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Sitte und Sitten.

Aus einem ungedruckten Romane.

Tante Rebekka an den Pfarrer.

Ehrwürdiger Freund und lieber Vetter!

Ist dem armen Thiere denn auch nichts geschehen? Wie man in der Eile einer Reise Alles vergessen kann, sein Theuerstes und Liebstes! Ich sage noch zu Jenny, hab' ich nichts vergessen? Ist Alles in Ordnung? Sie lacht dazu, was mir schon nicht gefallen hat, da ich ihrem Herzen in einem Augenblicke, wo man sich trennt und nichts mehr hat auf der Welt, das Einen erfreuen könnte, als das Wiedersehen, eine solche Gefühllosigkeit nicht zugetraut hätte. Ich sagt' es ihr auch und wollt' ihr den Dienst kündigen, da ich sie ja doch zurücklasse, und sie nichts zu thun hat und blos sehen muß, daß Alles da stehen bleibt, wo ich es hingestellt habe; aber sie sagte, ordentlich beschämt, sie müsse immer lachen, wenn sie nicht weinen wolle. Nun hätte sie aber wohl weinen können und sich durch Gelächter nicht zu helfen brauchen; überdieß mir auch noch den Kummer zu machen, daß Pipi vorm Fenster hängen geblieben ist, während es anfing zu regnen. Nicht gleich, sondern ich mochte schon mit William eine Stunde gefahren seyn. Der Himmel überzog sich an allen Ecken und sah bald nur noch wie ein großer Scheuerlappen aus. Indem es schon regnete, fällt mir Pipi ein, der draußen hängen geblieben und nun der Vogel, Jenny's gefühlloses Gelächter, Sie, mein Freund und Vetter, mit ihrem frommen Segen und das Gewitter -- ach! ich hatte außer William keine Hülfe mehr, als meine Thränen. Das Thier muß den Tod davon gehabt haben; denn Jenny, da war ich verrathen genug, die ließ ihn hängen, und wird wohl an seinem Grabe auflachen, warum? weil sie nicht weinen will. Vetter, jagen Sie den Knochen aus meinem Hause! Ich wenigstens, so lange ich lebe, will ich von den neuen Moden nichts wissen. Wohl dem, dem sein Erlöser nah!

Schon zehn Meilen von Hause hab' ich den neuen Weltlauf kennen gelernt. In dem Gasthofe, wo ich nun noch den Schmerz hatte, mich von William zu trennen und die Landkutsche zu erwarten, auch keine Seele, die mich verstanden, oder, wenn sie mich verstanden, die mich nicht durch ihr gefühlloses Benehmen empfindlich gekränkt hätte. Glauben Sie denn wohl, daß ich bei irgend Jemanden für Pipi ein freundschaftliches Bedauern hätte erwecken können? Selbst der Wirth, der doch die Verpflichtung hat, seinen Gästen Alles, was sie wünschen und vermissen, an den Augen abzusehen, lachte mich aus, gleichsam als wollt' er sagen: Hier in der Runde gibt es nur einen Gasthof, der Ruf hat, und der rothe Löwe hätte nicht nöthig, sich um Andere ein Bedenken zu machen. So sieh' einmal Einer an, ich hätte sogar an seinen Mittagstisch nicht kommen mögen; denn er selbst saß oben an und tranchirte, was eine unsaubre Mode ist, wie Alles, das wir den Franzosen verdanken. Wie sonst die französischen Emigranten zu uns kamen und statt Suppe Rindfleisch essen lernten, brachten sie doch Manieren von Welt und Sitte mit. Sie waren Stutzer oder Affen; aber es lag doch eine Art darin. Nun die Franzosen nicht mehr reisen und nur noch die Engländer, so bringen die uns gerade aus Frankreich das schlechteste mit, was in dem Lande außer Rebellion und, nachdem Napoleon auch fort ist, noch drinnen geblieben ist. Der Wirth saß mit an der Tafel und war überhaupt in der Stadt eher der Herr als der Diener Aller. Ich wollte mit ihm über eine bequemere Einrichtung in meinem Zimmer sprechen. Er sah mich vornehm an und verwies mich an das Gesinde. Für die Empfangnahme des Geldes war ein eignes Frauenzimmer aufgeputzt, das hinter einem Tische in einer Ecke des untern Saales wie bei Wachsfigurenkabinetten saß. Ueber jeden Gast wurde statt des Kerbholzes doppelte italienische Buchhaltung geführt; ich erhielt für jede Tasse Thee, die ich forderte, ein eignes Folio in diesem Bankwesen. Statt mirs bequem zu machen, mußt' ich mich geniren. Früher war man, so lange man zahlte; Herr im Wirthshause, jetzt steht man zu dem Prellervolke im Verhältniß einer weitläufigen Gastfreundschaft. Wenn das in kleinen Städten so ist, dacht' ich, wie wird das in London seyn! Und während dem klopft' es an meine Thür. Ich hatte mich so eben etwas gelegt, weil die Landkutsche in einer Stunde eintreffen sollte, und ein Theil der Nacht hindurch gefahren wurde. Ohne noch mein Herein! abzuwarten, tritt ein Frauenzimmer zu mir herein, ich kann wohl sagen, von einem ausnehmend zweideutigen Charakter. Ich frage, was ihr Begehr sey? Statt dessen fixirte sie an mir alle diejenigen Theile des Körpers, von welchen man zu gebildeten Menschen nicht spricht. Sie setzte einige Cartons auf den Tisch und fing an: Alles aus Paris; ächt und leicht, elastisch und bis zur Täuschung, für vorn und hinten, Alles aus einer Fabrik. Ich bekam in dem Augenblick das Zittern, weil ich hier Unrath merkte und ganz allein dastand. Ich fürchtete, schon von dem Namen der käuflichen Dinge beleidigt zu werden, und lief immer röther und röther an, als hätt' ich ein Nesselfieber. Um Jesu Willen! schrie' ich, als das Weib anfing, ihre Cartons zu öffnen, und mir Dinge zeigen wollte, für welche sie die prächtigsten Namen hatte, von denen mir aber der Gebrauch so räthselhaft und so empfindlich war, daß ich ihr rieth, mich und meinen ehrlichen Namen in Ruhe zu lassen. Sie replizirte, daß die vornehmsten Frauen sich nicht scheuten, ihre mangelnden oder bereits verblühten Schönheiten durch diese künstlichen zu ersetzen, auch hätte sie ein gut assortirtes Lager von Zähnen, theils einzelnen, theils ganzen Gebissen. Ich wußte aber zu gut, daß diese Zähne nicht von Elfenbein sind, sondern den Dieben und Mördern vom Galgen gestohlen werden und innerhalb der ruchlosen Mäuler, die sich damit garniren lassen, in den Verwesungsprozeß übergehen. Ich bat sie um Gottes Willen, mir vom Leibe zu bleiben. Ich kann Ihnen, mein ehrwürdiger Freund und Vetter, kein Bild von dieser Scene entwerfen. Da das Weib nicht hören wollte, sondern unausgesetzt an mir herumtastete und mir ihre elastischen Sündenpolster vorn und hinten anschnallen wollte, so schrie ich zuletzt laut auf und lief zur Thür hinaus, weil ich den Sprung aus dem Fenster nicht wagen wollte. Indem fällt mir ein, daß ich meinen Koffer nicht verschlossen hatte. Ich will wieder hinein, aber mein Lärmen hat die nächsten Hausbewohner in Bewegung gesetzt. Sie eilen mir zur Hülfe und treten in mein Zimmer, wo die Kupplerin des Satans eben ihre pariser Bescheerungen einpackt. Die Frauen ziehen sich beschämt zurück, und den Männern muß ich über diesen unanständigen Vorgang Rede und Antwort geben. Das Weib geht lachend davon, und die Männer sind roh genug, mit einzustimmen. Ich befand mich, was Moral betrifft, in jeder Beziehung auf der Landstraße.

Wahrscheinlich veranstalten die Wirthe selbst dergleichen Belästigungen ihrer Gäste. Das nennt man in jetziger Zeit einen mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Gasthof! Manches in ihren Sünden eitle Weib ist froh, in einem Gasthofe das zu finden, was ihr in ihrem Hause nie begegnen würde. Aber wer noch auf alte Zucht und Sitte etwas hält, den hält dann auch nichts mehr, einen Gasthof dieser Art schleunigst zu verlassen. Die Wirthe benutzen diese Verzweiflung eines Unglücklichen und setzen ihre Rechnungen mit einer Willkür im Preise an, daß man in ein Land sich verzaubert wähnt, wo Gold auf den Werth des Silbers heruntergesetzt ist. Ich mochte nicht um diese unverschämte Vertheurung der einfachsten, mir im Preise wohl bekannten Lebensbedürfnisse rechten; denn ich war froh, aus dieser Mördergrube herauszukommen.

