nothwendig die morphologische Formspaltung, den Polymorphismus oder die Differenzirung, die »Divergenz des Charakters« 37).

Anderseits ist nun zu erwägen, dass alle Thier- und Pflanzen-Arten veränderlich sind, und die Fähigkeit besitzen, sich an verschiedenen Orten den localen Verhältnissen anzupassen. Die Spiel-Arten, Varietäten oder Rassen einer jeden Species werden sich den Anpassungs-Gesetzen gemäss um so mehr von der ursprünglichen Stammart entfernen, je verschiedenartiger die neuen Verhältnisse sind, denen sie sich anpassen. Wenn wir nun diese von einer gemeinsamen Grundform ausgehenden Varietäten uns in Form eines verzweigten Strahlen-Büschels vorstellen, so werden diejenigen Spiel-Arten am besten neben einander existiren und sich fortpflanzen können, welche am weitesten von einander entfernt sind, welche an den Enden der Reihe oder auf entgegengesetzten Seiten des Büschels stehen. Die in der Mitte stehenden Uebergangsformen dagegen haben den schwierigsten Stand im Kampfe um's Dasein. Die nothwendigen Lebens-Bedürfnisse sind bei den extremen, am weitesten auseinander gehenden Spiel-Arten am meisten verschieden, und daher werden diese in dem allgemeinen Kampfe um's Dasein am wenigsten in ernstlichen Conflict gerathen. Die vermittelnden Zwischenformen dagegen, welche sich am wenigsten von der ursprünglichen Stammform entfernt haben, theilen mehr oder minder dieselben Lebens-Bedürfnisse; daher werden sie in der Mitbewerbung um dieselben am meisten zu kämpfen haben und am gefährlichsten bedroht sein.

Wenn also zahlreiche Varietäten oder Spiel-Arten einer Species auf einem und demselben Fleck der Erde mit einander leben, so können viel eher die am meisten abweichenden Formen, neben einander fort bestehen, als die vermittelnden Zwischenformen. Denn diese letzteren haben mit jedem der verschiedenen Extreme zu kämpfen und werden auf die Dauer den feindlichen Einflüssen nicht widerstehen können, welche die ersteren siegreich überwinden. Diese allein erhalten sich, pflanzen sich fort und sind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der ursprünglichen Stammform verbunden. So entstehen aus Varietäten »gute Arten«. Der Kampf um's Dasein begünstigt nothwendig die allgemeine Divergenz oder das Auseinandergehen der organischen Formen, die beständige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Diese beruht nicht auf einer mystischen Eigenschaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, sondern auf der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampfe um's Dasein. Indem von den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwischenformen erlöschen und die Uebergangsglieder aussterben, geht der Divergenz-Process nothwendig immer weiter, und bildet in den Extremen Gestalten aus, die wir als neue Arten unterscheiden.

Obgleich alle Naturforscher die Variabilität oder Veränderlichkeit der Thier- und Pflanzen-Arten zugeben müssen, haben doch die meisten früher bestritten, dass die Abänderung oder Umbildung der organischen Formen die ursprüngliche Grenze des Species-Charakters überschreite. Unsere Gegner halten an dem Satze fest: »Soweit auch eine Art in Varietäten-Büschel aus einander gehen mag, so sind die Spiel-Arten oder Varietäten derselben doch niemals in dem Grade von einander unterschieden, wie zwei wirkliche gute Arten.« Diese Behauptung wird noch oft von Darwin's Gegnern an die Spitze ihrer Beweisführung gestellt; sie ist aber vollkommen unhaltbar und unbegründet. Dies wird Ihnen sofort klar, sobald Sie kritisch die verschiedenen Versuche vergleichen, den Begriff der Species oder Art festzustellen.

Was eigentlich eine »echte oder gute Art« (»bona species«) sei, diese Frage vermag kein Naturforscher zu beantworten, obgleich jeder Systematiker täglich diese Ausdrücke gebraucht, und trotzdem ganze Bibliotheken über die Frage geschrieben worden sind, ob diese oder jene beobachtete Form eine Species oder Varietät, eine wirklich gute oder schlechte Art sei. Die am meisten verbreitete Antwort auf diese Frage war folgende: »Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Wesentliche Species-Charaktere sind aber solche, welche beständig oder constant sind, welche niemals abändern oder variiren.« Sobald nun aber der Fall eintrat, dass ein constantes, bisher für wesentlich gehaltenes Merkmal dennoch abänderte, so sagte man: »Dieses Merkmal ist für die Art nicht wesentlich gewesen, denn wesentliche Charaktere variiren nicht.« Man bewegte sich also in einem offenbaren Zirkelschluss, und die Naivetät ist wirklich erstaunlich, mit der diese Kreisbewegung der Art-Definition in Tausenden von Büchern als unumstössliche Wahrheit hingestellt und immer noch wiederholt wird.

Ebenso wie dieser, so sind auch alle übrigen Versuche, welche man zu einer festen und logischen Begriffs-Bestimmung der organischen »Species« gemacht hat, völlig fruchtlos und vergeblich gewesen. Der Natur der Sache nach kann es nicht anders sein. Der Begriff der Species ist ebenso gut relativ, und nicht absolut wie der Begriff der Varietät, Gattung, Familie, Ordnung, Klasse u. s. w. Wie Lamarck schon 1809 hervorhob, sind alle diese Begriffe subjectiv und künstlich. Ich habe dies in der Kritik des Species-Begriffs in meiner generellen Morphologie theoretisch nachgewiesen (Gen. Morph. II, 323-364). Praktisch habe ich den Beweis dafür in meinem »System der Kalk-Schwämme« geliefert (1872). Bei diesen merkwürdigen Thieren, wie bei den Spongien überhaupt (auch beim Badeschwamm), erscheint die übliche Species-Unterscheidung völlig willkürlich.

Ebenso willkürlich und widernatürlich waren bisher die Ansichten über das Verhältniss der Species zur Bastard-Zeugung. Früher galt es als Dogma, dass zwei sogenannte gute Arten niemals mit einander Bastarde zeugen könnten, welche sich als solche fortpflanzten. Man berief sich dabei fast immer auf die Bastarde von Pferd und Esel, die Maulthiere und Maulesel, die in der That nur selten sich fortpflanzen können. Allein solche unfruchtbare Bastarde sind, wie sich herausgestellt hat, seltene Ausnahmen, und in der Mehrzahl der Fälle sind Bastarde zweier ganz verschiedenen Arten fruchtbar und können sich fortpflanzen. In vielen Fällen ist ihre Fruchtbarkeit sogar grösser als diejenige der reinen Stamm-Arten. Fast immer können sie mit einer der beiden Eltern-Arten, bisweilen aber auch rein unter sich, mit Erfolg fruchtbar sich vermischen. Daraus können aber nach dem »Gesetze der gemischten Vererbung« ganz neue Formen entstehen (vergl. oben S. 90).

