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Die Existenz.

Nach der gewöhnlichen Lehre besteht der Mensch aus drei Theilen, aus Leib, Seele und Geist; allein Menschen gibt es genug, welche nur einen einzigen dieser Bestandtheile zu besitzen scheinen. Wen kann ich wohl unter Master Caliban meinen? Nennt ihn auch Master Rostbeaf, nennt ihn Master Pudding; er ist und bleibt dieselbe unbewegliche Masse, die weder von dem Herzen noch von einem etwas höheren Gedanken je etwas gehört hat. Caliban ist unter den Menschen, was die unausgebildete breiartige Molluske unter den Thieren. Er gehört noch weit mehr der Vegetation des Pflanzengeschlechts an, ist weit mehr Vegetabil, mit dem Unterschied freilich, daß er Fleisch-, Mehl- und Fischkost dem Gemüse vorzieht. Master Caliban wuchs in seiner Jugend wie eine nur zufällig zum Menschenbilde zusammengeronnene Fleischmasse auf; schon als Knabe waren seine Bewegungen vor Fett unbeholfen. Er ist der Sohn eines reichen Brauherren und der Erbe seines väterlichen Geschäftes; denn wie sollte er den Verstand gehabt haben, sich selbst eine Existenz zu begründen? Sein Leben ist Fraß, ist thierisches Brüten und Liegen auf den Rindsvierteln, die sein Riesenmagen aufnehmen kann. Sein Herz ist so sehr von Fett umwickelt, daß er ein Narr geworden wäre, wenn nicht zufällig sein behagliches Daseyn ihn von eitler Casuistik der Umstände, von jeder Nothwendigkeit, hier oder da einen Entschluß zu fassen, befreit hätte. Und dieser Mann geht in die Kirche! Wie kann er dieß, da sein Herz keiner einzigen Regung fähig ist? Nur aus Gewohnheit, weil er sonntäglich seine reinen Handschuhe und seinen Stock mit einem silbernen Knopfe auf den Tisch seines Wohnzimmers hingelegt bekömmt und aus Instinkt und durch jahrelange Gewohnheit bemerkt, daß dieß das Zeichen zum Kirchgehen ist. Er ist verheirathet (der Lebenswandel seiner Frau ist bekannt), er hat Kinder (glücklicherweise ähneln sie ihm nicht), ja er liest sogar die Times, aber nur aus Dummheit, ähnlich jenem Hogarth'schen Zeitungsleser, der sich an dem Lichte seinen Hut verbrennt. Ueber die Annoncen, über die Kutschen, die zu kaufen, über die Ammen, die zu miethen, kurz über diese Alltagsallwissenheit der Times, die größer ist, als ihre übrige politische Weisheit, kömmt er nicht hinaus. Alles zusammengenommen, stellt Master Caliban doch immer nichts Anders in der Welt vor, als den rohsten Urstoff, aus welchem das erste Gestell der übrigen Menschen gebildet wurde. Er ist die abolute Materie.

Sir Ariel und Lord Abstrakt würden es ihrerseits sehr übel nehmen, wenn sie wüßten -- und sie werden es wissen! -- daß ich sie mit Master Caliban in Verbindung bringe. Und doch sind beide in ihrer Art eben so einseitig, wie Jener. Sir Ariel scheint nur Seele zu seyn, so körperlos, aber so geistlos ist er auch. Sein Herz schlägt immer so laut, daß man glauben möchte, er hätte unter seiner Brusttasche ein Vögelchen oder ein Kaninchen versteckt. Eine solche Zärtlichkeit würde seiner weichlichen Gemüthsart auch gar nicht zuwider seyn: Sir Ariel ist immer krank und immer fade, aber der Abgott der Frauen. Sie würden ihn heilig sprechen, wenn in England die Sitte noch üblich wäre. Er seufzt, er stöhnt, er weint; er kömmt oft mit thränenden Augen in die Gesellschaft und steckt erst die ganze Versammlung durch seinen Schmerz an und erzählt dann eine Geschichte, die oft eher komisch als rührend ist. So feucht dieser Mann ist, so trocken ist Lord Abstrakt, dessen Untersuchungen über die Trigonometrie bekannt genug sind. Dieser Gelehrte ist der größte Mathematiker, der nach Newton kommen konnte. Newton rühmte sich, nie ein Weib berührt zu haben, aber er hatte vielleicht ein Herz, er kannte Mitleiden und Gefühl; allein Lord Abstrakt ist ohne Leib und Seele, ist nur Gedanke, nur Reflexion, ein Mensch, der sich in steter Abwesenheit befindet. Frägt man ihn nach der Uhr, so antwortet er: 37, weil er nämlich etwas ganz Anderes verstanden hat. Man darf ihn in keine Gesellschaft führen, weil er im Stande ist, durch seine Zerstreuung die beste Einigkeit zu stören. Er wird so entschieden grob bei vorkommenden Fällen, daß man erstaunt, wie sich dieser Mann über alle Rücksichten hinwegsetzt. Er hat sich sogar ein eigenes philosophisches System erfunden. Allein, wenn alle Weisheit, selbst die Afterweisheit, die Scholastik bisher noch immer einen gewissen Inhalt in ihren Formeln gehabt hat, wenn selbst an den kahlsten Begriffen der Philosophie von ihren Aposteln noch immer einiges concrete Fleisch, eine gewisse Natürlichkeit gelassen wurde, so hat Lord Abstrakt in seine Theorie nur Schattenbilder, nur Dreiecke und Quadrate aufgenommen. Wo andere Menschen von dem höchsten Gut und von dem vorzüglichsten Prinzip der Moral sprechen, da sieht er nur Katheten und Hypotenusen. Ich frug ihn einmal: Mylord, glauben Sie denn an die Unsterblichkeit der Seele? Trocken, kalt und ernst sah er mich an und antwortete nach einigen Sekunden mit hohem Pathos: Die grade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten! Was er sich hiebei gedacht hat, weiß ich nicht. Ich habe nie wieder mit ihm gesprochen.

