Alexander Xaver Gwerder
Gedichte
Alexander Xaver Gwerder

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Ein Abend, eine Straße und ein Mittag in der City

Präludium

                          Niemand ist in dem zuhause,
was sich jede Stunde sammelt –
leichte Brise, Hochzeitsflüge, Sturm
und dunkler Taten Keim. Lustraketen, Leidkometen
schießen millionenfältig
auf das brache Saatland Stirn . . .
Dieser lächelt: «Hallo chérie!» Jene stammelt:
«Gott, bist du's?»
Und schon strandet ihre Fähre –
Rio, Melbourne, Wien, Paris –
acherontisch, selbstbewußt.

Eingestiegen! Tier und Zierat,
Ohnmachtdumpfes treibt im Stamm –
Freude, Trost, Gefängnis, Villen:
Alles lebt in blindem Bann;
Pappelreihen, Tram, Vitrinen,
alles: Langspielplattenrillen . . .

Wer hat je den Traum erkundet, diesen,
der soeben stieg? Weder Unheil
noch die Wunder
schweben Licht auf unsre Schwellen –
Nur die Tropfen auf den Fliesen,
Tropfen Bluts und Hundebellen,
Biß und Rausch ist unser Teil!

Wer durchschaut die Knospe, ehe
dieser zügellose Geist
vor den Augen aller spaltet,
was den Vorhang nach den Glücken,
nach dem Irrtum niederreißt?

Welch ein Nachtstück ohne Zeugen!
Welch ein Bündel auf den Teetisch!
Niemand soll dem Tag sich beugen,
denn die Schächte ziehn magnetisch
alle Helligkeiten tief . . .
Nur ein Kumpel in den Gluten,
der des Traumes Rätselruten
nicht ersehnt und nicht verschlief,
spürt des Alltags klamme Hand,
zittert vor dem Wetterschlage,
gräbt das eigne Herz zutage:

Sieht es schreckerfüllt in Brand!

 
I

                      Sie trafen sich jenseits der Brücke,
des Abends und mitten im Februar. Es schneite,
stob mit Kristallen, schleppte, klirrte und tutete
vor Mandalay –
Fernher glomm Golgatha, Tauben
rauchten am Spieß, Grill aus den Restaurants.
Die Arche ging unter, Tiere schrien nach Vergeltung,
während die Gewerkschaft der Garagisten
den Ölzweig
auf ihre Fahne heftete.

Triumphzug! Tremolo! Reiherkarawanen
mit geschwellten Segeln nach Sidi-Bel-Abbès –, doch
Körbe voll Formulare
rollten jedermann zwischen die Stelzen.
Alles fiel! Kunterbunt Schmerz und Gelächter.
Für zwanzig Rappen, zu ewiger Heiterkeit
empfahl die Tagespresse «Fleurs du mal»,
auch Schrebergärten...

Jenseits der Brücke –: so lagen die Dinge,
als sie sich trafen. Gestrüpp von Blicken,
Dschungeln mit Tigerritt, Bengalenzungen und
Stempelgebühr. Dann fleißig die Achterbahn:
Figuren, bürgerlich, auf Hochglanz zu schlingern. Steine,
Findlinge gar, Gletschermühlen, in denen die immer
selben Gedanken sich schliffen. Gedanken
vom Rollen der Münze, vom Zeigen
der Schecks und Schlafkabinen – Konfetti,
der kurze, künstliche Rausch aus Papier –
eignes Theater: die Widernatur dramatischer Verse –
dazu: Kinos, Kassen, «Hôtel du Nord» und drüber:
Wir haben noch weit!

So
liefen sie Hand in Hand, wollten
ihre Finsternis zwingen, wollten das Dämmergesicht,
einen grauen Morgen, eine Lust der Vermummung
zum Bahnhof bringen, zur endlichen Abfahrt. Nun gehe,
nun warte blitzten Signale, warte! gehe! . . .
Klerikale Kadenzen der Tollheit riefen als Schicksal,
trugen die Häupter hoch, salbten, behängten sich
mit Stolen –, rechts Kreuz, links die Ketten.

Wohin denn? Noch weiter? Hoch die See? Freitreppen?
Kulissenschieber zwischen Phantomen, oder
quer zum Rinnstein das schwere Leichthin: La vie
c'est d'apprendre à mourir? Wohin denn – beide
glaubten sie nicht an Gott, und auch sonst
stimmten sie oft überein –
War es zu spät? War Herbst, Apfelfall, Sintflut
mit Chrom, Lack und Bierbauch?

Oh, was bewahrt schon den Wert einer Stunde! Was
blieb denn
nach dem Sturz in muffige Keller? Selbst der Pudel,
das Tier großer Dichtungen, schnupperte heimlich
an ihren Strümpfen –, indeß: das Schweigen
nach jedem Satze, verwandten sie dazu,
nett und niedlich das zu bereden,
woran sich zu glauben lohnt. Er aber
sagte ihr nicht, daß er den Aufruhr gestiftet,
die Fackelhelle der Mordnacht –, sagte nur,
daß er sich Verse erfände, sich zu besänftigen.