In der That ist so die Bastard-Zeugung eine Quelle der Entstehung neuer Arten, verschieden von der bisher betrachteten Quelle der natürlichen Züchtung. Schon früher habe ich gelegentlich solche Bastard-Arten (Species hybridae) angeführt, insbesondere das Hasen-Kaninchen (Lepus Darwinii), welches aus der Kreuzung von Hasen-Männchen mit Kaninchen-Weibchen entsprungen ist, das Ziegen-Schaf (Capra ovina), welches aus der Paarung des Ziegenbocks mit dem weiblichen Schafe entstanden ist, ferner verschiedene Arten der Disteln (Cirsium), der Brombeeren (Rubus) u. s. w. (S. 130-132). Wahrscheinlich sind sehr viele wilde Species auf diesem Wege entstanden, wie auch Linné schon annahm. Ganz besonders erscheint diese Annahme für viele niedere Seepflanzen und Seethiere gerechtfertigt, deren reife Geschlechts-Producte einfach in das Wasser entleert werden. Ihr Zusammentreffen und ihre Befruchtung bleibt dem Zufall überlassen; dabei kommt die lebhafte Beweglichkeit der meisten frei schwimmenden Samen-Zellen sehr in Betracht. Nun wissen wir durch viele Erfahrungen und Versuche, dass die Befruchtung der Ei-Zellen bei Kreuzung von zwei nahe verwandten Arten oft leichter gelingt, als bei zwei Individuen derselben Art. Mithin ist es sehr wahrscheinlich, dass bei der zufälligen Begegnung zahlloser Samen-Zellen und Ei-Zellen von nahe verwandten Meeres-Bewohnern mehr Bastarde entstehen als reine Inzucht-Producte; und da die ersteren überdies oft fruchtbarer sind, als die letzteren, können sie leicht diese im Kampf um's Dasein verdrängen und neue Arten bilden. Neuerdings hat vor Allen Weismann die hohe Bedeutung der geschlechtlichen Vermischung für die Umbildung der Arten betont. Jedenfalls aber beweisen die Bastard-Arten, die sich so gut wie reine Arten erhalten und fortpflanzen, dass die Bastard-Zeugung nicht dazu dienen kann, den Begriff der Species irgendwie zu charakterisiren.

Dass die vielen vergeblichen Versuche, den Species-Begriff theoretisch festzustellen, mit der praktischen Species-Unterscheidung gar Nichts zu thun haben, wurde schon früher angeführt (S. 45). Die verschiedenartige praktische Verwerthung des Species-Begriffs in der systematischen Zoologie und Botanik, ist sehr lehrreich für die Erkenntniss der menschlichen Thorheit. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war bisher bei Unterscheidung und Beschreibung der verschiedenen Thier- und Pflanzen-Formen vor Allem bestrebt, die verwandten Formen als »gute Species« scharf zu trennen. Allein eine scharfe und folgerichtige Unterscheidung solcher »echten und guten Arten« zeigte sich fast nirgends möglich.

Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche in allen Fällen darüber einig wären, welche von den nahe verwandten Formen einer Gattung gute Arten seien und welche nicht. Alle Autoren haben darüber verschiedene Ansichten. Bei der Gattung Hieracium z. B., einer der gemeinsten deutschen Pflanzen-Gattungen, hat man über 300 Arten in Deutschland allein unterschieden. Der Botaniker Fries lässt davon aber nur 106, Koch nur 52 als »gute Arten« gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Ebenso gross sind die Differenzen bei den Brombeer-Arten (Rubus). Wo der eine Botaniker über hundert Arten macht, nimmt der zweite bloss etwa die Hälfte, ein dritter nur fünf bis sechs oder noch weniger Arten an. Die Vögel Deutschlands kennt man seit längerer Zeit sehr genau. Bechstein hat in seiner sorgfältigen Naturgeschichte der deutschen Vögel 367 Arten unterschieden, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolf 406, und der vogelkundige Pastor Brehm sogar mehr als 900 verschiedene Arten. Von den Kalk-Schwämmen habe ich selbst in meiner Monographie dieser höchst veränderlichen Pflanzen-Thiere gezeigt, dass man darunter nach Belieben 3 Arten oder 21 oder 111 oder 289 oder 591 Species unterscheiden kann 50). Da in dieser Monographie die Unmöglichkeit »gute Arten« in hergebrachtem Sinne zu unterscheiden, auf Grund fünfjähriger genauester Beobachtungen eines sehr vollständigen Materials einleuchtend nachgewiesen ist, kann sie wohl als »ein Versuch zur analytischen Lösung des Problems von der Entstehung der Arten« angesehen werden. Kein anderer ähnlicher Versuch ist bisher in solcher Vollständigkeit unternommen worden.

Sie sehen also, dass die grösste Willkür hier wie in jedem anderen Gebiete der zoologischen und botanischen Systematik herrscht, und der Natur der Sache nach herrschen muss. Denn es ist ganz unmöglich, Varietäten, Spiel-Arten und Rassen von den sogenannten »guten Arten« scharf zu unterscheiden. Varietäten sind beginnende Arten. Aus der Variabilität oder Anpassungsfähigkeit der Arten folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einflusse des Kampfes um's Dasein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der Spiel-Arten, die beständige Divergenz der neuen Formen; indem diese durch Erblichkeit eine Anzahl von Generationen hindurch constant erhalten werden, während die vermittelnden Zwischen-Formen aussterben, bilden sie selbstständige »neue Arten«. Die Entstehung neuer Species durch die Arbeitstheilung oder Sonderung, Divergenz oder Differenzirung der Varietäten, ist mithin eine nothwendige Folge der natürlichen Zuchtwahl.

Dass die beständige Neigung der organischen Formen zur Sonderung oder Formspaltung in dieser Weise mit Nothwendigkeit aus der natürlichen Züchtung folgen muss, hat Darwin zuerst klar erkannt, und im vierten Capitel seines Hauptwerks überzeugend bewiesen. Er wendet jedoch sein Divergenz-Princip, ebenso wie sein Selections-Princip, hauptsächlich nur auf die selbstständig lebenden Einzelwesen an, und bemüht sich zu zeigen, wie die Abänderungen der Individuen durch Zuchtwahl und Formspaltung zur Entstehung neuer Arten führen. Nun haben wir aber schon im letzten Vortrage gesehen, dass das Selections-Princip noch viel weitere und allgemeinere Geltung besitzt, indem auch alle einzelnen Theile im Organismus, und vor Allen die Zellen, durch Zuchtwahl umgebildet werden. Wie nun so die Cellular-Selection als ein höchst bedeutender Umbildungs-Vorgang neben der Personal-Selection erscheint, so gilt dasselbe auch vom Divergenz-Princip. Die Formspaltung der Einzelwesen oder Personen, welche zur Bildung neuer Arten führt, – oder kurz: die Personal-Divergenz – findet ihre elementare Begründung erst in der Differenzirung der Zellen, welche die einzelne Person zusammensetzen, in der Cellular-Divergenz.

