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Erster Vortrag.

Inhalt und Bedeutung der Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie.

Allgemeine Bedeutung und wesentlicher Inhalt der von Darwin reformirten Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie. Besondere Bedeutung derselben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Besondere Bedeutung derselben für die natürliche Entwickelungs-Geschichte des Menschengeschlechts. Die Abstammungs-Lehre als natürliche Schöpfungsgeschichte. Begriff der Schöpfung. Wissen und Glauben. Schöpfungs-Geschichte und Entwickelungs-Geschichte. Zusammenhang der individuellen und paläontologischen Entwickelungs-Geschichte. Unzweckmässigkeits-Lehre oder Wissenschaft von den rudimentären Organen. Unnütze und überflüssige Einrichtungen im Organismus. Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen, der monistischen (mechanischen, causalen) und der dualistischen (teleologischen, vitalen). Begründung der ersteren durch die Abstammungs-Lehre. Einheit der organischen und anorganischen Natur, und Gleichheit der wirkenden Ursachen in Beiden. Entscheidende Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die einheitliche (monistische) Auffassung der ganzen Natur. Monistische Philosophie.

 

Meine Herren! Die geistige Bewegung, zu welcher der englische Naturforscher Charles Darwin vor dreissig Jahren durch sein berühmtes Werk »über die Entstehung der Arten 1) den Anstoss gab, hat während dieses kurzen Zeitraums eine beispiellose Tiefe und Ausdehnung gewonnen. Allerdings ist die in jenem Werke dargestellte naturwissenschaftliche Theorie (gewöhnlich kurzweg die Darwin'sche Theorie oder der Darwinismus genannt) nur ein Bruchtheil einer viel umfassenderen Wissenschaft, nämlich der universalen Entwickelungs-Lehre, welche ihre unermessliche Bedeutung über das ganze Gebiet aller menschlichen Erkenntniss erstreckt. Allein die Art und Weise, in welcher Darwin die letztere durch die erstere fest begründet hat, ist so überzeugend, und die entscheidende Wendung, welche durch die nothwendigen Folgeschlüsse jener Theorie in der gesammten Weltanschauung der Menschheit angebahnt worden ist, muss jedem tiefer denkenden Menschen so gewaltig erscheinen, dass man ihre allgemeine Bedeutung nicht hoch genug anschlagen kann. Ohne Zweifel muss diese ungeheuere Erweiterung unseres menschlichen Gesichtskreises unter allen den zahlreichen und grossartigen wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zeit als der bei weitem folgenreichste und wichtigste angesehen werden.

Wenn man unser Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Naturwissenschaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermesslich bedeutenden Fortschritte in allen Zweigen derselben blickt, so pflegt man dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unserer allgemeinen Naturerkenntniss, als vielmehr an die unmittelbaren practischen Erfolge jener Fortschritte zu denken. Man erwägt dabei die völlige und unendlich folgenreiche Umgestaltung des menschlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maschinenwesen, durch die Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen, Telephone und andere Erfindungen der Physik hervorgebracht worden ist. Oder man denkt an den mächtigen Einfluss, welchen die Chemie in der Heilkunst, in der Landwirthschaft, in allen Künsten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch diese Einwirkung der neueren Naturwissenschaft auf das practische Leben anschlagen mögen. so muss dieselbe, von einem höheren und allgemeineren Standpunkt aus gewürdigt, doch hinter dem ungeheuren Einfluss zurückstehen, welchen die theoretischen Fortschritte der heutigen Naturwissenschaft auf das gesammte Erkenntniss-Gebiet des Menschen, auf seine ganze Weltanschauung und Geistesbildung nothwendig ausüben. Denken Sie nur an den unermesslichen Umschwung aller unserer theoretischen Anschauungen, welchen wir der allgemeinen Anwendung des Mikroskops verdanken. Denken Sie allein an die Zellen-Theorie, die uns die scheinbare Einheit des menschlichen Organismus als das zusammengesetzte Resultat aus der staatlichen Verbindung von Milliarden elementarer Lebenseinheiten, der Zellen, nachweist. Oder erwägen Sie die ungeheure Erweiterung unseres theoretischen Gesichtskreises, welche wir der Spectral-Analyse, der Lehre von der Wärme-Mechanik und von der Erhaltung der Kraft verdanken. Unter allen diesen bewunderungswürdigen theoretischen Fortschritten nimmt aber jedenfalls unsere heutige Entwickelungs-Lehre bei weitem den höchsten Rang ein.

Jeder von Ihnen wird den Namen Darwin gehört haben. Aber die Meisten werden wahrscheinlich nur unvollkommene Vorstellungen von dem eigentlichen Werthe seiner Lehre besitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was seit dem Erscheinen seines epochemachenden Hauptwerks über dasselbe geschrieben worden ist, so muss demjenigen, der sich nicht näher mit den organischen Naturwissenschaften befasst hat, der nicht in die inneren Geheimnisse der Zoologie und Botanik eingedrungen ist, der Werth jener Theorie sehr zweifelhaft erscheinen. Die Beurtheilung derselben ist voll von Widersprüchen und Missverständnissen. Daher darf es uns nicht Wunder nehmen, dass selbst jetzt, dreissig Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Werk, dasselbe noch nicht die volle Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechtswegen gebührt, und welche es .jedenfalls früher oder später erlangen wird. Die meisten von den zahllosen Schriften, welche für und gegen den Darwinismus während dieses Zeitraums veröffentlicht wurden, lassen den erforderlichen Grad von biologischer, und besonders von zoologischer Bildung vermissen. Obwohl jetzt alle bedeutenden Naturforscher der Gegenwart zu den Anhängern jener Theorie gehören, haben doch nur wenige derselben Geltung und Verständniss in weiteren Kreisen zu verschaffen gesucht. Daher rühren die befremdenden Widersprüche und die seltsamen Urtheile, die man noch heute vielfach über den Darwinismus hören kann. Gerade dieser Umstand hat mich vorzugsweise bestimmt, die Darwin'sche Theorie und die damit zusammenhängenden weiteren Lehren zum Gegenstand dieser allgemein verständlichen Vorträge zu machen. Ich halte es für die Pflicht der Naturforscher, dass sie nicht allein in dem engeren Kreise ihrer Fachwissenschaft auf Verbesserungen und Entdeckungen sinnen, dass sie sich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, sondern dass sie auch die wichtigen, allgemeinen Ergebnisse ihrer besonderen Studien für das Ganze nutzbar machen, und dass sie naturwissenschaftliche Bildung in weiten Kreisen verbreiten helfen. Der höchste Triumph des menschlichen Geistes, die wahre Erkenntniss der allgemeinsten Naturgesetze, darf nicht das Privateigenthum einer privilegirten Gelehrtenkaste bleiben, sondern muss Gemeingut der ganzen gebildeten Menschheit werden.

Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unserer Natur-Erkenntniss gestellt worden ist, pflegt man gewöhnlich als Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie zu bezeichnen. Andere nennen sie Umbildungs-Lehre oder Transmutations-Theorie oder auch kurz: Transformismus. Beide Bezeichnungen sind richtig. Denn diese Lehre behauptet, dass alle verschiedenen Organismen (d. h. alle Thierarten und Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben) von einer einzigen oder von wenigen höchst einfachen Stammformen abstammen, und dass sie sich aus diesen auf dem natürlichen Wege allmählicher Umbildung langsam entwickelt haben. Obwohl diese Entwickelungs-Theorie schon im Anfange unseres Jahrhunderts von verschiedenen grossen Naturforschern, insbesondere von Lamarck 2) und Goethe 3) aufgestellt und vertheidigt wurde, hat sie doch erst im Jahre 1859 durch Darwin ihre vollständige Ausbildung und ihre ursächliche Begründung erfahren. Dies ist der Grund, weshalb sie oft ausschliesslich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwins Theorie bezeichnet wird.

Der unschätzbare Werth der Abstammungs-Lehre erscheint in verschiedenem Lichte, je nachdem Sie bloss deren nähere Bedeutung für die organische Naturwissenschaft, oder aber ihren weiteren Einfluss auf die gesammte Welterkenntniss des Menschen in Betracht ziehen. Die organische Naturwissenschaft oder die Biologie, welche als Zoologie die Thiere, als Botanik die Pflanzen zum Gegenstand ihrer Erkenntniss hat, wird durch die Abstammungs-Lehre von Grund aus umgestaltet. Denn durch die Descendenz-Theorie lernen wir die wahren wirkenden Ursachen der organischen Form-Erscheinungen erkennen, während die bisherige Thier- und Pflanzenkunde sich überwiegend mit der Kenntniss ihrer Thatsachen beschäftigte. Man kann daher auch die Abstammungs-Lehre als die mechanische Erklärung der organischen Form-Erscheinungen oder als »die Lehre von den wahren Ursachen in der organischen Natur« bezeichnen 17).

Da ich nicht voraussetzen kann, dass Ihnen Allen die Ausdrücke »organische und anorganische Natur« geläufig sind, und da uns die Gegenüberstellung dieser beiderlei Naturkörper in der Folge noch vielfach beschäftigen wird, so muss ich ein paar Worte zur Verständigung darüber vorausschicken. Organismen oder organische Naturkörper nennen wir alle Lebewesen oder belebten Körper, also alle Pflanzen und Thiere, den Menschen mit inbegriffen, weil bei ihnen fast immer eine Zusammensetzung aus verschiedenartigen Theilen (Werkzeugen oder »Organen«) nachzuweisen ist; diese Organe müssen zusammenwirken, um die Lebenserscheinungen hervorzubringen. Eine solche Zusammensetzung vermissen wir dagegen bei den Anorganen oder anorganischen Naturkörpern, den sogenannten todten oder unbelebten Körpern, den Mineralien oder Gesteinen, dem Wasser, der atmosphärischen Luft u. s. w. Die Organismen enthalten stets eiweissartige Kohlenstoff-Verbindungen in weichem oder »festflüssigem« Zustande, während diese den Anorganen stets fehlen. Auf diesem wichtigen Unterschiede beruht die Eintheilung der gesammten Naturwissenschaft in zwei grosse Haupt-Abtheilungen, in die Biologie oder Wissenschaft von den Organismen (Anthropologie, Zoologie und Botanik) und die Anorgologie oder Abiologie, die Wissenschaft von den Anorganen (Mineralogie. Geologie, Meteorologie u. s. w.).

Die unvergleichliche Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die Biologie liegt also vorzugsweise darin, dass sie uns die Entstehung der organischen Formen auf mechanischem Wege erklärt und deren wirkende Ursachen nachweist. So hoch man aber auch mit Recht dieses Verdienst der Descendenz-Theorie anschlagen mag, so tritt dasselbe doch fast zurück vor der unermesslichen Wichtigkeit, welche eine einzige nothwendige Folgerung derselben für sich allein in Anspruch nimmt. Diese unvermeidliche Folgerung ist die Lehre von der thierischen Abstammung des Menschengeschlechts.

Die Bestimmung der Stellung des Menschen in der Natur und seiner Beziehungen zur Gesammtheit der Dinge, diese Frage aller Fragen für die Menschheit, wie sie Huxley 27) mit Recht nennt, wird durch jene Erkenntniss der thierischen Abstammung des Menschengeschlechts endgültig gelöst. Wir gelangen also durch den Transformismus oder die Descendenz-Theorie zum ersten Male in die Lage, eine natürliche Entwickelungs-Geschichte des Menschengeschlechts wissenschaftlich begründen zu können. Sowohl alle Vertheidiger, als alle denkenden Gegner Darwins haben anerkannt, dass die Abstammung des Menschengeschlechts zunächst von affenartigen Säugethieren, weiterhin aber von niederen Wirbelthieren, mit Nothwendigkeit aus seiner Theorie folgt.