«Nimm
meinen kleinen Aufschwung, meinen Wahnsinn»,
war ihre Antwort, «heut hab ich Ausverkauf» . . . Nun:
so umgab ihn der gemeine Reiz der Illusionen.
Er sah sich in Spiegeln und glaubte,
Visionen gehabt zu haben, und sah,
was er gesehen haben möchte.

Sie tranken zusammen noch Tee, standen fröstelnd
am offenen Fenster, besahen den Schneemann im Hof –
er würde tauen morgen: drei Eimer schmutzige Flut,
der Ball zu Ende, darunter die Leiche – Spülicht
über Robe und Rassenhaß, paarweis in den Wind getrieben
kippende Dochte, Zischen des stickigen Alltags –
dann trümmerbrechende Halme, das Knirschen der Gehäuse
und drinnen noch weiches Fleisch,
gibt sich den Anschein: es sei
alles in Ordnung –:

Sie lachten zuweilen und löschten die Lampe nicht.

 
II

                      Während ein bleicher Tagmond durch die Kastanien weint
zog er mit einem Blattstiel
auf jeder Plakatsäule naß
ihre Namen nach: Rheila, Rinetta, Raulur . . .
daß ihn die Kälte schlug, daß ihre Ketten ihn jagten,
jener hohlen Musik zu, die pfiff und sägte, in seltsamer
Körnung durch seine Adern stelzte und glitt:
Ein offenes Land, ein Weidegrund, unübersehbar, stumpf
und in Nebeln. Dann Karussel,
Kehraus . . . die Optik der Trauer.
Irrsinniger Schlaf und die schnappende Flügeltür –
Zerknirschung und Eintritt: Fluch, oben, von der stiebenden Tenne,
ging die Niggerband los, die Wirbel von Singsing – Röhren
mit Rouge verklebt, Schlitze voll Whisky, Hände
zu Knoten, Hände zu Riß und Gewalttat zwischen
die Schulterblätter der Damen... Oh,
es ergriff ihn der Abscheu. Das Credo
quia absurdum est sang er denn doch nicht. Lieber
kreuzte er wieder auf gegen die höllische Akustik
der City, zog seine Sinne hinter das Halstuch
und erfand zu den flüchtigen Schritten die Monotonie
fremdländischer Spiele: – Opiumball unter Lamm und Lotos,
mit jener indischen Prinzin aus ehernen Mathematik-
Vormittagen, aus den Stunden der Schiefer- und
Kreidezeit –: die Saurier traten
schon damals hoch, aufrecht
und benutzten ihre Vorderbeine dazu,
nichtsahnenden Kindern mit Ruten und Rasen
die Ahnung zu bringen.
Opiumball –: es kam darauf an, übereinzustimmen,
auf scheußlichen Klippen
ohne Absturz die Würfe zu fangen,
die dem andren galten. Das ferne Vergessen, unmögliche Ruh
am Teiche der Buddhen – oder Sansaras Rad: die elftausend
Kilometer pro Herzschlag ohne Felgenriß – die
Herdenfeuer Gethsemanes, nebst dem Gemurmel
verwaschner Chimären von Notre Dame . . .

Was sollten sie hier um Gnade bitten, was sollten sie
niedersinken vor Unbegreiflichem? Also
ließen sie's –

Und weiter
über die Kreuzung totaler Vernunft, über
die Schottergrube der Herzen – sich selber versuchte
er zu überreden, an jenen zu glauben,
der er sein könnte –, an jenen, der damals im Dornbusch,
ohne zu brennen, den Rippen entlang der Kastanienblätter
mit spitzen Fingern verlegen Figuren riß...

Das geheime Elend
und die unsichtbare Verachtung geliebter Geister
stellte sich dann dar – Oh, er las
von Erdbeben, von Erschütterungen langer Traurigkeit,
von den Blitzen des Glücks – und die gestrige Stunde nun
ward eine Pflanze im Garten seiner Versuche, im Park
der Versteinerungen, im Lavafeld seiner Meisterstücke
der Vorstellung . . .

Dies blendende Passée: Du
bist mein Schatten,
wenn ich das Licht scheue, meidest du mich: Ja,
sie hatten wohl recht, diese Narren. Oft
hatte er's mythologisch getrieben, mit großem Pomp, hatte
gemalt mit der Inbrunst Fra Angelicos, hatte gedichtet
unter den unglaublichen Gluten des Orion, hatte
den Zweifel gesprengt, um jahrelang auszuhalten
im Kometenregen seiner Trümmer – und jetzt: ich bin
nicht mehr
als ein Experiment meiner selbst!