Die Gewebe-Lehre der Thiere und Pflanzen (– oder die Histologie –) hat auf Grund der Zellen-Theorie schon längst erkannt, dass eine der wichtigsten Erscheinungen in der Entwickelung der Histonen (– oder der vielzelligen Organismen –) die sogenannte »Differenzirung oder Sonderung der Gewebe« ist. Man versteht darunter ganz allgemein die Thatsache, die bei der Entwickelung jedes vielzelligen Einzelwesens zuerst in's Auge fällt: dass aus gleichartigen Zellen ungleichartige Gewebe hervorgehen. Aus den gleichartigen Zellen der Keimblätter z. B. (bei allen Metazoen oder vielzelligen Thieren) entwickeln sich divergent die verschiedenartigen Zellen, welche die Hautdecke, die Drüsen, das Bindegewebe, die Muskeln, die Nerven u. s. w. zusammensetzen. Dabei überzeugen wir uns zugleich, dass die ursprüngliche Gewebs-Form im Thierkörper eine einfache Zellenschicht, oder ein Epithelium ist; schon die zuerst gebildete Keimhaut (Blastoderma) ist ein solches Epithelium (vergl. Taf. V, Fig. 5, 6). Indem durch Einstülpung der Blastula (Fig. 7) die Gastrula (Fig. 8) entsteht, sondert sich die einfache Keimhaut in die beiden sogenannten »primären Keimblätter«, Hautblatt und Darmblatt (Exoderm, e; und Entoderm, i). Aus den letzteren gehen dann durch weitere Sonderung die vier secundären Keimblätter hervor (ebenfalls einfache Epithelien, Fig. 9), und aus diesen weiterhin alle verschiedenen Gewebe. Diese letzteren sind mithin alle als »secundäre Gewebe« zu bezeichnen, gegenüber dem primären Gewebe des Epithelium, aus dem sie entstanden sind.

Dieser ganze wichtige Vorgang nun, die sogenannte »Differenzirung der Gewebe«, ist im Grunde nichts anderes, als eine Divergenz der Zellen, welche die Gewebe zusammensetzen. Das physiologische Wesen derselben beruht auf Arbeitstheilung der Zellen; ihr morphologisches Ergebniss ist die Formspaltung der Zellen, oder die ungleiche Gestaltung der ursprünglich gleichartigen Zellen. Aber sowohl diese Formspaltung (Polymorphismus), als jene Arbeitstheilung (Ergonomie), sind selbst die nothwendige Folge der Cellular-Selection, oder jenes »Kampfes der Theile im Organismus«, welchen zuerst Roux in seiner vollen Bedeutung gewürdigt hat (vergl. S. 254).

Welche ausserordentliche Bedeutung die Arbeitstheilung und die damit verknüpfte Formspaltung für die verschiedensten Seiten des organischen Lebens besitzt, habe ich in meinem Vortrage »über Arbeitstheilung in Natur- und Menschen-Leben« 59) erörtert. Dabei habe ich als ganz besonders einleuchtendes Beispiel die Organisation der Staatsquallen oder Siphonophoren näher erläutert. Das sind schwimmende Medusen-Staaten, die äusserlich einem schönen Blumenstocke gleichen; die einzelnen Blätter, Blüthen und Früchte dieses Blumenstockes, meistens so durchsichtig wie buntes Glas, und dabei im höchsten Grade empfindlich und beweglich, erscheinen auf den ersten Blick nur als Organe einer Person, oder eines einzelnen, eigenthümlich zusammengesetzten Pflanzenthieres. In der That aber ist jedes dieser scheinbaren Organe ursprünglich eine Meduse oder Qualle, ein Einzelthier von dem Form-Werthe einer Person. Durch Anpassung an verschiedene Lebens-Aufgaben sind diese Personen und ihre Organe allmählich in der merkwürdigsten Weise umgebildet worden; und da alle mit ihrem ursprünglichen Mutterthiere, dem centralen Stamme des Stockes, in beständiger Verbindung bleiben, da auch die Ernährung des ganzen socialen Verbandes einheitlich ist, so erscheinen die zahlreichen Einzelthiere eben nur als Organe eines einzigen Individuums.

Die verschiedenen Formen dieser Siphonophoren, welche ich in meiner Monographie dieser höchst interessanten Thier-Klasse (1888) systematisch beschrieben und verglichen habe, bieten aber nicht allein eine Fülle lehrreicher Beispiele für die Arbeitstheilung und die Formspaltung, sondern auch für eine wichtige, daran sich anschliessende Erscheinung, den Arbeitswechsel oder Functionswechsel (Metergie). Indem die ursprünglich gleichartigen Medusen, welche den Siphonophoren-Stock zusammensetzen, sich an verschiedene Thätigkeiten gewöhnen und dem entsprechend ihre Form ändern, müssen auch die einzelnen Organe der Medusen-Person ihre ursprüngliche Thätigkeit häufig wechseln. So gestaltet sich z. B. das ursprüngliche Schwimm-Organ der Meduse, ihr Muskelschirm, bei den einen zu einer eigenthümlichen muskulösen Schwimmglocke, bei den anderen zu einer luftgefüllten Schwimmblase, bei einer dritten Gruppe zu einem schützenden Deckschilde, bei einer vierten zu einer kapselförmigen Mantelhülle, u. s. w. Das ursprüngliche einfache Magenrohr der Meduse verwandelt sich bei den einen in einen mächtigen zusammengesetzten Drüsen-Magen (Siphon), bei den anderen in ein empfindliches Sinnes-Werkzeug (Palpon), bei den männlichen Thieren in eine Samenkapsel (Androphore), bei den weiblichen in eine Eierkapsel (Gynophore), u. s. w. Die Siphonophoren lehren uns demnach, wie der Arbeitswechsel unmittelbar mit der Arbeitstheilung selbst verknüpft ist, ohne dass man deshalb ein besonderes »Princip des Functions-Wechsels« aufzustellen braucht.