Allerdings hat Darwin diese wichtigste von allen Folgerungen seiner Lehre nicht sofort selbst ausgesprochen. In seinem Werke »von der Entstehung der Arten« ist die thierische Abstammung des Menschen nicht erörtert. Der eben so vorsichtige als kühne Naturforscher ging damals absichtlich mit Stillschweigen darüber hinweg, weil er voraussah, dass dieser bedeutendste von allen Folgeschlüssen der Abstammungs-Lehre zugleich das grösste Hinderniss für die Verbreitung und Anerkennung derselben sein werde. Gewiss hätte Darwins Buch von Anfang an noch weit mehr Widerspruch und Aergerniss erregt, wenn sogleich diese wichtigste Consequenz darin klar ausgesprochen worden wäre. Erst zwölf Jahre später, in dem 1871 erschienenen Werke über »die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« 48) hat Darwin jenen weitreichendsten Folgeschluss offen anerkannt und ausdrücklich seine volle Uebereinstimmung mit den Naturforschern erklärt, welche denselben inzwischen schon selbst gezogen hatten. Offenbar ist die Tragweite dieser Folgerung ganz unermesslich, und keine Wissenschaft wird sich den Consequenzen derselben entziehen können. Die Anthropologie oder die Wissenschaft vom Menschen, und in Folge dessen auch die ganze Philosophie wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgestaltet.

Es wird erst die spätere Aufgabe meiner Vorträge sein, diesen besonderen Punkt zu erörtern. Ich werde die Lehre von der thierischen Abstammung des Menschen erst behandeln, nachdem ich Ihnen Darwins Theorie in ihrer allgemeinen Begründung und Bedeutung vorgetragen habe. Um es mit einem Satze auszudrücken, so ist jene bedeutungsvolle, aber die meisten Menschen von vorn herein abstossende Folgerung nichts weiter als ein besonderer Deductions-Schluss, den wir aus dem sicher begründeten allgemeinen Inductions-Gesetze der Descendenz-Theorie nach den strengen Geboten der unerbittlichen Logik nothwendig ziehen müssen.

Vielleicht ist nichts geeigneter, Ihnen die ganze und volle Bedeutung der Abstammungs-Lehre mit zwei Worten klar zu machen, als die Bezeichnung derselben mit dem Ausdruck: »Natürliche Schöpfungs-Geschichte«. Ich habe daher auch selbst diese Bezeichnung für die folgenden Vorträge gewählt. Jedoch ist dieselbe nur in einem gewissen Sinne richtig; denn streng genommen schliesst der Ausdruck »natürliche Schöpfungs-Geschichte« einen inneren Widerspruch, eine contradictio in adjecto ein.

Lassen Sie uns, um dies zu verstehen, einen Augenblick den zweideutigen Begriff der Schöpfung etwas näher ins Auge fassen. Wenn man unter Schöpfung die Entstehung eines Körpers durch eine schaltende Gewalt oder Kraft versteht, so kann man dabei entweder an die Entstehung seines Stoffes (der körperlichen Materie) oder an die Entstehung seiner Form (der körperlichen Gestalt) denken.

Die Schöpfung im ersteren Sinne, als die Entstehung der Materie, geht uns hier gar nichts an. Dieser Vorgang, wenn er überhaupt jemals stattgefunden hat, ist gänzlich der menschlichen Erkenntniss entzogen; er kann daher auch niemals Gegenstand naturwissenschaftlicher Erforschung sein. Die Naturwissenschaft hält die Materie für ewig und unvergänglich, weil durch die Erfahrung noch niemals das Entstehen oder Vergehen auch nur des kleinsten Theilchens der Materie nachgewiesen worden ist. Da wo ein Naturkörper zu verschwinden scheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verwesen, beim Verdunsten u. s. w., da ändert er nur seine Form, seinen physikalischen Aggregatzustand oder seine chemische Verbindungsweise. Ebenso beruht die Entstehung eines neuen Naturkörpers, z. B. eines Krystalles, eines Pilzes, eines Infusoriums, nur darauf, dass verschiedene Stofftheilchen, welche vorher in einer gewissen Form oder Verbindungsweise existirten, in Folge von veränderten Existenz-Bedingungen eine neue Form oder Verbindungsweise annehmen. Aber noch niemals ist der Fall beobachtet worden, dass auch nur das kleinste Stofftheilchen aus der Welt verschwunden, oder nur ein Atom zu der bereits vorhandenen Masse hinzugekommen wäre. Der Naturforscher kann sich daher ein Entstehen der Materie eben so wenig als ein Vergehen derselben vorstellen; er betrachtet die in der Welt bestehende Quantität, der Materie als eine gegebene feste Thatsache. Fühlt Jemand das Bedürfniss, sich die Entstehung dieser Materie als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer ausserhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft vorzustellen, so haben wir nichts dagegen. Aber wir müssen bemerken, dass damit auch nicht das Geringste für eine wissenschaftliche Naturkenntniss gewonnen ist. Eine solche Vorstellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie erst schafft, ist ein Glaubensartikel, welcher mit der menschlichen Wissenschaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfängt, hört die Wissenschaft auf. Beide Thätigkeiten des menschlichen Geistes sind scharf von einander zu halten. Der Glaube hat seinen Ursprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wissen dagegen in dem erkennenden Verstande des Menschen. Die Wissenschaft hat die segenbringenden Früchte von dem Baume der Erkenntniss zu pflücken, unbekümmert darum, ob dadurch die dichterischen Einbildungen der Glaubenschaft beeinträchtig werden, oder nicht.