Trotz dieser Ausnahmen beweist die Geschichte, daß zwar Leib, Seele und Geist selten in gleicher Harmonie gefunden werden, daß aber aus ihrem mehr oder weniger entschiedenen Zusammenhange das Leben des Einzelnen und der Völker gebildet wird. Bald blühten Epochen, wo der Leib die Oberhand hatte, wie im Alterthum, in jener Zeit der schönen, plastischgerundeten Formen, in jener Zeit der Vermenschlichung und der Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dichtkunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. In Völkern und Individuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigenthümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde -- Forschern sey das gesagt -- das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Gemüths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen.

Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Interessen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen.

Wir haben zuerst von der Bevölkerung zu sprechen. Wie harmlos und dem jetzigen Bestande der Dinge widersprechend beginnt die Geschichte dieser Frage! Wie einfach ist sie bis auf den Augenblick, wo Malthus die fürchterliche Gestalt des immer mehr anwachsenden Riesen in allen ihren Conturen zum ersten Male wahrnahm und durch die Entdeckung seines berühmten Satzes, daß die Bevölkerung geometrisch und die Nahrungsmittel arithmetisch zunehmen, Alles, was in Europa nicht nur lebte, sondern auch Leben schaffen wollte, mit Schrecken erfüllte!

Von jeher haben die Gesetzgeber sich damit beschäftigt, die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zu regeln; doch war ihr Gesichtspunkt immer der, daß ihnen entweder die Zahl zu gering, oder zu hoch nur in dem Falle war, daß aristokratische kleine Gemeinwesen von einer allzujäh zunehmenden Bevölkerung in ihren Privilegien verkürzt zu werden fürchteten. China, an Uebervölkerung leidend, gestattet den Verkauf und die Aussetzung der Kinder, einen Gebrauch, von dem man nicht weiß, ob er weniger grausam ist, als der von Montesquieu angeführte auf der Insel Formosa, wo die Weiber vorm fünfunddreißigsten Jahre nicht gebären dürfen und sich mit einer Priesterin abzufinden haben, wenn sie vor diesem Alter ihrer Leibesfrüchte los werden wollen. Plato und Aristoteles, die großen Weltweisen haben wenig Rücksicht auf das noch nicht zum Bewußtseyn gekommene Menschenleben genommen. Aristoteles rathet, wenn für eine Stadt Uebervölkerung drohe, ihren Bürgerinnen an, es so zu machen, wie die Frauen auf Formosa, wenn sie noch nicht fünfunddreißig Jahre alt sind. Bald aber änderten sich diese Rathschläge und gingen auf das Gegentheil über. Die kleinen Staaten wurden von den großen verschlungen, diese wieder von dem Weltreich der Römer. Die Bevölkerung war überall, der Kriege und der Noth wegen, nur dünn und sparsam: wie auch Plutarch so schön sagt, die Orakel hätten in Griechenland zu reden aufgehört, weil es ja keine Menschen mehr im Lande gäbe. Rom mit der Ahnung, daß es die Welt erobern und dazu Menschen brauchen würde, munterte von seiner ersten Stiftung an seine Bürger auf, sich zu vermehren und zu heirathen. Hagestolze wurden von den Censoren bestraft. Die Ansicht der Römer drückt Metellus Numidicus beim Aulus Gellius folgendermaßen aus: »Wenn es möglich wäre, sich kein Weibsbild auf den Hals zu laden, so würden wir Römer uns bald von diesem Uebel befreien. Aber da einmal die Natur festgesetzt hat, daß man mit ihnen nicht glücklich leben, aber ohne sie auch nicht fortdauern kann, so müssen wir freilich mehr auf unsre Erhaltung als auf unsre Zufriedenheit sehen.