Viele der wichtigsten Veränderungen in der organischen Welt, sogar die Entstehung ganzer Thierklassen, lassen sich ursprünglich auf den Arbeitswechsel oder die Metergie eines einzelnen Organes zurückführen. So sind z. B. die Amphibien aus den Fischen dadurch entstanden, dass die Schwimmblase der letzteren (ein hydrostatisches Organ) zur Lunge wurde und die Arbeit des Gaswechsels oder der Athmung übernahm; der Uebergang vom Wasserleben zum Landleben gab dazu die erste Veranlassung. Die Vögel sind aus eidechsenartigen Reptilien dadurch entstanden, dass die fliegende Ortsbewegung an die Stelle der kriechenden trat; die Vorderbeine der letzteren verwandelten sich in die Flügel der ersteren. Für die Entstehung der Säugethiere aus reptilienartigen Stamm-Formen war vielleicht die wichtigste Ursache der Arbeitswechsel der Hautdrüsen an der Bauchseite; indem diese ausscheidenden Drüsen (Talg- und Schweiss-Drüsen) sich in Milchdrüsen verwandelten und somit zum wichtigsten Ernährungs-Organ des Neugeborenen wurden, veranlassten sie eine Reihe der bedeutungsvollsten Veränderungen; die erste Gelegenheits-Ursache dafür ist wahrscheinlich die Gewohnheit der Neugeborenen gewesen, an der Bauchhaut ihrer Mutter zu lecken; der dadurch ausgeübte Ernährungs-Reiz führte zunächst (quantitativ) zur Vergrösserung der Hautdrüsen und weiterhin (qualitativ) zu ihrer Verwandlung in die bedeutungsvollen Milchdrüsen; die Fälle culturgeschichtlicher Probleme, welche sich (namentlich in der Kunst) an den weiblichen Busen knüpft, ist phylogenetisch auf jenen Vorgang zurückzuführen. Auch für die Entstehung des Menschen-Geschlechts ist der Arbeitswechsel von grosser Bedeutung gewesen, insbesondere die Arbeitstheilung der vorderen und hinteren Gliedmaassen, und die damit verknüpfte Metergie der ersteren; während bei den kletternden Affen (oder Vierhändern) alle vier Gliedmaassen in Form und Function ähnlich bleiben, gestaltet sich beim aufrecht gehenden Menschen die vordere Gliedmaasse zum greifenden Arm, die hintere zum wandelnden Bein. Die Divergenz zwischen ersterem und letzterem führte zur Ausbildung der menschlichen Hand, jenes unschätzbaren Kunst-Organs, dessen mannichfaltiger Arbeitswechsel beim Maler und Bildhauer, beim Clavierspieler und Techniker, beim Arzte und Chirurgen zur Quelle der erstaunlichsten Leistungen geworden ist; sogar die Arbeitstheilung und der Arbeitswechsel der einzelnen Finger spielt ja hier bekanntlich eine wichtige Rolle.

Eine Reihe von wichtigen Erscheinungen, welche zur Divergenz oder Sonderung scheinbar im Gegensatze stehen, bietet uns die sogenannte Convergenz oder Angleichung. Während die divergente Züchtung durch Anpassung an verschiedene Lebens-Bedingungen und Thätigkeiten aus gleichen Formen zuletzt ganz verschiedene gestaltet, bewirkt umgekehrt die convergente Züchtung, dass ursprünglich ganz verschiedene Formen durch Anpassung an gleiche Existenz-Bedingungen und Functionen zuletzt höchst ähnlich werden. So sind z. B. manche Fische und Walfische äusserlich höchst ähnlich, obgleich ihr innerer Bau ganz verschieden ist. Die warmblütigen Walfische sind echte Säugethiere, welche durch Anpassung an die Lebensweise der Fische deren Form angenommen haben; sie stammen aber ab von landbewohnenden Säugethieren, und zwar die pflanzenfressenden Sirenen wahrscheinlich von Hufthieren, die fleischfressenden Delphine und Bartenwale von Raubthieren. In diesen beiden Gruppen hat die convergente Züchtung nicht nur die äussere Gestalt, sondern auch die innere Structur so ähnlich gestaltet, dass man sie früher in einer Ordnung vereinigte.

Ein anderes auffallendes Beispiel von Convergenz des Characters, oder von Angleichung der Form, liefert die Medusen-Klasse. Diese scheinbar einheitliche Thier-Klasse besteht aus zwei ganz verschiedenen Stämmen, wie ich in meiner Monographie derselben (1881) nachgewiesen habe. Die kleineren und zierlicheren Schleierquallen (Craspedoten oder Hydromedusen) stammen ab von Hydropolypen; die grösseren und prächtigeren Lappenquallen (Acraspeden oder Scyphomedusen) stammen ab von Scyphopolypen; auch die Art der Entwickelung ist in beiden Stämmen ganz verschieden, und zwar ebenso in ontogenetischem wie in phylogenetischem Sinne. Trotzdem sind schliesslich die Medusen beider Stämme, durch Anpassung an gleiche Lebensweise und gleiche Organ-Thätigkeit so ähnlich geworden, dass man sie oft kaum unterscheiden kann.

Viel zahlreicher und auffallender noch sind die Beispiele für diese täuschenden Anpassungs-Aehnlichkeiten im Pflanzenreiche. So zeichnen sich z. B. viele Wasserpflanzen durch grosse, kahle, flache, rundliche Blätter aus, welche auf der Oberfläche der Teiche schwimmen; die echten Seerosen (Nymphaeaceen) gleichen darin vielen Potameen, Butomeen, Alismaceen, Gentianeen u. s. w., obgleich diese ganz verschiedenen Familien angehören. Auch viele Schmarotzer-Pflanzen, welche von weit entfernten Familien abstammen, werden oft höchst ähnlich, z. B. viele Orchideen, Cytineen, Lippenblüther, Winden u. s. w. Die Anpassung an die gleiche parasitische Lebensweise bewirkt bei allen in gleicher Weise das Verschwinden der grünen Blätter, eine eigenthümlich fleischige Entwickelung des Stengels, der Blüthen u. s. w. Schon oft hat diese täuschende, durch convergente Züchtung bewirkte Aehnlichkeit zu grossen Irrthümern in der systematischen Classification verleitet.

Alle Erscheinungen der Convergenz oder Angleichung erklären sich demnach ganz einfach aus der Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl, ebenso wie diejenigen der Divergenz oder Sonderung. Dasselbe gilt nun auch von einer weiteren bedeutungsvollen Erscheinungs-Reihe, derjenigen des Fortschritts (Progressus) oder der Vervollkommnung (Teleosis). Auch dieses grosse und wichtige Gesetz ist gleich dem Divergenz-Gesetze längst thatsächlich durch die paläontologische Erfahrung festgestellt worden, ehe uns Darwin's Selections-Theorie den Schlüssel zu seiner ursächlichen Erklärung lieferte. Die meisten umfassenden Paläontologen haben das Fortschritts-Gesetz als allgemeinstes Resultat ihrer Untersuchungen über die Versteinerungen und deren historische Reihenfolge hingestellt; so namentlich der verdienstvolle Bronn in seinen vortrefflichen Untersuchungen über die Gestaltungs-Gesetze und Entwickelungs-Gesetze der Organismen.19) Die allgemeinen Resultate, zu welchen Bronn bezüglich des Differenzirungs- und Fortschritts-Gesetzes auf rein empirischem Wege, durch ausserordentlich fleissige und sorgfältige Untersuchungen gekommen ist, erscheinen uns heute als glänzende Bestätigungen der Selections-Theorie.