Was war wirklich
in diesem Zeitalter plebejischer Hintergründe? Sieh
die Lehrers, die Pfarrers, und all jene zwiefachen Elemente
der Geisterseher und Rückbinder mit frommen Torturen –:
wie sie forschten und fragten und letztlich nichts andres
als «nicht daß ich wüßte» bekamen . . .

Oh, über die Abende, da man sich küßte, über die Hügel,
da man sich sicher wähnte vor Gott und dem Vater,
über die Abgründe, da man sich wagte, unter Zähnen
und Zuckungen sein Herz an die Erde schlug –
                                                                          «Man stieg
aus dem Fenster, die Nachbarschaft schlief, bis auf den
Hund, den man kannte – ob nicht das Blechdach knickt, ob nicht
der Baum zu sehr – schon war man drüben, kniend
auf dem Schotter, sprang Schwellen entlang, geräuschlos
in Turnschuhen – dann rechts in die Büsche, wo die Geleise
so seltsam im Monde durchschimmerten . . .
                                                                      ein einziger Pfiff
war die Posaune der Jüngsten, die Fanfare zum Blocksberg,
entlockte dem Vorhang die weiße Gestalt –
welche nun sehen konnte, was sie schon wußte, welche
man greifen konnte, sie,
die schon zur Mechanik der Abendgebete begriffen ward.
Dann:
          den Pflock von den Lippen und rittlings
über Terrassen hinab . . . Oh, die Verhandlung war kurz,
das Gericht gnädig: man verlöschte die Folterfeuer.»

Vergeblich . . . jetzt schwang die Stadt ihre Dünung aus:
Kummer und Traum unter nüchterne Torbögen. Strömendes
flog auf, die Geier aus der Allee, die Tauben von der Treppe,
und durch die Dämmerung kroch ehern die Schlange . . .

 
III

                    Es gab eine Sonne, die lieblich spielte
mit Jalousien und Gardinen – auch roch's von draußen
nach Lokomotive – kurz: es war Mittag,
und er erwachte, tauchte auf aus der U-Bahn bewußtlosem
Hin und Her, fingerte sacht sich den Wurzeln entlang
verschwiegner Gewächse und landete langsam
mit dem Rest der Gedanken
im Linnen . . .
Vor und zurück
eine Hand auf der Schatten Klaviatur – die seine –,
und als er sie kannte, fand er sie hübsch. Er hörte
Chopin auf Palma Mallorca, tat Schritte im Unwägbaren
fremden Nachmittags und begegnete
zwischen Sund und Palmen der Sand. Ach, die Sand!
Angelpunkt, mediterran – doch Blüte und Weidenzweig auch
– über zu Butterfly: Gestern? Dann: Schatten,
Schatten und Schlaf . . .
Kein Wäldertraum spülte ihm Licht, kein Herodot
spielte die Bälle ihm zu. Ein Nachmittag, irgend
ein eigner mußte jetzt helfen: ein Segel, irgendein Segel,
womöglich in Rot sollte rauschen –, sprühen durch Riff
und Geström, bis zerspellte in Flut vor Korallen
alle Untat des rettenden Augenblicks –
                                                              «Wir standen
im kahlen Vorhof der legitimen Schinderhütte, im Raum
jenseits des Lebens – vor dem ledernen Roulette
der Militärs.
Wer begriff je, daß in der Welt ›ewiger Werte‹,
wo von Kultur gespuckt, von Freiheit gefaselt und
von den süßen Giften des Herzens knien dieselben, die hier,
die höllische Geißel zu schwingen ›ins Auge uns faßten‹ –?
Abgeschätzt, sichere Zweihufer, geschoren auf zéro
millimètre, wie der oberste Wanst sich auszudrücken beliebte,
so
standen wir da, vor der Guillotine des Geistes,
den Koffer links in der Hand, um später
den Zivilisten nach Hause zu schicken – später,
wenn man eingestaucht wäre in beißende
Futterale des Vaterlandes . . . Oh die Gesetze
des Unsinns
zeigten an jenem Tag sich im vollen Wichs. Aber viele
glaubten, es sei eine Sache des Spiels: so viel Zucker
und Zauber war diesen im Alltag; andre hingegen
bekamen Heimweh nach einem Verbrechen, nach einem
blauen gedunsenen Bauch
ohne Uniform.»

War dies der Nachmittag?

Weh! Diese nagenden Wellen um Daphne! Diese Bannung
am Rande des Rosenhoch! Gestalt gib, eine schaumgeborene!
Den Rest in Kanus, Hibiskus über Atollenchor! Nichts weiter –
Seine Hand liegt auf moll, wo das Vergessen lauert und spinnt
am lauen Netz zufriedener Blindheit, wo die Brücken
von San Louis Rey reißen, wo die Totenschiffe, die schlammigen
Wracke
träumen von Wollust und Wiederkehr...

Gestern? Nein: Schatten,
Schatten und Schlaf!

 


 


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