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Fünfter Vortrag.

Entwickelungs-Theorie von Kant und Lamarck.

Kant's Verdienste um die Entwickelungs-Theorie. Seine monistische Kosmologie und seine dualistische Biologie. Widerspruch von Mechanismus und Teleologie. Vergleichung der genealogischen Biologie mit der vergleichenden Sprachforschung. Ansichten zu Gunsten der Descendenz-Theorie von Leopold Buch, Baer, Schleiden, Unger, Schaffhausen, Victor Carus, Büchner. Die französische Natur-Philosophie. Lamarck's Philosophie zoologique. Lamarck's monistisches (mechanisches) Natur-System. Seine Ansichten von der Wechselwirkung der beiden organischen Bildungskräfte, der Vererbung und Anpassung. Lamarck's Ansicht von der Entwickelung des Menschengeschlechts aus affenartigen Säugethieren. Vertheidigung der Descendenz-Theorie durch Geoffroy S. Hilaire, Naudin, Lecoq. Die englische Natur-Philosophie. Ansichten zu Gunsten der Descendenz-Theorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Freke, Herbert Spencer, Hooker, Huxley. Doppeltes Verdienst von Charles Darwin.

 

Meine Herren! Die teleologische Natur-Betrachtung, welche die Erscheinungen in der organischen Welt durch die zweckmässige Thätigkeit eines persönlichen Schöpfers oder einer zweckthätigen Endursache erklärt, führt nothwendig zuletzt zu ganz unhaltbaren Widersprüchen und Folgerungen. Diese zwiespältige, dualistische Natur-Auffassung steht zu der überall wahrnehmbaren Einheit und Einfachheit der obersten Natur-Gesetze im entschiedensten Gegensatz. Die Philosophen, welche dieser Teleologie huldigen, müssen nothwendiger Weise zwei grundverschiedene Naturen annehmen: eine anorgische Natur, welche durch mechanisch wirkende Ursachen (causae efficientes), und eine organische Natur, welche im Gegensatze zu ersterer durch zweckmässig thätige Ursachen (causae finales) erklärt werden muss. (Vergl. S. 31.)

Dieser Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die Naturanschauung eines der grössten deutschen Philosophen, Kant's, betrachten, und die Vorstellungen in's Auge fassen, welche er sich von der Entstehung der Organismen bildete. Eine nähere Betrachtung dieser Vorstellungen ist hier schon deshalb geboten, weil wir in Immanuel Kant einen der wenigen Philosophen verehren, welche eine gediegene naturwissenschaftliche Bildung mit einer ausserordentlichen Klarheit und Tiefe der Speculation verbinden. Der Königsberger Philosoph erwarb sich nicht bloss durch Begründung der kritischen Philosophie den höchsten Ruhm unter den speculativen Philosophen, sondern auch durch seine mechanische Kosmogenie einen glänzenden Namen unter den Natur-Forschern. Schon im Jahre 1755 machte er in seiner »allgemeinen Natur-Geschichte und Theorie des Himmels22)« den kühnen Versuch, »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen Grundsätzen abzuhandeln«, und mit Ausschluss aller Wunder aus dem natürlichen Entwickelungsgange der Materie mechanisch zu erklären. Diese Kantische Kosmogenie, welche wir nachher (im XIII. Vortrage) kurz erörtern werden, wurde späterhin von dem französischen Mathematiker Laplace und von dem englischen Astronomen Herschel ausführlicher begründet; sie erfreut sich noch heute einer fast allgemeinen Anerkennung. Schon allein wegen dieses wichtigen Werkes, in welchem exactes physikalisches Wissen mit der geistvollsten Speculation gepaart ist, verdient Kant den Ehrennamen eines Natur-Philosophen im besten und reinsten Sinne des Wortes.

Nun findet sich aber in verschiedenen Schriften von Immanuel Kant, namentlich aus den jüngeren Jahren (von 1755 bis 1775) eine Anzahl von höchst wichtigen Aussprüchen zerstreut, welche uns dazu berechtigen, Kant neben Lamarck und Goethe als den ersten und bedeutendsten Vorläufer Darwin's hervorzuheben. Professor Fritz Schultze in Dresden hat sich das grosse Verdienst erworben, diese wichtigen, aber sehr versteckten und wenig bekannten Stellen aus den Werken des grossen Königsberger Philosophen zu sammeln und kritisch zu erläutern. (Fritz Schultze, »Kant und Darwin, ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelungs-Lehre« Jena, 1875.) Es geht daraus hervor, dass Kant bereits mit voller Klarheit den grossen Gedanken der Natur-Einheit (S. 32, 46) und der allumfassenden einheitlichen Entwickelung erfasst hatte. Nicht allein behauptet er in Folge dessen die Abstammung der verschiedenen Organismen von gemeinsamen Stammformen (Descendenz-Theorie!), die »Abartung von dem Urbilde der Stammgattung durch natürliche Wanderungen« (Migrations-Theorie! S. 65); sondern er nimmt auch an (schon 1771!) »dass die ursprüngliche Gangart des Menschen die vierfüssige gewesen ist, dass die zweifüssige sich erst allmählich entwickelt und dass der Mensch erst allmählich sein Haupt über seine alten Kameraden, die Thiere, so stolz erhoben hat« (a. a. O. S. 47-50). Ja Kant ist sogar der Erste, der das Princip des »Kampfes um's Dasein« und der »Selections-Theorie« entdeckt hat, wie wir nachher noch sehen werden (a. a. O. S. 25, 56, 57, 61, 140 u. s. w.).