Das Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung constatirt auf Grund der paläontologischen Erfahrung die äusserst wichtige Thatsache, dass zu allen Zeiten des organischen Lebens auf der Erde eine beständige Zunahme in der Vollkommenheit der organischen Bildungen stattgefunden hat. Seit jener unvordenklichen Zeit, in welcher das Leben auf unserem Planeten mit der Urzeugung von Moneren begann, haben sich die Organismen aller Gruppen beständig im Ganzen wie im Einzelnen vervollkommnet und höher ausgebildet. Die stetig zunehmende Mannichfaltigkeit der Lebensformen war stets zugleich von Fortbildung ihrer Organisation begleitet. Je tiefer Sie in die Schichten der Erde hinabsteigen, in welchen die Reste der ausgestorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter die letzteren mithin sind, desto einförmiger, einfacher und unvollkommener sind ihre Gestalten. Dies gilt sowohl von den Organismen im Grossen und Ganzen, als von jeder einzelnen grösseren oder kleineren Gruppe derselben, abgesehen natürlich von jenen Ausnahmen, die durch Rückbildung einzelner Formen entstehen.

Zur Bestätigung dieses Gesetzes will ich Ihnen hier wieder nur die wichtigste von allen Thier-Gruppen, den Stamm der Wirbelthiere, anführen. Die ältesten fossilen Wirbelthier-Reste, welche wir kennen, gehören der tiefstehenden Fisch-Klasse an. Auf diese folgten späterhin die vollkommneren Amphibien, dann die Reptilien, und endlich in noch viel späterer Zeit die höchstorganisirten Wirbelthier-Klassen, die Vögel und Säugethiere. Von den letzteren erschienen zuerst nur die niedrigsten und unvollkommensten Formen, ohne Placenta, die Beutelthiere, und viel später wiederum die vollkommneren Säugethiere, mit Placenta. Auch von diesen traten zuerst nur niedere, später höhere Formen auf, und erst in der jüngeren Tertiär-Zeit entwickelte sich aus den letzteren allmählich der Mensch.

Verfolgen Sie die historische Entwickelung des Pflanzen-Reichs, so finden Sie hier dasselbe Gesetz bestätigt. Auch von den Pflanzen existirte anfänglich bloss die niedrigste und unvollkommenste Klasse, diejenige der Algen oder Tange. Auf diese folgte später die Gruppe der farnkrautartigen Pflanzen oder Filicinen. Aber noch existirten keine Blüthen-Pflanzen oder Phanerogamen. Diese begannen erst später mit den Gymnospermen (Nadelhölzern und Cycadeen), welche in ihrer ganzen Bildung tief unter den übrigen Blüthen-Pflanzen (Angiospermen) stehen, und den Uebergang von den Filicinen zu den Angiospermen vermitteln. Diese letzteren entwickelten sich wiederum viel später, und zwar traten auch hier anfangs bloss kronenlose Blüthen-Pflanzen auf (Monocotyledonen und Monochlamydeen), später erst kronenblüthige (Dichlamydeen). Endlich gingen unter diesen wieder die niederen Diapetalen den höheren Gamopetalen voraus. Diese ganze Reihenfolge ist ein unwiderleglicher Beweis für das Gesetz der fortschreitenden Entwickelung.

Fragen wir nun, wodurch diese Thatsache bedingt ist, so kommen wir wiederum, gerade so wie bei der Thatsache der Differenzirung, auf die natürliche Züchtung im Kampf um das Dasein zurück. Wenn Sie die ganze Bedeutung der natürlichen Züchtung, und insbesondere die verwickelte Wechselwirkung der verschiedenen Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze, sich lebhaft vor Augen stellen, so werden Sie als die nächste nothwendige Folge nicht allein die Divergenz des Charakters, sondern auch die Vervollkommnung desselben erkennen. Wir sehen ganz dasselbe in der Geschichte des menschlichen Geschlechts. Auch hier ist es natürlich und nothwendig, dass die fortschreitende Arbeitstheilung beständig die Menschheit fördert, und in jedem einzelnen Zweige der menschlichen Thätigkeit zu neuen Erfindungen und Verbesserungen antreibt. Im Grossen und Ganzen beruht ja der Fortschritt selbst auf der Differenzirung und ist daher gleich dieser eine unmittelbare Folge der natürlichen Züchtung durch den Kampf um's Dasein.

Wenn der Mensch seine Stellung in der Natur richtig begreifen und sein Verhältniss zu der erkennbaren Erscheinungs-Welt naturgemäss erfassen will, so ist es durchaus nothwendig, ganz objectiv die Naturgeschichte des Menschen mit derjenigen der übrigen Organismen, und besonders der Thiere zu vergleichen. Wir haben bereits früher gesehen, dass die wichtigen physiologischen Gesetze der Vererbung und der Anpassung in ganz gleicher Weise für den menschlichen Organismus, wie für die Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in beständiger Wechselwirkung mit einander stehen. Daher wirkt auch die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Dasein ebenso in der menschlichen Gesellschaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgestaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz besonders wichtig ist diese Vergleichung der menschlichen und der thierischen Verhältnisse, wenn man die grossen Gesetze der Divergenz und des Fortschritts als die unmittelbaren und nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dasein nachweisen will.

Ein vergleichender Ueberblick über die Völker-Geschichte oder die sogenannte »Welt-Geschichte« zeigt Ihnen zunächst als allgemeinstes Resultat eine beständig zunehmende Mannichfaltigkeit der menschlichen Thätigkeit, im einzelnen Menschenleben sowohl als im Familien- und Staatenleben. Diese Differenzirung oder Sonderung, diese stetig zunehmende Divergenz des menschlichen Charakters und der menschlichen Lebensform, wird durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Individuen hervorgebracht. Während die ältesten und niedrigsten Stufen der menschlichen Kultur uns überall nahezu dieselben rohen und einfachen Verhältnisse vor Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geschichte eine grössere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrichtungen bei den verschiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeitstheilung bedingt eine entsprechende Formspaltung, eine beständig sich steigernde Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das spricht sich selbst in der menschlichen Gesichts-Bildung aus. Unter den niedersten Volksstämmen gleichen sich die meisten Individuen so sehr, dass die europäischen Reisenden dieselben oft gar nicht unterscheiden können. Mit zunehmender Kultur differenzirt sich die Physiognomie der Individuen in entsprechendem Grade. Endlich bei den höchst entwickelten Kultur-Völkern geht die Divergenz der Gesichts-Bildung bei allen stammverwandten Individuen so weit, dass wir nur selten in die Verlegenheit kommen, zwei Gesichter gänzlich mit einander zu verwechseln.

