Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunter Vortrag.

Vererbungs-Gesetze und Vererbungs-Theorien.

Unterschied der Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung. Unterscheidung der erhaltenden und fortschreitenden Vererbung. Gesetze der erhaltenden oder conservativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generations-Wechsel. Rückschlag. Verwilderung. Geschlechtliche oder sexuelle Vererbung. Secundäre Sexual-Charaktere. Gemischte oder amphigone Vererbung. Bastardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepasste oder erworbene Vererbung. Befestigte oder constituirte Vererbung. Gleichzeitliche (homochrone) Vererbung. Gleichörtliche (homotope) Vererbung. Molekulare Vererbungs-Theorien. Pangenesis (Darwin). Perigenesis (Haeckel). Idioplasma (Nägeli). Keimplasma (Weismann). Intracellulare Pangenesis (Vries).

 

Meine Herren! Zu den wichtigsten Fortschritten, welche unsere heutige Entwickelungs-Lehre seit dreissig Jahren in die allgemeine Naturgeschichte eingeführt hat, gehört sicher das tiefere Verständniss der beiden grossen organischen Gestaltungskräfte, der Vererbung einerseits, der Anpassung anderseits. Ihre vielfach verwickelte Wechselwirkung reicht aus, um unter den stets wechselnden Verhältnissen des Kampfes um's Dasein die ganze Mannichfaltigkeit der organischen Formenwelt hervorzubringen. Die ältere Natur-Philosophie, im Anfange unseres Jahrhunderts, erkannte zwar auch schon die hohe Bedeutung dieser Wechselwirkung, vermochte aber in den räthselvollen Charakter der beiden gestaltenden »Bildungstriebe« nicht tiefer einzudringen. Jetzt hingegen, wo die grossartigen Fortschritte der Morphologie und Physiologie, der Histologie und Ontogenie, uns einen viel tieferen Einblick in ihr wahres Wesen gestatten, erkennen wir in ihnen echte physiologische Functionen, d. h. allgemeine Lebensthätigkeiten der Organismen selbst; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten, beruhen auch die beiden fundamentalen Gestaltungskräfte zuletzt auf physikalischen und chemischen Verhältnissen. Allerdings erscheinen diese bisweilen äusserst verwickelt, lassen sich aber doch im Grunde auf einfache, mechanische Ursachen, auf Anziehungs- und Abstossungs-Verhältnisse der Stofftheilchen, der Molekeln und Atome zurückführen.

Wie ich zuerst in meiner generellen Morphologie (1866) eingehend zu zeigen versuchte, ergiebt sich das Verständniss der Vererbung aus den verwickelten Erscheinungen der Fortpflanzung, während die Erscheinungen der Anpassung aus den elementaren Verhältnissen der Ernährung sich erklären; insbesondere aus den trophischen Reizen, welche einerseits der unmittelbare Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen, anderseits die eigene Thätigkeit der Organe und der sie zusammensetzenden Zellen ausübt.

Im letzten Vortrage hatte ich zu zeigen versucht, dass bei allen verschiedenen Formen der Fortpflanzung (– und also auch der Vererbung –) das Wesentlichste immer die Ablösung eines Theiles des elterlichen Organismus und die Befähigung desselben zur individuellen, selbstständigen Existenz ist. In allen Fällen dürfen wir daher von vornherein schon erwarten, dass die kindlichen Individuen dieselben Lebens-Erscheinungen und Form-Eigenschaften erlangen werden, welche die elterlichen Individuen besitzen; denn sie sind ja »Fleisch und Bein der Eltern«! Immer ist es nur eine grössere oder geringere Quantität von der elterlichen Materie, und zwar von dem eiweissartigen Plasma oder Zell-Körper, welche auf das kindliche Individuum übergeht. Mit der Materie werden aber auch deren Lebens-Eigenschaften, die molekularen Bewegungen des Plasma, übertragen, welche sich dann in ihrer Form äussern. Wenn Sie sich die angeführte Kette von verschiedenen Fortpflanzungs-Formen in ihrem Zusammenhange vor Augen stellen, so verliert die Vererbung durch geschlechtliche Zeugung sehr Viel von dem Räthselhaften und Wunderbaren, das sie auf den ersten Blick für den Laien besitzt. Anfänglich erscheint es freilich höchst wunderbar, dass bei der geschlechtlichen Fortpflanzung des Menschen, wie aller höheren Thiere, das kleine Ei, eine winzige, für das blosse Auge oft nicht sichtbare Zelle, im Stande ist, alle Eigenschaften des mütterlichen Organismus auf den kindlichen zu übertragen; und nicht weniger räthselhaft muss es erscheinen, dass zugleich die wesentlichen Eigenschaften des väterlichen Organismus auf den kindlichen übertragen werden vermittelst des männlichen Sperma, welches die Ei-Zelle befruchtete; vermittelst einer einzigen von jenen feinen Geissel-Zellen oder Zoospermien, welche in der schleimigen Masse des Samens sich umherbewegen. Sobald Sie aber jene zusammenhängende Stufenleiter der verschiedenen Fortpflanzungs-Arten vergleichen, bei welcher der kindliche Organismus als überschüssiges Wachsthums-Product des Eltern-Individuums sich immer mehr von ersterem absondert und immer frühzeitiger die selbstständige Laufbahn betritt; sobald Sie zugleich erwägen, dass auch das Wachsthum und die Ausbildung jedes höheren Organismus bloss auf der Vermehrung der ihn zusammensetzenden Zellen, auf der einfachen Fortpflanzung durch Theilung beruht, so wird es Ihnen klar, dass alle diese merkwürdigen Vorgänge in eine Reihe gehören.

Das Leben jedes organischen Individuums ist Nichts weiter, als eine zusammenhängende Kette von sehr verwickelten materiellen Bewegungs-Erscheinungen. Diese Bewegungen sind als Veränderungen in der Lage und Zusammensetzung der Molekeln zu denken, der kleinsten (aus Atomen in höchst mannichfaltiger Weise zusammengesetzten) Theilchen der belebten Materie. Die specifisch bestimmte Richtung dieser gleichartigen, anhaltenden, immanenten Lebensbewegung wird in jedem Organismus durch die chemische Mischung des eiweissartigen Zeugungsstoffes bedingt, welcher ihm den Ursprung gab. Bei dem Menschen, wie bei den höheren Thieren, welche geschlechtlich sich fortpflanzen, beginnt die individuelle Lebensbewegung in dem Momente, in welchem die Ei-Zelle von der Samen-Zelle befruchtet wird, in welchem beide Zeugungsstoffe sich thatsächlich vermischen; von da an wird nun die Richtung der Lebensbewegung durch die specifische, oder richtiger individuelle Beschaffenheit sowohl des Samens als des Eies bestimmt. Ueber die rein mechanische, materielle Natur dieses Vorganges kann kein Zweifel sein. Aber staunend und bewundernd müssen wir hier vor der unendlich verwickelten Molekular-Structur der eiweissartigen Materie still stehen. Staunen müssen wir über die unleugbare Thatsache, dass die einfache Ei-Zelle der Mutter, der einzige Samenfaden oder die flimmernde Sperma-Zelle des Vaters, so genau die molekulare individuelle Lebensbewegung im Plasma dieser beiden Individuen auf das Kind überträgt, dass nachher die feinsten körperlichen und geistigen Eigenthümlichkeiten der beiden Eltern an diesem wieder in die lebendige Erscheinung treten.

Hier stehen wir vor einer mechanischen Naturerscheinung, von welcher Virchow, der berühmte Begründer der »Cellular-Pathologie«, mit vollem Rechte sagt: »Wenn der Naturforscher dem Gebrauche der Geschichtsschreiber und Kanzelredner zu folgen liebte, ungeheure und in ihrer Art einzige Erscheinungen mit dem hohlen Gepränge schwerer und tönender Worte zu überziehen, so wäre hier der Ort dazu; denn wir sind an eines der grossen Mysterien der thierischen Natur getreten, welche die Stellung des Thieres gegenüber der ganzen übrigen Erscheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellen-Bildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbstständigkeit des Nervensystems und der Seele – das sind die grossen Aufgaben, an denen der Menschengeist seine Kraft misst. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Ei-Zelle zu erkennen, heisst fast so viel, als alle jene Mysterien lösen. Die Entstehung und Entwickelung der Ei-Zelle im mütterlichen Körper, die Uebertragung körperlicher und geistiger Eigenthümlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieselbe, berühren alle Fragen, welche der Menschengeist je über des Menschen Sein aufgeworfen hat.« Und, fügen wir hinzu, sie lösen diese höchsten Fragen mittelst der Descendenz-Theorie in rein mechanischem, rein monistischem Sinne!