Wir würden daher unbedingt in der Geschichte der Entwickelungs-Lehre unserem gewaltigen Königsberger Philosophen den ersten Platz einräumen müssen, wenn nicht leider diese bewunderungswürdigen monistischen Ideen des jungen Kant später durch den überwältigenden Einfluss der dualistischen christlichen Weltanschauung ganz zurückgedrängt worden wären. An ihre Stelle treten in den späteren Schriften Kant's theils ganz unhaltbare dualistische Vorstellungen, theils unklares Schwanken zwischen ersteren und letzteren. Wenn Sie Kant's Kritik der teleologischen Urtheilskraft, sein angesehenstes biologisches Werk, lesen, so gewahren Sie, dass er sich bei Betrachtung der organischen Natur wesentlich immer auf dem teleologischen oder dualistischen Standpunkt erhält, während er für die anorgische Natur unbedingt und ohne Rückhalt die mechanische oder monistische Erklärungs-Methode annimmt. Er behauptet, dass sich im Gebiete der anorganischen Natur sämmtliche Erscheinungen aus mechanischen Ursachen, aus den bewegenden Kräften der Materie selbst erklären lassen, im Gebiete der organischen Natur dagegen nicht. In der gesammten Anorgologie« (in der Geologie und Mineralogie, in der Meteorologie und Astronomie, in der Physik und Chemie der anorganischen Naturkörper) sollen alle Erscheinungen bloss durch Mechanismus (causa efficiens), ohne Dazwischenkunft eines Endzweckes erklärbar sein. In der gesammten Biologie dagegen, in der Botanik, Zoologie und Anthropologie, soll der Mechanismus nicht ausreichend sein, uns alle Erscheinungen zu erklären; vielmehr können wir dieselben nur durch Annahme einer zweckmässig wirkenden Endursache (causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant ausdrücklich hervor, dass man, von einem streng naturwissenschaftlich-philosophischen Standpunkt aus, für alle Erscheinungen ohne Ausnahme eine mechanische Erklärungsweise fordern müsse, und dass der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung einschliesse. Zugleich meint er aber, dass gegenüber den belebten Naturkörpern, den Thieren und Pflanzen, unser menschliches Erkenntniss-Vermögen beschränkt sei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche wirksame Ursache der organischen Vorgänge, insbesondere der Entstehung der organischen Formen, zu gelangen. Die Befugniss der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen sei unbeschränkt, aber ihr Vermögen dazu begrenzt, indem man die organische Natur nur teleologisch betrachten könne.

Abweichend von diesem dualistischen Standpunkt behauptet Kant wieder an anderen Stellen die Nothwendigkeit einer genealogischen Auffassung des organischen Systems, wenn man überhaupt zu einem wissenschaftlichen Verständniss desselben gelangen wolle. Die wichtigste und merkwürdigste von diesen Stellen findet sich in der »Methoden-Lehre der teleologischen Urtheilskraft« (§ 79), welche 1790 in der »Kritik der Urtheilskraft« erschien. Bei dem ausserordentlichen Interesse, welches diese Stelle sowohl für die Beurtheilung der Kantischen Philosophie, als für die Geschichte der Descendenz-Theorie besitzt, erlaube ich mir, Ihnen dieselbe hier wörtlich mitzutheilen.

»Es ist rühmlich, mittelst einer comparativen Anatomie die grosse Schöpfung organisirter Naturen durchzugehen, um zu sehen, ob sich daran nicht etwas einem System Aehnliches, und zwar dem Erzeugungs-Princip nach, vorfinde, ohne dass wir nöthig haben, beim blossen Beurtheilungs-Princip, welches für die Einsicht ihrer Erzeugung keinen Aufschluss giebt, stehen zu bleiben, und muthlos allen Anspruch auf Natureinsicht in diesem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft so vieler Thiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Entwickelung dieser und Auswickelung jener Theile, eine so grosse Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, lässt einen obgleich schwachen Strahl von Hoffnung ins Gemüth fallen, dass hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanismus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäss erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Mosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, danach sie in Krystall-Erzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organisirten Wesen so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzustammen scheint. Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemuthmassten Mechanismen derselben, jene grosse Familie von Geschöpfen (denn so müsste man sie sich vorstellen, wenn die genannte, durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen zu lassen.«

Man muss darüber erstaunen,. wie tief und klar der grosse Denker hier die innere Nothwendigkeit der Abstammungs-Lehre erkannte, und sie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung der organischen Natur durch mechanische Gesetze, d. h. zu einer wahrhaft wissenschaftlichen Erkenntniss bezeichnete. Sobald man indessen diese Stelle im Zusammenhang mit dem übrigen Gedankengang der »Kritik der Urtheilskraft« betrachtet, und anderen geradezu widersprechenden Stellen gegenüber hält, zeigt sich deutlich, dass Kant in diesen und einigen ähnlichen Sätzen über sich selbst hinausging und seinen in der Biologie gewöhnlich eingenommenen teleologischen Standpunkt verliess. Selbst unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunderungswürdigen Satz folgt ein Zusatz, welcher demselben die Spitze abbricht. Nachdem Kant so eben ganz richtig die »Entstehung der organischen Formen aus der rohen Materie nach mechanischen Gesetzen (gleich denen der Krystall-Erzeugung)«, sowie eine stufenweise Entwickelung der verschiedenen Species durch Abstammung von einer gemeinschaftlichen Urmutter behauptet hat, fügt er hinzu: »Allein er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläontolog) muss gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmässig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzen-Reichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.« Offenbar hebt dieser Zusatz den wichtigsten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, dass durch die Descendenz-Theorie eine rein mechanische Erklärung der organischen Natur möglich werde, vollständig wieder auf. Und dass diese teleologische Betrachtung der organischen Natur bei Kant vorherrschte, zeigt schon die Ueberschrift des merkwürdigen § 79, welcher jene beiden widersprechenden Sätze enthält: »Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck.«

Am schärfsten spricht sich Kant gegen die mechanische Erklärung der organischen Natur in folgender Stelle aus (§ 74): »Es ist ganz gewiss, dass wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Natur-Gesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muss diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.« Nun ist aber dieser unmögliche Newton siebenzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen, und seine Selections-Theorie hat die Aufgabe thatsächlich gelöst, die Kant für absolut unlösbar hielt.