Als zweites oberstes Grund-Gesetz tritt uns in der Völker-Geschichte das grosse Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung entgegen. Im Grossen und Ganzen ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte ihrer fortschreitenden Entwickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rückschritte im Einzelnen vor, oder es werden schiefe Bahnen des Fortschritts eingeschlagen, welche nur einer einseitigen und äusserlichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Veredelung sich mehr und mehr entfernen. Allein im Grossen und Ganzen ist und bleibt die Entwickelungs-Bewegung der ganzen Menschheit eine fortschreitende, indem der Mensch sich immer weiter von seinen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr seinen selbstgesteckten idealen Zielen nähert.

Gegen die Bedeutung des Fortschritts-Gesetzes in der Kultur-Geschichte wird bisweilen der mächtige Rückschritt geltend gemacht, welchen das dunkle Mittelalter gegenüber dem strahlenden Glanze des classischen Alterthums darbietet. Allein abgesehen von den verhängnissvollen inneren und äusseren Ursachen, welche den beklagenswerthen Untergang des letzteren herbeiführen mussten, erklärt sich der Rückschritt des Mittelalters grösstentheils aus der Naturverachtung, welche das Christenthum predigte, und aus der Gewaltherrschaft über alles freie Geistesleben, welche dessen allmächtige Hierarchie ausübte. Im Stillen entwickelten sich dennoch auch in dieser düsteren Periode der Kultur-Geschichte viele Keime der Wiedergeburt, die nach der Reformation sich zu neuen Kultur-Blüthen entfalteten. Ausserdem kann aber der Zeitraum von kaum einem Jahrtausend, welcher die dunkelste Zeit des Mittelalters umfasst, in den Augen des Naturforschers nur als eine kurze Zeitspanne gelten, verglichen mit den vielen hunderttausend Jahren, welche nach den neuesten urgeschichtlichen Forschungen bereits seit dem Auftreten des Menschen-Geschlechts verflossen sind.

Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Ursachen eigentlich diese beiden grossen Entwickelungs-Gesetze der Menschheit, das Sonderungs-Gesetz und das Fortschritts-Gesetz bedingt sind, so müssen Sie dieselben mit den entsprechenden Entwickelungs-Gesetzen der Thierheit vergleichen. Sie werden dann bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schlusse kommen, dass sowohl die Erscheinungen wie ihre Ursachen in beiden Fällen ganz dieselben sind. Ebenso in dem Entwickelungs-Gange der Menschenwelt, wie in demjenigen der Thierwelt, sind die beiden Grund-Gesetze der Differenzirung und Vervollkommnung lediglich durch rein mechanische Ursachen bedingt, lediglich die nothwendigen Folgen der natürlichen Zuchtwahl im Kampf um's Dasein.

Vielleicht hat sich Ihnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedrängt: »Sind nicht diese beiden Gesetze identisch? Ist nicht immer der Fortschritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?« Diese Frage ist oft bejaht worden, und Carl Ernst Baer z. B., einer der grössten Forscher im Gebiete der Entwickelungs-Geschichte, hat als eines der obersten Gesetze, die den Bildungsgang des werdenden Thierkörpers beherrschen, den Satz ausgesprochen: »Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkommnung) besteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile«.20) So richtig dieser Satz im Ganzen ist, so hat er dennoch keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt sich in vielen einzelnen Fällen, dass Divergenz und Fortschritt keineswegs durchweg zusammenfallen. Nicht jeder Fortschritt ist eine Differenzirung, und nicht jede Differenzirung ist ein Fortschritt.

Was zunächst die Vervollkommnung oder Fortbildung betrifft, so hat man schon früher, durch rein anatomische Betrachtungen geleitet, das Gesetz aufgestellt, dass allerdings die Vervollkommnung des Organismus grösstentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen Organe und Körpertheile beruht, dass es jedoch auch andere organische Umbildungen giebt, welche einen Fortschritt in der Organisation bedingen. Eine solche ist besonders die Zahlverminderung gleichartiger Theile. Vergleichen Sie z. B. die niederen krebsartigen Gliederthiere, welche sehr zahlreiche Beinpaare besitzen, und die Tausendfüsse (Myrapoden), mit den Spinnen, die stets nur vier Beinpaare, und mit den Insecten, die stets nur drei Beinpaare besitzen. Hier finden Sie dieses Gesetz, wie durch zahlreiche ähnliche Beispiele, bestätigt. Die Zahlreduction der Beinpaare ist ein Fortschritt in der Organisation der Gliederthiere. Ebenso ist die Zahlreduction der gleichartigen Wirbelabschnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortschritt in deren Organisation. Die Fische und Amphibien mit einer sehr grossen Anzahl von gleichartigen Wirbeln sind schon deshalb unvollkommener und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, sondern auch die Zahl der gleichartigen Wirbel viel geringer ist. Nach demselben Gesetze der Zahlverminderung sind ferner die Blüthen mit zahlreichen Staubfäden unvollkommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit einer geringen Staubfädenzahl u. s. w. Wenn also ursprünglich eine sehr grosse Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden war, und wenn diese Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmählich abnahm, so war diese Umbildung eine Vervollkommnung.

Ein anderes wichtiges Fortschritts-Gesetz, welches von der Differenzirung ganz unabhängig, ja sogar dieser gewissermaassen entgegengesetzt erscheint, ist das Gesetz der Centralisation. Im Allgemeinen ist der ganze Organismus um so vollkommener, je einheitlicher er organisirt ist, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centralisirt sind. So ist z. B. das Blutgefäss-System da am vollkommensten, wo ein centralisirtes Herz existirt. Ebenso ist die zusammengedrängte Markmasse, welche das Rückenmark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentralisirte Ganglien-Kette der niederen Gliederthiere und das zerstreute Ganglien-System der Weichthiere.

Der Medusen-Staat der Siphonophoren, ebenso wie der menschliche Kultur-Staat, ist um so leistungsfähiger und vollkommener, je stärker er centralisirt ist. Indessen darf man dabei nicht vergessen, dass der Begriff der Vollkommenheit nur relativ, nicht absolut ist. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung der verwickelten Fortschrittsgesetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf eingehen, und muss Sie bezüglich derselben auf Bronn's treffliche »Morphologische Studien« und auf meine generelle Morphologie verweisen (Gen. Morph. I, 370, 550; II, 257-266).