Dass also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung des Menschen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein mechanischer Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zusammenhang des zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt ist, ebenso wie bei der einfachsten ungeschlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organismen, darüber kann kein Zweifel mehr sein. Doch will ich Sie bei dieser Gelegenheit sogleich auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam machen, welchen die Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Längst bekannt ist die Thatsache, dass die individuellen Eigenthümlichkeiten des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeschlechtliche als durch die geschlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Individuum übertragen werden. Die Gärtner machen von dieser Thatsache schon lange vielfach Gebrauch. Wenn z. B. von einer Baumart mit steifen, aufrecht stehenden Aesten zufällig ein einzelnes Individuum herabhängende Zweige bekömmt, so kann der Gärtner in der Regel diese Eigenthümlichkeit nicht durch geschlechtliche, sondern nur durch ungeschlechtliche Fortpflanzung vererben. Die von einem solchen Trauerbaum abgeschnittenen Zweige, als Stecklinge gepflanzt, bilden späterhin Bäume, welche ebenfalls hängende Aeste haben, wie z. B. die Trauerweiden, Trauerbuchen. Samenpflanzen dagegen, welche man aus den Samen eines solchen Trauerbaumes zieht, erhalten in der Regel wieder die ursprüngliche, steife und aufrechte Zweigform der Voreltern. In sehr auffallender Weise kann man dasselbe auch an den sogenannten »Blutbäumen« wahrnehmen, d. h. Spielarten von Bäumen, welche sich durch rothe oder rothbraune Farbe der Blätter auszeichnen. Abkömmlinge von solchen Blutbäumen (z. B. Blutbuchen), welche man durch ungeschlechtliche Fortpflanzung, durch Stecklinge erzeugt, zeigen die eigenthümliche Farbe und Beschaffenheit der Blätter, welche das elterliche Individuum auszeichnet, während andere, aus den Samen der Blutbäume gezogene Individuen in die grüne Blattfarbe zurückschlagen.

Dieser Unterschied in der Vererbung wird Ihnen sehr natürlich vorkommen, sobald Sie erwägen, dass der materielle Zusammenhang zwischen zeugenden und erzeugten Individuen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist und viel länger dauert, als bei der geschlechtlichen. Die individuelle Richtung der molekularen Lebensbewegung kann sich daher bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel länger und gründlicher in dem kindlichen Organismus befestigen und viel strenger vererben. Alle diese Erscheinungen im Zusammenhang betrachtet bezeugen klar, dass die Vererbung der körperlichen und geistigen Eigenschaften ein rein materieller, mechanischer Vorgang ist. Durch die Fortpflanzung wird eine grössere oder geringere Quantität eiweissartiger Stofftheilchen, und damit zugleich die diesen Plasma-Molekeln anhaftende individuelle Bewegungsform vom elterlichen Organismus auf den kindlichen übertragen. Indem diese Bewegungsform sich beständig erhält, müssen auch die feineren Eigenthümlichkeiten, die am elterlichen Organismus haften, früher oder später am kindlichen Organismus wieder erscheinen.

Die wichtigste Aufgabe der Vererbungs-Physiologie würde es nun sein, tiefer in die Erkenntniss dieser molekularen Bewegungs-Vorgänge einzudringen, und die damit verknüpften physikalisch-chemischen Vorgänge genauer, und womöglich experimentell, zu untersuchen. Indessen ist diese Aufgabe so ausserordentlich schwierig, dass nicht einmal eine von den bisher aufgestellten molekularen Vererbungs-Theorien genügend erscheint. Bevor wir auf diese eingehen, erscheint es zweckmässig, noch erst einen Blick auf die verschiedenen Aeuserungsweisen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht schon jetzt als »Vererbungs-Gesetze« aufstellen kann. Leider ist auch für diesen so ausserordentlich wichtigen Gegenstand sowohl in der Zoologie, als auch in der Botanik, bisher nur sehr Wenig geschehen, und namentlich die eigentlichen Physiologen haben sich darum fast gar nicht gekümmert. Fast Alles, was man von den verschiedenen Vererbungs-Gesetzen weiss, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gärtner. Daher ist es nicht zu verwundern, dass im Ganzen diese äusserst interessanten und wichtigen Erscheinungen nicht mit der wünschenswerthen wissenschaftlichen Schärfe untersucht und in die Form von physiologischen Gesetzen gebracht worden sind. Was ich Ihnen demnach im Folgenden von den verschiedenen Vererbungs-Gesetzen mittheilen werde, sind nur einige vorläufige Bruchstücke, herausgenommen aus dem unendlich reichen Schatze, welcher für die Erkenntniss hier offen liegt.

Wir können zunächst alle verschiedenen Erblichkeits-Erscheinungen in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Charaktere und Vererbung erworbener Charaktere unterscheiden; und wir können die erstere als die erhaltende (conservative) Vererbung, die zweite als die fortschreitende (progressive) Vererbung bezeichnen. Diese Unterscheidung beruht auf der äusserst wichtigen Thatsache, dass die Einzel-Wesen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht allein diejenigen Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererben können, welche sie selbst von ihren Vorfahren ererbt haben, sondern auch die individuellen Eigenschaften, die sie erst während ihres Lebens erworben haben. Diese letzteren werden durch die fortschreitende, die ersteren durch die erhaltende Erblichkeit übertragen. Zunächst haben wir nun hier die Erscheinungen der conservativen oder erhaltenden Vererbung zu untersuchen; d. h. der Vererbung solcher Eigenschaften, welche der betreffende Organismus von seinen Eltern oder Vorfahren schon erhalten hat.

Unter den Erscheinungen der conservativen Vererbung tritt uns zunächst als das allgemeinste Gesetz dasjenige entgegen, welches wir das Gesetz der ununterbrochenen oder continuirlichen Vererbung nennen können. Dasselbe hat unter den höheren Thieren und Pflanzen so allgemeine Gültigkeit, dass der Laie zunächst seine Wirksamkeit überschätzen und es für das einzige, allein maassgebende Vererbungs-Gesetz halten dürfte. Dieses Gesetz drückt einfach die Thatsache aus, dass bei den meisten Thier- und Pflanzen-Arten jede Generation im Ganzen der andern gleich ist, dass die Eltern ebenso den Gross-Eltern, wie den Kindern ähnlich sind. »Gleiches erzeugt Gleiches«, sagt man gewöhnlich, richtiger aber: »Aehnliches erzeugt Aehnliches«. Denn in der That sind die Nachkommen oder Descendenten eines jeden Organismus demselben niemals in allen Stücken absolut gleich, sondern immer nur in einem mehr oder weniger hohen Grade ähnlich. Dieses Gesetz ist so allgemein bekannt, dass ich keine Beispiele anzuführen brauche.

In einem gewissen Gegensatze zu demselben steht das Gesetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung, welche man auch als abwechselnde oder alternirende Vererbung bezeichnen könnte. Dieses wichtige Gesetz erscheint hauptsächlich in Wirksamkeit bei vielen niederen Thieren und Pflanzen, und äussert sich hier im Gegensatz zu dem ersteren darin, dass die Kinder den Eltern nicht gleich, sondern sehr unähnlich sind, und dass erst die dritte oder eine spätere Generation der ersten wieder ähnlich wird. Die Enkel sind den Gross-Eltern gleich, den Eltern aber ganz unähnlich. Diese merkwürdige Erscheinung tritt bekanntermaassen in geringerem Grade auch in den menschlichen Familien sehr häufig auf. Zweifelsohne wird Jeder von Ihnen einzelne Familienglieder kennen, welche in dieser oder jener Eigenthümlichkeit vielmehr dem Grossvater oder der Grossmutter, als dem Vater oder der Mutter gleichen. Bald sind es körperliche Eigenschaften, z. B. Gesichtszüge, Haarfarbe, Körpergrösse, bald geistige Eigenheiten, z. B. Temperament, Energie, Verstand, welche in dieser Art sprungweise vererbt werden. Ebenso wie beim Menschen können Sie diese Thatsache bei den Hausthieren beobachten. Bei den am meisten veränderlichen Hausthieren, heim Hund, Pferd, Rind, machen die Thierzüchter sehr häufig die Erfahrung, dass ihr Züchtungsproduct mehr dem grosselterlichen, als dem elterlichen Organismus ähnlich ist. Wollen Sie dies Gesetz allgemein ausdrücken und die Reihe der Generationen mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnen, so wird A = C = E, ferner B = D = F u. s. f.