Im Anschluss an Kant und an die deutschen Natur-Philosophen, mit deren Entwickelungs-Theorie wir uns im vorhergehenden Vortrage beschäftigt haben, erscheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz einiger anderer deutscher Natur-Forscher und Philosophen zu gedenken, welche im Laufe unseres Jahrhunderts mehr oder minder bestimmt gegen die herrschenden teleologischen Schöpfungs-Vorstellungen sich auflehnten, und den mechanischen Grundgedanken der Abstammungs-Lehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philosophische Betrachtungen, bald mehr besondere empirische Wahrnehmungen, welche diese denkenden Männer auf die Vorstellung brachten, dass die einzelnen organischen Species von gemeinsamen Stamm-Formen abstammen müssten. Unter ihnen will ich zunächst den grossen deutschen Geologen Leopold Buch hervorheben. Wichtige Beobachtungen über die geographische Verbreitung der Pflanzen führten ihn in seiner trefflichen »physikalischen Beschreibung der canarischen Inseln« zu folgendem merkwürdigen Ausspruch:

»Die Individuen der Gattungen auf Continenten breiten sich aus, entfernen sich weit, bilden durch Verschiedenheit der Standörter, Nahrung und Boden Varietäten, welche, in ihrer Entfernung nie von anderen Varietäten gekreuzt und dadurch zum Haupt-Typus zurückgebracht, endlich constant und zur eignen Art werden. Dann erreichen sie vielleicht auf anderen Wegen auf das Neue die ebenfalls veränderte vorige Varietät, beide nun als sehr verschiedene und sich nicht wieder mit einander vermischende Arten. Nicht so auf Inseln. Gewöhnlich in enge Thäler, oder in den Bezirk schmaler Zonen gebannt, können sich die Individuen erreichen und jede gesuchte Fixirung einer Varietät wieder zerstören. Es ist dies ungefähr so, wie Sonderbarkeiten oder Fehler der Sprache zuerst durch das Haupt einer Familie, dann durch Verbreitung dieser selbst, über einen ganzen District einheimisch werden. Ist dieser abgesondert und isolirt, und bringt nicht die stete Verbindung mit andern die Sprache auf ihre vorherige Reinheit zurück, so wird aus dieser Abweichung ein Dialect. Verbinden natürliche Hindernisse, Wälder, Verfassung, Regierung, die Bewohner des abweichenden Districts noch enger, und trennen sie sich noch schärfer von den Nachbarn, so fixirt sich der Dialect, und es wird eine völlig verschiedene Sprache.« (Uebersicht der Flora auf den Canarien, S. 133.)

Sie sehen, dass Buch hier auf den Grundgedanken der Abstammungs-Lehre durch die Erscheinungen der Pflanzen-Geographie geführt wird, ein biologisches Gebiet, welches in der That eine Masse von Beweisen zu Gunsten derselben liefert. Darwin hat diese Beweise in zwei besonderen Capiteln seines Hauptwerkes (dem elften und zwölften) ausführlich erörtert. Buch's Bemerkung ist aber auch deshalb von Interesse, weil sie uns auf die äusserst lehrreiche Vergleichung der verschiedenen Sprach-Zweige und der Organismen-Arten führt, eine Vergleichung, welche sowohl für die vergleichende Sprach-Wissenschaft, als für die vergleichende Thier- und Pflanzen-Kunde vom grössten Nutzen ist. Gleichwie z. B. die verschiedenen Dialecte, Mundarten, Sprach-Aeste und Sprach-Zweige der deutschen, slavischen, griechisch-lateinischen und iranisch-indischen Grund-Sprache von einer einzigen gemeinschaftlichen indogermanischen Ur-Sprache abstammen, und gleichwie sich deren Unterschiede durch die Anpassung, ihre gemeinsamen Grundcharaktere durch die Vererbung erklären, so stammen auch die verschiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinschaftlichen Wirbelthier-Form ab; auch hier ist die Anpassung die Ursache der Verschiedenheiten, die Vererbung die Ursache des gemeinsamen Grundcharakters. Dieser interessante Parallelismus in der divergenten Entwickelung der Sprach-Formen und der Organismen-Formen ist in sehr einleuchtender Weise von einem unserer ersten vergleichenden Sprach-Forscher, von dem genialen August Schleicher erörtert worden; derselbe hat namentlich den Stammbaum der indogermanischen Sprachen in der scharfsinnigsten Weise phylogenetisch entwickelt.6)

Von anderen hervorragenden deutschen Naturforschern, die sich mehr oder minder bestimmt für die Descendenz-Theorie aussprachen, und die auf ganz verschiedenen Wegen zu derselben hingeführt wurden, habe ich zunächst Carl Ernst Baer zu nennen, den grossen Reformator der thierischen Entwickelungs-Geschichte. In einem 1834 gehaltenen Vortrage, betitelt: »Das allgemeinste Gesetz der Natur in aller Entwickelung«, erläutert derselbe vortrefflich, dass nur eine ganz kindische Natur-Betrachtung die organischen Arten als bleibende und unveränderliche Typen ansehen könne, und dass im Gegentheil dieselben nur vorübergehende Zeugungs-Reihen sein können, die durch Umbildung aus gemeinsamen Stamm-Formen sich entwickelt haben. Dieselbe Ansicht begründete Baer später (1859) durch die Gesetze der geographischen Verbreitung der Organismen.