Während also einerseits Fortschritts-Erscheinungen ganz unabhängig von der Divergenz auftreten, so begegnen wir andrerseits sehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, sondern vielmehr das Gegentheil, Rückbildung sind. Es ist leicht einzusehen, dass die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbesserungen sein können. Vielmehr sind viele Differenzirungs-Erscheinungen zwar von unmittelbarem Vortheil für den Organismus, aber insofern schädlich, als sie die allgemeine Leistungsfähigkeit desselben beeinträchtigen. Häufig findet ein Rückschritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpassung an dieselben eine Differenzirung in rückschreitender Richtung statt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, sich an das parasitische Leben gewöhnen, so bilden sie sich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervensystem und scharfe Sinnesorgane, sowie freie Bewegung besassen, verlieren dieselben, wenn sie sich an parasitische Lebensweise gewöhnen; sie bilden sich dadurch mehr oder minder zurück. Hier ist, für sich betrachtet, die Differenzirung ein Rückschritt, obwohl sie für den parasitischen Organismus selbst von Vortheil ist. Im Kampf um's Dasein würde ein solches Thier, das sich gewöhnt hat, auf Kosten Anderer zu leben, durch Beibehaltung seiner Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an Material verlieren; und wenn es diese Organe einbüsst, so kommt dafür eine Masse von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieser Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf um's Dasein zwischen den verschiedenen Parasiten werden daher diejenigen, welche am wenigsten Ansprüche machen, im Vortheil vor den anderen sein, und dies begünstigt ihre Rückbildung.

Ebenso wie in diesem Falle mit den ganzen Organismen, so verhält es sich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus. Auch eine Differenzirung dieser Theile, welche zu einer theilweisen Rückbildung, und schliesslich selbst zum Verlust einzelner Organe führt, ist an sich betrachtet ein Rückschritt, kann aber für den Organismus im Kampf um's Dasein von Vortheil sein. Man kämpft leichter und besser, wenn man unnützes Gepäck fortwirft. Daher begegnen wir überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenz-Processen, welche wesentlich die Rückbildung und schliesslich den Verlust einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die höchst wichtige und lehrreiche Erscheinungsreihe der rudimentären oder verkümmerten Organe entgegen.

Sie erinnern sich, dass ich schon im ersten Vortrage diese ausserordentlich merkwürdige Erscheinungsreihe als eine der wichtigsten in theoretischer Beziehung hervorgehoben habe, als einen der schlagendsten Beweisgründe für die Wahrheit der Abstammungs-Lehre. Wir bezeichneten als rudimentäre oder »fehlgeschlagene« Organe solche Theile des Körpers, die für einen bestimmten Zweck eingerichtet und dennoch ganz zwecklos sind. Ich erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Augen gebrauchen können. Bei diesen Thieren finden wir unter der Haut versteckt wirkliche Augen, oft gerade so gebildet wie die Augen der wirklich sehenden Thiere; und dennoch functioniren diese Augen niemals, und können nicht functioniren, schon einfach aus dem Grunde, weil dieselben von dem undurchsichtigen Felle überzogen sind und daher kein Lichtstrahl in sie hineinfällt (vergl. oben S. 13). Bei den Vorfahren dieser Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchsichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als sie sich nach und nach an unterirdische Lebensweise gewöhnten, sich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieselben rückgebildet und zum Sehen untauglich.

Sehr anschauliche Beispiele von rudimentären Organen sind ferner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der straussartigen Laufvögel, (Strauss, Casuar u. s. w.). Diese Vögel haben sich das Fliegen abgewöhnt und haben dadurch den Gebrauch der Flügel verloren, während sich dagegen durch Angewöhnung an schnelles Laufen die Beine ausserordentlich entwickelt haben. Aber trotzdem sind die Flügel noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden sich solche verkümmerte Flügel in der Klasse der Insecten, von denen die meisten fliegen können. Aus vergleichend anatomischen und anderen Gründen können wir mit Sicherheit den Schluss ziehen, dass alle jetzt lebenden Insecten (alle Heuschrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. s. w.) von einer einzigen gemeinsamen Elternform, einem Stamminsect abstammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Beinpaare besass. Nun giebt es aber sehr zahlreiche Insecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen sie sogar völlig verschwunden sind. In der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. ist das hintere Flügelpaar, bei den Drehflüglern oder Strepsipteren dagegen das vordere Flügelpaar verkümmert oder fast ganz verloren. Ausserdem finden Sie in jeder Insecten-Ordnung einzelne Gattungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rückgebildet oder verschwunden sind. Insbesondere ist letzteres bei Parasiten der Fall. Oft sind die Weibchen flügellos während die Männchen geflügelt sind, z. B. bei den Leuchtkäfern oder Johanniskäfern (Lampyris), bei den Strepsipteren u. s. w.

Offenbar ist diese theilweise oder gänzliche Rückbildung der Insectenflügel durch natürliche Züchtung im Kampf um's Dasein entstanden. Denn wir finden die Insecten vorzugsweise dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlos oder sogar entschieden schädlich sein würde. Wenn z. B. Insecten, welche Inseln bewohnen, viel und gut fliegen, so kann es leicht vorkommen, dass sie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden. Nun ist aber thatsächlich immer das Flugvermögen individuell verschieden entwickelt. Also haben die schlechtfliegenden Individuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; sie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben länger am Leben als die gutfliegenden Individuen derselben Art. Im Verlaufe vieler Generationen muss durch die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung dieser Umstand nothwendig zu einer vollständigen Verkümmerung der Flügel führen. Wir hätten uns diesen Schluss rein theoretisch entwickeln können und finden ihn nun durch viele Beobachtungen bestätigt. In der That ist auf isolirt gelegenen Inseln das Verhältniss der flügellosen Insecten zu den mit Flügeln versehenen ganz auffallend gross, viel grösser als bei den Insecten des Festlandes. So sind z. B. nach Wollaston von den 550 Käfer-Arten, welche die Insel Madeira bewohnen, 200 flügellos oder mit so unvollkommenen Flügeln versehen, dass sie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Insel ausschliesslich eigenthümlich sind, enthalten nicht weniger als 23 nur solche Arten. Offenbar ist dieser merkwürdige Umstand nicht durch die besondere Weisheit des Schöpfers zu erklären, sondern durch die natürliche Züchtung; der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampfe mit den gefährlichen Winden, hat hier den trägeren Käfern einen grossen Vortheil im Kampfe um's Dasein gewährt. Bei anderen flügellosen Insecten war der Flügelmangel wieder aus anderen Gründen vortheilhaft. An sich betrachtet ist der Verlust der Flügel ein Rückschritt; aber für den Organismus unter diesen besonderen Lebens-Verhältnissen ist er ein grosser Vortheil im Kampf um's Dasein.

Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch beispielsweise die Lungen der Schlangen und der schlangenartigen Eidechsen erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen besitzen, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Wenn aber der Körper sich ausserordentlich verdünnt und in die Länge streckt, wie bei den Schlangen und schlangenartigen Eidechsen, so hat die eine Lunge neben der andern nicht mehr Platz, und es ist für den Mechanismus der Athmung ein offenbarer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt ist. Eine einzige grosse Lunge leistet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei diesen Thieren fast durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere ist ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Aus anderen Gründen ist fast bei allen Vögeln der rechte Eierstock verkümmert und ohne Function; der linke Eierstock allein ist entwickelt und liefert alle Eier. –

Dass auch der Mensch solche ganz unnütze und überflüssige rudimentäre Organe besitzt, habe ich bereits im ersten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als solche angeführt. Ausserdem gehört hierher das merkwürdige Rudiment des Schwanzes, welches der Mensch in seinen drei bis fünf Schwanzwirbeln besitzt, und welches beim menschlichen Embryo während der beiden ersten Monate der Entwickelung noch frei hervorsteht. (Vgl. Taf. II und III.) Späterhin verbirgt es sich vollständig im Fleische. Dieses verkümmerte Schwänzchen des Menschen ist ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare Thatsache, dass er von geschwänzten Voreltern abstammt. Beim Weibe ist das Schwänzchen gewöhnlich um einen Wirbel länger, als beim Manne; häufig sind am weiblichen Steissbein fünf einzelne Wirbel deutlich zu unterscheiden, am männlichen meistens nur vier. Auf früheren Stufen der Keimbildung ist ihre Zahl noch grösser. Auch rudimentäre Muskeln sind am Schwanze des Menschen noch vorhanden, welche denselben vormals bewegten. Die schwanzlosen Menschenaffen (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) verhalten sich auch in dieser Beziehung ganz wie der Mensch.

Ein anderes rudimentäres Organ des Menschen, welches aber bloss dem Manne zukommt, und welches ebenso bei sämmtlichen männlichen Säugethieren sich findet, sind die Milchdrüsen an der Brust. Bekanntlich sind diese in der Regel bloss beim weiblichen Geschlecht in Thätigkeit. Indessen kennt man von verschiedenen Säugethieren, namentlich vom Menschen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milchdrüsen auch beim männlichen Geschlechte wohl entwickelt waren und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Humboldt traf im südamerikanischen Urwald einen einsamen Ansiedler, dessen Frau im Wochenbett gestorben war. In der Verzweiflung hatte er das neugeborene Kind an seine Brust gelegt; und durch den andauernden Reiz, den dessen fortgesetzte Saugbewegungen auf die rudimentäre Milchdrüse ausübten, war deren erloschene Thätigkeit wieder in's Leben getreten.

Einen ähnlichen interessanten Fall bieten die früher schon erwähnten rudimentären Muskeln der menschlichen Ohrmuschel; gewöhnlich ist ihre frühere Thätigkeit ganz erloschen; aber trotzdem können sie von einzelnen Personen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden. (S. 12.) Ueberhaupt sind die rudimentären Organe bei verschiedenen Individuen derselben Art oft sehr verschieden entwickelt, bei den einen ziemlich gross, bei den anderen sehr klein. Dieser Umstand ist für ihre Erklärung sehr wichtig, ebenso wie der andere Umstand, dass sie allgemein bei den Embryonen, oder überhaupt in sehr früher Lebenszeit, viel grösser und stärker im Verhältniss zum übrigen Körper sind, als bei den ausgebildeten und erwachsenen Organismen. Insbesondere ist dies leicht nachzuweisen an den rudimentären Geschlechts-Organen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits angeführt habe. Diese sind verhältnissmässig viel grösser in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe.

Schon damals (S. 14) bemerkte ich, dass die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den stärksten Stützen der monistischen oder mechanistischen Weltanschauung gehören. Wenn die Gegner derselben, die Dualisten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieser Thatsachen begriffen, müssten sie dadurch allein schon bekehrt werden. Die lächerlichen Erklärungs-Versuche derselben, dass die rudimentären Organe vom Schöpfer »der Symmetrie halber« oder »zur formalen Ausstattung« oder »aus Rücksicht auf seinen allgemeinen Schöpfungsplan« den Organismen verliehen seien, beweisen zur Genüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanschauung. Ich muss hier wiederholen, dass, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungs-Erscheinungen wüssten, wir ganz allein schon auf Grund der rudimentären Organe die Descendenz-Theorie für wahr halten müssten. Kein Gegner derselben hat vermocht, auch nur einen schwachen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf diese äusserst merkwürdigen und bedeutenden Erscheinungen fallen zu lassen. Es giebt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und fast immer lässt sich nachweisen, dass dieselben Produkte der natürlichen Züchtung sind, dass sie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verkümmert sind.

Die Erscheinungen dieser Rückbildung verhalten sich gerade umgekehrt wie diejenigen der Fortbildung, welche wir bei der Entstehung neuer Organe durch Angewöhnung an besondere Lebens-Bedingungen und durch den Gebrauch noch unentwickelter Theile wahrnehmen. Zwar wird häufig von unsern Gegnern behauptet, dass die Entstehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Descendenz-Theorie zu erklären sei. Indessen bietet diese Erklärung für denjenigen, der vergleichend-anatomische und physiologische Kenntnisse besitzt, gewöhnlich keine Schwierigkeit. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungs-Geschichte vertraut ist, findet in der Entstehung ganz neuer Organe ebenso wenig Unbegreifliches, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudimentären Organe. Das Vergehen der letzteren ist an sich betrachtet das Gegentheil vom Entstehen der ersteren. Beide Processe sind Differenzirungs-Erscheinungen, die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechanisch aus der Wirksamkeit der natürlichen Züchtung im Kampf um das Dasein erklären können.

Wenn wir das erste Auftreten neuer Organe genauer in's Auge fassen, so bemerken wir meistens weiter Nichts, als das stärkere Wachsthum eines Theiles an einem bereits bestehenden Organe. Indem aber dieser Theil nach den Gesetzen der Arbeitstheilung und des Arbeitswechsels andere Functionen übernimmt, wird alsbald die Formspaltung sichtbar, welche nach dem Selections-Princip allmählich zur Ausbildung eines neuen Organs führt. Diese Fortbildung wird ebenso durch die physiologischen Gesetze des Wachsthums und der Ernährung bestimmt, wie im umgekehrten Falle die Rückbildung bei den rudimentären Organen.

Die allgemeine Bedeutung der verkümmerten oder rudimentären Organe für wichtige Grundfragen der Naturphilosophie kann nicht hoch genug angeschlagen werden. (Vergl. das XIX. Capitel meiner Gener. Morphol. X. p. 266.) Es lässt sich darauf eine besondere »Unzweckmässigkeits-Lehre« gründen, als Gegenstück gegen die alte landläufige »Zweckmässigkeits-Lehre«. Während uns diese letztere, die dualistische Teleologie, schliesslich zum übernatürlichen Dogma und Wunderglauben führt, gewinnen wir durch die erstere, die monistische Dysteleologie, ein festes Fundament für unsere mechanische Natur-Erklärung; sie führt uns durch die »teleologische Mechanik« zum reinen Monismus. (XIV. Vortrag.)


 << zurück weiter >>