Nun war es aber sehr kalt geworden und die Landkutsche ganz leer. Ich konnte nicht einmal darauf rechnen, mir wenigstens durch Gedräng einige Erwärmung zu verschaffen. Eine einzige Dame fuhr mit, die mir, wenn die pariser Modehändlerin gemein war, ihrerseits verrückt vorkam. Nicht darum, weil sie sagte: die Eisenbahnen verdrängen die Landkutschen; denn das war freilich richtig genug und ganz aus der Zeit gegriffen; allein den Schnak, den sie an diese Bemerkung anknüpfte, war in der That wohl kaum sie selber fähig zu verstehen. Sie hatte dabei ganz die Gewohnheit rasender Menschen, immer an den Kopf zu fassen, weil sie wohl fühlte, daß es darin nicht richtig war. Auch hatte sie ganz das kurze Lächeln der Närrischen, wenn ich auch nicht sagen will, daß sie es schon vollkommen war. Allein selbst dieser letzte Fall wäre mir nicht so ängstlich gewesen, als das, was ich später erfuhr. Nachdem sie mir nämlich einige Stunden hindurch über die wunderlichsten Gegenstände ihre Ideen mitgetheilt hatte, sagte sie mir bei der Uebernachtung im zweiten Gasthofe, den ich nach vielen Jahren wieder gesehen habe und nicht besser als den ersten fand, daß sie eine Schriftstellerin wäre. Ihr Fach wären die mechanischen Wissenschaften. Die Dame war mir nach dieser Entdeckung so unheimlich geworden, daß ich ordentlich Furcht hatte, am folgenden Morgen mit ihr weiter zu fahren. Nach einer in Aengsten und schmerzlichen Erinnerungen mehr überwachten als verschlafenen Nacht traf ich sie schon in aller Frühe an der Landkutsche beschäftigt. Sie setzte den Stallknechten, die sie zum Dank für ihre Belehrung verspotteten, auseinander, daß vier Räder am Wagen Luxus wären und überdieß allen Gesetzen der Mechanik widersprächen. Sie verwickelte sich dabei in einen Streit, er mich an manche Auftritte mit Jenny erinnert, die aber doch nur die Zubereitung der Speisen und die verschiedenen Lesarten der Kochbücher betrafen. Diese Dame nahm auch nicht die entfernteste Rücksicht auf ihr Geschlecht. Sie war nicht nur mit einer Nachlässigkeit gekleidet, die ans Burleske streift, sondern nannte auch Alles, was in das Handwerk der Männer fällt, mit einer Rücksichtslosigkeit, die mich statt ihrer erröthen machte. Am Rade sprach sie von der Mutter, von der Schraube; sie war über die Zubereitung des Theers, den ich bis jetzt nur habe riechen können, wenn ich die Gelbsucht hatte, und so viele andere Unreinigkeiten so im Reinen, daß ich sie mir weit eher auf dem Bocke als in der Kutsche selbst hätte denken können. Als ich ihr meine Verwunderung bezeigte, daß sie schon so früh zur Hand sey, sagte sie in ihrer kurzen Art: Schon den ganzen Morgen gearbeitet. Schreibe ein Buch über die Maschinenbaukunst für Frauenzimmer. Für Frauenzimmer? fragt' ich. Nun, sagte sie, bis dahin, daß die Frauen selber anfangen, Maschinen zu bauen, kann die Schrift wenigstens nützen, daß sie wissen, wie Maschinen gebaut werden. Darauf gab sie mir eine lange Erörterung über ihre Schrift zum Besten. Ich erschrack vor ihrer Gelehrsamkeit, hatte aber auf der Reise wenig Freude daran, ja, wie Sie noch hören werden, sie selbst nur Unglück. In jedem Dorfe, wo sich die Kutsche ruhte, verlor sie sich. Wenn die Fahrt weiter gehen sollte, so mußte sie gesucht werden. Sie lief nämlich in Bauerhöfe hinein und forschte nach Pflügen, Eggen, Säemaschinen, und hielt da, wo sie nicht die neuesten Fortschritte in der Verfertigung dieser Instrumente antraf, Vorlesungen aus ihrem Buche. Alle Augenblicke parlamentirte sie unterwegs mit dem Kutscher, daß sie aussteigen wolle. Der Kutscher fluchte und begriff nicht, was, mit Respekt zu sagen, das Frauenzimmer so oft abzusteigen hätte; allein sie konnte keinen Bauer seine Ochsen treiben und pflügen sehen, so mußte sie hinaus und dem Mann einen neuen Kunstgriff lehren. Die guten Leute dachten, das Weibsbild thät' es für Geld oder weil sie ein Gelübde lösen müßte. Sie ließen sie ausreden und machten es wieder so, wie sie es gewohnt waren. Hie und da waren aber wirklich die Maschinen, von welchen meine Reisegesellschafterin träumte, sichtbar. Das tröstete sie für die vernagelte Fassungsgabe der Landleute, die noch am alten und erprobten Gebrauche hingen. Das größte Unglück aber konnte sie mit ihrer Rettungsmaschine haben. Diese wollte sie an dem Orte, wo wir zu Mittag rasteten, in Anwendung bringen, obgleich gar keine Gefahr vorhanden war. Sie gerieth nämlich bei Tische mit den Gästen (denn leider ißt man nie mehr allein in unsern Gasthäusern, sondern sieht sich immer genöthigt, die Speisen zu essen, die Andre verschmähen. Hab' ich Fische für mich allein auf dem Zimmer, so ess' ich sie in gutem Glauben; in Gesellschaft aber hat Jeder seine Grillen; die Fische sind vielleicht prächtig, allein mein Nachbar bildet sich ein, sie wären nicht frisch geschlachtet, ißt sie nicht, und nun ess' ich sie -- auch nicht); also -- sie gerieth mit den Gästen in Streit wegen einer neuen Rettungsmaschine, die sie glaubte erfunden zu haben. Sie fing mit den Sturmdächern der alten Römer an, welche bei Belagerungen wären gebraucht worden. Diesen hätte man Thürme beigegeben, die auf Rädern fortgerollt wurden und gerade so groß seyn mußten, wie die Thürme der feindlichen Mauern. Eben so wollte das tollkühne Frauenzimmer bei Feuersgefahr eine Maschine anwenden, die man an die Häuser heranrücken sollte, und von denen aus die Operationen mit Spritzen und Häcksel beginnen müßten. Diese künstliche Vorrichtung bewährte sich als Rettungsmaschine besonders durch förmliche Brücken, die sie zu den Fenstern, wo Unglückliche in den Flammen rangen, hinführen wollte. Ich beschwor sie, mit ihrer grausamen Schilderung der Qualen, welche jene Hülflosen bis zur Ankunft der Maschine empfinden müßten, inne zu halten; allein sie ging sogar noch weiter und wollte uns ein praktisches Beispiel von ihren halsbrechenden Unternehmungen geben. Wir aßen unglücklicherweise nicht zu ebner Erde; sondern es war eine ansehnliche Höhe, die unter uns lag, wenn man aus dem Fenster sah. Das Weibsbild scheute die Lebensgefahr nicht, sondern war mit einem Sprunge auf das Fenstergesims hinauf und schwang sich mit einer Behendigkeit, die ich bisher nur bei meiner großen Katze gefunden hatte, in die freie, schwindelnde Höhe hinaus. Indem sie aber so frei hängt, und die ganze erschrockene Tischgesellschaft ihr an das Fenster nachgelaufen war, krachte die Fensterrahme und ein Theil der Mauer, auf welcher das Frauenzimmer stand, bröckelte sich ab. Ein junger Mann sah, indem sie alle aufschrien, daß hier ein rascher Entschluß nothwendig wäre. Indem noch die Erfinderin der Rettungsmaschine, einer Seiltänzerin gleich, um das verlorne Gleichgewicht wieder herzustellen, hin und her schwankte, ergriff sie der junge Mann und zog sie mit aller Anstrengung der Kräfte in das Zimmer wieder herein. Ihre Rettungsmaschine hätte ihr das Leben kosten können. Sie selbst hatte doch so viel Angst ausgestanden, daß sie sich entschloß, noch eine Stunde auf der Station zu rasten, ehe sie weiter reisen wollte.

Für die fernere Reise erhielten wir noch einen Gefährten, dem ich durchaus keine äußern Anzeichen eines Uebelbefindens ansah, der aber nichtsdestoweniger von einem Bedienten, wie ein in Baumwollen gepackter, zerbrechlicher Postgegenstand behandelt wurde. Er hatte ein ganz heitres und vergnügtes Wesen, und nahm sich sorgfältig vor jeder Bewegung in Acht, die seine Glieder hätte in Verwirrung bringen können. Die mechanische Schriftstellerin, welche sich von ihrem verunglückten Rettungsversuche allmählig zu erholen anfing, berücksichtigte den neuen Ankömmling mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit. Während dieser Mann steif, wie eine Puppe aus Holz, dasaß und in jeder ihm zufällig noth werdenden Bewegung aussah, als würde sie von einem unsichtbaren Drahtfaden geleitet, sprach sie weit weniger mit diesem Unbekannten, als sie ihr Auge mit einer wirklich bis in's Auffallende gehenden Neugierde auf ihm ruhen ließ. Ich stieß sie mehrmals an, um mir ihr verdächtiges und scheinbar auf eine Eroberung gerichtetes Benehmen zu verbitten. Es wurde mir aber selbst unheimlich, als ich sah, daß auch diese ziemlich deutlichen Verweise, die ich meiner Nachbarin gab, auf den Mann keinen Eindruck machten. Er rückte und rührte sich nicht. Er saß wie in die Wagenlehne eingemauert, während er doch mit vieler Freundlichkeit unsre zufälligen Fragen beantwortete und mitunter selbst welche an uns richtete. Die mechanische Schriftstellerin fing jetzt an, einen Cursus über automatische Uhren, Türken und Schachspieler zu halten. Während sie mir die mechanische Zusammensetzung eines Automats erklärte, zeigte sie immer auf den Reisenden uns gegenüber, gleichsam, als wenn derselbe nur eine aus verschiedenen Mechanismen zusammengesetzte leblose Figur wäre. Sie fügte hinzu, indem sie mir in's Ohr flüsterte, daß sie sich scheue, laut davon zu sprechen, daß dieses Kunstwerk seines täuschend nachgeahmten menschlichen Verstandes wegen von einem außerordentlichen Künstler herrühren müsse u. s. w. Ich gestehe, daß mir diese Mittheilung in alle Glieder fuhr, denn was sie mir von Beispielen künstlich zusammengesetzter Menschen erzählte, war außerordentlich. Die starre Unbeweglichkeit unseres zweideutigen Gefährten wurde mir, einer sonst, wie Sie wissen, ehrwürdiger Freund und Vetter, so unerschrocknen Frau, nachgerade selber unheimlich. Der Mann hatte ein gewisses inwendiges Röcheln, was alle Aehnlichkeit mit einem unterdrückten Husten hatte; allein so oft es sich hören ließ, stieß mich die mechanische Schriftstellerin an und sagte, daß sich nun wieder in dem Kunstwerk das inwendige Uhrwerk von selber aufzöge. Sie richtete an den unheimlichen Gast mehrere jener Fragen, die man auf Meßspaziergängen in Bereitschaft hat, wenn man in Wachsfigurenkabinette tritt, wo sich nicht selten Türkenautomate finden, welche durch einen inneren Mechanismus ordentlich wahrsagen. Sie frug, wie viel die Uhr wäre, und weidete sich an meinem Erstaunen, als die Figur mit feierlichem Pathos und beständiger Vorsicht, eines ihrer Glieder zu zerbrechen, in die Westentasche griff, die Uhr langsam gegen das Auge brachte und nach einem dumpfen Röcheln im Innern der vermeintlichen Brust mit einer gegen die feierliche Bewegung unheimlich kontrastirenden Schnelligkeit das Resultat aussprach. Indem hatte die mechanische Schriftstellerin schon ihre eigne Uhr gezogen und zeigte mir mit triumphirendem Lächeln, wie richtig unser Gegenüber die Zeit angegeben hätte. Bei einem unangenehmen Zufall, der uns darauf betraf, schien es mir nun bald auch gänzlich außer Zweifel gesetzt zu seyn, daß die mechanische Schriftstellerin recht gesehen. Auf der Chaussee war nämlich eine Strecke Weges in Reparatur begriffen. Das Steinpflaster war aufgerissen und lag auf eine allerdings unverzeihliche Weise so zerstreut im Wege herum, daß wir Gefahr laufen konnten, umgeworfen zu werden. Indem nun der Wagen plötzlich von einem großen Steine, über welchen die Fahrt ging, abglitt, und die mechanische Schriftstellerin mit dem ganzen Gewichte ihres Körpers auf mich fiel, setzte sich auch die unheimliche Figur uns gegenüber in Bewegung und stürzte mitten zwischen uns hinein. Aus vollem Halse schreiend, fuhren wir beide auseinander. Das Automat rückte und rührte sich nicht, sondern blieb ganz in der Lage, in welcher es gefallen war. Der Kopf desselben lag auf meinem Federkissen, so daß ein Hülferuf, den das Wesen jetzt ausstieß, in dem Kissen erstickt wurde. Ich kann Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, die Angst nicht ausmalen, welche ich gegenwärtig empfand; ich sah hier offenbar eine ganz unorganische künstliche Zusammensetzung, die das Wesen eines Menschen täuschend nachahmte, und in welcher man die Vernunft doch mit so außerordentlicher Künstlichkeit hatte hervorbringen können, daß sie bei'm Verlust ihres Gleichgewichtes ordentlich um Hülfe und einmal über das andere Henry! Henry! schrie. Wir beiden Frauenspersonen rissen auf jeder Seite den Kutschenschlag auf und wiederholten den Hülferuf der in Unordnung gerath'nen Maschine. Der Wagen hielt still. Henry öffnete den Schlag, stieg ein und richtete mit theilnehmender Miene die umgefall'ne Figur wieder auf; er verfuhr dabei so vorsichtig, als wenn er mit Glas umginge; er legte seinen Herrn oder sein Geschöpf -- wie sollten wir sagen? -- in die Ecke des Wagens, wobei dieser immer sich gleich und unbeweglich blieb. Als der Wagen wieder fortrollte, konnt' ich vor Furcht kein Wort mehr sprechen, die mechanische Schriftstellerin jedoch sprach jetzt ganz laut über die Geschichte des Automatenwesens und flüsterte mir, da die Figur dazu still schwieg, leise zu: Dieser Mensch ist so künstlich zusammengesetzt, daß er alles begreift, wovon man spricht, nur seinen eignen Zustand nicht. Indem sie das sagte, war es mir doch, als stieße die Maschine einen tiefen Seufzer aus.