Wenn also die Naturwissenschaft sich die »natürliche Schöpfungs-Geschichte« zu ihrer höchsten, schwersten und lohnendsten Aufgabe macht, so kann sie den Begriff der Schöpfung nur in der zweiten, oben angeführten Bedeutung verstehen, als die Entstehung der Form der Naturkörper. In diesem Sinne kann man die Geologie die Schöpfungs-Geschichte der Erde nennen; denn sie sucht die Entstehung der geformten anorganischen Erdoberfläche und die mannichfaltigen geschichtlichen Veränderungen in der Gestalt der festen Erdrinde zu erforschen. Ebenso kann man die Entwickelungs-Geschichte der Thiere und Pflanzen, welche die Entstehung der belebten Formen und den mannichfaltigen historischen Wechsel der thierischen und pflanzlichen Gestalten untersucht, die Schöpfungs-Geschichte der Organismen nennen. Da jedoch in den Begriff der Schöpfung sich immer leicht die unwissenschaftliche Vorstellung von einem ausserhalb der Materie stehenden und dieselbe umbildenden Schöpfer einschleicht, so wird es in Zukunft wohl besser sein, denselben durch die strengere Bezeichnung der Entwickelung zu ersetzen.

Der hohe Werth, welchen die Entwickelungs-Geschichte für das wissenschaftliche Verständniss der Thier- und Pflanzenformen besitzt, ist seit einem halben Jahrhundert so allgemein anerkannt, dass man ohne sie keinen sicheren Schritt in der organischen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man fast immer unter Entwickelungs-Geschichte nur einen Theil dieser Wissenschaft, nämlich diejenige der organischen Individuen oder Einzelwesen verstanden, die sogenannte Embryologie, richtiger und umfassender Ontogenie genannt 4). Ausser dieser giebt es aber auch noch eine Entwickelungs-Geschichte der organischen Arten, Classen und Stämme (Phylen); und diese steht zu der ersteren in den wichtigsten Beziehungen. Das Material dafür liefert die Versteinerungs-Kunde oder Paläontologie. Diese lehrt uns, dass jedes organische Phylum, jeder Stamm des Thier- und Pflanzenreichs, während der verschiedenen Perioden der Erd-Geschichte durch eine Reihe von ganz verschiedenen Classen und Arten vertreten wird. So ist z. B. der Stamm der Wirbelthiere durch die Classen der Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere vertreten und jede dieser Classen zu verschiedenen Zeiten durch ganz verschiedene Arten. Diese paläontologische Entwickelungs-Geschichte der Organismen kann man als Stammes-Geschichte oder Phylogenie bezeichnen; sie steht in den wichtigsten und merkwürdigsten Beziehungen zu dem andern Zweige der organischen Entwickelungs-Geschichte, zur Keimes-Geschichte oder Ontogenie. Die letztere läuft der ersteren im Grossen und Ganzen parallel. Um es kurz mit einem Satze zu sagen, so ist die individuelle Entwickelungs-Geschichte eine schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der langsamen paläontologischen Entwickelungs-Geschichte; die Ontogenie ist ein kurzer Auszug oder eine Rekapitulation der Phylogenie 4).

Da ich Ihnen dieses höchst interessante und bedeutsame Naturgesetz später noch ausführlicher zu erläutern habe, so wollen wir uns hier nicht weiter dabei aufhalten. Nur sei bemerkt, dass dasselbe einzig und allein durch die Abstammungs-Lehre erklärt und in seinen Ursachen verstanden wird; ohne dieselbe bleibt es ganz unverständlich und unerklärlich. Die Descendenz-Theorie zeigt uns zugleich, warum überhaupt die einzelnen Thiere und Pflanzen sich entwickeln müssen, warum dieselben nicht gleich in fertiger und entwickelter Form ins Leben treten. Keine übernatürliche Schöpfungs-Geschichte vermag uns das grosse Räthsel der organischen Entwickelung irgendwie zu erklären. Ebenso wie auf diese hochwichtige Frage giebt uns der Transformismus auch auf alle andern allgemeinen biologischen Fragen befriedigende Antworten, und zwar sind diese Antworten rein mechanisch-causaler Natur; sie weisen lediglich natürliche, physikalisch-chemische Kräfte als die Ursachen von Erscheinungen nach, die man früher gewohnt war, der unmittelbaren Einwirkung übernatürlicher, schöpferischer Kräfte zuzuschreiben. Mithin entfernt der Transformismus aus allen Gebietstheilen der Botanik und Zoologie, und namentlich auch aus dem wichtigsten Theile der letzteren, aus der Anthropologie, den Wunderglauben; er lüftet den mystischen Schleier des Wunderbaren und Uebernatürlichen, mit welchem man bisher die verwickelten Erscheinungen dieser natürlichen Erkenntniss-Gebiete zu verhüllen liebte. Das unklare Nebelbild mythologischer Dichtung kann vor dem klaren Sonnenlichte naturwissenschaftlicher Erkenntniss nicht länger bestehen.

Von ganz besonderem Interesse sind unter jenen biologischen Erscheinungen diejenigen, welche die gewöhnliche Annahme von der Entstehung eines jedes Organismus durch eine zweckmässig bauende Schöpferkraft widerlegen. Nichts hat in dieser Beziehung der früheren Naturforschung so grosse Schwierigkeiten verursacht. als die Deutung der sogenannten »rudimentären Organe«, derjenigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Leistung, ohne physiologische Bedeutung, und dennoch formell vorhanden sind. Diese Theile verdienen das allerhöchste Interesse, obwohl die meisten Leute wenig oder nichts davon wissen. Fast jeder höher entwickelte Organismus, fast jedes Thier und jede Pflanze, besitzt neben den scheinbar zweckmässigen Einrichtungen seiner Organisation andere Einrichtungen, die durchaus keinen Zweck, keine Function in dessen Leben haben können.