Noch viel auffallender als bei höheren, tritt uns bei den niederen Thieren und Pflanzen diese merkwürdige Thatsache entgegen, und zwar in dem berühmten Phänomen des Generations-Wechsels (Metagenesis). Hier finden wir sehr häufig z. B. unter den Plattwürmern, Mantelthieren, Pflanzenthieren, ferner unter den Cryptogamen (Farnen und Mosen), dass das organische Individuum bei der Fortpflanzung zunächst eine Form erzeugt, die gänzlich von der Elternform verschieden ist, und dass erst die Nachkommen dieser Generation der ersteren wieder ähnlich werden. Dieser regelmässige Generations-Wechsel wurde 1819 von dem Dichter Chamisso auf seiner Welt-Umsegelung bei den Salpen entdeckt, cylindrischen und glasartig durchsichtigen Mantelthieren, welche an der Oberfläche des Meeres schwimmen. Hier erzeugt die grössere Generation, welche als Einsiedler lebt und ein hufeisenförmiges Auge besitzt, auf ungeschlechtlichem Wege (durch Knospen-Bildung) eine gänzlich verschiedene kleinere Generation. Die Individuen dieser zweiten kleineren Generation leben in Ketten vereinigt und besitzen ein kegelförmiges Auge. Jedes Individuum einer solchen Kette erzeugt auf geschlechtlichem Wege (als Zwitter) wiederum einen geschlechtslosen Einsiedler der ersten, grösseren Generation. Es sind also hier bei den Salpen immer die erste, dritte, fünfte Generation, und ebenso die zweite, vierte, sechste Generation einander ganz ähnlich. Nun ist es aber nicht immer bloss eine Generation, die so überschlagen wird, sondern in anderen Fällen auch mehrere, so dass also die erste Generation der vierten und siebenten u. s. w. gleicht, die zweite der fünften und achten, die dritte der sechsten und neunten, und so weiter fort. Drei in dieser Weise verschiedene Generationen wechseln z. B. bei den zierlichen Seetönnchen (Doliolum) mit einander ab, kleinen Mantelthieren, welche den Salpen nahe verwandt sind. Hier ist A = D = G, ferner B = E = H, und C = F = I. Bei den Blattläusen folgt auf jede geschlechtliche Generation eine Reihe von acht bis zehn bis zwölf ungeschlechtlichen Generationen, die unter sich ähnlich und von der geschlechtlichen verschieden sind. Dann tritt erst wieder eine geschlechtliche Generation auf, die der längst verschwundenen gleich ist.

Wenn Sie dieses merkwürdige Gesetz der latenten oder unterbrochenen Vererbung weiter verfolgen und alle dahin gehörigen Erscheinungen zusammenfassen, so können Sie auch die bekannten Erscheinungen des Rückschlags darunter begreifen. Unter Rückschlag oder Atavismus versteht man die allen Thier-Züchtern bekannte merkwürdige Thatsache, dass bisweilen einzelne Thiere eine Form annehmen, welche schon seit vielen Generationen nicht vorhanden war und einer längst entschwundenen Generation angehört. Eines der merkwürdigsten hierher gehörigen Beispiele ist die Thatsache, dass bei einzelnen Pferden bisweilen ganz charakteristische dunkle Streifen auftreten, ähnlich denen des Zebra, Quagga und anderer wilder Pferde-Arten Afrika's. Hauspferde von den verschiedensten Rassen und von allen Farben zeigen bisweilen solche dunkle Streifen, z. B. einen Längsstreifen des Rückens, Querstreifen der Schultern und der Beine u. s. w. Die plötzliche Erscheinung dieser Streifen lässt sich nur erklären als eine Wirkung der latenten Vererbung, als ein Rückschlag in die längst verschwundene uralte gemeinsame Stammform aller Pferde-Arten, welche zweifelsohne gleich den Zebras, Quaggas u. s. w. gestreift war. Ebenso erscheinen auch bei anderen Hausthieren oft plötzlich gewisse Eigenschaften wieder, welche ihre längst ausgestorbenen wilden Stamm-Eltern auszeichneten. Auch unter den Pflanzen kann man den Rückschlag sehr häufig beobachten. Sie kennen wohl alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf unseren Aeckern und Wegen sehr gemeine Pflanze. Die rachenförmige gelbe Blüthe derselben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. Bisweilen aber erscheint eine einzelne Blüthe (Peloria), welche trichterförmig und ganz regelmässig aus fünf einzelnen gleichen Abschnitten zusammengesetzt ist, mit fünf gleichartigen Staubfäden. Diese Peloria können wir nur erklären als einen Rückschlag in die längst entschwundene uralte gemeinsame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Löwenmaul eine rachenförmige zweilippige Blüthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfäden besitzen. Jene Stammform besass gleich der Peloria eine regelmässige fünftheilige Blüthe mit fünf gleichen, später erst allmählich ungleich werdenden Staubfäden. (Vergl. oben S. 14, 16.) Alle solche Rückschläge sind unter das Gesetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen, wenn gleich die Zahl der Generationen, die übersprungen wird, ganz ungeheuer gross sein kann.

Wenn Kulturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn sie den Bedingungen des Culturlebens entzogen werden, so gehen sie Veränderungen ein, welche nicht bloss als Anpassung an die neuerworbene Lebensweise erscheinen, sondern auch theilweise als Rückschlag in die uralte Stammform, aus welcher die Culturformen erzogen worden sind. So kann man die verschiedenen Sorten des Kohls, die ungemein in ihrer Form verschieden sind, durch absichtliche Verwilderung allmählich auf die ursprüngliche Stammform zurückführen. Ebenso schlagen die verwilderten Hunde, Pferde, Rinder u. s. w. oft mehr oder weniger in eine längst ausgestorbene Generation zurück. Es kann eine erstaunlich lange Reihe von Generationen verfliessen, ehe diese latente Vererbungskraft erlischt.

Als ein drittes Gesetz der erhaltenden oder conservativen Vererbung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen Vererbung bezeichnen, nach welchem jedes Geschlecht auf seine Nachkommen desselben Geschlechts Eigenthümlichkeiten überträgt, welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geschlechts vererbt. Die sogenannten »secundären Sexual-Charaktere«, welche in mehrfacher Beziehung von ausserordentlichem Interesse sind, liefern für dieses Gesetz überall zahlreiche Beispiele. Als untergeordnete oder secundäre Sexual-Charaktere bezeichnet man solche Eigenthümlichkeiten des einen der beiden Geschlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geschlechts-Organen selbst zusammenhängen. Solche Charaktere, welche bloss dem männlichen Geschlecht zukommen, sind z. B. das Geweih des Hirsches, die Mähne des Löwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehört auch der menschliche Bart, eine Zierde, welche gewöhnlich dem weiblichen Geschlecht versagt ist. Aehnliche Charaktere, welche bloss das weibliche Geschlecht auszeichnen, sind z. B. die entwickelten Brüste mit den Milchdrüsen der weiblichen Säugethiere, der Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Körpergrösse und Hautfärbung ist bei den weiblichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle diese secundären Geschlechts-Eigenschaften werden, ebenso wie die Geschlechts-Organe selbst, vom männlichen Organismus nur auf den männlichen vererbt, nicht auf den weiblichen und umgekehrt. Die entgegengesetzten Thatsachen sind Ausnahmen von der Regel.