« Trotz dieser Lehre, die allerdings wenig zur Heirath Aufmunterndes hat, vermehrte sich die Zahl der Hagestolzen, und verminderte sich die Nachkommenschaft. Die Bürger- und Eroberungskriege rafften die blühenden Geschlechter des Adels und die unteren Volksklassen, die sich dem Ehrgeiz derselben opferten, fort. Da fing Cäsar, der viel Menschen haben wollte, um unter ihnen der Erste zu seyn, an, auf die eheliche Fruchtbarkeit Prämien auszustellen. Frauen, die im vierundfünfzigsten Lebensjahre noch keinen Mann oder wenigstens ein Kind hatten, durften weder Edelgesteine noch sonstige Befriedigungen weiblicher Eitelkeit tragen. Augustus gab noch dringendere Gesetze. Er erhöhte die Strafen und die Belohnungen in Betreff der Nachkommenschaft. Er übertrieb aber seinen Widerstand gegen Umstände, die beinahe schon in der Natur zu liegen anfingen. Die Adeligen murrten. Augustus berief sie, stellte hierher die Verheiratheten, dorthin die bei weitem größere Anzahl der Hagestolzen und sprach Folgendes: »Während uns Krieg und Pest eine so große Anzahl von Bürgern raubt, was soll aus dem Staate werden, wenn man sich nicht mehr verheirathet? Unser Staat besteht nicht aus Häusern, Säulengängen und öffentlichen Plätzen, sondern die Menschen machen die Stadt. Ihr werdet es nicht mehr erleben, daß wie in alten Zeiten die Leute aus der Erde kommen und eure Geschäfte übernehmen. Der Einsamkeit wegen seyd ihr nicht ehelos. Jeder von euch hat seine Bett- und Tischgenossin, und ihr sucht die Ordnung eben in eurer Unordnung. Ihr wollt euch wohl auf das Beispiel der vom Staate geduldeten vestalischen Jungfrauen berufen?« Nach ähnlichen spottenden und erzürnten Bemerkungen kam das berühmte Gesetz Papia Poppäa zu Stande, welches nicht nur die ganze Strenge der früheren Bekämpfung des Cölibats wiederholte, sondern noch eine viel härtere hinzufügte. Aus allen diesen historischen und juristischen Elementen setzte sich die römische Gesetzgebung über das Hagestolziat zusammen, wie wir sie in den Quellen derselben noch antreffen. Diejenigen, welche sich nicht verheiratheten, konnten von Fremden nichts erben, und die, welche zwar beweibt waren, aber keine Kinder hatten, konnten nur auf die Hälfte der Erbschaft Anspruch machen. Plutarch sagte sehr witzig: Die Römer heirathen, um Erben zu seyn, nicht, um selbst welche zu haben. Wenn sich ein Mann von seiner Frau entfernte, und die Veranlassung dazu nicht in Staatsgeschäften lag, so konnte sie ihn enterben. Wer seinen Kindern keine Mitgift zur Heirath gab, durfte durch die Behörden dazu gezwungen werden. Heirathen im höchsten Mannesalter kamen vor, aber die Männer mußten alle dem Marino Falieri gleichen und sich Angiolinen heirathen. Ein sechszigjähriger Mann durfte der Nachkommenschaft wegen keine sechzigjährige Frau heirathen. Andere kehrten es um und verboten gerade den Alten junge Frauen, weil sie unfruchtbar blieben. Es kam hier freilich immer auf die Umstände an.