Uebrigens fiel auf der nächsten Station die Vermuthung der mechanischen Schriftstellerin in Nichts zusammen. Wir wandten uns nämlich an Henry und verwunderten uns, warum sein Herr in der Kutsche sitzen blieb. Die andere wollte sogar schon damit herausplatzen, daß sie Henry für den größten Mechaniker der Welt halte und nicht begreifen könne, wie er ein so kostbares Kunstwerk wie seinen vorgeblichen Herrn geradezu auf Reisen schicken könne und ihn nicht in einem Kasten verpacke. Ja, sagte Henry, so daß ich anfangs ganz todtblaß über sein Zugeständniß wurde, wer 10 Jahre in der Maschine gelegen hat, dem gönnt man doch von Herzen gern einmal ein bischen Freiheit. »Es könnte aber doch etwas daran verdorben werden,« bemerkte meine vorwitzige Gesellschafterin. -- »Ach, ich habe Sorge genug,« erwiederte Henry; »allein der Mann hat zehn Jahre lang, vom zweiten pariser Frieden an bis beinah zur Schlacht bei Navarino, im Futterale gesteckt, und ich muß noch immer fürchten, daß er mir durch die Veränderung, die in seinem Innern vorgegangen seyn muß, doch das Gleichgewicht und den natürlichen Schwerpunkt verloren hat.«

Ich gestehe Ihnen, hochwürdiger Freund und Vetter, daß dieses fortgesetzte Zugeständniß der tollen Idee meiner mechanischen Schriftstellerin mich in die größte Verzweiflung brachte; denn mich hätten keine hundert Hände dazu gebracht, wieder in den unheimlichen Wagen einzusteigen. Indem schien sich aber die Sache jetzt aufklären zu wollen, denn Henry, das von meiner Gefährtin schon öfters ausgesprochene Wort »Maschine« festhaltend, fuhr fort: »Freilich ist der Mann eine recht unglückliche Maschine, allein ich besorge nur, es wird ihm nicht gut bekommen; von Kindheit nämlich hat er schon am Rücken den unnatürlichen Auswuchs gehabt, den man nicht gerade einen Buckel nennen dürfte, der aber auch nichts weniger als eine glatte Ebene war. Seitdem man nun die Kunst erfunden hat, alle Auswüchse und Verschiefungen des menschlichen Körpers durch zweckmäßig angebrachte Compressionsmaschinen wieder zu ebnen und auszugleichen, hat auch mein Herr der Versuchung nicht widerstehen können, trotz seines vor zehn Jahren schon in die Dreißige vorgerückten Lebens den Versuch zu wagen, sich auf orthopädische Weise heilen zu lassen. Nun hat der Mann zehn Jahre lang auf dem Streckbett gelegen und sich seinen Buckel ganz und gar in den übrigen Körper hineingedrückt. Das Röcheln, was die Stimme beim Sprechen begleitet, kann jedenfalls nichts Gutes bedeuten; das ganze unnatürliche Wachsthum nach hinten ist ihm nun in die Brust nach vorne getrieben; noch kann er seinen Schwerpunkt nicht finden, um mit seinem ganzen Körper zu balanciren, er sitzt in lauter Stahlfedern eingezwängt und muß, wo man ihn hin haben will, getragen oder gefahren werden.«

Als Henry geendet hatte und uns beiden Weibern in den Wagen hineinhalf, konnte die mechanische Schriftstellerin den Aerger über ihre gehabte Täuschung nur mit Mühe unterdrücken. Der unglückliche Mann war ganz still und schien Noth genug zu haben, die ihm sonst so glücklich angeschlagene Kur zu überstehen und sein ehemals krankhaftes Auswendige nun inwendig zu verdauen. Ich aber mußte im Stillen recht herzlich weinen über alles, was Menschen doch Unglückliches widerfahren kann. Die Wehmuth, ehrwürdiger Freund und Vetter, unsre Verwandten wiederzusehen, überschlich mich, je näher wir London kamen; ich schluchzte heimlich immer fort, statt daß ich mich über das Wiedersehen doch hätte freuen sollen, ja ich hatte schon die Ahnung, daß ich die große Welt und die kleinen Menschen darin nicht so wiederfinden würde, wie ich sie vor dreißig Jahren verlassen hatte.

Nachdem ich mich von der herzlosen, mechanischen Schriftstellerin und dem andern unglücklichen orthopädisirten Reisegefährten getrennt hatte und in der Herberge der Landkutsche ausgestiegen war, auch meine Schachteln und Koffer all gehörig verglichen und mich überhaupt auf's Pünktlichste mit Jedermann abgefunden hatte, um ja hinterher in keine Weitläufigkeiten zu kommen oder wohl gar für etwas, was ich zu bezahlen vergessen, in Anspruch genommen zu werden, machte ich mich denn mit einem unverschämten Markthelfer auf den Weg, der sich mit so viel geistigen Getränken überladen zu haben schien, als zu meiner Zeit einer ganzen Dorfschaft für die Woche genügt hätte. Denken Sie sich, ehrwürdiger Freund und Vetter, hier kommen Fälle vor, daß Menschen, wenn man ihnen mit dem Lichte zu nahe tritt, in der von ihnen ausgedünsteten Alkoholatmosphäre Feuer fangen oder, was noch gräßlicher ist, von innen heraus unter den schrecklichsten Schmerzen allmählig in Asche gelegt werden. Ein solcher schon heiß werdender und in Brand zu gerathen drohender Vulkan war der Markthelfer, der mir seine viehischen Schultern lieh, um meine Sachen mit zu meiner Schwester zu tragen. Nun wußt' ich wieder nicht, wo Warwikstreet lag, welches ihre Adresse war. Wir haben das beide so oft auf die Briefe an sie geschrieben, daß ich in dem Gewühl mich ohne Führer zurecht zu finden glaubte; allein es war gerade, als wäre ich in die Themse gesprungen, so verlor ich bei dem Suchen und der Menschenmasse alle Besinnung und hatte schon meine Noth, daß mir der schlechte Mensch nicht irgend wo mit meinen Koffern auf der Straße liegen blieb. Dieser Landstreicher war am wenigsten geschickt, mir über Warwikstreet Auskunft zu geben. Ich mußte mir noch einen zweiten Taugenichts auf der Straße miethen, der mir als Wegweiser dienen sollte. Ich zweifle nicht, daß mich dieser nach Art gewissenloser Fiaker fortwährend im Kreise herumführte und mich zehnmal vor dem Hause meiner Schwester vorbeiführte, ehe er gesagt hätte, das wäre es. So stellten diese beiden Menschen ein wahres Fuchsprellen mit mir an und erschöpften meine Geduld, daß ich zwischen ihnen beiden, als zwischen zwei Lootsen, wie ein dem Scheitern nahes Fahrzeug schwankte und meinen Schöpfer segnete, als ich endlich in dem Hafen meiner Bestimmung anlangte.

Nun werden Sie mich, ehrwürdiger Freund und Vetter, nach meiner Schwester, ihren Töchtern und meinem Bruder fragen, und ich segne Gott, endlich in Ihnen einen Mann zu finden, wo ich meinem beklommenen Herzen Luft machen und, ohne Rücksicht zu nehmen, aus tiefster Seele aufseufzen kann. Ach, mein Heiland, worauf steuert diese Welt los! was hab' ich mit ansehn und selbst erleben müssen, was kommen jetzt für Dinge vor, für Lebensarten, für Urtheile, was für ein Geist ist in unsere Familie eingedrungen! Meine Schwester wurde früh in den Strudel des londoner Lebens gerissen; allein so lange ihr Mann lebte, blieb sie oben auf. Er starb und hinterließ eine trauernde Wittwe mit drei Töchtern; wir alle fürchteten, der Schlag würde ihr ans Leben gehen. Sie ertrug ihn jedoch. Sie tröstete sich. Sie wurde leichtfertig, ach, und ist das nicht mehr, was sie war.

Das traurige Geschäft, Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, eine Beschreibung von dem Zustande zu geben, in welchem ich die Familie meines seligen Schwagers antraf, erleichterte mir ein unglückseliges Pasquill, welches grad' in demselben Augenblicke erschienen war, als ich nach London kam. Der Schlag, auf eine so kenntliche Weise vor aller Welt lächerlich gemacht zu seyn, mußte natürlich auch die Freudenbezeugungen lähmen, welche ich von Schwester Bab (Barbara) nach einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befestigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Ich hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Ist das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? »Ach Schwester«, schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, »mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen.« Wie mein mitleidiges Herz diesen klagenden Willkommen vernimmt, stürz' ich auf sie zu und schreie ganz in der unsrer Familie angebornen leidenschaftlichen Weise: »Mein Heiland, wie siehst du aus? Kinder, Menschen, was ist vorgefallen?« und dränge mich zu Bab hinüber, wobei ich das Unglück hatte, auf die lang herabhängende Decke des Tisches zu treten und sie hinter mir nachzuziehen. Glauben Sie, daß meine Besorgniß eines der Mädchen gerührt hätte? Im Gegentheil, die älteste, Cecily (die beiden andern heißen Felicia und Lettice), verzog nicht übel den Mund und rief mit einer matrosenartigen Baßstimme »Oho!« als wenn ich eine Putzmacherin wäre, gekommen, bei ihnen ein Verdienst zu machen. So tief mich dieses grobe Oho kränkte, so sehr wurde es doch von meinem besorglichen Herzen übertäubt, als mir Bab die Ursache ihrer Leiden in dem Pasquille zeigte, welches gestern in dem Blatte »der Satirist« erschienen war und ihr schon eine Menge von Stichelreden und Verspottungen in einer gestrigen Abendgesellschaft zugezogen hatte. »Bin ich auf den Wisch nicht abonnirt?« schrie meine Schwester Bab, »oder was hab' ich sonst gethan, daß ein solcher nichtsnutziger Federfuchser in das Heiligthum meiner Familie dringt und mich und sie dem Gelächter der Welt preis gibt!« Dabei reichte sie mir das schändliche Blatt und zwang mich, nur einige Zeilen davon zu lesen, woraus ich, wie sie sagte, schon den Inhalt des Uebrigen würde entnehmen können. Die beiden Töchter begleiteten die mütterlichen Verwünschungen des frechen Satirikers ihrerseits mit allen Ausbrüchen verletzter weiblicher Eitelkeit und spitzten dabei die Krallen ihrer kleinen Finger, um ihm, hätten sie ihn nur, die Augen auszukratzen. Mir war das Anstößigste bei der Sache im Augenblick nur die Gegenwart des Bedienten, der diese ganze Scene nicht nur als Zuschauer betrachtete, sondern sogar eine Rolle darin mitspielte. Hilary (so hieß der Mensch) hatte den ganzen Aufsatz gelesen und schwur, dem Verfasser desselben seinen ruchlosen Hirnschädel einzuschlagen. Ich dagegen rieth zu einem Prozesse und verwies überdieß dem naseweisen jungen Manne die Einmischung in eine Angelegenheit, welche viel zu zarter Natur war, als daß man in das Geheimniß derselben hätte einen Bedienten hineinzieh'n sollen. Darüber fuhr mich Felicia sehr hart an und meinte, Hilary hätte sich von jeher besorgt genug um das Interesse der Familie bewiesen, um ihnen auch in einem solchen Unglück beizustehen. Schwester Bab war nun für den Menschen vollends ganz eingenommen und trug ihm auf, den Thee zu serviren, nicht etwa seiner Entfernung wegen, sondern weil doch noch ein Funken schwesterlicher Liebe in ihr übrig war, welcher sie trieb, irgend etwas zu thun, was doch einer Bewillkommnung ähnlich sah. Von einer Frage nach der Heimath, von Ihnen, ehrwürdiger Freund und Vetter, war, ach! wahrlich nicht die Rede. Ich erkundigte mich mehrmal nach Bruder Evan (Johann); allein ich bekam nur nothdürftig die Antwort, daß sie ihren leiblichen Bruder für ein den Einsturz drohendes Haus hielt, unter welchem man sich scheue, lange zu verweilen. Ich klagte, daß er mir nun schon seit zehn Jahren nicht geschrieben hätte, und ich in Angst und Sorge lebte, wie ich von ihm würde aufgenommen werden. Statt mir Muth einzusprechen, schwieg meine Schwester; ich glaube, das Pasquill drückte ihr das Herz ab. In dem Augenblicke wurde die Thüre geöffnet, und Hilary brachte mit der freudigsten Miene von der Welt ein Packet von 15 bis 20 Briefen. Briefe zu empfangen, ist in der Stadt so angenehm, wie auf dem Lande. Hilary sagte auch: »Nun, Fräulein Cecily, hier ist ein ganzer Briefsteller an Sie angekommen; man möchte glauben, alle Ihre Anbeter befänden sich auf dem Lande und hätten den komischen Einfall gehabt, Ihnen an einem und demselben Tage zu schreiben.« Meine älteste Nichte schien ein leidenschaftliches Mädchen zu seyn, das hatt' ich schon an ihrem unsanften Oho wahrgenommen. Als man jedoch sah, daß alle Briefe nur an ihre Adresse gerichtet waren, bemächtigte sich unser aller ein blasser Schreck, denn unmöglich konnte es bei einer solchen Korrespondenz mit richtigen Dingen zugehen. Meine Schwester schoß wie ein Raubvogel vom Sopha auf, erbrach einen der Briefe und ließ ihn mit der Bemerkung fallen: »Jesus, das ist eine Fortsetzung des Satiristen!« Ich hörte diese Bemerkung allein; denn die drei übrigen Schwestern waren in einen jähzornigen Streit gerathen, weil Cecily nicht zugeben wollte, daß eines von den Geschwistern sich herausnähme, ein an sie gerichtetes Siegel zu erbrechen. Meine Schwester hatte indessen mit den Zähnen so laut geknirscht, daß ich hier eine neue Verspottung ahnen mußte. Es erwies sich denn auch bald, daß alle diese Briefe von einer und derselben Feder herkamen, und nicht ein einziger derselben etwas anderes enthielt, als leeres Papier. »Bab, so beruhige dich doch«, suchte ich meine vor Wuth schäumende Schwester zu besänftigen. Cecily heulte über die schändliche Verspottung, und die beiden andern Geschwister mußten sich vor schadenfrohem Gelächter die Seiten halten. Gott, dachte ich, das ist eine schöne Wirthschaft! ich wußte nicht, wo mir der Verstand blieb; ich sah nur zu gut ein, daß meine Schwestern und ihre Nichten durch ihren Hochmuth und ihre Albernheit sich einen Ruf mußten verschafft haben, der alle Welt herausforderte, mit ihnen Versteckens zu spielen. Meine Schwester zerknirrte die Spitzen ihrer Haube und schrie: »Das ist der Lümmel, der Macready, der irische Tölpel, der nicht gewußt hat, wie er sich rächen soll, und uns durch diese leeren Briefe an die Leerheit seines Kopfes erinnern will; der Unverschämte läßt auf jeder Poststation von hier nach Dublin in jedem Briefkasten eine inhaltslose Adresse an uns zurück, um sich den Spaß zu machen, daß er uns eine Viertelstunde geärgert hat.« Aber, mein Gott, Bab, fiel ich ein, woher denn diese Animosität bei jungen Männern gegen dich und deine Familie? »Ach, Beck,« antwortete meine Schwester, »das sind die Folgen einer vornehmen Lebensweise, die man sich muß gefallen lassen, und die zu so manchen Freuden sich auch als ein bitterer Wermuth gesellen.« Indem weinte aber Cecily immer fort und sagte unaufhörlich: das hätte sie ihm nicht zugetraut; so schändlich, so gemein, so infashionabel! Wer ist denn der junge Mann? frug ich schüchtern. »Ach, ein Taugenichts, ein irländischer Prahlhans,« tobte meine Schwester; allein Hilary, der unverschämte Bediente, der eben den Thee serviren wollte, mußte wohl wissen, daß es für das Ohr meiner Schwester süß klang und ohnehin für meine Nichte, die in den fremden Menschen verliebt schien, wenn er hinzusetzte: »Es ist ein junger, stattlicher Gentleman, der über außerordentliche Reichthümer gebietet, aber von spröder und spöttischer Natur ist und sich mehr mit der Politik, mit dem Schweife O'Connels, als mit dem seinigen beschäftigt, nämlich mit demjenigen, welchen er von liebenswürdigen, fashionablen Damen hinter sich haben könnte.«