J. M. Schleiden, welcher vor fünfzig Jahren in Jena durch seine streng empirisch-philosophische und wahrhaft wissenschaftliche Methode eine neue Epoche für die Pflanzenkunde begründete, erläuterte in seinen Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik die philosophische Bedeutung des organischen Species-Begriffs; er nahm an, dass derselbe nur in dem allgemeinen Gesetze der Specification seinen subjectiven Ursprung habe.7) Die verschiedenen Pflanzen-Arten sind nur die specificirten Producte der Pflanzen-Bildungstriebe, welche durch die verschiedenen Combinationen der Grundkräfte der organischen Materie entstehen.

Der ausgezeichnete Wiener Botaniker Franz Unger wurde durch seine gründlichen und umfassenden Untersuchungen über die ausgestorbenen Pflanzen-Arten zu einer paläontologischen Entwickelungs-Geschichte des Pflanzen-Reichs geführt, welche den Grundgedanken der Abstammungs-Lehre klar ausspricht. In seinem »Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt« (1852) behauptet er die Abstammung aller verschiedenen Pflanzen-Arten von einigen wenigen Stamm-Formen, und vielleicht von einer einzigen Urpflanze, einer einfachsten Pflanzen-Zelle. Er zeigt, dass diese Anschauungsweise von dem genetischen Zusammenhang aller Pflanzen-Formen nicht nur physiologisch nothwendig, sondern auch empirisch begründet sei.8)

In der Einleitung zu dem 1853 erschienenen »System der thierischen Morphologie« von Victor Carus steht folgender Ausspruch: »Die in den ältesten geologischen Lagern begrabenen Organismen sind als die Urahnen zu betrachten, aus denen durch fortgesetzte Zeugung und Accommodation an progressiv sehr verschiedene Lebens-Verhältnisse der Formen-Reichthum der jetzigen Schöpfung entstand.«

In demselben Jahre (1853) erklärte sich der Bonner Anthropologe Schaaffhausen in einem Aufsatze »über Beständigkeit und Umwandlung der Arten« entschieden zu Gunsten der Descendenz-Theorie. Die lebenden Pflanzen- und Thier-Arten sind nach ihm die umgebildeten Nachkommen der ausgestorbenen Species, aus denen sie durch allmähliche Abänderung entstanden sind. Das Auseinanderweichen (die Divergenz oder Sonderung) der nächst-verwandten Arten geschieht durch Zerstörung der verbindenden Zwischenstufen. Auch für den thierischen Ursprung des Menschengeschlechts und seine allmähliche Entwickelung aus affenähnlichen Thieren, die wichtigste Consequenz der Abstammungs-Lehre, sprach sich Schaaffhausen (1857) aus.

Endlich ist von deutschen Natur-Philosophen noch besonders Louis Büchner hervorzuheben, welcher in seinem berühmten Buche »Kraft. und Stoff« 1855 ebenfalls die Grundzüge der Descendenz-Theorie selbstständig entwickelte, und zwar vorzüglich auf Grund der unwiderleglichen empirischen Zeugnisse, welche uns die paläontologische und die individuelle Entwickelung der Organismen, sowie ihre vergleichende Anatomie, und der Parallelismus dieser Entwickelungs-Reihen liefert. Büchner zeigte sehr einleuchtend, dass schon hieraus eine Entwickelung der verschiedenen organischen Species aus gemeinsamen Stammformen nothwendig folge, und dass die Entstehung dieser ursprünglichen Stammformen nur durch Urzeugung denkbar sei. 10)

An der Spitze der französischen Natur-Philosophie steht Jean Lamarck, welcher in der Geschichte der Abstammungs-Lehre neben Darwin und Goethe den ersten Platz einnimmt. Ihm wird der unsterbliche Ruhm bleiben, zum ersten Male die Descendenz-Theorie als selbstständige wissenschaftliche Theorie ersten Ranges durchgeführt und als die naturphilosophische Grundlage der ganzen Biologie festgestellt zu haben. Obwohl Lamarck bereits 1744 geboren wurde, begann er doch mit Veröffentlichung seiner Theorie erst im Beginn unseres Jahrhunderts, im Jahre 1801, und begründete dieselbe erst ausführlicher 1809, in seiner classischen »Philosophie zoologique« 2). Dieses bewunderungswürdige Werk ist die erste zusammenhängende und streng bis zu allen Consequenzen durchgeführte Darstellung der Abstammungs-Lehre. Durch die rein mechanische Betrachtungsweise der organischen Natur und die streng philosophische Begründung von deren Nothwendigkeit erhebt sich Lamarck's Werk weit über die vorherrschend dualistischen Anschauungen seiner Zeit, und bis auf Darwin's Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert später erschien, finden wir kein zweites, welches wir in dieser Beziehung der Philosophie zoologique an die Seite setzen könnten. Wie weit dieselbe ihrer Zeit vorauseilte, geht wohl am besten daraus hervor, dass sie von den Meisten gar nicht verstanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeschwiegen wurde. Lamarck's grösster Gegner, Cuvier, erwähnt in seinem Bericht über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem die unbedeutendsten anatomischen Untersuchungen Aufnahme fanden, dieses epochemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher sich so lebhaft für die französische Natur-Philosophie, für »die Gedanken der verwandten Geister jenseits des Rheins«, interessirte, gedenkt Lamarck's nirgends und scheint die Philosophie zoologique gar nicht gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck sich als Naturforscher erwarb, verdankt derselbe nicht seinem höchst bedeutenden allgemeinen Werke, sondern zahlreichen speciellen Arbeiten über niedere Thiere, insbesondere Mollusken, sowie einer ausgezeichneten »Natur-Geschichte der wirbellosen Thiere«, welche 1815-1822 in sieben Bänden erschien. Der erste Band dieses berühmten Werkes (1815) enthält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Darstellung seiner Abstammungs-Lehre. Von der ungemeinen Bedeutung der Philosophie zoologique kann ich Ihnen vielleicht keine bessere Vorstellung geben, als wenn ich hier daraus einige der wichtigsten Sätze wörtlich anführe:

»Die systematischen Eintheilungen, die Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, sowie deren Benennungen, sind willkürliche Kunsterzeugnisse des Menschen. Die Arten oder Species der Organismen sind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur relative, zeitweilige Beständigkeit; aus Varietäten gehen Arten hervor. Die Verschiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die Theile der Thiere ein, ebenso der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im ersten Anfang sind nur die allereinfachsten und niedrigsten Thiere und Pflanzen entstanden und erst zuletzt diejenigen von der höchst zusammengesetzten Organisation. Der Entwickelungsgang der Erde und ihrer organischen Bevölkerung war ganz continuirlich, nicht durch gewaltsame Revolutionen unterbrochen. Das Leben ist nur ein physikalisches Phänomen. Alle Lebens-Erscheinungen beruhen auf mechanischen, auf physikalischen und chemischen Ursachen, die in der Beschaffenheit der organischen Materie selbst liegen. Die einfachsten Thiere und die einfachsten Pflanzen, welche auf der tiefsten Stufe der Organisations-Leiter stehen, sind entstanden und entstehen noch heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Naturkörper oder Organismen sind denselben Naturgesetzen wie die leblosen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Thätigkeiten des Verstandes sind Bewegungs-Erscheinungen des Centralnervensystems. Der Wille ist in Wahrheit niemals frei. Die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbindung der Urtheile.«

Das sind nun in der That erstaunlich kühne, grossartige und weitreichende Ansichten, welche Lamarck vor achtzig Jahren in diesen Sätzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begründung durch massenhafte Thatsachen nicht entfernt so, wie heutzutage, möglich war. Sie sehen, dass Lamarck's Werk eigentlich ein vollständiges, streng monistisches (mechanisches) Natur-System ist, dass alle wichtigen allgemeinen Grundsätze der monistischen Biologie bereits von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Ursachen in der organischen und anorganischen Natur, der letzte Grund dieser Ursachen in den chemischen und physikalischen Eigenschaften der Materie, der Mangel einer besonderen Lebenskraft oder einer organischen End-Ursache; die Abstammung aller Organismen von einigen wenigen, höchst einfachen Stamm-Formen oder Urwesen, welche durch Urzeugung aus anorgischer Materie entstanden sind; der zusammenhängende Verlauf der ganzen Erd-Geschichte, der Mangel der gewaltsamen und totalen Erd-Revolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wunders, jedes übernatürlichen Eingriffs in den natürlichen Weltlauf.

Dass Lamarck's bewunderungswürdige Geistesthat fast gar keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des Riesenschritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vorauseilte, theils aber auch in der mangelhaften empirischen Begründung derselben, und in der oft etwas einseitigen Art seiner Beweisführung. Als die nächsten mechanischen Ursachen, welche die beständige Umbildung der organischen Formen bewirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhältnisse der Anpassung an, während er die Form-Aehnlichkeit der verschiedenenen Arten, Gattungen, Familien u. s. w. mit vollem Rechte auf ihre Bluts-Verwandtschaft zurückführt, also durch die Vererbung erklärt. Die Anpassung besteht nach ihm darin, dass die beständige langsame Veränderung der Aussenwelt eine entsprechende Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch weiter in den Formen der Organismen bewirkt. Das grösste Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings ist diese, wie Sie später sehen werden, für die Umbildung der organischen Formen von der höchsten Bedeutung. Allein in der Weise, wie Lamarck hieraus allein oder doch vorwiegend die Veränderung der Formen erklären wollte, ist das meistens doch nicht möglich. Er sagt z. B., dass der lange Hals der Giraffe entstanden sei durch das beständige Hinaufrecken des Halses nach hohen Bäumen, und das Bestreben die Blätter von deren Aesten zu pflücken; da die Giraffe meistens in trockenen Gegenden lebt, wo nur das Laub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war sie zu dieser Thätigkeit gezwungen. Ebenso sind die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameisen-Fresser durch die Gewohnheit entstanden, ihre Nahrung aus engen, schmalen und tiefen Spalten oder Canälen herauszuholen. Die Schwimm-Häute zwischen den Zehen der Schwimm-Füsse bei Fröschen und anderen Wasser-Thieren sind lediglich durch das fortwährende Bemühen zu schwimmen, durch das Schlagen der Füsse in das Wasser, durch die Schwimm-Bewegungen selbst entstanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden diese Gewohnheiten befestigt und durch weitere Ausbildung derselben schliesslich die Organe ganz umgebildet. So richtig im Ganzen dieser Grundgedanke ist, so legt doch Lamarck zu ausschliesslich das Gewicht auf die Gewohnheit (Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe), allerdings eine der wichtigsten, aber nicht die einzige Ursache der Form-Veränderung. Dies kann uns jedoch nicht hindern, anzuerkennen, dass Lamarck die Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Anpassung und Vererbung, ganz richtig begriff. Nur fehlte ihm dabei das äusserst wichtige Princip der »natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein«, welches Darwin erst 50 Jahre später aufstellte.