Das Christenthum stürzte durch sein Prinzip, daß es gut wäre, zu heirathen, aber besser, nicht, diese Gesetzgebung zum größten Theile um. Der Monachismus machte vollends aus dem unbeweibten Stande ein Sakrament. Wie aber die Vorsehung alle Gegensätze der Natur ausgleicht (die Gegensätze des Geistes sind auf sich selbst angewiesen), so schien diese Casteiung in gutem Einklang mit den ungeheuern Völkermassen zu stehen, welche Asien über Europa ausgoß. Zwar wütheten Krieg und Pest unter diesen Horden, aber trotz derselben, trotz der spätern Kreuzzüge behaupten französische Gelehrte, daß Frankreich unter Karl IX. doch beinahe eben soviel Bewohner gehabt hat, als gegenwärtig. Allmählich aber verminderte sich dieß günstige Verhältniß. Der Grund des plötzlichen Zusammenschmelzens der europäischen Bevölkerung mag zum größten Theile wohl im Untergange des Feudalismus und des Lokalgeistes zu Gunsten der Centralisation und der Staatsmaschine gelegen haben. Früher hatten die kleinen Reichsstädte und Baronien in sich selbst einen stolzen unabhängigen Mittelpunkt; sie dehnten sich in warmer, behaglicher Existenz und brüteten demnach mehr Menschen aus, als später, wo das System der Controlirung und die Rekrutenaushebung es den Eltern zum Schmerze machte, Kinder zu haben. Was nahm nicht der neu entdeckte Welttheil im Westen an Menschen fort! Wie große Menschenopfer mußten die Holländer ihren ungesunden Colonien machen! So kam der absolute Monarchismus, der Menschen brauchte, um Kriege zu führen, und Geld dazu, das jene verdienen mußten, fast überall wieder auf die Gesetzgebung des Augustus zurück, so zwar, daß weniger die Hagestolzen, als die Ehemänner selbst ermuntert, und aufs Neue Prämien für eine gewisse Anzahl Kinder ausgesetzt wurden. Wer zehn Kinder hatte, bekam unter Ludwig XIV. eine Pension. Allein daß die Bevölkerung Europa's trotz der Kriege des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts reißende Fortschritte gemacht hat, ist weit weniger die Folge dieser in manchen Militärstaaten, z. B. Preußen, noch bestehenden Prämien, als die der steigenden individuellen und industriellen Freiheit. Seitdem die Macht des Clerus und der Aristokratie beschränkt ist, seitdem die nutzlos gelegenen und selbst bei ehrlichem Anbau nicht hinreichend ausgebeuteten Domänen der Fürsten an den meisten Orten der Nation überlassen sind, seitdem die Monopole und Privilegien erstarben, hat sich überall eine kecke, fröhliche Lust an der, wie Göthe sagt, »süßen Gewohnheit des Daseyns« gezeigt und Menschen die Hülle und Fülle ins Leben gerufen. Die Bevölkerung nahm mit so gewaltiger Schnelligkeit zu, daß sich der Phantasie das Schreckbild der Uebervölkerung bemächtigte und in Malthus einen finstern, unglücksschwangern Propheten fand. Ich habe einen Bekannten, der über die Lektüre des Malthus'schen Buches in Trübsinn verfallen ist. Ueberall, wo er hinsieht, erblickt er die Plage der Uebervölkerung. Ueberall sind ihm die Menschen zu zahlreich. Die Gier, welche diese Millionen beseelen muß, um sich zu ernähren, hat ihn feige gemacht, die Conkurrenz auszuhalten und mit im Athem zu bleiben bei dem allgemeinen Wettlaufe. Sein Geschäft blieb unter diesen Umständen zurück. Das Daseyn, das er sich fristet, ist kümmerlich genug.

Die Malthus'sche Theorie und die Debatten, welche sie veranlaßte, ist hier nicht der Ort, weitläufig wiederzugeben. Malthus hat gesagt: Die Menschen vermehren sich in dem Verhältnisse von 1, 2, 4, 8, 16, die Nahrungsmittel aber nur wie 1, 2, 3, 4, 5 u. s. w. Seine Gegner haben den ersten und den zweiten Satz angegriffen. Jener ist beschränkt, dieser erweitert worden. Dort hat man die außerordentlichen Fälle mit in Anschlag gebracht, hier auf die Meinung sich gestemmt, man könne die Natur potenziren. Eine dritte Meinung war die, daß die Vorsehung schon der Natur selbst den Trieb eingepflanzt hätte, sich wechselseitig auszugleichen und Mögliches nur an Mögliches zu reihen. Diese letztere Ansicht, so richtig sie mir scheint, hat aber auch übersehen, daß die Mittel, welche die Natur braucht, ein solches Gleichgewicht des Bodens und der Menschen herzustellen, natürliche, d. h. keine moralischen, sondern grausame genug sind. Eben diese grausame Reaktion der Natur zu vermeiden, darum handelt es sich in dieser wichtigen Menschheitsfrage.