Als Hilary dieß gesagt hatte, stockte so ziemlich das ganze Gespräch; ich sahe, daß hier Tochter und Mutter in gleicher Zärtlichkeit für einen Menschen entbrannten, der eben ein so höllisches Spiel mit ihnen getrieben hatte. Beide mußten sich die Spottreden der jüngern Geschwister gefallen lassen, welche sie auch mit großer Langmuth ertrugen. Indem kam, ich weiß nicht durch welchen Zufall, als Hilary den Thee herumreichte, meiner Schwester wieder die Nummer des Satiristen in die Hand, welche das Pasquill auf sie enthielt. Mit einer unendlich leidenden Miene sagte die Arme zu Hilary: »Gott, was soll denn das wieder? du hast ja die Schandschrift auf den Flügel dort hin legen sollen.« Hilary erklärte betroffen: »Aber, was ist denn das? ich habe sie ja längst dahin gelegt, da ist sie ja!« -- Nun, stotterte meine Schwester, indem sie sich entfärbte: »Da ist auf wunderbare Weise noch ein zweites Exemplar in das Zimmer gekommen.« Wir sahen uns alle betroffen an und erschracken um so mehr, als in den Händen Lettice's sich noch ein drittes Exemplar befand, von welchem niemand begreifen konnte, wie es hereingekommen. Ein Stückchen Wachs, welches an den beiden neuen Exemplaren klebte, gab uns eine Aufklärung über das vermeintliche Wunder. Unter dem Präsentirteller nämlich waren diese Exemplare angeklebt gewesen. Wir fanden unter einem andern lakirten Brette noch eine vierte Nummer befestigt. Jetzt erst verwandelte sich meine Schwester in eine Furie; sie schrie: »In meinem eignen Hause bin ich wie verrathen und verkauft! hier muß eine große Untersuchung angestellt werden, wer mir diesen, offenbar auf meinen moralischen Ruin abgesehenen Possen gespielt hat.« Hilary stimmte in die im Grunde gerechte Entrüstung meiner Schwester ein und behauptete: es müsse sich jemand in das Haus geschlichen haben, um diese Schandschrift dem betreffenden Gegenstande derselben in die Hände zu spielen; wir alle begleiteten im Sturmschritt meine Schwester und fingen jeden auf, welcher uns begegnete. Hilary entwarf einen vollkommnen Schlachtplan, er vertheilte uns in verschiedene Corps, die sich wechselseitig den Störenfried in die Hände treiben sollten. Alle unsere Operationen waren darauf gerichtet, die störende Ursache des häuslichen Glücks dieser Familie auf die Küche, wo die Theebrette gestanden hatten, zurückzutreiben. Wir zitterten, indem dieser Heldenmuth über uns kam, und erschracken schon im Voraus, wenn wir Siegerinnen werden sollten. In der Küche liefen endlich alle vereinzelten Manoeuvres unsrer Treibjagd zusammen, und Bab warf sich wie eine Amazone auf das männliche und weibliche Personal, welches das Hintertheil des Hauses, wie das Vordertheil bewohnte. Niemand wollte natürlicher Weise gestehen, daß er im Hause meiner Schwester das Verlagsgeschäft der auf sie gemachten Pasquille übernommen hätte. Alle, und niemand mehr, als der Portier, betheuerten, daß keine verdächtige Seele in das Haus gekommen wäre. Hilary stellte die strengsten Untersuchungen an; er spannte seine Kameraden vor unsern Augen auf eine moralische Folterbank. Allein es wurde klar, daß das Gesinde unschuldig war und die Schuld jedenfalls auf einen Gast der Herrschaft geschoben werden mußte, der den freundlichen Empfang, welchen er gefunden, wahrscheinlich auf eine so unedle Weise vergolten. Wir waren alle verstimmt; ich wurde es müde und bat, mir mein Zimmer anweisen zu wollen. Es war übrigens schändlich, daß man mir mit der größten Bereitwilligkeit dieses Zimmer sogleich anwies und dann, wie ich später hörte, auf einen Ball fuhr. Die Vergnügungssucht hatte sich dieser vier Menschen so bemächtigt, daß sie einer Einladung nicht widerstehen konnten, wo sie allgemein der mit Fingern gezeigte Gegenstand der bittersten Sarkasmen waren. Schwester Beck, die alte Tante, kann zu Bette gehen, sie gehn auf den Ball. Gut, dacht' ich, so will ich wenigstens eine Rache nehmen und ergriff, als ich schon im Bette war, die Nummer des Satiristen, die ich mechanisch in das Zimmer mit hinaufgenommen hatte. Vielleicht war es auch nur, um mich allmählig einzuschläfern. Es lautete aber das Pasquill folgendermaßen:

»Lady Windmill war vielleicht auch eine Gattin nach dem neuesten Geschmack, allein sie hat sich der Geschichte der fashionablen Welt erst in dem Augenblick eingereihet, als sie Wittwe wurde. Erst mit dem Tode ihres Gatten fing sie mit ihren drei Töchtern an, vom Winde der öffentlichen Meinung gefaßt zu werden. Seither ist sie in voller Bewegung. Diese vier Windmühlflügel verarbeiten mehr guten Ruf in der Woche, als ein ganzer Damenklubb im Westend des Jahres zu Grunde richtet. Wenn es ihnen an fremdem Materiale fehlt, so schütten sie ihre eignen Tugenden und Laster zwischen die Mühlsteine ihrer Verläumdung. Lady Windmill mit ihren Töchtern hat sich in der großen Welt so blos gestellt, daß wenn man sie in der Geschichte der fashionablen Welt unsrer Zeit übergehen wollte, daurch eine empfindliche Lücke in ihr entstehen würde. Wir gebrauchen jedoch das Wort »Lücke« hier ganz ohne Anspielung auf die Zähne der Mutter, welche theilweise besser erhalten sind, als die Gebisse ihrer Töchter. Die Dame, von der wir sprechen, hat die Größe eines Riesen, die sie zu den Zeiten Georg I., wo man noch nicht glaubte, daß kleine Menschen mehr Werth in sich verbergen, als die großen, unfehlbar in die Landarmee geführt haben würde. Nichtsdestoweniger stellt ihre Figur eine gewisse Rundung vor und hat durchaus nicht das Eckige und Luftige, welches großen Menschen Aehnlichkeit mit Vogelscheuchen oder mit Getreidetennen gibt, durch welche der Wind streicht. Es scheint öfters, als hätte sie die Hand eines Bildhauers an sich herangelassen, wenn anders die sehr fein angebrachten Erhöhungen und Versenkungen, die Berge und Thäler auf dem Strich Landes, den Lady Windmill vorstellt, von der Hand des Künstlers, eines zoologischen Thierausstopfers, und nicht von dem frischen, saftigen Organismus der fleischigen Natur selber herrühren sollten. Das Antlitz dieser Dame hat bis auf die bereits erwähnte Zahnlücke alle Reize eines zwischen Griechenland und Rom die Mitte haltenden Profils. Ihre Nase wird von Kennern sehr geschätzt, wenn man auch bedauern muß, daß sie der Schwungkraft der Flügel derselben seit einiger Zeit durch den Gebrauch des Spaniols eine all zu große Elasticität gibt. Lady Windmill hat ganz das Benehmen, welches langen und üppig gebauten Figuren unerläßlich ist. Personen dieser Art leiden an einer Schwere der Glieder, die sich bei Frauen ohne Welt und Geschmack nur in der Form des Phlegma's offenbart. Gewandtere jedoch verstehen es, diese Schwerfälligkeit ihrer Glieder, dieß leichte Ermüden derselben als Zaubermittel einer verstrickenden Coquetterie zu benutzen. Ihr Wesen erhält durch eine weise Bemäntlung ihrer Faulheit das Gepräge der hingegossensten Ueppigkeit und eines durch jedes der ermüdeten Glieder verrathenen glühenden Verlangens. Die Art, wie Lady Windmill sich mit künstlicher oder natürlicher Erschöpfung an das Hintertheil einer Ottomane wirft und dabei die ganze Länge ihres Fußes in die Höhe hebt, um ihn nach türkischer Weise wenigstens zum Theil auch auf dem Polster ruhen zu lassen, gibt dieser verwittweten Coquette einen Schmelz, welchem kaum die sprödesten Herzen widerstreben würden. Unbezweifelt ist es, daß die Mutter auf Geschmackskenner noch bei weitem mehr Eindruck macht, als die Töchter. Der gewöhnliche Weg, daß man Müttern den Hof macht, um allmählig über sie hinweg das Palladium einer ihrer Töchter zu erobern, hat sich in dieser Familie grade in das Gegentheil umgewandelt. Man knüpft mit den Töchtern an, um allmählig zur Mutter zu gelangen. Denn man muß gestehen, daß diese letzte noch immer spröder ist, als ihre Töchter. Diese drei jungen Frauenzimmer scheinen schon von ihrer Kindheit damit vertraut gewesen zu seyn, daß die Bestimmung des Weibes der Mann ist. All ihre Gefühle und angelernten Begriffe müssen bei ihnen, statt daß die Bildung generis neutrius ist, ein Geschlecht haben. Man kann ihnen zeigen und erklären, was man will, man kann ihnen bei Tische die Speisen demonstriren oder bei'm Thee die verschiedenartigen Formen des Backwerks anrühmen, sie werden immer in der Gluth eines fortwährenden Erröthens wogen, weil sie nur gewohnt sind, alle Dinge in männlich und weiblich einzutheilen. Sie fühlen sich fortwährend an ihrer männlichen Bestimmung gekitzelt, sie scheinen ihr Weibliches verbergen zu wollen, allein man ahnt aus ihren unruhigen Augen und immer relativen Aeußerungen, in welcher Gegend ihr Geheimniß verborgen ist; alles, was sie thun und sagen, ist Anerbietung an das männliche Geschlecht. Der Begriff des Allgemein-Menschlichen ist für sie nicht vorhanden, alle ihre Vorstellungen sind auf den Unterschied der Geschlechter begründet.