Ein viertes hierher gehöriges Vererbungs-Gesetz steht in gewissem Sinne im Widerspruch mit dem letzterwähnten, und beschränkt dasselbe, nämlich das Gesetz der gemischten oder beiderseitigen (amphigonen) Vererbung. Dieses Gesetz sagt aus, dass ein jedes organische Individuum, welches auf geschlechtlichem Wege erzeugt wird, von beiden Eltern Eigenthümlichkeiten annimmt, sowohl vom Vater als von der Mutter. Diese Thatsache, dass von jedem der beiden Geschlechter persönliche Eigenschaften auf alle, sowohl männliche als weibliche Kinder übergehen, ist sehr wichtig. Goethe drückt sie von sich selbst in dem hübschen Verse aus:

»Vom Vater hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabuliren.«

Diese Erscheinung wird Ihnen allen so bekannt sein, dass ich hier darauf nicht näher einzugehen brauche. Durch den verschiedenen Antheil ihres Charakters, welchen Vater und Mutter auf ihre Kinder vererben, werden vorzüglich die individuellen Verschiedenheiten der Geschwister bedingt. Dabei finden wir bekanntlich sehr häufig eine kreuzweise Vererbung der beiden Geschlechter, so dass der Sohn mehr der Mutter gleicht, hingegen die Tochter dem Vater. Diese grössere Aehnlichkeit mit dem Elter des anderen Geschlechts zeigt sich oft auffallend nicht allein in der äusseren Körperform und besonders der Gesichtsbildung, sondern auch in den feineren Charakterzügen der Seele, mithin der molekularen Gehirn-Structur.

Eine ganz ausserordentliche Bedeutung hat neuerdings der amphigonen Vererbung Weismann zugeschrieben, indem er sie bei allen vielzelligen Organismen (Metazoën und Metaphyten) als die allgemeine Ursache der individuellen Variabilität betrachtet. Diese einseitige Auffassung hängt zusammen mit der eigenthümlichen Theorie von der Continuität des Keim-Plasma, welche dieser Naturforscher allzu sehr überschätzt; in Folge dessen leugnet er die Vererbung erworbener Eigenschaften überhaupt ganz (vergl. unten S. 192 u. f.).

Unter dieses Gesetz der gemischten oder amphigonen Vererbung gehört auch die sehr wichtige und interessante Erscheinung der Bastard-Zeugug (Hybridismus). Richtig gewürdigt, genügt sie allein schon vollständig, um das herrschende Dogma von der Constanz der Arten zu widerlegen. Pflanzen sowohl als Thiere, welche zwei ganz verschiedenen Species angehören, können sich mit einander geschlechtlich vermischen und eine Nachkommenschaft erzeugen, die in vielen Fällen sich selbst wieder fortpflanzen kann, und zwar entweder (häufiger) durch Vermischung mit einem der beiden Stamm-Eltern, oder aber (seltener) durch reine Inzucht, indem Bastard sich mit Bastard vermischt. Das letztere ist z. B. bei den Bastarden von Hasen und Kaninchen festgestellt (Lepus Darwinii, S. 131). Allbekannt sind die Bastarde zwischen Pferd und Esel, zwei ganz verschiedenen Arten einer Gattung (Equus). Diese Bastarde sind verschieden, je nachdem der Vater oder die Mutter zu der einen oder zu der anderen Art, zum Pferd oder zum Esel gehört. Das Maulthier (Mulus), welches von einer Pferdestute und einem Eselhengst erzeugt ist, hat ganz andere Eigenschaften als der Maulesel (Hinnus), der Bastard vom Pferdehengst und der Eselstute. In jedem Fall ist der Bastard (Hybrida), der aus der Kreuzung zweier verschiedener Arten erzeugte Organismus, eine Mischform, welche Eigenschaften von beiden Eltern angenommen hat; allein die Eigenschaften des Bastards sind ganz verschieden, je nach der Form der Kreuzung. So zeigen auch die Mulatten-Kinder, welche von einem Europäer mit einer Negerin erzeugt werden, eine andere Mischung der Charaktere, als diejenigen Bastarde, welche ein Neger mit einer Europäerin erzeugt. Bei diesen Erscheinungen der Bastard-Zeugung sind wir (wie bei den anderen vorher erwähnten Vererbungs-Gesetzen) jetzt noch nicht im Stande, die bewirkenden Ursachen im Einzelnen nachzuweisen. Aber kein Naturforscher zweifelt daran, dass die Ursachen hier überall rein mechanisch, in der Natur der organischen Materie selbst begründet sind. Wenn wir feinere Untersuchungs-Mittel als unsere groben Sinnes-Organe und deren ungenügende Hülfsmittel hätten, so würden wir jene Ursachen erkennen, und auf die chemischen und physikalischen Eigenschaften der plasmatischen Materie, auf ihre verwickelte Molekular-Structur zurückführen können.

Als ein fünftes Gesetz müssen wir nun unter den Erscheinungen der conservativen oder erhaltenden Vererbung noch das Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung anführen. Dieses Gesetz ist sehr wichtig für die Keimes-Geschichte oder Ontogenie, d. h. für die Entwickelungs-Geschichte der organischen Individuen. Wie ich bereits im ersten Vortrage (S. 10) erwähnte und später noch ausführlich zu erläutern habe, ist die Ontogenie oder die Entwickelungs-Geschichte der Individuen weiter nichts als eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Phylogenie, d. h. der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte des ganzen organischen Stammes oder Phylum, zu welchem der betreffende Organismus gehört. Wenn Sie z. B. die individuelle Entwickelung des Menschen, des Affen, oder irgend eines anderen höheren Säugethieres innerhalb des Mutterleibes vom Ei an verfolgen, so finden Sie, dass der aus dem Ei entstehende Keim oder Embryo eine Reihe von sehr verschiedenen Formen durchläuft, welche im Ganzen übereinstimmt oder wenigstens parallel ist mit der Formenreihe, welche die historische Vorfahrenkette der höheren Säugethiere uns darbietet. Zu diesen Vorfahren gehören gewisse Fische, Amphibien, Beutelthiere u. s. w. Allein der Parallelismus oder die Uebereinstimmung dieser beiden Entwickelungsreihen ist niemals ganz vollständig. Vielmehr sind in der Ontogenie immer Lücken und Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie entsprechen. Wie Fritz Müller in seiner ausgezeichneten Schrift »Für Darwin« 16) an dem Beispiel der Crustaceen oder Krebse vortrefflich erläutert hat, »wird die in der individuellen Entwickelungs-Geschichte erhaltene geschichtliche Urkunde allmählich verwischt, indem die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einschlägt«. Diese Verwischung oder Abkürzung wird durch das Gesetz der abgekürzten Vererbung bedingt; es ist von grosser Bedeutung für das Verständniss der Embryologie und erklärt die wichtige Thatsache, dass nicht alle Entwickelungs-Formen, welche unsere Stamm-Eltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unserer eigenen individuellen Entwickelung noch sichtbar sind.

Den bisher erörterten Gesetzen der erhaltenden oder conservativen Vererbung stehen gegenüber die Vererbungs-Erscheinungen der zweiten Reihe, die Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, dass der Organismus nicht allein diejenigen Eigenschaften auf seine Nachkommen überträgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, sondern auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlichkeiten, welche er selbst erst während seines Lebens erworben hat. Die Anpassung verbindet sich hier bereits mit der Vererbung und wirkt mit ihr zusammen.

Die grundlegende Bedeutung, welche die Vererbung erworbener Eigenschaften für die Abstammungs-Lehre besitzt, ist bereits im Anfange unseres Jahrhunderts von Lamarck und von Darwin's Grossvater Erasmus klar erkannt worden. Sowohl die neuen Eigenschaften, welche im Organismus durch den Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen, als diejenigen, welche durch seine eigenen Lebens-Thätigkeiten (Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe) entstehen, können durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden, und somit die ursprüngliche Gestaltung mehr oder weniger verändern. Einige neuere Autoren haben freilich das Gewicht dieser bedeutungsvollen Erscheinung sehr gering angeschlagen, und schliesslich hat sogar August Weismann sie ganz geleugnet. Er behauptet, dass »bis jetzt noch keine Tatsache vorliegt, welche wirklich bewiese, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden können«, und dass »nur solche Charaktere auf die folgende Generation übertragen werden können, welche der Anlage nach schon im Keim enthalten waren«. Weismann verlangt neue und überzeugende Beweise für die Vererbung von Anpassungen, und vergisst dabei, dass derartige Beweise seiner eigenen, entgegengesetzten Hypothese vollständig fehlen, ja in dem gewünschten Sinne wohl überhaupt nicht zu liefern sind.