Das Maß der Bevölkerung ist die Möglichkeit, sich zu ernähren. Das Maß der Ernährung ist wieder die Natur in dem, was ihre Mittel vermögen. Die ungeheure Complication der neuern Existenzmittel, die künstlichen Nothwendigkeiten, welche durch Luxus, Industrie, Handel, Wissenschaft und den weitverzweigtesten Formalismus in Staat, Kirche und sofort geschaffen sind, machen den Calcul über die Bevölkerung ungemein schwierig. Wovon existiren die Menschen nicht! Und was läßt sich nicht noch ersinnen, um eine Beschäftigung zu haben, die ihren Mann nährt! Wir werden auf dieß Thema, weil es die Zeitgenossen sprechend charakterisirt, wieder zurückkommen. Hier gilt es, den Satz fest zu halten, daß zuletzt auch bei den künstlichen Beschäftigungen ein Maßstab vorhanden seyn muß, der ihren Werth und die Grenze ihrer Ausdehnung ausdrückt. Dieß ist der Ertrag des Bodens und der Natur überhaupt. Es muß ein Ultimatum von Bevölkerung geben, wie wir es partiell hie und da schon gesehen haben, daß das Gefäß überläuft und die Auswanderung dem ängstlichen Zustande zu Hülfe kommen muß. Freilich wird die Natur verhindert, ihre Meinung über die Menge, die sie ernähren kann, auszusprechen; durch die Lasten nämlich, welche auf dem Boden und seinen Erzeugnissen liegen. Europa, in der Annahme eines Weltreichs, das ohne Gesetze und Gesetzvollstrecker friedlich beharren könnte, Europa ohne Staaten und Aristokratie in ihnen, Europa als ein freiherrliches Land, das keiner Kriege und Fürsten bedürfte, würde noch einmal soviel Menschen tragen dürfen, als jetzt: eine Wahrheit, die etwas Schreckhaftes hat. Denn entweder muß das Interesse unsrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung die Keime der sich ins Leben drängenden Menschheit gewaltsam ersticken, oder kann man dieß nicht, und glaubt man es nicht zu dürfen, glaubt man, die künstliche Existenz, welche jetzt Millionen ernährt, werde noch einmal soviel vor Hunger decken können, so wird die Folge nur die seyn, daß die Menschheit vom Boden das wegnimmt, was seinen Reichthum hindert. In der Uebervölkerung liegt auch zu gleicher Zeit der Untergang der Verhältnisse, welche jetzt dem europäischen Körper seine Gestalt geben. Sind die Menschen erst da, bricht, wie früher oder später geschehen muß, die künstliche Maschine eingebildeter Bedürfnisse und darauf gebauter Nahrungszweige zusammen, so wird die hungernde Menschheit nichts hindern, den Priester- und Königszehnten der Ernte für sich in Beschlag zu nehmen und aus der potenzirten Natur all die arithmetischen Wurzeln zu ziehen, die nur in ihr drin stecken.

Die Staatsmänner, welche bedacht sind, Europa in seiner gegenwärtigen Form zu lassen oder doch nichts Wesentliches an ihr zu ändern, Staatsmänner sogar, die Philanthropen sind und zuviel Mitleid mit der Menschheit haben, als daß sie wünschten, je die Nachkommen in Verlegenheit über ihre Existenz zu wissen, haben Vorschläge aller Art gethan, um der reißend um sich greifenden Zunahme der europäischen Bevölkerung Einhalt zu thun. Die Auswanderung nach unbebauten Regionen, deren viele ebenso noch in Europa, wie in den übrigen Welttheilen liegen, war das natürliche Palliativ. Allein wie inkonsequent! die Auswanderung wird nicht gern gesehen. Denn natürlich, diese Leute nehmen mit übers Meer, was ihnen gehört, besonders aber sich selbst, ausgewachsene, kräftige Arbeiter, die einmal da sind, da im Gegentheil das Schreckbild der Uebervölkerung nur noch einstweilen in der Möglichkeit derer liegt, die nachkommen könnten. Der Vater wandert mit vier rüstigen Söhnen aus. So war es nicht gemeint, guter Freund, bleib im Lande, nur vermehre dich nicht über die Zahl! du konntest wohl mit drei Söhnen zufrieden seyn, jetzt, wo du den vierten hast, halte wenigstens für die Zukunft ein. Daß nun eben der gute Mann dieß nicht thut, sondern zufrieden auf sein Weib blickend ausruft: Es ist Gottesgabe! diese Rücksichtslosigkeit auf die Grundsätze der Finanz, die der Mann hat, könnte es dann freilich zum Schluß allein wünschenswerth machen, daß er getrost auswandert.

Es sind mancherlei Vorschläge gemacht worden, der allzugroßen Vermehrung, besonders der niedern Volksklassen, Einhalt zu thun. Man hat von dem Plombiren der männlichen Zeugungskraft gesprochen, ja sogar in Betreff der unverheiratheten Mädchen von ähnlichen Vorrichtungen gesprochen, wie sie ein Doge, der gegen die Türken auszog, bei seinem Weibe veranstaltete, und wie sie noch zu dieser Stunde im Arsenal von Venedig zu sehen sind. Allein das Uebel des Ehestandes ist weit größer. Ein Taglöhner heirathet und hat ein Nest von Kindern, die er nicht zu ernähren weiß. Ein Uebelstand in unserem heiligen Lande, wo wir durch die Moral die größte Immoral zu befördern pflegen, ist die Armentaxe, eine fortwährende Aufmunterung für den Bettler, es dem Reichen nachzuthun, zu heirathen, Kinder zu zeugen und ihnen eine Erbschaft zu hinterlassen, die wahrlich nicht schlecht ist, wenn man bedenkt, daß auf sie die Unterstützung des Vaters nicht nur vererbt, sondern durch Zuschüsse sogar vermehrt wird. Die Masse der gesellschaftlichen Drohnen steigt; die Einen arbeiten, die Andern zeugen Kinder. Dieß wäre eine vortreffliche Einrichtung, wenn das letzte Geschäft von den Ersten nicht ebenfalls betrieben würde oder mit einem gewissen Risiko verbunden wäre.