Als ein besonderes Verdienst Lamarck's ist nun noch hervorzuheben, dass er bereits versuchte, die Entwickelung des Menschen-Geschlechts aus anderen, zunächst affenartigen Säugethieren darzuthun. Auch hier war es wieder in erster Linie die Gewohnheit, der er den umbildenden, veredelnden Einfluss zuschrieb. Er nahm also an, dass die niedersten, ursprünglichen Urmenschen entstanden seien aus den menschenähnlichen Affen, indem die letzteren sich angewöhnt hätten, aufrecht zu gehen. Die Erhebung des Rumpfes, das beständige Streben, sich aufrecht zu erhalten, führte zunächst zu einer Umbildung der Gliedmassen, zu einer stärkeren Differenzirung oder Sonderung der vorderen und hinteren Extremitäten, welche mit Recht als einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen Menschen und Affen gilt. Hinten entwickelten sich Waden und platte Fusssohlen, vorn Greifarme und Hände. Der aufrechte Gang hatte zunächst eine freiere Umschau über die Umgebung zur Folge, und damit einen bedeutenden Fortschritt in der geistigen Entwickelung. Die Menschen-Affen erlangten dadurch bald ein grosses Uebergewicht über die anderen Affen und weiterhin überhaupt über die umgebenden Organismen. Um die Herrschaft über diese zu behaupten, thaten sie sich in Gesellschaften zusammen, und es entwickelte sich, wie bei allen gesellig lebenden Thieren, das Bedürfniss einer Mittheilung ihrer Bestrebungen und Gedanken. So entstand das Bedürfniss der Sprache, deren anfangs rohe, ungegliederte Laute bald mehr und mehr in Verbindung gesetzt, ausgebildet und artikulirt wurden. Die Entwickelung der artikulirten Sprache war nun wieder der stärkste Hebel für eine weiter fortschreitende Entwickelung des Organismus und vor Allem des Gehirns, und so verwandelten sich allmählich und langsam die Affenmenschen in echte Menschen. Die wirkliche Abstammung der niedersten und rohesten Urmenschen von den höchst entwickelten Affen wurde also von Lamarck bereits auf das Bestimmteste behauptet, und durch eine Reihe der wichtigsten Beweisgründe unterstützt.

Als der bedeutendste der französischen Natur-Philosophen gilt gewöhnlich nicht Lamarck, sondern Etienne Geoffroy St. Hilaire (der Aeltere), geb. 1771, derjenige, für welchen auch Goethe sich besonders interessirte, und den wir oben bereits als den entschiedensten Gegner Cuvier's kennen gelernt haben. Er entwickelte seine Ideen von der Umbildung der organischen Species bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, veröffentlichte dieselben aber erst im Jahre 1828, und vertheidigte sie dann in den folgenden Jahren, besonders 1830, tapfer gegen Cuvier. Geoffroy S. Hilaire nahm im Wesentlichen die Descendenz-Theorie Lamarck's an, glaubte jedoch, dass die Umbildung der Thier- und Pflanzen-Arten weniger durch die eigene Thätigkeit des Organismus, (durch Gewohnheit, Uebung, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bewirkt werde, als vielmehr durch den »Monde ambiant«, d. h. durch die beständige Veränderung der Aussenwelt,. insbesondere der Atmosphäre. Er fasst den Organismus gegenüber den Lebens-Bedingungen der Aussenwelt mehr passiv oder leidend auf, Lamarck dagegen mehr activ oder handelnd. Geoffroy glaubt z. B., dass bloss durch Verminderung der Kohlensäure in der Atmosphäre aus eidechsenartigen Reptilien die Vögel entstanden seien, indem durch den grösseren Sauerstoff-Gehalt der Athmungs-Process lebhafter und energischer wurde. Dadurch entstand eine höhere Blut-Temperatur, eine gesteigerte Nerven- und Muskel-Thätigkeit, aus den Schuppen der Reptilien wurden die Federn der Vögel u. s. w. Auch dieser Vorstellung liegt ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber wenn auch gewiss die Veränderung der Atmosphäre, wie die Veränderung jeder anderen äusseren Existenz-Bedingung auf den Organismus direct oder indirect umgestaltend einwirkt, so ist dennoch diese einzelne Ursache an sich viel zu unbedeutend, um ihr solche Wirkungen zuzuschreiben. Sie ist selbst unbedeutender, als die von Lamarck zu einseitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt-Verdienst von Geoffroy besteht darin, dem mächtigen Einflusse von Cuvier gegenüber die einheitliche Natur-Anschauung, die Einheit der organischen Form-Bildung und den tiefen genealogischen Zusammenhang der verschiedenen organischen Gestalten geltend gemacht zu haben. Die berühmten Streitigkeiten zwischen den beiden grossen Gegnern in der Pariser Academie, insbesondere die beiden heftigen Conflicte am 22. Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den lebendigsten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vortrage erwähnt (S. 77, 78). Damals blieb Cuvier der anerkannte Sieger, und seit jener Zeit ist in Frankreich Wenig für die weitere Entwickelung der Abstammungs-Lehre, und für den Ausbau einer monistischen Entwickelungs-Theorie geschehen. Offenbar ist dies vorzugsweise dem hinderlichen Einflusse zuzuschreiben, welchen Cuvier's grosse Autorität ausübte. In keinem wissenschaftlich gebildeten Lande Europa's hat Darwin's Lehre zunächst so wenig gewirkt und ist so wenig verstanden worden, wie in Frankreich. Die Academie der Wissenschaften in Paris hat sogar den Vorschlag, Darwin zu ihrem Mitgliede zu ernennen, mehrmals verworfen, ehe sie sich selbst dieser höchsten Ehre für würdig erklärte. Unter den neueren französischen Naturforschern (vor Darwin!) sind nur noch zwei angesehene Botaniker hervorzuheben, Naudin (1852) und Lecoq (1854), welche sich zu Gunsten der Veränderlichkeit und Umbildung der Arten auszusprechen wagten.