Nach meiner eigenen Ueberzeugung, wie nach derjenigen vieler anderen Transformisten, besitzt hingegen die directe Vererbung von neuen Anpassungen, im Sinne von Lamarck, die grösste Bedeutung, und Tausende von Beweisen dafür liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie, Physiologie und Pathologie.

Für Tausende von speciellen Einrichtungen bleibt ohne jene Annahme die Entstehung rein unbegreiflich; so z. B. für die functionelle und mimetische Anpassung, für die Instincte (erbliche psychische Gewohnheiten) u. s. w. Bezüglich der Vererbung von pathologischen Veränderungen sind namentlich die Gründe, welche Virchow gegen Weismann geltend macht, beachtenswerth.

Unter den wichtigen Erscheinungen der fortschreitenden oder progressiven Vererbung können wir an die Spitze als das allgemeinste das Gesetz der angepassten oder erworbenen Vererbung stellen. Dasselbe besagt eigentlich weiter Nichts, als was ich eben schon aussprach, dass unter bestimmten Umständen der Organismus fähig ist, Eigenschaften auf seine Nachkommen zu vererben, welche er selbst erst während seines Lebens durch Anpassung erworben hat. Am deutlichsten zeigt sich diese Erscheinung natürlich dann, wenn die neu erworbene Eigenthümlichkeit die ererbte Form bedeutend abändert. Das war in den Beispielen der Fall, welche ich Ihnen in dem vorigen Vortrage von der Vererbung überhaupt angeführt habe, bei den Menschen mit sechs Fingern und Zehen, den Stachelschwein-Menschen, den Blutbuchen, Trauerweiden u. s. w. Auch die Vererbung erworbener Krankheiten, z. B. der Schwindsucht, des Wahnsinns, beweist dies Gesetz sehr auffällig, ebenso die Vererbung des Albinismus. Albinos oder Kakerlaken nennt man solche Individuen, welche sich durch Mangel der Farbstoffe oder Pigmente in der Haut auszeichnen. Solche kommen bei Menschen, Thieren und Pflanzen sehr verbreitet vor. Bei Thieren, welche eine bestimmte dunkle Farbe haben, werden nicht selten einzelne Individuen geboren, welche der Farbe gänzlich entbehren, und bei den mit Augen versehenen Thieren ist dieser Pigmentmangel auch auf die Augen ausgedehnt, so dass die gewöhnlich lebhaft oder dunkel gefärbte Regenbogenhaut, die Iris des Auges farblos ist, aber wegen der durchschimmernden Blutgefässe roth erscheint. Bei manchen Thieren, z. B. den Kaninchen, Mäusen, sind solche Albinos mit weissem Fell und rothen Augen so beliebt, dass man sie in grosser Menge als besondere Rasse fortpflanzt. Dies wäre nicht möglich ohne das Gesetz der angepassten Vererbung.

Welche von einem Organismus erworbenen Abänderungen sich auf seine Nachkommen übertragen werden, welche nicht, ist von vornherein nicht zu bestimmen, und wir kennen leider die bestimmten Bedingungen nicht, unter denen die Vererbung erfolgt. Wir wissen nur im Allgemeinen, dass gewisse erworbene Eigenschaften sich viel leichter vererben als andere, z. B. als die durch Verwundung entstehenden Verstümmelungen. Diese letzteren werden in der Regel nicht erblich übertragen; sonst müssten die Descendenten von Menschen, die ihre Arme oder Beine verloren haben, auch mit dem Mangel des entsprechenden Armes oder Beines geboren werden. Ausnahmen sind aber auch hier vorhanden, und man hat z. B. eine schwanzlose Hunderasse dadurch gezogen, dass man mehrere Generationen hindurch beiden Geschlechtern des Hundes consequent den Schwanz abschnitt. Vor einigen Jahren kam hier in der Nähe von Jena auf einem Gute der Fall vor, dass beim unvorsichtigen Zuschlagen des Stallthores einem Zuchtstier der Schwanz an der Wurzel abgequetscht wurde, und die von diesem Stiere erzeugten Kälber wurden sämmtlich schwanzlos geboren. Neuerdings sind bestätigende Beobachtungen über dieselbe Erscheinung bei Hunden, Katzen und Mäusen von fünf verschiedenen Beobachtern mitgetheilt worden. Allerdings scheinen dies seltene Ausnahmen zu sein. Es ist aber sehr wichtig, die Thatsache festzustellen, dass unter gewissen uns unbekannten Bedingungen auch gewaltsame Veränderungen bisweilen erblich übertragen werden, in gleicher Weise wie viele Krankheiten.

In sehr vielen Fällen ist die Abänderung, welche durch angepasste Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, so bei dem vorher erwähnten Albinismus. Dann beruht die Abänderung auf derjenigen Form der Anpassung, welche wir die indirecte oder potentielle nennen. Ein sehr auffallendes Beispiel dafür liefert das hornlose Rindvieh von Paraguay in Südamerika. Daselbst wird eine besondere Rindviehrasse gezogen, die ganz der Hörner entbehrt. Sie stammt von einem einzigen Stiere ab, welcher im Jahre 1770 von einem gewöhnlichen gehörnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem der Mangel der Hörner durch irgend welche unbekannte Ursache veranlasst worden war.

Alle Nachkommen dieses Stieres, welche er mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollständig. Man fand diese Eigenschaft vortheilhaft, und indem man die ungehörnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornlose Rindviehrasse, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in Paraguay fast verdrängt hat. Ein ähnliches Beispiel liefern die nordamerikanischen Otterschafe. Im Jahre 1791 lebte in Massachusetts in Nordamerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. In seiner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren, welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme Beine hatte. Es konnte daher keine grosse Sprünge machen und namentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten springen, eine Eigenschaft, welche dem Besitzer wegen der Abgrenzung des dortigen Gebietes durch Hecken sehr vortheilhaft erschien. Er kam also auf den Gedanken, diese Eigenschaft auf die Nachkommen zu übertragen, und in der That erzeugte er durch Kreuzung dieses Schafbocks mit wohlgebildeten Mutter-Schafen eine ganze Rasse von Schafen, die alle die Eigenschaften des Vaters hatten, kurze und gekrümmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle nicht über die Hecken springen und wurden deshalb in Massachusetts damals sehr beliebt und verbreitet.

Ein zweites Gesetz, welches ebenfalls unter die Reihe der progressiven oder fortschreitenden Vererbung gehört, können wir das Gesetz der befestigten oder constituirten Vererbung nennen. Dennoch werden Eigenschaften, die von einem Organismus während seines individuellen Lebens erworben wurden, um so sicherer auf seine Nachkommen erblich übertragen, je längere Zeit hindurch die Ursachen jener Abänderung einwirkten; und diese Abänderung wird um so sicherer Eigenthum auch aller folgenden Generationen, je längere Zeit hindurch auch auf diese die abändernde Ursache einwirkt. Die durch Anpassung oder Abänderung neu erworbene Eigenschaft muss in der Regel erst bis zu einem gewissen Grade befestigt oder constituirt sein, ehe mit Wahrscheinlichkeit darauf zu rechnen ist, dass sich dieselbe auch auf die Nachkommenschaft erblich überträgt. In dieser Beziehung verhält sich die Vererbung ähnlich wie die Anpassung. Je längere Zeit hindurch eine neu erworbene Eigenschaft bereits durch Vererbung übertragen ist, desto sicherer wird sie auch in den kommenden Generationen sich erhalten. Wenn also z. B. ein Gärtner durch methodische Behandlung eine neue Aepfelsorte gezüchtet hat, so kann er um so sicherer darauf rechnen, die erwünschte Eigenthümlichkeit dieser Sorte zu erhalten, je länger er dieselbe bereits vererbt hat. Dasselbe zeigt sich deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je länger bereits in einer Familie Schwindsucht oder Wahnsinn erblich ist, desto tiefer gewurzelt ist das Uebel, desto wahrscheinlicher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden.

Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeits-Erscheinungen schliessen mit den beiden ungemein wichtigen Gesetzen der gleichörtlichen und der gleichzeitlichen Vererbung. Wir verstehen darunter die Thatsache, dass Veränderungen, welche von einem Organismus während seines Lebens erworben und erblich auf seine Nachkommen übertragen wurden, bei diesen an derselben Stelle des Körpers hervortreten, an welcher der elterliche Organismus zuerst von ihnen betroffen wurde, und dass sie bei den Nachkommen auch im gleichen Lebensalter erscheinen, wie bei dem ersteren.