Eine Abhandlung über diesen Gegenstand liegt vor mir. Sie will ein Mittel gegen die Uebervölkerung, nachdem sie mehrere andere verworfen, ihrerseits angeben und sagt: »Es ist nur die Ergreifung zweier Maßregeln möglich. Einmal das Verbot der Eingehung einer Ehe vor zurückgelegtem dreißigstem Lebensjahre beim Manne, damit hiedurch die Generationen weiter auseinander gerückt werden und also weniger Menschen zu gleicher Zeit leben, zweitens aber das Verbot jeder Ehe bei Personen, welche einen sichern Nahrungsstand nachzuweisen nicht vermögen, wobei ein allzukleiner Antheil an Grundeigenthum und Fähigkeit zu Taglöhnerarbeit und einem Handwerk, wenn das örtliche Bedürfniß nach der Ansicht der Gemeinden schon völlig befriedigt ist, nicht als hinreichend sichernd zu betrachten wären.« Dieß Mittel liegt allerdings auf der Hand und wäre auch einfach genug. Allein der Verfasser dieser aus dem deutschen übertragenen Abhandlung fühlt selbst, daß die unehelichen Geburten dann ausnehmend um sich greifen würden, von denen er jedoch hofft, daß sie bald sterben, da die Sterblichkeit unter unehelichen Kindern größer ist, als unter gesetzmäßig Erzeugten. Sollte man aber selbst diese etwas grausame Hoffnung nicht aus dem Spiele lassen? Sollte man nicht beiderlei Geburten, den ehelichen und den unehelichen, gleiches Gedeihen wünschen können und dabei noch eine Verminderung des Zeugungstriebes erzielen? Ich gestehe, daß selbst in obigen Bestimmungen über Heirathen in dem und dem Alter, unter den und den Umständen etwas Chimärisches liegt, und daß ihre Durchführung unübersteigliche Hindernisse darbietet. Ich halte überhaupt das Erschweren der Heirath für etwas so Unnatürliches, daß ich über die Künstlichkeit unsrer gegenwärtigen Einrichtungen erschrecken würde, wenn jenes nothwendig werden sollte. Im Gegentheile find' ich, daß die Menschen viel zu sehr gezwungen werden, sich zu verheirathen, durch die großen Schwierigkeiten nämlich, welche sich der unehelichen Geburt entgegenstellen. Ein Findelhaus, das jährlich dreihundert Kinder aufnimmt, erspart der Zukunft des Volkes eine Generation, die leicht das Dreifache beträgt. Denn sind die meisten Heirathen in unsern Ständen nicht Folge eines Verhältnisses, das sich mit einem einzigen Kinde befriedigt haben würde, und das sich enger zusammenknüpft und fünf Kinder erzeugt, weil mit der unehelichen Geburt Unbequemlichkeit, Prozesse und letztlich Schande verknüpft ist? Gewiß, es muß hier möglich seyn, erleichternd einzuschreiten. Wenn wir das ruchlose Gesetz haben, daß eine jede Dirne von der Straße, die schwangern Leibes ist, ihr Kind einem beliebigen Vater zuschwören darf, wer möchte, wenn es z. B. ein Hagestolz ist, der sein kleines Geschäft im Städtchen führt und sich verging mit einer Magd, nicht lieber, um dem Prozesse zuvorzukommen, sich mit dem Stück verheirathen, sie als angetraute Haushälterin ansehen und sich selbst zwingen, nun noch, was sie sogar verlangen könnte, ein halb Dutzend Kinder mit ihr in die Welt zu setzen? Mit einem Worte: Es herrscht viel zuviel moralischer und juristischer Zwang zur Ehe. Unser Autor von vorhin fürchtet sich gerade vor unehelichen Verhältnissen nicht; allein er hätte noch weiter gehen sollen. Ein Arbeiter heirathet. Er schlägt sich jeden Tag mit seiner Frau und zeugt doch, wie dieß gewöhnlich ist, eine wimmelnde Kinderbrut mit ihr. Nur die Ehe, zu der ihn das erste uneheliche Kind vielleicht gezwungen, moralisch und juristisch gezwungen, nur die Ehe zwingt dieses Paar förmlich, sich ohne Liebe zu vermehren. Wären sie, wie man im Volke sagt, nur zusammen gelaufen, so hätten sie sich leicht wieder trennen können. Die gerichtliche Scheidung verursacht soviel Weitläufigkeit, daß die Leute lieber zusammen bleiben, sich schlagen und des Nachts, vielleicht in der Trunkenheit, die Befürchtungen, welche Malthus hegte, begründen helfen.