Beispiele davon finden sich überall. Bei den Embryonen mancher Wiederkäuer, unter Andern bei unserem gewöhnlichen Rindvieh, stehen Schneidezähne im Zwischenkiefer der oberen Kinnlade, welche niemals zum Durchbruch gelangen, also auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Walfische, welche späterhin die bekannten Barten statt der Zähne besitzen, tragen, so lange sie noch nicht geboren sind und keine Nahrung zu sich nehmen, dennoch Zähne in ihren Kiefern; auch dieses Gebiss tritt niemals in Thätigkeit. Ferner besitzen die meisten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; selbst der Mensch besitzt solche rudimentäre Muskeln. Die Meisten von uns sind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl die Muskeln für diese Bewegung vorhanden sind; aber einzelnen Personen, die sich andauernd Mühe geben diese Muskeln zu üben, ist es in der That gelungen, ihre Ohren wieder in Bewegung zu setzen. In diesen noch jetzt vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollständigen Verschwinden entgegen gehen, ist es noch möglich, durch besondere Uebung, durch andauernden Einfluss der Willensthätigkeit des Nervensystems, die beinahe erloschene Thätigkeit wieder zu beleben. Dagegen vermögen wir dies nicht mehr in den kleinen rudimentären Ohrmuskeln, welche noch am Knorpel unserer Ohrmuschel vorkommen; diese bleiben immer völlig wirkungslos. Bei unseren langohrigen Vorfahren aus der Tertiärzeit, Affen, Halbaffen und Beutelthieren, welche gleich den meisten anderen Säugethieren ihre grosse Ohrmuschel frei und lebhaft bewegten, waren jene Muskeln viel stärker entwickelt und von grosser Bedeutung. So haben in gleicher Weise auch viele Spielarten der Hunde und Kaninchen, deren wilde Vorfahren ihre steifen Ohren vielseitig bewegten, unter dem Einflusse des Culturlebens sich jenes »Ohrenspitzen« abgewöhnt: sie haben dadurch verkümmerte Ohrmuskeln und schlaff herabhängende Ohren bekommen.

Auch noch an anderen Stellen seines Körpers besitzt der Mensch solche rudimentäre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben sind und niemals functioniren. Eines der merkwürdigsten, obwohl unscheinbarsten Organe der Art ist die kleine halbmondförmige Falte, welche wir am inneren Winkel unseres Auges, nahe der Nasenwurzel besitzen, die sogenannte Plica semilunaris. Diese unbedeutende Hautfalte bietet für unser Auge gar keinen Nutzen; sie ist nur der ganz verkümmerte Rest eines dritten, inneren Augenlides, welches neben dem oberen und unteren Augenlide bei anderen Säugethieren, bei Vögeln und Reptilien sehr entwickelt ist. Ja sogar schon unsere uralten Vorfahren aus der Silurzeit. die Urfische, scheinen dies dritte Augenlid, die sogenannte Nickhaut, besessen zu haben. Denn viele von ihren nächsten Verwandten, die in wenig veränderter Form noch heute fortleben, viele Haifische nämlich, besitzen eine sehr starke Nickhaut, und diese kann vom inneren Augenwinkel her über den ganzen Augapfel hinübergezogen werden.

Zu den schlagendsten Beispielen von rudimentären Organen gehören die Augen, welche nicht sehen. Solche finden sich bei sehr vielen Thieren, welche im Dunkeln, z. B. in Höhlen, unter der Erde leben. Die Augen sind hier oft wirklich in ausgebildetem Zustande vorhanden: aber sie sind von dicker, undurchsichtiger Haut bedeckt, so dass kein Lichtstrahl in sie hineinfallen kann, mithin können sie auch niemals sehen. Solche Augen ohne Gesichtsfunction besitzen z. B. mehrere Arten von unterirdisch lebenden Maulwürfen und Blindmäusen, von Schlangen und Eidechsen, von Amphibien und Fischen: ferner zahlreiche wirbellose Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Käfer, Krebsthiere, Schnecken, Würmer u. s. w.

Eine Fülle der interessantesten Beispiele von rudimentären Organen liefert die vergleichende Osteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere, einer der anziehendsten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeisten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaassen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr häufig ist jedoch das eine oder das andere Paar derselben verkümmert, seltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fischen. Aber einige Schlangen, z. B. die Riesenschlangen (Boa, Python) haben hinten noch einige unnütze Knochenstückchen im Leibe, welche die Reste der verloren gegangenen Hinterbeine sind. Ebenso haben die walfischartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vorderbeine (Brustflossen) besitzen, hinten im Fleische noch ein Paar ganz überflüssige Knochen, die Ueberbleibsel der verkümmerten Hinterbeine. Dasselbe gilt von vielen echten Fischen, bei denen in gleicher Weise. die Hinterbeine (Bauchflossen) verloren gegangen sind. Umgekehrt besitzen unsere Blindschleichen (Anguis) und einige andere Eidechsen inwendig ein vollständiges Schultergerüst, obwohl die Vorderbeine, zu deren Befestigung dasselbe dient, nicht mehr vorhanden sind. Ferner finden sich bei verschiedenen Wirbelthieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verschiedenen Stufen der Verkümmerung, und oft die rückgebildeten Knochen und die zugehörigen Muskeln stückweise erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung ausführen zu können. Das Instrument ist wohl noch da, aber es kann nicht mehr spielen.