Das Gesetz der gleichzeitlichen oder homochronen Vererbung, welches Darwin das Gesetz der »Vererbung in correspondirendem Lebensalter« nennt, lässt sich wiederum sehr deutlich an der Vererbung von Krankheiten nachweisen, zumal von solchen, die wegen ihrer Erblichkeit sehr verderblich werden. Diese treten im kindlichen Organismus in der Regel zu einer Zeit auf, welche derjenigen entspricht, in welcher der elterliche Organismus die Krankheit erwarb. Erbliche Erkrankungen der Lunge, der Leber, der Zähne, des Gehirns, der Haut u. s. w. erscheinen bei den Nachkommen gewöhnlich in der gleichen Zeit oder nur wenig früher, als sie beim elterlichen Organismus eintraten oder von diesem überhaupt erworben wurden. Das Kalb bekommt seine Hörner in demselben Lebensalter wie seine Eltern. Ebenso erhält das junge Hirschkalb sein Geweih in derselben Lebenszeit, in welcher es bei seinem Vater und Grossvater hervorgesprosst war. Bei jeder der verschiedenen Weinsorten reifen die Trauben zur selben Zeit, wie bei ihren Voreltern. Bekanntlich ist diese Reifzeit bei den verschiedenen Sorten sehr verschieden; da aber alle von einer einzigen Art abstammen, ist diese Verschiedenheit von den Stamm-Eltern der einzelnen Sorten erst erworben worden und hat sich dann erblich fortgepflanzt. Das Gesetz der gleichörtlichen oder homotopen Vererbung endlich, welches mit dem letzterwähnten Gesetze im engsten Zusammenhang steht, und welches man auch »das Gesetz der Vererbung an correspondirender Körperstelle« nennen könnte, lässt sich wiederum in pathologischen Erblichkeitsfällen sehr deutlich erkennen. Grosse Muttermale z. B. oder Pigment-Anhäufungen an einzelnen Hautstellen, ebenso Geschwülste der Haut, erscheinen oft Generationen hindurch nicht allein in demselben Lebensalter, sondern auch an derselben Stelle der Haut. Ebenso ist übermässige Fettentwickelung an einzelnen Körperstellen erblich. Eigentlich aber sind für dieses Gesetz, wie für das vorige, zahllose Beispiele überall in der Embryologie zu finden. Sowohl das Gesetz der gleichzeitlichen als das Gesetz der gleichörtlichen Vererbung sind Grund-Gesetze der Embryologie oder Ontogenie. Denn wir erklären uns durch diese Gesetze die merkwürdige Thatsache, dass die verschiedenen auf einander folgenden Formzustände während der individuellen Entwickelung in allen Generationen einer und derselben Art stets in derselben Reihenfolge auftreten, und dass die Umbildungen des Körpers immer an denselben Stellen erfolgen. Diese scheinbar einfache und selbstverständliche Erscheinung ist doch überaus wunderbar und merkwürdig; wir können die näheren Ursachen derselben nicht erklären, aber mit Sicherheit behaupten, dass sie auf der unmittelbaren Uebertragung der organischen Materie vom elterlichen auf den kindlichen Organismus beruhen, wie wir es im Vorigen für den Vererbungs-Process im Allgemeinen aus den Thatsachen der Fortpflanzung nachgewiesen haben. Die verschiedenen Gesetze der erhaltenden und der fortschreitenden Vererbung, welche ich zuerst im XIX. Capitel meiner »Generellen Morphologie« aufgestellt, und vorstehend kurz erörtert habe, wirken in der mannichfaltigsten Weise mit einander und durch einander, und daraus ergiebt sich ihre ausserordentliche Bedeutung für den Transformismus, zugleich aber auch die grosse Schwierigkeit, theoretisch tiefer in das Wesen dieser physiologischen Vorgänge einzudringen. Zwar sind seit Darwin mehrfach verschiedene Versuche gemacht worden, zu ihrer Erklärung molekulare Hypothesen aufzustellen; aber keine dieser sogenannten »Vererbungs-Theorien« hat das darüber liegende Dunkel befriedigend aufgehellt und sich allgemeine Anerkennung erworben.

Wenn wir schliesslich noch einen Blick auf diese, neuerdings viel besprochenen Vererbungs-Theorien werfen, so müssen wir vor Allem im Sinne behalten, dass dieselben sämmtlich nur den Werth von provisorischen Molekular-Hypothesen besitzen; sie lassen sich weder morphologisch durch mikroskopische oder anatomische Beobachtung begründen, noch physiologisch durch physikalische und chemische Versuche. Das Plasma oder die eiweissartige Materie der Zellen, welche allein die Vererbung vermittelt (– sowohl das Karyoplasma des Zell-Kerns, als das Protoplasma des Zell-Leibes –) besitzt jedenfalls eine äusserst verwickelte feinere Molekular-Structur; d. h. die kleineren und kleinsten Theilchen, welche das Plasma zusammensetzen, sind nach höchst complicirten Gesetzen gruppenweise geordnet. Aber leider sind unsere mikroskopischen Hülfsmittel viel zu schwach, um uns in diese Anordnung irgend einen Einblick zu gestatten; und ebenso wenig ist bisher die Physik und Chemie im Stande gewesen, eine befriedigende physiologische Vorstellung von der molekularen Zusammensetzung und Umbildung des Plasma zu gewinnen. Alle Ansichten, welche darüber aufgestellt und in den folgenden Vererbungs-Theorien erörtert sind, beruhen auf reiner Muthmaassung und sind – strenggenommen – metaphysische Speculationen. Wir betrachten sie nach der Reihenfolge ihres Erscheinens, die Pangenesis-Theorie (Darwin, 1868), die Perigenesis-Theorie (Haeckel, 1876), die Idioplasma-Theorie (Naegeli, 1884), die Keimplasma-Theorie (Weismann, 1885), die Theorie der intracellularen Pangenesis (Vries, 1889).

I. Die Pangenesis-Theorie, wurde 1868 von Darwin in seinem inhaltreichen Werke über »das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication« aufgestellt und 1875 in der zweiten Auflage desselben (im 27. Capitel) weiter ausgeführt. Darwin nimmt an, dass alle Zellen des Organismus (als Lebens-Einheiten) sich nicht allein durch Theilung vermehren und differenziren, sondern auch kleinste Körnchen abgeben, welche sich in allen Theilen des Körpers zerstreuen; diese unermesslich kleinen Körnchen nennt er Keimchen oder Gemmulae; sie sammeln sich in den Geschlechts-Elementen und setzen in der nächsten Generation das neue Wesen zusammen; aber sie können auch in schlummerndem Zustande an künftige Generationen überliefert und dann erst entwickelt werden. Auch kann jede Zelle während ihrer ganzen Entwickelungs-Dauer Körnchen abgeben; und diese Körnchen besitzen in schlummerndem Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft, welche zu ihrer Anhäufung in den Geschlechts-Elementen führt.

Diese »provisorische Hypothese« der Pangenesis, wie sie Darwin selbst vorsichtig bezeichnet, scheint mir unter den zahlreichen weittragenden Theorien des grossen Meisters die schwächste und haltloseste zu sein. Ich habe sie von Anfang an für verfehlt gehalten, und in der sogleich zu erwähnenden Schrift über Perigenesis (S. 32-72) ausführlich die Gründe entwickelt, welche mir ihre Annahme unmöglich machen. Sie scheint mir unvereinbar mit den fundamentalsten Thatsachen der Histologie und Ontogenie; sowohl der Aufbau der Gewebe aus den Zellen, als die Entstehung der differenzirten Zellen aus den Keimblättern, und deren Entwickelung aus der befruchteten Eizelle, scheinen mir in unlösbarem Widerspruch mit der Pangenesis-Hypothese zu stehen; consequent ausgeführt, leitet dieselbe zu der Praeformations-Theorie von Haller u. A. Dasselbe gilt auch von der Modification, welche W. K. Brooks derselben 1883 in seinem Werke über das Vererbungs-Gesetz gegeben hat. Seine Pangenesis unterscheidet sich von derjenigen Darwin's wesentlich nur durch eine Annahme; die Zellen sollen die Keimchen oder Gemmulae nicht beständig abwerfen, sondern nur dann, wenn sie unter neue ungewohnte Bedingungen gerathen. Auch soll die männliche Samen-Zelle viel mehr mit Gemmulae angefüllt sein, als die weibliche Ei-Zelle; daher soll jene mehr das progressive, diese das conservative Element bei der Fortpflanzung und Vererbung darstellen.