So lange die Menschheit noch dem sophistischen Gorgias nachlebte, der es für die höchste Aufgabe der Weisheit hielt, sich Alles selbst zu verfertigen und keiner fremden Hülfe zu bedürfen, war die Theorie der Erwerbsmittel die einfachste von der Welt. Man erwarb, was die Natur bot. Man lebte von den Bäumen, die Niemanden gehörten, von den Thieren des Waldes, kurz, Nahrungsmittel waren das Unmittelbare, das man antraf, man war noch nicht genöthigt, Güter gegen einander zu tauschen. Erst mit dieser Nothwendigkeit, daß der Eine nur Vieh und der Andere nur Frucht besaß, begann das Erwerben der Nahrungsmittel ein stationäres Geschäft zu werden. Die Einseitigkeit des Besitzes trieb die Verhältnisse der Existenz auf eine Höhe, die immer künstlicher wurde. Der Eine erzeugte die Rohstoffe, der Andere verarbeitete sie, der Dritte vertrieb sie im Handel. Das Geld, eine Werthbestimmung, wurde einziges Ziel des Erwerbes, weil man bald durch dasselbe im Stande war, Alles zu erlangen. Der Tausch war durch das Hülfsmittel des Geldes vereinfacht. Mit zunehmender Bevölkerung und steigender Cultur verlor sich auch die Leichtigkeit des Erwerbs. Die Conkurrenz nahm dem Einzelnen sein natürliches kleines Monopol. Verdienst wurde bald nur noch die Frucht einer Anstrengung, die selbst bei dem redlichsten Willen, nie eine von Schweiß trockne Stirn zu haben, doch vergebens arbeitete, weil die gleiche Thätigkeit überhäuft und allgemein besetzt war. So mußten die Erwerbszweige immer verschlungener und schwieriger zu erreichen werden. Man benutzte die Natur, man benutzte sich selbst. Die Arbeit selbst wurde ein Produkt. Um deren das größtmögliche Quantum zu erzeugen, beschleunigte und vereinfachte man sie. Man erfand Maschinen, die die Menschenhand entbehrlich machten. Je mehr man erzeugen konnte, desto größer das Bedürfniß darnach, eine in der Geschichte der Industrie sehr merkwürdige Erfahrung. Weil der Bedarf stieg, so konnte man auch jene Arbeiter beschäftigen, die durch die Einführung der Maschinen brodlos geworden wären. Aber nicht alle Fortschritte, die in diesem Bereich der menschliche Geist machte, ließen eine so angenehme und die Menschheit nicht gefährdende Ausgleichung zu. Der schöne Grundsatz von der Theilung der Arbeit hat den Industrialismus nur noch mehr potenzirt, wo, wenn Einer fällt, Alle fallen müssen. Früher machte Einer ein Ganzes, jetzt machen Hunderte ein Ganzes, wenn auch fünfhundertmal schneller, als jener Eine; allein Jeder, nur mit einem Theile der Arbeit beschäftigt, kennt ihr Ganzes nicht. Eine ungünstige Conjunktur tritt ein, und die Folge ist, daß Tausende darben, wo sonst nur Zehn gedarbt hätten.

Die Existenz sichern unsre Zeitgenossen auf die verschiedensten Weisen. Hier sind bleiche Gesichter, die ein Aussehen wie vergiftet haben. Sie begraben sich schon in ihrer Jugend in die Gebirge, wo sie die verheerendste Arbeit verrichten in den Quecksilbergruben. Ihr Auge ist matt, ihr Gang taumelnd. Sie kennen nur eine Lust, die Befriedigung ihres thierischen Triebes nach Nahrung und Geschlechtssinnlichkeit. Das Gewinnen des Quecksilbers übt auf die Gesundheit den nachtheiligsten Einfluß. Man kennt Almaden, die berühmten Merkurialgruben Spaniens, man kennt es aus dem jetzigen spanischen Successionskriege und den kühnen Märschen des Carlistenchefs Gomez. Dort ist der Sitz des größten physischen Elends, das sich denken läßt. Selten, daß ein Mann sein natürliches Alter erreicht. Er stirbt immer frühzeitig. Peru hat berühmte Quecksilberwerke in Huanca-Velika. Die Arbeiter haben dort meist die fallende Sucht oder leiden an Zuckungen und Convulsionen. Und dennoch sind Menschen da, die dem unvermeidlichen Tode so in die Arme gehen, die ihr Geschäft mit derselben Resignation verrichten, wie Lord Stanley, wenn er im Unterhaus die Beine auf den Tisch legt und den Engländern Gesetze macht. Es fällt jenen Menschen nicht einmal ein, etwas Anderes zu seyn, weil sie etwas Anderes nicht ahnen können, und ihnen die Gewöhnung an die tägliche Fristung ihrer Existenz gar keinen Gedanken übrig läßt, als könnt' es ihnen besser ergehen. Denn das ist der Fluch dieser unglücklichen Sphäre: man muß etwas können, wenn man leben will; Jeder hat sogar einen Stolz auf dieß traurige Können, wie sich z. B. Gürtler und ähnliche Arbeiter, die früh ihre Augen verlieren und pestartige Ausdünstungen einathmen müssen, gar nicht von ihrem Geschäft abbringen lassen, von einem Geschäft, das sie nicht haben, sondern das sie hat.