Fast ganz allgemein finden Sie ferner rudimentäre Organe in den Pflanzenblüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der männlichen Fortpflanzungs-Organe (der Staubfäden und Staubbeutel), oder der weiblichen Fortpflanzungs-Organe (Griffel, Fruchtknoten u. s. w.) mehr oder weniger verkümmert oder »fehlgeschlagen« (abortirt) ist. Auch hier können Sie bei verschiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das Organ in allen Graden der Rückbildung verfolgen So z. B. ist die grosse natürliche Familie der lippenblüthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Melisse, Pfeffermünze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. s. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, dass die rachenförmige zweilippige Blumenkrone zwei lange und zwei kurze Staubfäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieser Familie, z. B. bei verschiedenen Salbeiarten und beim Rosmarin, ist nur das eine Paar der Staubfäden ausgebildet, und das andere Paar ist mehr oder weniger verkümmert, oft ganz verschwunden. Bisweilen sind die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, so dass sie keinen Nutzen haben können. Seltener findet sich sogar noch das Rudiment oder der verkümmerte Rest eines fünften Staubfadens, ein physiologisch (für die Lebensverrichtung) ganz nutzloses, aber morphologisch (für die Erkenntniss der Form und der natürlichen Verwandtschaft) äusserst werthvolles Organ. In meiner generellen Morphologie der Organismen 4) habe ich in dem Abschnitt von der »Unzweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie«, noch eine grosse Anzahl von anderen Beispielen angeführt.

Keine biologische Erscheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in grössere Verlegenheit versetzt als diese rudimentären oder abortiven (verkümmerten) Organe. Es sind Werkzeuge ausser Dienst, Körpertheile, welche da sind, ohne etwas zu leisten, zweckmässig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man die Versuche früherer Naturforscher zur Erklärung dieses Räthsels betrachtet, kann man sich in der That kaum eines Lächelns über ihre seltsamen Vorstellungen erwehren. Ausser Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, kamen Einige z. B. zu dem Endresultate, dass der Schöpfer »der Symmetrie wegen« diese Organe angelegt habe. Nach der Meinung Anderer musste es dem Schöpfer unpassend oder unanständig erscheinen, dass diese Organe bei denjenigen Organismen, bei denen sie nicht leistungsfähig sind und ihrer ganzen Lebensweise nach nicht sein können, völlig fehlten, während die nächsten Verwandten sie besässen; und zum Ersatz für die mangelnde Function verlieh er ihnen wenigstens die äussere Ausstattung der leeren Form. Sind doch auch die uniformirten Civilbeamten bei Hofe oft mit einem unschuldigen Degen ausgestattet, den sie niemals aus der Scheide ziehen. Ich glaube aber kaum, dass Sie von einer solchen Erklärung befriedigt sein werden.

Nun wird gerade diese allgemein verbreitete und räthselhafte Erscheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Erklärungsversuche scheitern, vollkommen erklärt, und zwar in der einfachsten und einleuchtendsten Weise erklärt durch Darwins Theorie von der Vererbung und von der Anpassung. Wir können die wichtigen Gesetze der Vererbung und Anpassung an den Hausthieren und Culturpflanzen, welche wir künstlich züchten, empirisch verfolgen, und es ist bereits eine Reihe solcher Gesetze festgestellt worden. Ohne jetzt auf diese einzugehen, will ich nur vorausschicken, dass einige davon auf mechanischem Wege die Entstehung der rudimentären Organe vollkommen erklären, so dass wir das Auftreten derselben als einen ganz natürlichen Process ansehen müssen, bedingt durch den Nichtgebrauch der Organe. Durch Anpassung an besondere Lebensbedingungen sind die früher thätigen und wirklich arbeitenden Organe allmählich nicht mehr gebraucht worden und ausser Dienst getreten. In Folge der mangelnden Uebung sind sie mehr und mehr verkümmert, trotzdem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf die andere übertragen worden, bis sie endlich grösstentheils verschwanden. Wenn wir nun annehmen, dass alle oben angeführten Wirbelthiere von einem einzigen gemeinsamen Stammvater abstammen, welcher zwei sehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare besass, so erklärt sich ganz einfach der verschiedene Grad der Verkümmerung und Rückbildung dieser Organe bei solchen Nachkommen desselben, welche diese Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenso erklärt sich vollständig der verschiedene Ausbildungsgrad der ursprünglich (in der Blüthenknospe) angelegten fünf Staubfäden bei den Lippenblüthen, wenn wir annehmen, dass alle Pflanzen dieser Familie von einem. gemeinsamen, mit fünf Staubfäden ausgestatteten Stammvater abstammen.

Ich habe Ihnen die Erscheinung der rudimentären Organe schon jetzt etwas ausführlicher vorgeführt, weil dieselbe von der allergrössten allgemeinen Bedeutung ist; denn sie führt uns auf die grossen, allgemeinen, tiefliegenden Grundfragen der Philosophie und der Naturwissenschaft hin, für deren Lösung die Descendenz-Theorie nunmehr der unentbehrliche Leitstern geworden ist. Sobald wir nämlich, dieser Theorie entsprechend, die ausschliessliche Wirksamkeit physikalisch-chemischer Ursachen ebenso in der lebenden (organischen) Körperwelt, wie in der sogenannten leblosen (anorganischen) Natur anerkennen, so räumen wir damit jener Weltanschauung die ausschliessliche Herrschaft ein, welche man mit dem Namen der mechanischen bezeichnen kann, im Gegensatze zu der hergebrachten teleologischen Auffassung. Wenn Sie die Weltanschauungen der verschiedenen Völker und Zeiten mit einander vergleichend zusammenstellen, können Sie dieselben schliesslich alle in zwei gegenüberstehende Gruppen bringen: eine causale oder mechanische und eine teleologische oder vitalistische. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrschend. Man sah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Producte einer zweckmässig wirkenden, schöpferischen Thätigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus schien sich zunächst unabweislich die Ueberzeugung aufzudrängen, dass eine so künstliche Maschine, ein so verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus ist, nur durch eine zweckthätige Schöpferkraft hervorgebracht werden könne: durch eine Thätigkeit, welche analog, obwohl unendlich viel vollkommener ist, als die Thätigkeit des Menschen bei der Construction seiner Maschinen. Wie erhaben man auch die früheren Vorstellungen des Schöpfers und seiner schöpferischen Thätigkeit steigern, wie sehr man sie aller menschlichen Analogie entkleiden mag, so bleibt doch im letzten Grunde bei der teleologischen Naturauffassung dieser Vergleich unabweislich und nothwendig. Man muss sich im Grunde dann immer den Schöpfer selbst als einen Organismus vorstellen, als ein Wesen, welches ähnlich dem Menschen, wenn auch in unendlich vollkommenerer Form, über seine bildende Thätigkeit nachdenkt, den Plan der Maschinen entwirft, und dann mittelst Anwendung geeigneter Materialien diese Maschinen zweckentsprechend ausführt. Alle diese Vorstellungen leiden nothwendig an der Grundschwäche des Anthropomorphismus oder der Vermenschlichung. Stets werden dabei, wie hoch man sich auch den Schöpfer vorstellen mag, demselben die menschlichen Eigenschaften beigelegt, einen Plan zu entwerfen und danach den Organismus zweckmässig zu construiren. Das wird auch von desjenigen Schule, welche Darwins Lehre am schroffsten gegenüber steht, und welche unter den Naturforschern ihren bedeutendsten Vertreter in Louis Agassiz gefunden hat, ganz klar ausgesprochen. Das berühmte Werk von Agassiz, (Essay on classification), welches dem Darwinschen Werke vollkommen entgegengesetzt ist und fast gleichzeitig erschien, hat ganz folgerichtig jene absurden anthropomorphischen Vorstellungen vom Schöpfer bis zum höchsten Grade ausgebildet.