Nachdem wir die älteren Verdienste der deutschen und französischen Natur-Philosophie um die Begründung der Abstammungs-Lehre erörtert haben, wenden wir uns zu England, welches seit dem Jahre 1859 der eigentliche Ausgangs-Heerd für die weitere Ausbildung und die definitive Feststellung der Entwickelungs-Theorie geworden ist. Im Anfange unseres Jahrhunderts haben die Engländer an der festländischen Natur-Philosophie und an deren bedeutendstem Fortschritte, der Descendenz-Theorie, nur wenig Antheil genommen. Fast der einzige ältere englische Naturforscher, den wir hier zu nennen haben, ist Erasmus Darwin, der Grossvater des Reformators der Descendenz-Theorie. Er veröffentlichte im Jahre 1794 unter dem Titel »Zoonomia« ein naturphilosophisches Werk, in welchem er ganz ähnliche Ansichten, wie Goethe und Lamarck, ausspricht, ohne jedoch von diesen Männern damals irgend Etwas gewusst zu haben. Die Descendenz-Theorie lag schon damals gleichsam in der Luft. Auch Erasmus Darwin legt grosses Gewicht auf die Umgestaltung der Thier- und Pflanzen-Arten durch ihre eigene Lebens-Thätigkeit durch die Angewöhnung an veränderte Existenz. Bedingungen u. s. w. Sodann spricht sich im Jahre 1822 W. Herbert dahin aus, dass die Arten oder Species der Thiere und Pflanzen Nichts weiter seien, als beständig gewordene Varietäten oder Spiel-Arten. Ebenso erklärte 1826 Grant in Edinburg, dass neue Arten durch fortdauernde Umbildung aus bestehenden Arten hervorgehen. 1841 behauptete Freke, dass alle organischen Wesen von einer einzigen Urform abstammen müssten. Ausführlicher und in sehr klarer philosophischer Form bewies 1852 Herbert Spencer die Nothwendigkeit der Abstammungs-Lehre und begründete dieselbe näher in seinem 1858 erschienenen vortrefflichen »Essays« und in den später veröffentlichten »Principles of Biology« 65). Derselbe hat zugleich das grosse Verdienst, die Entwickelungs-Theorie auf die Psychologie angewandt und gezeigt zu haben, dass auch die Seelen-Thätigkeiten und die Geistes-Kräfte nur stufenweise erworben und allmählich entwickelt werden konnten. Endlich ist noch hervorzuheben, dass 1859 der Erste unter den englischen Zoologen, Huxley, die Descendenz-Theorie als die einzige Schöpfungs-Hypothese bezeichnete, welche mit der wissenschaftlichen Physiologie vereinbar sei. In demselben Jahre erschien die »Einleitung in die Tasmanische Flora«, worin der berühmte englische Botaniker Hooker die Descendenz-Theorie annimmt und durch wichtige eigene Beobachtungen unterstützt.

Sämmtliche Naturforscher und Philosophen, welche Sie in dieser kurzen historischen Uebersicht als Anhänger der Entwickelungs-Theorie kennen gelernt haben, gelangten im besten Falle zu der Anschauung, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die allmählich veränderten und umgebildeten Nachkommen von einer einzigen, oder von einigen wenigen, ursprünglichen, höchst einfachen Stamm-Formen sind; und dass letztere einst durch Urzeugung (Generatio spontanea) aus anorgischer Materie entstanden. Aber keiner von jenen Natur-Philosophen gelangte dazu, diesen Grund-Gedanken der Abstammungs-Lehre ursächlich zu begründen, und die Umbildung der organischen Species durch den wahren Nachweis ihrer mechanischen Ursachen wirklich zu erklären. Diese schwierigste Aufgabe vermochte erst Charles Darwin zu lösen, und hierin liegt die weite Kluft, welche denselben von seinen Vorgängern trennt.

Das ausserordentliche Verdienst Darwin's ist nach meiner Ansicht ein doppeltes: er hat erstens die Abstammungs-Lehre, deren Grund-Gedanken schon Goethe und Lamarck klar aussprachen, viel umfassender entwickelt, viel eingehender verfolgt und viel strenger im Zusammenhang durchgeführt, als alle seine Vorgänger; und er hat zweitens eine neue Theorie aufgestellt, welche uns die natürlichen Ursachen der organischen Entwickelung, die wahren, bewirkenden Ursachen der organischen Form-Bildung, der Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzen-Arten enthüllt. Das ist die Theorie von der natürlichen Züchtung (Selectio naturalis).

Um die Bedeutung dieses doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken, dass fast die gesammte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten Anschauungen huldigte, und dass fast bei allen Zoologen und Botanikern die absolute Selbstständigkeit der organischen Species als selbstverständliche Voraussetzung aller Form-Betrachtungen galt. Das falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allgemeine Geltung gewonnen, und wurde ausserdem durch den trügenden Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt, dass wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft und Verstand dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das künstlich darauf errichtete Lehr-Gebäude zu zertrümmern. Ausserdem brachte uns aber Darwin noch den neuen und höchst wichtigen Grund-Gedanken der »natürlichen Züchtung«.

Man muss diese beiden Punkte scharf unterscheiden, – freilich geschieht es häufig nicht, – man muss scharf unterscheiden erstens die Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie von Lamarck, welche bloss behauptet, dass alle Thier- und Pflanzen-Arten von gemeinsamen, einfachsten, spontan entstandenen Urformen abstammen – und zweitens die Züchtungs-Lehre oder Selections-Theorie von Darwin, welche uns zeigt, warum diese fortschreitende Umbildung der organischen Gestalten stattfand, welche mechanisch wirkenden Ursachen die ununterbrochene Neubildung und die immer wachsende Mannichfaltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen.

Eine volle und gerechte Würdigung kann Darwin's unsterbliches Verdienst erst später erwarten, wenn die Entwickelungs-Theorie, nach Ueberwindung aller entgegengesetzten Schöpfungs-Theorien, als das oberste Erklärungs-Princip der Anthropologie, und dadurch aller anderen Wissenschaften, anerkannt sein wird.