II. Die Perigenesis-Theorie wurde von mir 1876 in einer Abhandlung »über die Wellenzeugung der Lebenstheilchen, oder die Perigenesis der Plastidule« begründet und als ein »provisorischer Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungs-Vorgänge« und besonders der Vererbung bezeichnet (im II. Hefte meiner »Gesammelten populären Vorträge, Bonn, 1879, p. 25-80). Die Perigenesis-Hypothese sucht das Wesen der Vererbung durch ein einfaches mechanisches Princip zu erklären, nämlich durch das bekannte Princip der übertragenen Bewegung. Ich nehme an, dass bei jedem Fortpflanzungs-Vorgang nicht allein die besondere chemische Zusammensetzung des Plasson oder Plasma vom Zeugenden auf das Erzeugte übertragen wird, sondern auch die besondere Form der Molekular-Bewegung, welche mit seiner physikalisch-chemischen Natur verknüpft ist. In Uebereinstimmung mit den Grundsätzen der heutigen Histologie und Histogenie nehme ich an, dass nur jenes Plasma (entweder das Karyoplasma des Zell-Kerns, oder das Cytoplasma des Zell-Leibes) der ursprüngliche Träger aller activen Lebens-Thätigkeit, also auch der Vererbung und Fortpflanzung ist. Dieses Plasma oder Plasson ist bei allen Plastiden (sowohl den kernlosen Cytoden als der echten kernhaltigen Zellen) aus Plastidulen oder Plasma-Molekülen zusammengesetzt; und diese sind »wahrscheinlich stets von Wasserhüllen umgeben; die grössere oder geringere Dicke dieser Wasserhüllen, welche zugleich die benachbarten Plastidule scheiden und verbinden, bedingt den weicheren oder festeren Zustand des gequollenen Plasson« (a. a. O. S. 48). »Die Vererbung ist Uebertragung der Plastidul-Bewegung, die Anpassung hingegen Abänderung derselben« (S. 55). Man kann sich diese Bewegung im Grossen und Ganzen unter dem Bilde einer verzweigten Wellen-Bewegung vorstellen. Bei allen Protisten oder einzelligen Organismen (Protophyten und Protozoen) verläuft diese periodische Massen-Bewegung in verhältnissmässig einfacher Form, während sie sich bei allen Histonen oder vielzelligen Lebe-Wesen (Metaphyten und Metazoen) mit einer Wechselzeugung der Plastiden und einer Arbeits-Theilung der Plastidule verbindet; diese hatte ich schon 1866 im 17. Capitel der generellen Morphologie als Generationsfolge oder Strophogenesis erläutert (Bd. II, S. 104).

Die monistische Philosophie wird die Perigenesis-Hypothese um so eher als Grundlage einer mechanischen Vererbungs-Theorie annehmen dürfen, als ich zugleich die Plastidule als beseelte Moleküle (ähnlich den »Monaden« von Leibnitz) betrachte und annehme, dass die Bewegungen derselben (Anziehung und Abstossung) ebenso mit Empfindungen (Lust und Unlust) verknüpft sind, wie die Bewegungen der Atome, aus welchen sie zusammengesetzt sind. Ohne die Annahme einer derartigen niederen (unbewussten) Empfindung und Willens-Bewegung in aller Materie bleiben mir die einfachsten chemischen und physikalischen Processe unverständlich; beruht doch auf ihrer Annahme die ganze Vorstellung von der Wahl-Verwandtschaft, oder der chemischen Affinität (a. a. O. S. 49). Die Plastidule unterscheiden sich aber von allen anderen Molekülen durch die Fähigkeit der Reproduction oder des Gedächtnisses. Wie schon 1870 der Physiologe Ewald Hering in seiner ausgezeichneten Abhandlung »über das Gedächtniss, als eine allgemeine Function der organisirten Materie« gezeigt hat, bleiben uns ohne die Annahme eines solchen (unbewussten) Gedächtnisses die wichtigsten Lebens-Erscheinungen, und vor allen diejenigen der Fortpflanzung und Vererbung, ganz unerklärlich (S. 51). Mit Bezug darauf kann man auch »die Erblichkeit als das Gedächtniss der Plastidule und die Variabilität als die Fassungskraft der Plastidule« bezeichnen (S. 72).

III. Die Idioplasma-Theorie ist 1884 von Carl Naegeli, in seinem umfangreichen Werke: Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs-Lehre aufgestellt worden. Dieser ausgezeichnete Botaniker betrachtet als wesentlichen Factor der Vererbung und als Träger der erblichen Anlagen das Idioplasma, d. h. nur jenen Theil des Plasma oder Plasson, welcher als Keim alle erblichen Anlagen überträgt, im Gegensatze zum blossen Ernährungs-Plasma. Die kleinsten Theile desselben, welche durch ihre eigenthümliche Zusammenordnung die Beschaffenheit des Idioplasma bestimmen, nennt Naegeli Micellen; sie entsprechen im Wesentlichen meinen Plastidulen und werden als umgeben von Wasserhüllen gedacht. Die specifische Natur des Idioplasma, welches meinem Plasson analog ist, soll nun »in der Configuration des Querschnitts von Strängen paralleler Micell-Reihen bestehen«. Die Idioplasma-Stränge sind durch den ganzen Organismus in Gestalt eines grossen zusammenhängenden (unsichtbaren) Netzwerkes ausgespannt. Dieses verändert sich von Generation zu Generation aus inneren Ursachen, während es dem Einflusse der äusseren Existenz-Bedingungen gar nicht oder nur in sehr geringem Mause unterworfen. ist. Daher haben auch äussere Ursachen (insbesondere Veränderungen des Klimas, der Nahrung, der Umgebung u. s. w.) keinen oder nur sehr unbedeutenden Einfluss auf die Umbildung der Arten. Vielmehr wird diese durch ein inneres eigenthümliches Vervollkommnungs-Princip geleitet. Dieses bewirkt die Umformung der kleineren oder grösseren Formen-Gruppen in einer bestimmten fortschreitenden Richtung, dabei übt die Selection nur eine ganz geringe oder gar keine Wirkung aus.

Wie man sieht, führt Naegeli zur Erklärung der Vererbung und der organischen Entwickelung ein rein teleologisches Princip in die Biologie wieder ein. Sein »inneres Vervollkommnungs-Princip«, das die ganze Entwickelung bedingt, ist nichts Anderes als die alte Lebenskraft in neuer Form, ein y statt eines x; und diese unbekannte Grösse wird uns dadurch nicht begreiflicher, dass sie Naegeli als eine immanente Eigenschaft seines Idioplasma hinstellt. Schwer begreiflich ist, wie ein so scharfsinniger Naturforscher (– der sich selbst für einen streng exacten Physiologen hält –) sich über das wahre Wesen seiner naturphilosophischen Molekular-Hypothese so vollkommen täuschen konnte. Er verwirft sowohl die Pangenesis Darwin's als meine Perigenesis vollständig, und erklärt sie für »Producte der Naturphilosophie, und als solche so gut wie jedes andere aus der gleichen Quelle erflossene Product.« Er merkt dabei nicht, dass von seiner eigenen Hypothese ganz dasselbe gilt, und dass man von ihm mit denselben Worten sagen könnte: »Ihr Fehler ist wie bei jeder naturphilosophischen Lehre der, dass sie ihre Ahnungen als Thatsachen ausgiebt, und für dieselben unpassende naturwissenschaftliche Bezeichnungen braucht, und in unberechtigter Weise naturwissenschaftliche Bedeutung in Anspruch nimmt« (a. a. O. S. 81). Ganz dasselbe gilt auch von dem metaphysischen letzten Abschnitt seines Werkes: »Kräfte und Gestaltungen im molekularen Gebiet«, und insbesondere von seiner Hypothese der Isagitaet (S. 807). Kein exacter Physiker erkennt in denselben etwas Anderes als phantasiereiche metaphysische Speculationen. Abgesehen von seiner ganz unbewiesenen Vererbungs-Theorie und vielen davon ausgehenden Irrthümern, enthält übrigens Naegeli's Werk eine Anzahl von sehr werthvollen Beiträgen zur Theorie der Abstammungs-Lehre, leider nur nicht ihre »mechanisch-physiologische Begründung«. Vortrefflich sind insbesondere die Capitel über Phylogenetische Entwickelungs-Geschichte und Generationswechsel (VII, VIII), über Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften (IX), und Urzeugung (II). Viele darin enthaltenen Ausführungen decken sich mit denjenigen, welche ich zuerst 1866 in meiner generellen Morphologie entwickelt hatte.