Was nun überhaupt jene vielgerühmte Zweckmässigkeit in der Natur betrifft, so ist sie nur für Denjenigen vorhanden, welcher die Erscheinungen im Thier- und Pflanzenleben durchaus oberflächlich betrachtet. Schon die rudimentären Organe mussten dieser beliebten Lehre einen harten Stoss versetzen. Jeder aber, der tiefer in die Organisation und Lebensweise der verschiedenen Thiere und Pflanzen eindringt, der sich mit der Wechselwirkung der Lebenserscheinungen und der sogenannten »Oeconomie der Natur« vertrauter macht, muss sie nothwendig fallen lassen. Die vielgepriesene Weisheit und Zweckmässigkeit existirt eben so wenig, als die vielgerühmte »Allgüte des Schöpfers«. Diese optimistischen Anschauungen haben leider eben so wenig wirkliche Begründung, als die beliebte Redensart von der »sittlichen Weltordnung«, welche durch die ganze Völkergeschichte in ironischer Weise illustrirt wird. Im Mittelalter ist dafür die »sittliche« Herrschaft der christlichen Päpste und ihrer frommen, vom Blute zahlloser Menschenopfer dampfenden Inquisition nicht weniger bezeichnend, als in der Gegenwart der herrschende Militarismus mit seinem »sittlichen« Apparate von Zündnadeln und anderen raffinirten Mordwaffen; oder der Pauperismus als untrennbarer Anhang unserer verfeinerten Cultur.

Wenn Sie das Zusammenleben und die gegenseitigen Beziehungen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff der Menschen) näher betrachten, so finden sie überall und zu jeder Zeit das Gegentheil von jenem gemüthlichen und friedlichen Beisammensein, welches die Güte des Schöpfers den Geschöpfen hätte bereiten müssen; vielmehr sehen Sie überall einen schonungslosen, höchst erbitterten Kampf Aller gegen Alle. Nirgends in der Natur, wohin Sie auch Ihre Blicke lenken mögen, ist jener idyllische, von den Dichtern besungene Friede vorhanden, - vielmehr überall Kampf, Streben nach Selbsterhaltung, nach Vernichtung der directen Gegner und nach Vernichtung des Nächsten. Leidenschaft und Selbstsucht, bewusst oder unbewusst, bleibt überall die Triebfeder des Lebens. Das bekannte Dichterwort:

»Die Natur ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual«

ist schön, aber leider nicht wahr. Vielmehr bildet auch in dieser Beziehung der Mensch keine Ausnahme von der übrigen Thierwelt. Die Betrachtungen, welche wir bei der Lehre vom »Kampf um's Dasein« anzustellen haben, werden diese Behauptung zur Genüge rechtfertigen. Darwin hat gerade dieses wichtige Verhältniss in seiner hohen und allgemeinen Bedeutung uns erst recht klar vor Augen gestellt, und derjenige Abschnitt seiner Lehre, welchen er selbst den »Kampf um's Dasein« nennt, ist einer ihrer wichtigsten Theile.