Gegenwärtig, wo in dem heiss entbrannten Kampfe um die Wahrheit Darwin's Name den Anhängern der natürlichen Entwickelungs-Theorie als Losung dient, wird sein Verdienst oft in entgegengesetzter Richtung verkannt. Die Einen sind nicht selten ebenso geneigt, es zu überschätzen, als die Anderen es herabzusetzen.

Ueberschätzt wird Darwin's Verdienst, wenn man ihn als den Begründer der Descendenz-Theorie oder gar der gesammten Entwickelungs-Lehre bezeichnet. Wie Sie aus der historischen Darstellung dieses und der vorhergehenden Vorträge bereits entnommen haben, ist die Entwickelungs-Theorie als solche nicht neu; alle Natur-Philosophen, welche sich nicht dem blinden Dogma einer übernatürlichen Schöpfung gebunden überliefern wollten, mussten eine natürliche Entwickelung annehmen. Aber auch die Descendenz-Theorie, als der umfassende biologische Theil der universalen Entwickelungs-Lehre, wurde von Lamarck bereits so klar ausgesprochen, und bis zu den wichtigsten Consequenzen ausgeführt; dass wir ihn als den eigentlichen Begründer derselben verehren müssen. Daher darf nicht die Descendenz-Theorie als Darwinismus bezeichnet werden, sondern nur die Selections-Theorie.

Unterschätzt wird Darwin's Verdienst natürlich von allen seinen Gegnern. Doch kann man von wissenschaftlichen Gegnern desselben, die durch gründliche biologische Bildung zur Abgabe eines Urtheils berechtigt wären, eigentlich nicht mehr reden. Denn unter allen gegen Darwin und die Descendenz-Theorie veröffentlichten Schriften kann mit Ausnahme derjenigen von Agassiz keine einzige Anspruch überhaupt auf Berücksichtigung, geschweige denn Widerlegung erheben; so offenbar sind sie alle entweder ohne gründliche Kenntniss der biologischen Thatsachen, oder ohne klares philosophisches Verständniss derselben geschrieben. Um die Angriffe von Theologen und anderen Laien aber, die überhaupt Nichts von der Natur wissen, brauchen sich die Natur-Forscher nicht weiter zu kümmern.

Der berühmteste und entschiedenste wissenschaftliche Gegner Darwin's war Louis Agassiz. Er verwarf überhaupt die ganze Entwickelungs-Theorie. Seine principielle Opposition verdient Beachtung, wenn auch nur als philosophische Curiosität. In der 1869 in Paris erschienenen französischen Uebersetzung seines vorher von uns betrachteten »Essay an classification« 5) hat Agassiz seinen schon früher vielfach geäusserten Gegensatz gegen den »Darwinismus« in die entschiedenste Form gebracht. Er hat dieser Uebersetzung einen besonderen, 16 Seiten langen Abschnitt angehängt, welcher den Titel führt: »Le Darwinisme. Classification de Haeckel.« In diesem sonderbaren Capitel stehen die wunderlichsten Dinge zu lesen, wie z. B.: »Die Darwin'sche Idee ist eine Conception a priori. – Der Darwinismus ist eine Travestie der Tatsachen. – Der Darwinismus schliesst fast die ganze Masse der erworbenen Kenntnisse aus, um nur das zurückzubehalten und sich zu assimiliren, was seiner Doctrin dienen kann!«

Das heisst denn doch die ganze Sachlage vollständig auf den Kopf stellen! Der Biologe, der die Tatsachen kennt, muss über den Muth erstaunen, mit dem Agassiz solche Sätze ausspricht. Sätze, an denen kein wahrer Buchstabe ist, und die er selbst nicht glauben kann! Die unerschütterliche Stärke der Descendenz-Theorie liegt gerade darin, dass sämmtliche biologische Thatsachen eben nur durch sie erklärbar sind, ohne sie dagegen unverständliche Wunder bleiben. Alle unsere »erworbenen Kenntnisse« in der vergleichenden Anatomie und Physiologie, in der Embryologie und Paläontologie, in der Lehre von der geographischen und topographischen Verbreitung der Organismen u. s. w., sie alle sind unwiderlegliche Zeugnisse für die Wahrheit der Descendenz-Theorie.

Mit Louis Agassiz ist im December 1873 der letzte Gegner des Darwinismus in's Grab gestiegen, der überhaupt wissenschaftliche Beachtung verdiente. Seine letzte Schrift (erst nach seinem Tode in dem »Atlantic Monthly« vom Januar 1874 erschienen) behandelt die »Entwickelung und Permanenz des Typus«; sie ist speciell gegen Darwin's Ideen und gegen meine phylogenetischen Theorien gerichtet. Allein der eigentliche Kern der Sache wird darin gar nicht berührt. Die ausserordentliche Schwäche dieses letzten Versuches beweist deutlicher, als alles Andere, dass das Arsenal unserer Gegner völlig erschöpft ist.

Ich habe in meiner generellen Morphologie 4) und besonders im sechsten Buche derselben (in der generellen Phylogenie) den »Essay on classification« von Agassiz in allen wesentlichen Punkten eingehend widerlegt. In meinem 24sten Capitel habe ich demjenigen Abschnitte, den er selbst für den wichtigsten hielt (über die Gruppenstufen oder Kategorien des Systems) eine sehr ausführliche und streng wissenschaftliche Erörterung gewidmet; ich glaube gezeigt zu haben, dass dieser ganze Abschnitt ein reines Luftschloss, ohne jede Spur von realer Begründung ist. Agassiz hat sich aber wohl gehütet, auf diese Widerlegung irgendwie einzugehen; er war auch nicht im Stande, irgend etwas Stichhaltiges dagegen vorzubringen. Er kämpfte nicht mit Beweisgründen, sondern mit Phrasen! Eine derartige Gegnerschaft wird aber den vollständigen Sieg der Entwickelungs-Theorie nicht aufhalten, sondern nur beschleunigen!


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