»Man kann sich denken, wie sich die Familie Windmill darnach sehnt, für ihre unruhigen Bewegungen Stoff zum Zermalmen zu bekommen. Wenn sich das unruhige Treiben des Staatslebens in einer Familie wiederholen könnte, so wäre davon hier ein treues Abbild gegeben, Mutter und Töchter sind ewig außer Athem. Bald verarbeiten sie Personen, bald Gerüchte. Sie haben eben so das Transitogeschäft fremder Gerüchte wie eine eigene Leumundsmanufaktur, in welcher sie das Gerücht ausmalen, vervollständigen und nicht selten die Ehre Anderer verkleinern, wie man in den Papiermühlen in Zeit von einigen Stunden Kleider in Papier verwandeln kann, worauf sie schreiben, was ihrer Bosheit und ihrem Interesse in den Sinn kömmt. Man kann gewiß seyn, in dieser Familie immer etwas Neues zu erfahren, denn was sie nicht gehört hat, erfindet sie, ja sie pflanzt noch kaum etwas fort, worauf sie nicht den Stempel ihrer eignen Bosheit gedrückt hat. Die Armee, die Marine, die Gesetzgebung und Verwaltung braucht nur zu Lady Windmill zu gehen und wird daselbst ihr Folio in dem großen Buche der Verleumdung finden. Diese Klatschsucht ist die natürliche Folge der Gerüchte, welche diese Familie selbst verfolgen; um sich gegen fremde Nachrede zu schützen, rächt sie sich, indem sie den Ruf anderer Menschen entstellt oder übertreibt.

»Man sagt, daß Lady Windmill gesonnen seyn soll, da niemand ihren Köder anbeißt und sie nur zu sehr das dringende Bedürfniß einer Verbesserung ihrer Finanzen fühlt, sich mit einem reichen Gerber, der vielleicht auf die Vortrefflichkeit ihres Felles eine Spekulation macht, verehlichen will. Die älteste Tochter wird einen der ersten Schuhmacher der vornehmen Welt heirathen, die zweite den reichen Inhaber eines zwanzigjährigen Patents auf eine in der That sehr schöne Glanzwichse; die letzte endlich einen Spekulanten, der mit weichen Hölzern handelt, aus welchen man Pantoffeln und Stiefelknechte schneidet. So wird diese ausgezeichnete Damenklique auch noch jenseits des Traualtars einen organischen Zusammenhang unter sich festhalten; alle Hände werden sich hier in einander arbeiten und es steht zu befürchten, wenn die Medisance der Weiber die Oberhand behalten sollte, daß bei den nur auf die Füße gerichteten Beschäftigungen ihrer Männer, die ganze gebildete Welt Londons von unten auf unterwühlt und jeder ehrliche Name, der noch fest zu stehen glaubte, gerade von unten auf untergraben wird.«

Ich war zu sehr ermüdet von der Reise, daß ich nach Lektüre dieses schändlichen Pasquills auf meine unglückliche Schwester und ihre Töchter nicht hätte einschlafen sollen. Allein so unruhig war meine Ruhe, daß mir im Traume die ganze Bosheit immer wieder vor Augen kam. Meine unglückliche Schwester tanzte im Traume in Gestalt eines Stiefels auf dem Balle, den ich nicht vergessen konnte; erst kurz gegen Morgen, als ich Mutter und Töchter zurückkommen hörte, schlief ich fester ein. Die Sonne stand bei meinem Erwachen schon hoch am Himmel, allein mein vielfaches Klingeln nach weiblicher Bedienung fruchtete nichts. Endlich trat Hilary ein und war mir mit seinem maliciösen Lächeln nicht die beste Vorbedeutung für den übrigen Tag. Er erzählte mir, daß seine Herrschaft auf dem gestrigen Balle wieder mit mancherlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen gehabt hätte. Man hätte sie mit spöttlichen Bemerkungen überschüttet. Bald wäre Einer gekommen und hätte mit Anspielung auf die boshafte Lüge des Satiristen gesagt: »Nicht wahr, der Ball ist sehr ledern?« Ein anderer sprach zur ältesten Tochter von den Flügeln, die sie unten am Fuße beim Tanze zu haben schien. Ein Dritter zog die Zweite über das Glänzende und Spiegelblanke ihrer Toilette auf. Ein Vierter peinigte die Dritte, indem er das Benehmen dieser oder jener Dame hölzern nannte. Wie konnte auch, fuhr Hilary fort, dieser erbärmliche Pasquillant, gerade das gemeinste aller Gewerbe nehmen, um meine Herrschaft damit in Verbindung zu bringen? Beim Tanze wußten Milady und Töchter gar nicht mehr, wo sie mit ihren Füßen hin sollten. Die Mutter wurde einmal mitten im Contretanze ohnmächtig, weil sie, wie sie sagte, sich auf ihr Fundament gar nicht mehr verlassen könne und so viel hinunterdächte, daß ihr der Kopf ganz schwindelte. Als Hilary hinausgegangen war, traten mir die Thränen in die Augen, weil ich mir kein größres Unglück denken kann, als von einem Nichtswürdigen so plötzlich an den Pranger gestellt zu werden. Konnte ihn denn meine Schwester widerlegen? Konnte sie die Lüge, daß sie ihre sanfte Hand der rauhen eines Gerbers geben würde, in den öffentlichen Blättern widerrufen? Konnte sie überhaupt mit Freundinnen über den ganzen Gegenstand ein Gespräch anspinnen? Ich bedauerte nur, daß meine Schwester zu lange schlief, um sie recht schnell an mein theilnehmendes Herz zu drücken. Hilary sagte, vor eilf Uhr wäre keine Aussicht, mit ihr sprechen zu können, und wenn sie gar erst gegen mich die Gewohnheit beobachten wollte, sich nur im vollen Costüm zu zeigen, so würd' ich gar am Vormittag nicht zu ihr kommen. »Nun mein Gott«, entgegnete ich, »meine Schwester wird vor mir keine Toilettengeheimnisse haben; sagen Sie nur hinunter, daß ich von der langen Weile geplagt würde.« Hilary that es und ich hörte zu meiner Verwunderung, daß sie zwar alle schon wach wären, aber mir vor Mittag keine Hoffnung machen könnten, daß mein Besuch angenommen würde. Ich gestehe, mich verletzte dieser Mangel an Theilnahme tief, doch tröstete ich mich, daß das Herzlose nur in dem formellen Bericht des Bedienten gelegen hätte, und entschloß mich, die lange Mußezeit, die mir nun übrig blieb, zu benutzen, um meinen Bruder Evan zu besuchen, den einzigen, welchen ich habe.

Ein Hausknecht begleitete mich in das Hotel desselben. Ich glaubte gegen die londoner Sitte nicht zu verstoßen, wenn ich fragte: »Ist er schon aufgestanden?« Sein einziger Bedienter, ein alter mürrischer Gesell, lachte etwas höhnisch und sagte: »Um zehn Uhr? Seit sechs Uhr ist er schon in der Themse.« Wie, frug ich, mein Bruder badet sich in dem Schlamm? Darauf entgegnete der Mensch etwas spitz: Bis jetzt hätte man noch keinen andern Fluß nach London bringen können, auch wäre die Themse so viele Jahrhunderte gut genug gewesen und käme ja auch aus der ersten Hand des Oceans. Inzwischen sagte ich, daß ich die Schwester seines Herrn wäre und auf ihn warten wolle. Ich setzte mich in einem kleinen Vorzimmer ohne Möbel nieder und empfand mit meinem Bruder das tiefste Mitleiden, daß er seiner Reinlichkeit wegen genöthigt wäre, sich in einem so fürchterlichen Flusse, wie die Themse ist, zu baden. Sie, ehrwürdiger Freund und Vetter, kennen das klare, muntre Gewässer, welches in unsrer Pine zu Hause plätschert, und doch spürt man es gleich, wenn einmal etwas Unreinliches hineingekommen ist. Nun denken Sie sich aber den Unrath von anderthalb Millionen Menschen, den Unrath des Viehs, was in London lebt, die Abgänge der Industrie, die vielen Selbstmörder, die sich von den Brücken hinunterstürzen, und Sie werden einen Ekel bekommen, wenn Sie nur einen Blick in diesen schwarzen Sumpf, den man die Themse nennt, hineinwerfen. Von dem Schlamm im Bett des weltberühmten Flusses steigen fortwährend bunte Bläschen auf, die deutlich genug die Fäulniß am Boden des Flusses verrathen, und in diese Lauge wirft sich mein Bruder hinein und wäscht seinen Körper, nicht ohne Gefahr, in eine schwimmende Insel von Unrath hineingerissen zu werden. Hier will er die Gesundheit holen, die er in hypochondrischer Verblendung verloren zu haben glaubt und die auch wirklich bei ihm untergraben seyn muß, denn er keuchte entsetzlich, als er die Treppe heraufkam. Mein Erstes war, ihm wegen der Themsebäder Vorwürfe zu machen; allein wie ich das sagte, kratzte er sich hinter den Ohren und sagte: »Schwester, wenn du deßhalb gekommen bist, um deine alten Litaneien fortzusetzen, dann sollst du nur bei Bab bleiben, denn die bedarf mehr Strafpredigten als ich. Ich finde es einmal für meinen Körper zuträglich, ihn nicht von warmem Wasser, sondern von der frischen und klaren Quelle der Natur bespülen zu lassen. Ich bin durch langes Erproben meines ungesunden Körpers endlich dahin gekommen, daß ich den Gebrauch des kalten Wassers für die heilsamste Arznei halte, die man aus der Hand der Natur, eines bessern Arztes, als die Medicin, nur erhalten kann. Wie du mich hier siehst, liebe Schwester, leb' ich nur vom Wasser. Des Morgens, so wie ich aufstehe, nehme ich eine allgemeine Waschung meines splitternackten Körpers vor. Ich lasse mich von meinem Bedienten mit einer eignen Vorrichtung bespritzen, die mir mein ingenieuser Verstand eingegeben hat. Ich habe nämlich eine Gießkanne zu diesem Zweck so aufgehängt und mit Wasser gefüllt, daß ich nackt in einem hölzernen Gefäße stehend, mich nur zu drehen und zu wenden brauche, um beständig von einem sanftkühlenden Sprudel erfrischt zu werden. Je mehr sich der Mensch dem Pflanzenleben nähert und sich wie von Gärtnershand pflegen läßt, desto besser gedeiht er. Während dieser Erquickung meines äußern Menschen trink ich innerlich zwei Quart gut filtrirten, aber von der Quelle kommenden Wassers. Nach diesem Vorschmack und Morgenimbiß geh' ich wiedergeborner Mensch hinaus in eine Badanstalt der Themse. Es würde bei weitem nicht der Zweck so gut erreicht werden, wenn ich mich gleich mit dem nüchternen Körper in den Fluß würfe. Die mit der ersten Morgenbegießung geöffneten Poren sind dann weit bereitwilliger, die Heilkraft eines vollständigen Bades einzusaugen. Ich kann unter diesen Umständen mich sehr lang im Wasser aufhalten und bedarf nur einer mäßigen Bewegung, um vor jeder Gefahr einer Erkältung sicher zu seyn. Die Abtrocknung muß schnell erfolgen, auch der Körper schnell wieder bekleidet seyn, weil die londoner Luft für die Hydropathie im Allgemeinen nicht günstig ist. Jetzt erst eß' ich mit Vergnügen zwei Eier, welche man in der Schwimmanstalt immer zu billigem Preise haben kann. Wie du mich jetzt siehst, liebe Schwester, bin ich im dritten Stadium meiner Kur; ich komme so eben aus dem Bade, habe meine Eier verzehrt und beschäftige mich nun mit einem methodischen innerlichen Wassergenuß. In Zwischenräumen von Viertelstunde zu Viertelstunde trinke ich ein Viertel Quart und stelle dabei eine mäßige Bewegung in meinen Zimmern an. Freilich wär' es besser, diese Bewegung in der freien Natur vorzunehmen, allein noch hat meine Kurmethode nicht die Anerkennung gefunden, daß man, wie die so verderblichen Bier- und Weinschenken, auch wenigstens von Viertelstunde zu Viertelstunde eine Wasserschenke in den Straßen von London etablirt fände. Ich esse früh, weil ich nicht nur späterhin verdauen will, sondern auch nach vollendeter Verdauung meiner allgemeinen Kur obliege. Nachdem ich vor und nach dem Essen mich einfach gewaschen habe, beginn' ich etwa vier Stunden nach der Mittagsmahlzeit ein erneuertes Wassertrinken, treibe es aber mit einer so außerordentlichen Vehemenz, daß ich in kurzer Zeit einen von Wasser ganz angeschwollenen Bauch habe. Hierauf entkleid' ich mich und lege mich für meinen Bedienten zu einer Manipulation zurecht, welche, ich muß gestehen, auf meinen Organismus Wunder gewirkt hat. Es beginnt nämlich dann ein allgemeines Kneten meines Unterleibs, gleichsam wie der Bäcker den Teig gut verarbeitet, um ihn locker und geschmeidig zu machen. Diese Verfahrungsweise, eine halbe Stunde fortgesetzt, thut mir unendlich wohl und gibt meinen Gedärmen eine solche Frische und Geschmeidigkeit, daß ich nicht nur, woran ich sonst schrecklich litt, meine tägliche Ordnung habe, sondern auch von Blähungen, Hämorrhoidalbeschwerden, Knoten und sonstigen Desorganisationen gänzlich befreit bin. Seitdem ich diese Kur treibe, bin ich ein neugeborner Mensch. Deßhalb unterlaß es, liebe Schwester, mir in diesen Dingen auch nur die leiseste Vorschrift zu machen.« Indem mir mein Bruder diese für mich, die ich nicht ein halbes Glas Wasser trinken kann, fürchterliche Beschreibung seiner Lebensweise machte, hatte er schon eine ungeheure Flasche Wassers, die der Bediente hereinbrachte, beinahe auf den Grund geleert. Ich mußte auch weiter sehen, daß je heiler vielleicht mein Bruder von eingebildeten Uebeln wurde, je mehr er, wie ein Fisch in seinem Wasser schwamm, desto kälter und fischartiger auch sein Blut geworden war. Er sprach von seiner Familie ohne alle Theilnahme. Er überließ seine Schwester und deren Töchter ihren Thorheiten, während er doch der Vormund der letztern war und damit sogar die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.

Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine Schwester war überdieß noch moralisch sehr angegriffen, weil nämlich der häusliche Störenfried noch immer um sie herum sein boshaftes Wesen trieb. Als sie gestern Abend in den Wagen stieg, steckte der Satirist in allen Taschen desselben; als sie am Morgen sich in's Bett legen wollte, war gleichfalls ein Exemplar unter dem Kopfkissen. Heut Morgen traf sie den Spuk an allen geheimen und offnen Orten an, wo sie ihren Fuß hinsetzte. Sie konnte jenen Psalm Davids singen: Und nähm' ich die Flügel der Morgenröthe oder versenkte mich in's tiefste Meer, überall bist du mir nah, schreckliche Verhöhnung! So sehr wir auf das Dienstpersonal Verdacht haben mußten, und eine Säuberung desselben wünschten, so wurden doch diese Wünsche von dem, was eben erfolgen sollte, noch bei weitem übertroffen; denn es öffnete sich plötzlich die Thür und die ganze Reihefolge des Gesindes zeigte sich im Vorzimmer, Koch, Köchin, Hausmädchen, im Ganzen sieben Personen, Hilary ausgenommen. Der Portier erbat sich die Erlaubniß, ihnen allen die Thüre zu öffnen und hereintreten zu dürfen. Meine Schwester wollt' es durchaus nicht gestatten, ich redete ihr zu, doch zu hören, was es gäbe, und so ergab sich denn Folgendes, was in meiner Zeit auch unerhört war: Der Koch, der Portier und Hausknecht wollten sich in die englische Legion anwerben lassen, die der Landstreicher Evans nach Spanien zu führen gedachte. Die vier Frauenzimmer, hatten wir sogleich angenommen, würden sie begleiten wollen, wenn nicht eine überzählig gewesen wäre. Nein, sagten diese, wir sind gesonnen, nach Sidney auszuwandern, wo die Frauen so rar sind, wie weiße Raben und die Männer jedem ankommenden Schiffe durch Sprachrohre schon vom Ufer aus Heirathsanträge zurufen, ohne zu wissen, ob Frauen mitkommen, oder sie gar gesehen zu haben. Diese köstliche Entdeckung, welche wir hier machten, brachte meine Schwester plötzlich um ihr ganzes Hausgesinde. Sie tröstete sich, daß solche Unglücksfälle jetzt hier nichts seltenes seyen; sie bestimmte einen Tag, wo die ganze Sippschaft entlassen wäre und war gescheid genug, es mir zu überlassen, ihr von den jetzt zur Anerbietung kommenden Dienstboten die passenden auszuwählen. Der Auftrag war ehrenvoll, aber auch lästig genug; doch nahm ich ihn an, weil ich zwischen uns keinen Unfrieden stiften wollte. So hatte mir meine verschlagene Schwester eine Beschäftigung übergeben, die mich den ganzen Tag in Anspruch nahm. Meine Gewissenhaftigkeit erlaubte mir doch nicht, nach dem ersten besten Individuum zuzugreifen, sondern ich mußte meine Auswahl unter einem Zulauf von mehreren hundert Personen treffen, bei welchen ich recht kennen lernte, wie weit sich die jetzige Zeit von dem, was früher Anstand und Schuldigkeit mit sich brachten, entfernt hat. Bekam meine Schwester Besuch, so mußt' ich, wenn er kaum eingetreten war, schon wieder das Zimmer verlassen, weil sich eine neue Anwartschaft auf die erledigten Stellen gemeldet hatte. Um mich nur ja recht lange aus ihren Kreisen entfernt zu halten, verwarfen wohl gar meine leichtsinnigen Anverwandten wieder die Personen, die ich aus einem großen Andrange gewählt hatte. Es war fast, als hätten sie sich verabredet, um sich auf diese Weise meiner lästigen Person und der noch lästigern Bemerkungen, die ich nicht unterdrücken konnte, zu entledigen. Doch habe ich nichtsdestoweniger mein Auge scharf gespitzt und bin wohl bedacht darauf gewesen, daß mir nichts Wesentliches in der Geschichte des Hauses entging. Meine Schwester hatte sich einem höchst verderblichen und ihr ansehnliches Vermögen den Schwankungen der Tagesereignisse preisgebenden Handel mit Staatspapieren ergeben. Sie wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages von Juden und Mäklern überlaufen, welche durch allerlei hinterlistige Vorspiegelungen sie in eine Menge von gewagten Unternehmungen verwickelten. Die Töchter lasen dabei die Erzeugnisse einer Literatur, die in Frankreich und England allmählig alle Sittlichkeit zu untergraben droht. Mit gierigen Blicken hafteten sie an den leidenschaftlichen Gemälden, welche in diesen sich jetzt täglich mehrenden Schriften aufgestellt werden. Ich habe dann und wann einige Blicke in diese verbrecherischen Anregungen ihrer Phantasie hineingeworfen und erschrack, wie in denselben die lasterhaftesten Verhältnisse sich nicht etwa erst im Verlauf der Entwicklung des Romans ergaben, sondern schon auf den ersten Seiten, ohne andern Zweck, als den, verführen zu wollen, bei den Haaren herbeigezogen waren. Meine Schwester, statt diese Schriften zu verbrennen, las sie selbst mit der größten Theilnahme und entgegnete mir, als ich ihr darüber Vorwürfe machte, daß es nur der Styl und die kunstvolle Behandlungsweise wären, welche sie zur Theilnahme an diesen, wie sie sagte, interessanten und für die Bildung der jetzigen Jugend beinah' unerläßlichen Schriften bestimmte. Konnte es unter solchen Umständen fehlen, daß diese dem Verderben entgegeneilende Familie sich auch Verhältnisse zu schaffen suchte, welche ganz nach der romanhaften Musterwirthschaft, die in ihrer Phantasie lebte, eingerichtet waren! Wie viel Verwicklungen ihrer leidenschaftlichen Herzen mögen sie mir verborgen gehalten haben; aber wie bedenklich sind schon diejenigen, die ich selber zu durchschauen Gelegenheit hatte! In einem Momente, wo meine Schwester sich gehen ließ und die Rücksicht auf mich eben so vergessen hatte, wie fast immer die auf ihre Kinder, sagte sie: »Unsere ganze jetzige Gesellschaft geht darauf aus, die Fesseln der überlieferten Gewohnheit zu sprengen. Ein junges Mädchen war früher nur dazu bestimmt, sich von den Männern aufsuchen zu lassen und sich so viel wie möglich das interessante Lüstre einer nonnenhaften Zurückgezogenheit zu geben. Jetzt würde aber der, welcher sich zu verbergen sucht, auch wirklich in die Gefahr kommen, verborgen zu bleiben; alles will jetzt heraus, alles will sich jetzt sehen lassen und an dem Wettkampf der öffentlichen Meinung Theil nehmen; das Talent, was man gegenwärtig hat, kann man nur in seiner öffentlichen Entfaltung bewähren, man kann sich nicht mehr auf sein Wesen verlassen, sondern muß suchen, es auch durch den Schein zu unterstützen. Meinen Töchten verdenk' ich's nicht, wenn sie sich so viel wie möglich in den Vordergrund stellen, da es an ihrer Statt tausend andere geben wird, welche nicht faul seyn werden, die Stühle einzunehmen, welche ihnen die Bescheidenheit gebietet, leer stehen zu lassen. Und nun fängt erst die wahre Schwierigkeit an, die Männer zu fesseln. Wenn wir jetzt aller unsrer Reize warten und damit gleichsam alle Minen springen lassen, so wissen die Männer recht gut, daß das, was wir hier geben, so ziemlich alles ist, so wir an Originalität leisten können. Eine so zurückgezogene Nonne nach der Art, wie wir erzogen sind, liebe Schwester, hat allerdings das Gute an sich, daß der Mann Wunder denken kann, was hinter dem sittsamen und bescheidenen Wesen alles für fesselnde und leidenschaftliche Fähigkeiten verborgen liegen. Wer sich aber, wie wir jetzt, in der großen Welt tummeln muß, wer auf zweideutige Fragen mit mehr Witz antworten soll, als dem bloßen Witz einer Schamröthe, der kann allerdings nur durch die größte Abschweifung vom Gewöhnlichen im Stande seyn, die Männer auf etwas Originelles, das sie so unerläßlich wünschen, aufmerksam zu machen. Dazu kommt, daß seit allgemeiner Einimpfung der Kuhpocken sich in der großen Welt nur noch selten Frauenzimmerlarven zeigen, die entschieden häßlich sind. Da bleibt denen, welche sich auszeichnen wollen, nichts übrig, als so viel wie möglich die Andern zu überbieten, und ich habe mich immer bereitwillig gezeigt, meine Töchter in diesen Bestrebungen zu unterstützen. So soll Cecilly jetzt Reitstunde nehmen und eine von euch andern bei der ersten Luftfahrt, die nur wieder angezeigt werden dürfte, mit in die Lüfte steigen.« Als Bab diesen Vortrag geendigt hatte, und sie sowohl, wie die Mädchen, dabei ganz ernsthaft blieben, konnt' ich denn doch nicht umhin, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und über dieß ruchlose Treiben in ein lautes Zetergeschrei auszubrechen: Kunstreiter und Komödianten willst du aus deinen Kindern machen? Bab, unsre Mutter muß sich ja im Grabe umdrehen. Leider wurd' ich in dem Flusse meiner Vorwürfe von der Anmeldung einer Lektion unterbrochen, die die jüngste Tochter regelmäßig des Tages um diese Stunde nahm. Und worin bestand diese? Alle Tage kam ein französischer Schauspieler und gab Lettice Unterricht in mimisch-plastischen Darstellungen, in dieser schändlichen Kunst, durch welche Lady Hamilton den Admiral Nelson zu fesseln wußte. Ich habe einmal durch das Schlüsselloch den Hergang einer solchen Stunde mit angesehen. Ein Sünder von Regisseur trug Lettice einen vollständigen Cursus der Leidenschaften vor; er zeigte ihr für jedes ihren Busen bewegende Gefühl eine entsprechende Attitüde; es war ein auf die kompletteste Verführung abgesehener Unterricht; sie mußte dabei immer auf einer Erhöhung stehen, weil der schändliche Mensch sagte: Eine Frau darf sich an gar nichts anlehnen. Wie? wollte ich durch's Schlüsselloch rufen, Sie, elender Komödiant, nicht einmal an Anstand und Sitte, an ihre Eltern und Anverwandten? Nein, antwortete der Mensch, als hätte er meine Stimme oder auch die seines Gewissens gehört, die Schönheit des Benehmens besteht in der Voraussetzung, zunächst nichts als Luft um sich herum zu haben, der menschliche Körper trägt sich selbst, und gerade in der Kunst, seinen Schwerpunkt da oder dorthin zu werfen, besteht das Charakteristische der plastischen Attitüden. Nun fing er an, Lettice zuerst zu zeigen, wie man mit Grazie stillsteht. Er schrieb ihr dabei ein gewisses Wiegen des Oberkörpers vor, wobei jedoch der Unterkörper ruhen mußte. Nachdem sie dieß begriffen hatte, sagte er: das nächste Stadium wäre nun, aus der Ruhe plötzlich aufgeschreckt zu werden; wie er dieß gesagt hatte, drückte er eine Knallerbse los, worüber ich selbst so erschrack, daß ich den Schreck meiner Nichte nicht sehen konnte. Der Gauner rief aber: Bravo! und korrigirte nur, zu der Natur müßte nun noch etwas Kunst kommen. Er sagte: wenn auch nicht immer Knallerbsen oder Pistolenschüsse fallen, so kommen die Frauen doch oft in die Lage, erschrecken zu müssen. Kindisch ist es, wenn ein Löffel auf die Erde fällt, darüber so zusammenzuzucken, als wenn ein Haus eingefallen wäre; hier genügt die bloße Bewegung der Verwunderung, ein leises Zucken mit den Augenwimpern. Nun zählte er ihr eine allmählige Steigerung von Schreckensvorfällen auf, zeigte ihr, wie sie sich dabei mit Anstand ihrer Arme bedienen könne, namentlich, daß es eine sinnige Vorstellung erwecke, wenn sie bei einer unangenehmen Nachricht den Bewegungen der Hand etwas Abwehrendes gäbe; die vorletzte Manier zu erschrecken war bei ihm die Bedeckung der Augen mit der Hand, welches seiner Meinung nach auch echt antik wäre; die letzte aber wäre der höchste Triumph der Romantik, nämlich mit Beobachtung aller plastischen Schönheitsgesetze in Ohnmacht zu fallen. Sie müßte mit Bewußtseyn in Ohnmacht fallen, sagte der Schuft, der vielleicht nicht die Ahnung hat, wie einem gefühlvollen Weibe zu Muthe ist, wenn ihm schwach wird. Lettice, in einem leichten griechischen Gewande, machte alle seine handgreiflichen Demonstrationen nach und schien für des Menschen abgefeimte Verstellungskunst ein außerordentliches Talent zu besitzen. Nun ging er mit ihr nach und nach die ganze Reihefolge der menschlichen Leidenschaften durch: Furcht, Reue, Verzweiflung; für alle diese Affekte lernte sie die entsprechenden pantomimischen Bewegungen. Endlich kam er sogar auf ein Kapitel, wo ich mich eigentlich der Sünden schämte, noch ferner zuzusehen; er suchte ihr zuerst den Ausdruck einer künstlichen Scham beizubringen, wobei ich aber in mir den heimlichen Triumph hatte, daß man das Erröthen doch durch keinen so schimpflichen Fintenmeister erlernen konnte; dann zeigte er ihr jene Bewegungen, welche eine zärtliche Neigung ausdrücken, und erhob sich allmählig zur Darstellung aller nur möglichen Künste der Coquetterie und der Verführung. Ich hielt mir die Hände vor die Augen, als ich dieß Locken und Girren betrachtete, welches meiner Nichte Lettice eine Aehnlichkeit mit den schamlosesten Schauspielerinnen, die nur je außer dem Publikum auch Männer haben locken wollen, eine wahrhaft beweinenswerthe Aehnlichkeit gab; ich wartete das Ende dieser nichtswürdigen Kunststücke nicht ab, sondern ging auf mein Zimmer, um diesen Brief an Sie, ehrwürdiger Freund und Vetter, bis hieher zu vollenden. Fünf von den abgehenden Dienstboten habe ich schon ersetzt; so wie auch noch der Hausknecht und ein passendes Bettmädchen gefunden sind, werd' ich wohl den Augenblick benutzen und aus diesem Gewühl schlechter Sitten mich wieder unter den Schutz meiner ländlichen Einfalt und Abgeschiedenheit begeben .........