IV. Die Keimplasma-Theorie wurde 1885 von August Weismann begründet, in einer Abhandlung über »die Continuität des Keimplasma's als Grundlage einer Theorie der Vererbung.« Diese Theorie stimmt mit den beiden vorhergehenden in der Annahme überein, dass die unmittelbare Ursache der individuellen Entwickelung und die materielle Grundlage der Vererbung in den Molekülen der plasmatischen Keimsubstanz zu suchen ist, entweder im Kerne oder im Protoplasma der Fortpflanzungszellen. Während aber meine Perigenesis-Hypothese das mechanische Princip der übertragenen Bewegung auf die Plasma-Moleküle oder Plastidule anwendet und deren Richtung durch Anpassung abändern lässt; während ferner Naegeli eine innere unbekannte Vervollkommnungs-Tendenz, als rein teleologisches Princip, in seine Idioplasma-Moleküle oder Micellen hineinlegt und diese sich zu netzförmigen Strängen verbinden lässt, erblickt Weismann die eigentliche Ursache der Vererbung in der Continuität des Keimplasma, und diejenige der Abänderung in der Mischung der beiden verschiedenen Keim-Plasmen bei der geschlechtlichen Zeugung. Er nimmt an, dass im Organismus zwei vollkommen getrennte Plasma-Arten neben einander existiren, das Keimplasma als Zeugungsstoff, und das somatische Plasma als die Substanz, aus der sich alle Gewebe des Körpers entwickeln (– schon früher von Rauber als Germinal-Theil und Personal-Theil des Individuums unterschieden –). Weismann behauptet ferner, dass bei jeder Fortpflanzung ein Theil des elterlichen Keimplasma nicht zum Aufbau des kindlichen Organismus verwendet wird, sondern unverändert zurückbleibt und für die Bildung der Keimzellen der folgenden Generation verbraucht wird. Auf dieser ununterbrochenen Continuität des Keimplasma, durch die ganze Reihe der Generationen, beruht die Vererbung; hingegen die Anpassung oder Variation auf der individuellen Verschiedenheit der beiden Keimplasma-Arten (des weiblichen Eiplasma und männlichen Spermplasma) welche beim sexuellen Zeugungs-Process vermischt werden. Als eine wichtige Consequenz seiner Theorie betrachtet Weismann die Annahme, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden können. Er verwirft also das wesentlichste Princip der älteren Lamarck'schen Descendenz-Theorie, während er dem Darwin'schen Selections-Princip die weiteste Wirksamkeit zugesteht.

Die vielen morphologischen und physiologischen Gründe, welche gegen die Keimplasma-Lehre von Weismann sprechen, sind bereits von Virchow, Kölliker, Detmer, Eimer, Herbert Spencer u. A. ausführlich dargelegt worden. Indem ich mich ihnen anschliesse, möchte ich noch besonders hervorheben, dass die permanente Trennung der beiden Plasma-Arten in den Keim-Zellen nicht nur nicht durch mikroskopische Untersuchung bewiesen wird, sondern durch die Thatsachen der Eifurchung und Gastrulation höchst unwahrscheinlich gemacht wird. Ausserdem wird dadurch Weismann genöthigt, innere unbekannte Ursachen für die Entwickelung seines Keim-Plasma anzunehmen, welche ebenso metaphysisch und teleologisch sind wie das innere Vervollkommnungs-Princip im Idioplasma von Naegeli; nur der Name der unbekannten Ursache ist verschieden. Indem schliesslich Weismann nur die Erblichkeit der indirecten oder potentiellen Variation anerkennt, die Vererbung der directen oder actuellen Anpassung hingegen ganz verwirft, verzichtet er nach meine Ueberzeugung auf eine mechanische Erklärung der wichtigsten Transformations-Erscheinungen.

V. Die Theorie der intracellularen Pangenesis (1889) ist kürzlich von dem Botaniker Hugo de Vries erörtert worden, in unmittelbarem Anschluss an Darwin's Hypothese (S. 199), aber mit dem wesentlichen Unterschiede, dass der von ihm angenommene Keimchen-Transport durch den Körper wegfällt. Vries nimmt einen solchen Transport nur innerhalb jeder einzelnen Zelle an; er giebt eine genauere Definition den Keimchen oder Gemmulae (welche er Pangene nennt) und nimmt an, dass jede einzelne erbliche Anlage an einen solchen stofflichen Träger, an ein unsichtbares Pangen, gebunden ist. Das ganze lebendige Protoplasma ist nur aus Pangenen zusammengesetzt und im Zellen-Kerne sind alle Arten von Pangenen des betreffenden Individuums vertreten.

Die lesenswerthe Abhandlung von Vries ist vortrefflich geschrieben und enthält viele lehrreiche Gedanken über Vererbung. Allein eine wirkliche Erklärung derselben, oder auch nur eine fassbare Vorstellung ihres Molekular-Processes, giebt sie ebensowenig, als eine der vier vorhergehenden Hypothesen. Die »einzelnen erblichen Anlagen« führen wieder zur Praeformations-Theorie zurück. Auch bietet der Bau und die Entwickelung der thierischen Gewebe ihrer Annahme unüberwindliche Schwierigkeiten, welche dem Botaniker Vries bei Betrachtung der viel einfacheren und relativ selbstständigen Pflanzenzelle nicht aufstiessen.

Ausser den angeführten fünf Vererbungs-Theorien sind neuerdings auch noch von anderen Naturforschern Versuche zu einer Erklärung dieser wunderbaren Erscheinungen gemacht worden. Diese stellen aber entweder nur untergeordnete Modificationen von einer jener fünf Hypothesen dar, oder sie entfernen sich so sehr von den bekannten Grundlagen unserer empirischen Kenntnisse, dass wir sie nicht hervorzuheben brauchen. Die weitere Frage, ob bei der Fortpflanzung bloss der Kern der Zellen, oder auch ihr Protoplasma Träger der erblichen Eigenschaften ist, wird jetzt meistens zu Gunsten des ersteren bejaht. Ich hatte schon 1866 in meiner Generellen Morphologie (Bd. I, S. 288) behauptet, »dass der innere Kern die Vererbung der erblichen Charaktere, das äussere Plasma dagegen die Anpassung an die Verhältnisse der Aussenwelt zu besorgen hat«. Neuerdings sind namentlich durch die ausgezeichneten Untersuchungen der Gebrüder Hertwig, E. Strasburger und Anderen sehr überzeugende Wahrscheinlichkeits-Gründe für diese Ansicht geliefert worden.

Unsere Kenntniss von der Vererbung und Fortpflanzung ist durch diese und zahlreiche andere Untersuchungen in den letzten drei Decennien ausserordentlich gefördert worden. Freilich erklärt uns keine von den fünf angeführten Molekular-Hypothesen das Räthsel dieser wunderbaren Vorgänge vollständig; eher haben sie dazu gedient, uns die ausserordentliche Verwickelung der hier stattfindenden unsichtbaren Processe, und unsere Unfähigkeit, sie zu begreifen, uns zum klaren Bewusstsein zu bringen. Aber trotzdem haben wir dadurch die früheren mystischen Vorstellungen über ihre Natur abgestreift, und allgemein die Ueberzeugung gewonnen, dass es sich dabei um physiologische Functionen handelt, um Lebensthätigkeiten der Zellen, welche gleich allen andern Lebens-Erscheinungen auf chemisch-physikalische Processe zurückzuführen, mithin mechanisch zu erklären sind.


 << zurück weiter >>