Wenn wir also jener vitalistischen oder teleologischen Betrachtung der lebendigen Natur, welche die Thier- und Pflanzenformen als Producte eines gütigen und weisen Schöpfers oder einer zweckmässig thätigen schöpferischen Naturkraft ansieht, durchaus entgegenzutreten gezwungen sind, so müssen wir uns entschieden jene Weltanschauung aneignen, welche man die mechanische oder causale nennt. Man kann sie auch als die monistische oder einheitliche bezeichnen, im Gegensatz zu der zwiespältigen oder dualistischen Anschauung, welche in jener teleologischen Weltauffassung nothwendig enthalten ist. Die mechanische Naturbetrachtung ist seit Jahrzehnten auf gewissen Gebieten der Naturwissenschaft so sehr eingebürgert, dass hier über die entgegengesetzte kein Wort mehr verloren wird. Es fällt keinem Physiker oder Chemiker, keinem Mineralogen oder Astronomen mehr ein, in den Erscheinungen, welche ihm auf seinem wissenschaftlichen Gebiete fortwährend vor Augen kommen, die Wirksamkeit eines zweckmässig thätigen Schöpfers zu erblicken oder aufzusuchen. Man betrachtet jene Erscheinungen vielmehr allgemein und ohne Widerspruch als die nothwendigen und unabänderlichen Wirkungen der physikalischen und chemischen Kräfte, welche an dem Stoffe oder der Materie haften; und insofern ist diese Anschauung rein »materialistisch«, in einem gewissen Sinne dieses vieldeutigen Wortes. Wenn der Physiker die Bewegungserscheinungen der Electricität oder des Magnetismus, den Fall eines Körpers oder die Schwingungen der Lichtwellen zu erklären sucht, so ist er bei dieser Arbeit durchaus davon entfernt, das Eingreifen einer übernatürlichen schöpferischen Kraft anzunehmen. In dieser Beziehung befand sich bisher die Biologie, als die Wissenschaft von den sogenannten »belebten« Naturkörpern, in vollem Gegensatz zu jenen vorher genannten anorganischen Naturwissenschaften (der Anorgologie). Zwar hat die neuere Physiologie, die Lehre von den Bewegungserscheinungen im Thier- und Pflanzenkörper, den mechanischen Standpunkt der letzteren vollkommen angenommen; allein die Morphologie, die Wissenschaft von der Gestaltung der Thiere und Pflanzen, schien dadurch gar nicht berührt zu werden. Die Morphologen behandelten nach wie vor, im Gegensatze zu jener mechanischen Betrachtung der Leistungen, die Formen der Thiere und Pflanzen als Erscheinungen, die durchaus nicht mechanisch erklärbar seien, die vielmehr nothwendig einer höheren, übernatürlichen, zweckmässig thätigen Schöpferkraft ihren Ursprung verdanken müssen. Dabei war es ganz gleichgültig, ob man diese Schöpferkraft als persönlichen Gott anbetete, oder ob man sie Lebenskraft (vis vitalis) oder Endursache (causa finalis) nannte. In allen Fällen flüchtete man hier, um es mit einem Worte zu sagen, zum Wunder als der Erklärung. Man warf sich einer mystischen Glaubensdichtung in die Arme, und verliess somit das sichere Gebiet naturwissenschaftlicher Erkenntniss.

Alles nun, was vor Darwin geschehen ist, um eine natürliche, mechanische Auffassung von der Entstehung der Thier- und Pflanzenformen zu begründen, vermochte diese nicht zum Durchbruch und zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Dies gelang erst Darwins Lehre, und hierin liegt ein unermessliches Verdienst derselben. Denn wir werden dadurch zu der Ueberzeugung von der Einheit der organischen und der anorganischen Natur geführt. Auch derjenige Theil der Naturwissenschaft, welcher bisher am längsten und am hartnäckigsten sich einer mechanischen Auffassung und Erklärung widersetzte, die Lehre vom Bau der lebendigen Formen, von der Bedeutung und Entstehung derselben, wird dadurch mit allen übrigen naturwissenschaftlichen Lehren auf einen und denselben Weg der Vollendung gebracht. Die Einheit aller Naturerscheinungen wird dadurch endgültig festgestellt.

Diese Einheit der ganzen Natur, die Beseelung aller Materie, die Untrennbarkeit der geistigen Kraft und des körperlichen Stoffes hat Goethe mit den Worten behauptet: »die Materie kann nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und wirksam sein«. Von den grossen monistischen Philosophen aller Zeiten sind diese obersten Grundsätze der mechanischen Weltanschauung vertreten worden. Schon Demokritos von Abdera, der unsterbliche Begründer der Atomenlehre, sprach dieselben fast ein halbes Jahrtausend vor Christus klar aus, ganz vorzüglich aber der erhabene Spinoza und der grosse Dominikanermönch Giordano Bruno. Der letztere wurde dafür am 17. Februar 1600 in Rom von der christlichen Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt, an demselben Tage, an welchem 36 Jahre früher sein grosser Landsmann und Kampfgenosse Galilei geboren wurde. Auf dem Campo di Fiori in Rom, wo jener Scheiterhaufen stand, hat kürzlich das freie neuerstandene Italien dem grossen monistischen Märtyrer ein Denkmal enthüllt (am 9. Juni 1889); ein beredtes Zeichen des gewaltigen Umschwungs der Zeit!

Durch die Descendenz-Theorie wird es uns zum erstenmal möglich, die monistische Lehre von der Einheit der Natur fest zu begründen; danach bietet eine mechanisch-causale Erklärung auch der verwickeltsten organischen Erscheinungen, z. B. der Entstehung und Einrichtung der Sinnesorgane, in der That nicht mehr principielle Schwierigkeiten für das allgemeine Verständniss, als die mechanische Erklärung irgend welcher physikalischen Processe, wie z. B. der Erdbeben, des Erd-Magnetismus, der Meeres-Strömungen u. s. w. Wir gelangen dadurch zu der äusserst wichtigen Ueberzeugung, dass alle Naturkörper, die wir kennen, gleichmässig belebt sind, dass der Gegensatz, welchen man zwischen lebendiger und todter Körperwelt aufstellte, im Grunde nicht existirt. Wenn ein Stein, frei in die Luft geworfen, nach bestimmten Gesetzen zur Erde fällt, oder wenn in einer Salzlösung sich ein Krystall bildet, oder wenn Schwefel und Quecksilber sich zu Zinnober verbinden, so sind diese Erscheinungen nicht mehr und nicht minder mechanische Lebens-Erscheinungen, als das Wachsthum und das Blühen der Pflanzen, als die Fortpflanzung und die Sinnesthätigkeit der Thiere, als die Empfindung und die Gedankenbildung des Menschen. Die Naturkräfte treten dabei nur in verschiedenen Verbindungen und Formen auf, bald einfacher, bald zusammengesetzter. Gebundene Spannkräfte werden frei und gehen in lebendige Kräfte über, oder umgekehrt. In dieser Herstellung der einheitlichen oder monistischen Naturauffassung liegt das höchste und allgemeinste Verdienst unserer neuen, die Krone der heutigen Naturwissenschaft bildenden Entwickelungs-Lehre.


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