Einige Tage später.

-- Da bin ich nun doch noch länger geblieben, als ich wollte. Die Verwirrung im Hause meiner Schwester hat so zugenommen, daß ich Bab in ihren Nöthen unmöglich allein lassen konnte. An allen Orten fehlt Trost und Hülfe. Doch will ich, ehrwürdiger Freund und Vetter, dem Zusammenhange meiner Erzählung nicht vorgreifen und Ihnen alles in demselben Verlaufe mittheilen, wie es sich zugetragen hat.

Denken Sie sich aber nur, der häusliche Störenfried war Niemand anders als Hilary. Von ihm ging die Verbreitung der Spottschrift aus. Von ihm kam alle die Angst und Besorgniß, daß man sich nirgends mehr hingetraute, am wenigsten an geheime Oerter, ohne wieder eines neuen Fundes sich zu gewärtigen. Ich hatte längst auf diesen Betrüger Verdacht geworfen und ihn innerlich für den bösen Feind gehalten, der das Unkraut der Verleumdung in den Weizen unseres häuslichen Friedens streute; allein ich wollte Gewißheit haben und verschaffte sie mir durch eine List. Neben der Schlafkammer Hilary's befand sich eine Geräthkammer, die inwendig durch eine Thür mit dem Zimmer der Bedienten verbunden war. Ich gab nun vor, daß der Schlüssel zu diesem Behälter verloren gegangen wäre, und scheute mich nicht, in Abwesenheit Hilary's seine Kammer durch einen Schlosser öffnen zu lassen, um von hier aus durch Oeffnung einer zweiten Thür in die Geräthkammer zu kommen. Nachdem diese Hindernisse und die Gegenwart des Handwerkers beseitigt waren, fing ich an, in den Habseligkeiten des elenden Menschen zu kramen, und entdeckte auch bald einen aufgestapelten Ballen bedruckten Papiers. Es waren die Abdrücke des Pasquills und betrugen der Zahl nach gewiß noch mehrere Hunderte. Sogleich rief ich nach der Unterstützung des Unerfahrensten unter unsrer Bedienung (denn was brauchten die Dienstboten die Keckheit eines ihrer Genossen zu sehen!) und ließ das Dokument der strafbaren Umtriebe Hilary's in das Wohnzimmer meiner Schwester tragen. Leider war diese nicht sogleich bei der Hand und marterte mich durch eine Abwesenheit, die sich bis tief in die Nacht verlor. Um zwölf Uhr kam sie endlich mit ihren Töchtern angefahren, alle erhitzt und ermüdet, alle in der nämlichen abgespannten Stimmung, die immer die Folge ihrer Ballvergnügungen war. Ich eröffnete meiner Schwester die gemachte Entdeckung und hoffte sie schon durch das bloße Faktum in Harnisch zu bringen. Allein das große Paquet war für sie und die Mädchen weit eher ein Stein, der vom Herzen, als auf's Herz fiel. Sie dankten Gott, daß Hilary den schlechten Streich begangen und nicht etwa der Herzog von Somerset, die Vicounteß vom Temple, der General Klingenspringer und andere Personen aus der fashionablen Welt, auf deren satirische Umtriebe sie bei Erklärung des Spuks gerathen hatten. Worüber ich in Ohnmacht gesunken wäre, darüber lachten sie. Sie heiterten sich ordentlich auf und brachten mich mit ihren Glückwünschungen, die sie sich unter einander abstatteten, zur Verzweiflung. Kaum daß sie mir erlaubten, Hilary am nächsten Morgen zur Rede zu stellen und nach dem Anstifter zu fragen, der ihn gedungen hätte! In der Hoffnung, daß ich mich überzeugen würde, Hilary hätte nur auf Einflüsterung seiner eignen Unart gehandelt, wünschten mir Schwestern und Nichten eine gute Nacht.

Am folgenden Morgen war ich eben in Begriff, nach Hilary zu klingeln und ihm sein Kapitel zu lesen, als er schon hereintrat, und zwar mit dem heitersten Antlitz von der Welt. Ich hielt ihm seine Unthat vor; doch war er frech genug, in ein lautes Gelächter auszubrechen und mich mit folgender Lüge zu bedienen. Er hätte, sagte er, den ganzen Pack, den ich mir mit Nachschlüsseln und einer übrigens widerrechtlichen Visitation seiner Zimmer angeeignet hätte, zum Theil im Hause versteckt gefunden, zum Theil bestünde er aus den vielen Exemplaren des Pasquills, die er aus Mitleid für die Herrschaft auf Flur und Treppe, hinter Oefen und Thüren, hinter spanischen Wänden und Schränken hervorgezogen hätte, da der Satirist wie Arsenik gegen die Ratten im Hause zerstreut gewesen wäre. Bei dieser wohl erfundenen Aussage beharrte er. Sie band er auch meiner Schwester auf. Ich wurde noch dazu scheel angesehen, daß ich die Treue eines so hingebenden und sich aufopfernden Bedienten verkennen wollte, und mußte sowohl meine Anklage zurücknehmen, wie auch den schon brennenden Scheiterhaufen von Verwünschungen, den ich dem überwiesenen Verräther zugedacht hatte, wieder auslöschen. In dem fortan gänzlichen Unterbleiben des Spukes wurde mir die glänzendste Genugthuung; allein meine Verwandten waren zu verblendet, als daß sie sie mir hätten widerfahren lassen.

Ein eigenthümlicher Zug meiner Schwester und ihrer Töchter, den ich sehr gebilligt hätte, wär' er aus einem starken und schuldlosen Herzen gekommen, war ihre leichte Aussöhnung. Ich hatte sie oft den einen Tag einen Herrn oder eine Dame aus der vornehmen Welt verwünschen hören und erfuhr Tags darauf, daß sie dort einen Besuch gemacht oder mit aller Freundlichkeit empfangen hätten. Ich war nach vielen Anzeigen sicher, daß der Irländer Macready nicht allein den unartigen Scherz mit den inhaltlosen Briefen sich erlaubt hatte, sondern daß auch wahrscheinlich das Pasquill von ihm ausgegangen war. Auf einem der bei Hilary ertappten Exemplare fand ich die Zahl der zur Disposition des schlechten Menschen gestellten Nummern in Zahlen mit Bleistift bemerkt, wo die Handschrift ganz dieselbe mit der Adresse auf den erwähnten Briefen war. Und obschon ich nun meiner Schwester diese Vermuthung mittheilte und sie sich aus dem leichtsinnigen Charakter des Irländers leicht solche Streiche erklären konnte, so war sie doch im Stande, als der junge Mann die Keckheit hatte, wieder ihr Haus zu besuchen, ihn in Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten zu ersticken. Macready war ein sehr reicher Gentleman, der, wie es bei Leuten zu geschehen pflegt, die eine üble Nachrede zu widerlegen suchen, in allen seinen Manieren übertrieb und das Vorurtheil, was der Engländer gegen ihn als Ire hat, durch einen ausschweifenden Dandysmus Lügen zu strafen suchte. Er kleidete sich stets nach der Geschmacklosigkeit der neuesten Mode. Er affektirte Grundsätze, die weit schlechter waren, als vielleicht sein Herz. Ja es lag sogar etwas in seinem Wesen, das mich für ihn hätte einnehmen können und mir wohl erklärte, wie meine Schwester gegen diesen jungen Mann eine Neigung hegte, die an's Auffallende grenzte. Ich hab' es in den Sitten der Hauptstadt öfters bemerkt, wie sehr sie denen zur Qual sind, die oft den meisten Enthusiasmus für sie zur Schau stellen. Ich habe edle und gesunde Naturen bemerkt, die sich von der Tyrannei der Albernheit und des modischen Wahnsinnes knechten ließen und in dem Gewirr von krankhaften Meinungen und Manieren wie der frischste und gesundeste Widerspruch steckten. Ein wunderlicher Narr war der junge Mann freilich. Er war reich und darbte aus Gourmandise. Er war blühend gesund und gab vor, an einem innern Fehler zu leiden. Er röchelte wie ein Sterbender, wobei man deutlich sah, wie viel Kunst es ihm kostete, eine solche Natur zu affektiren. Er gab vor, sich vor dem dreißigsten Jahre nicht verheirathen zu wollen, weil er erst die Krisis seiner wankenden Gesundheit abwarten wollte und sehen müßte, ob der in seinem Körper steckende schwindsüchtige Keim die Oberhand gewinnen würde. Einen großen Theil dieser Thorheiten benutzte Macready auch nur, um von sich die Bewerbungen meiner Schwester abzuhalten, die, ich gestehe es mit Schamröthe, alle Vorstellung übertrafen. Ich konnte anfangs in dieser vielleicht schon Jahre lang währenden Verwicklung nicht klar sehen, bis endlich die Katastrophe hereinbricht, die beweinenswerth genug ist. Heute Morgen vermissen wir Felicia und Lettice. Auch Hilary ist nirgends zu finden. Das ganze Haus ist in Allarm. Meine Schwester will sich in die Themse stürzen. Ich will zu meinem Bruder laufen und seine Hülfe anrufen .....

Am Abend desselben Tages.

Mein Bruder ist ein Ungeheuer. Er hat mit seinem Wassertrinken sich schon das Herz von allen Empfindungen klar gespült. Er bat mich, ihn nicht in der Behaglichkeit seiner Transpiration zu stören. Er gönnt seiner Schwester ein Bad in der Themse und sagte: »Sie wird so klug seyn und in Gegenwart von Menschen hineinspringen, die sie für eine gute Belohnung wieder herausziehen. Die kühle Fluth mildert gewiß ihr heißes Blut. Mit diesen Menschen hab' ich nichts gemein.« In Thränen gebadet verließ ich den hartherzigen Evan und kehrte zu meiner Schwester zurück, die in Krämpfen lag und mit dem Tode rang; auch Cecilly, ihre einzige gerettete Tochter, dauerte mich, wenn ich auch gestehen mußte, daß in der Art, wie beide ihren Schmerz äußerten, etwas Anstößiges lag. Ich merkte wohl, daß ihr Unglück mehr aus dem Neide als dem Verlust zweier Töchter und Schwestern herrührte. Sie sahen hier Macready's Hand, von dem ich jetzt zum ersten Male hörte, daß er zu Felicia eine längst ausgesprochene Neigung hegte. Wie aber Lettice? Sollte sie sich freiwillig dieser Entführung angeschlossen haben? Ich befürchtete, daß beide Mädchen durch ihre Neigung zu Abenteuerlichkeiten, die ihnen die Mutter eingepflanzt hatte, eine entsetzliche Unbesonnenheit begangen hatten. Auffallend war es mir, daß der Professor der Mimoplastik, welcher meiner jüngsten Nichte den Unterricht in den menschlichen Leidenschaften gab, nicht kam, da heute doch der Tag war, wo die Lektion gehalten zu werden pflegte. Und Hilary! -- Einstweilen suchten wir auf eine discrete Weise im Post-, Paß- und Polizeiwesen Erkundigungen einzuziehen. An mehrere Freunde auf dem Lande ist geschrieben und um Gotteswillen um Stillschweigen gebeten worden, wenn ihnen die Flüchtlinge begegnen sollten. Was wissen Frauen von politischen Maßregeln? Mein Bruder ist ein Unthier. Er könnte uns retten. Allein er muß Wasser trinken.

Einen Tag darauf.

-- Es sind Briefe angekommen von Lettice und Felicia. Beide sind in der Umgegend Londons, aber untröstlich. Sie sind entführt worden; von wem? verschweigen sie. Reue find' ich keine in ihren Briefen; im Gegentheil jammern sie, daß die Sache mißlungen ist. Sie flehen uns um Hülfe an und nennen doch Niemanden, gegen den wir einschreiten dürften. Felicia klagt, daß sie den Brief heimlich schreiben müsse, und fleht um Rettung. Was sollen wir thun? Dürfen wir die Polizei um Hülfe angehen? Und nirgends ein Freund! Nirgends Beistand! Meine Schwester muthet mir eine Reise nach dem Dorfe zu, von wo aus Felicia geschrieben hat. Ich will sie gern unternehmen. Ich verliere die Besinnung.

Am Abend.

-- Mit einbrechendem Dunkel ward es endlich lichter für unsre Hoffnungen. Lettice ist ja zurück und mit Niemand anders, als Macready. Es klärt sich auf, daß bei dem tragischen Vorfall sehr komische Nebenumstände obgewaltet haben. Lettice gestand mit Scham, daß sie von ihrem Lehrer in der Situationenmalerei überredet worden wäre, sich entführen zu lassen. Macready, der nicht selbst zu meiner Schwester kam, sondern über die Entführung Felicia's untröstlich war und sich schon auf den Weg begeben hatte, sie einzuholen, Macready hatte Felicia entführen wollen. Meine Schwester und Cecilly vernahmen dieß mit einem eignen Gemisch von Freude, Neid und Aerger. Der Zufall hatte gewollt, daß beide Entführungen für einen und denselben Abend bestellt waren. Die Schwestern schliefen jede für sich und konnten somit gegeneinander unbemerkt sich leicht in der Nacht aus dem Hause entfernen. Ein Wagen sollte die Flüchtigen aufnehmen. Der Portier schlief und hatte sich nur darauf eingerichtet, das Haus von außen zu schützen. Von innen war es leicht entriegelt. Lettice erschrack, als sie es offen fand; sie hatte nicht gedacht, daß eine Viertelstunde vor ihr Felicia schon hinausgegangen war und von dem Manne, für den sie sich bestimmt hatte, für die rechte angesehen worden war. In der Dunkelheit umarmte sie Macready und fuhr mit ihr davon. Die Enttäuschung erfolgte erst nach einigen Stunden, da Macready zartfühlend genug war, das Stillschweigen seiner vermeintlichen Felicia zu ehren und sie nicht eher anzureden, bis er voraussetzen konnte, daß sie sich über den bedenklichen Schritt, den sie thaten, würde beruhigt haben. Man kann sich sein Erschrecken vorstellen, als er Lettice im Wagen bei sich entdeckte. Er hielt ganz in der Nähe Londons mit ihr an und versprach ihr, sie gegen Abend zu uns zurückzuführen. Lettice muß sich inzwischen der Sünden schämen, den Einflüsterungen eines so gemeinen Menschen wie jenes Mimoplasten gefolgt zu seyn. Ich hütete mich aber wohl, alle meine Vorwürfe nur an sie zu richten, sondern gab die meisten meiner Schwester anzuhören, die geglaubt hatte, durch eine Erziehung für das Abenteuerliche ihren Kindern den meisten Reiz zu geben. Jetzt hatte sie die Strafe, daß Felicia von einem Schauspieler, wer weiß in welche Gegenden und Schlupfwinkel des Königsreichs geschleppt wird. Diesem Elenden scheint es gleichgültig gewesen zu seyn, ob er diese oder jene in seinen Netzen gefangen hielt. Der Abend vergeht, Felicia kömmt nicht zurück. Es ist eilf Uhr. Wir werden alle mit Betrübniß zu Bette gehen.

Drei Tage darauf.

-- Noch immer keine Spur von Felicia. Verzweifelte Briefe von Macready. Mutter und Schwestern scheinen sich trösten zu wollen. Ich aber glaube, das unglückliche jedenfalls mit Gewalt zurückgehaltene Mädchen Tag und Nacht um Hülfe rufen zu hören.

Am Abend.

-- Macready schreibt, daß er die Spur des Räubers gefunden hätte und für gewiß annehmen müßte, Felicia sey nach Frankreich geschleppt worden. Wie kann ich die fernere Entwicklung dieses Dramas abwarten! Ich kehre zu Ihnen zurück, mein ehrwürdiger Freund und Vetter, ich fühle, daß ich ein Hinderniß im Hause meiner Schwester bin. Meinen Bruder werd' ich nicht besuchen, weil er sich mehremal vor mir hat verleugnen lassen und sogar die Lieblosigkeit hatte, mir zu schreiben: »Schwester, dich anzuhören und dabei Wasser zu trinken, verträgt sich nicht. Zum Wassertrinken gehört Gemüthsruhe. Jede Störung derselben erzeugt Kolik, bittern Nachgeschmack und Unverdaulichkeit.« Was soll ich noch hier? Ich freue mich, Sie und mein Vieh wieder zu sehen. Unter meinen Hühnern und Enten, in meinem Gemüß- und Obstgarten werd' ich wieder zu neuem Leben kommen. Somit Gott zum Gruß und bald hinten nach Ihre ergebenste Freundin und Base:

Rebekka.

Sollten sich unsre Leser für das Schicksal Feliciens inniger interessiren als ihre Mutter und Schwestern, so müssen wir leider gestehen: daß eine Darstellung desselben dem Zweck unsres Buches nicht angemessen seyn würde. Tante Rebekka hat uns nur eine ungefähre Fernsicht in das Kapitel: Sitte und Sitten der Zeitgenossen eröffnen sollen. Der kleine Roman, der sich in ihrer Nähe entspann, sollte auch mit ihrer Rückreise auf's Land zu Ende seyn. Dennoch will ich hinzufügen, daß Felicia sich allmählig an die Gewaltthätigkeiten ihres Entführers gewöhnte und sogar von einigen geistigen Vorzügen desselben geblendet wurde. Dieser Abenteurer sank zuletzt aus Mangel moralisch tief und zog Felicia mit in seine Kreise hinab. Unter diesen Umständen traf sie Macready und machte auf Felicia einen so heftigen Eindruck, daß sie aus Reue über ihre Treulosigkeit und aus Scham über ihre veränderte und unwürdige Existenz sich das Leben nehmen wollte. Macready verscholl aber plötzlich, ohne daß man je wieder von ihm erfahren hätte. Hilary kehrte in Verzweiflung nach England zurück. Er hatte Macready von Kindheit an gedient und zu allen Streichen, die dieser im Hause der Lady Windmill aus Neckerei und fashionablem Zeitvertreib verrichtete, die Hand geboten. Die fernere Lösung dieser Situationen hat übrigens Aehnlichkeit mit dem vortrefflichen französischen Romane Leone Leoni, auf welchen ich meine Leser verweise, wenn sie vor Beginn des zweiten Bandes unsrer Zeitgenossen erst eine andere zerstreuende Abwechslung haben wollen.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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