Andere Stände ernähren sich von den Proportionen zwischen der rohen Arbeit, die im Handel vorkommen, und vom Bankwesen wieder, welches die Proportionen des Handels ausdrückt. Beamte schreiben den sauern Schweiß des Einen auf den sauern Schweiß des Andern über. Sie fassen die Menschen in runden Summen zusammen, controliren ihr Gehen und Stehen, ihr Alter, ihre Kinder, ihr Vermögen, ihre Pflichten, ihre Tugenden und Verbrechen, ihr Sterben sogar und schreiben es Alles in kurzen Nennwerthen in rothliniirten Büchern an, und machen Latus und Transport für das nächste Folioblatt.

Andere endlich, die Chevaliers d'Industrie, leben von ganz idealischen Bedürfnissen, die sie erst in dem Augenblicke schaffen, wo sie sie schon, natürlich für Geld, zu befriedigen sich eilen. Der Savoyarde stürzt in Paris auf dich ein: Mein Herr, Ihre Stiefeln! Man hat kaum hingesehen, ob die Stiefeln, die man vor einer Minute, wo man eben aus seinem Hause trat, glänzend anzog, wirklich schon verunreinigt seyn sollten, und kann auch nun nicht mehr vergleichen; denn der Bursche verdeckt die Aussicht und putzt etwas, das spiegelblank war. Der echte Chevalier d'Industrie schafft sich selbst sein Gewerbe. Er geht in ein Spielhaus und wartet auf junge Neulinge. Sie kommen. Er sieht es an der Haltung und der ganzen naiven Neugierde und dem klopfenden Herzen. Er sieht es, daß sie das Spielhaus für eine Satanshöhle halten und doch ihr Glück darin versuchen wollen, wie sie die Mienen auf dem Antlitz der Croupiers prüfen und, nach ihrem romantisch-dämonischen Ausdruck, wie sie an den grünen Tischen junge Verzweifelte erblicken wollen, die, wie in Romanen beschrieben wird, eben hinausgehen und sich eine Kugel vor den Kopf schießen werden; er sieht, wie sie selbst die Börse ziehen, und tritt heran: Mein Herr, jene Nummer! flüstert er ihm zu. Das Glück will ihm wohl. Sie gewinnt. Der junge Mann hat weise Lehren im Kopf. Er weiß, daß, wenn man 100 Guinéen gewonnen hat und man weiter spielt, man noch 100 dazu verlieren kann. Er will gehen. Der Chevalier unterstützt ihn darin, begleitet ihn an die Thür, sinkt plötzlich von seinem cordialen Ton in einen sehr demüthigen und seufzt: Monsieur, ayez la bonté..... un des braves des colonnes invincibles..... Er reißt den Brustlatz auf: er hat das Kreuz der Ehrenlegion. Das junge Glückskind gibt ihm von 100 Guinéen den Zehnten des Mitleids. Balzac hat diese Scene meisterhaft beschrieben.

So haben die Londoner Börse und der Journalismus einen Erwerbszweig veranlaßt, der an Unglaublichkeit grenzt. Mehrere fallirte Börsenspieler ernähren sich davon, den Journalen, die fortwährend im Druck sind, Mittheilungen über den Stand der Papiere zu machen. Nämlich ein Makler pflegt gewöhnlich drei, vier Abendzeitungen mit dem Coursberichte zu versehen. Um überall die Richtigkeit desselben zu vergleichen, muß er sich vervielfältigen. Kurz ein solcher Mann braucht Helfershelfer, um in einem und demselben Momente an vier Orten zu seyn. Jetzt läuft er von der Börse spornstreichs in die entfernteste Druckerei, findet aber an drei Straßenecken schon seine Untercommis, denen er in Eile den Cours diktirt im Stehen vor aller Welt. Diese laufen dann in die drei andern Druckereien, geben die Zettel ab und machen die Revision des Druckes. Von solchen Geschäften existiren einige Menschen in London. Den Tag über gehen sie spazieren am Strand, im Regentpark, nur einige Stunden Nachmittags werfen ihnen einen kleinen Gewinnst ab.

Die ganze Legion der Commissionäre in Paris und London gehört in diese Kategorie eingebildeter Bedürfnisse. Besonders die in Paris, welche recht eigentlich ein Verderben für die Menschheit sind, da sie den luftigsten unbedeutendsten Planen Gehör geben und ihnen zur Ausführung mit allerdings bewundernswürdiger Volubilität behülflich sind. In Paris würde nicht alle Augenblicke eine neue Luftschifffahrtsgesellschaft, eine neue literarische Unternehmung in Heften, Panthéon littéraire mit Riesenlettern!!, ein neues Journal etablirt seyn und freilich eben so schnell verschwinden, wenn es auf jenem unruhigen Pflaster nicht Menschen gäbe, die mit der Eilfertigkeit eines Sollizitanten durch die Straßen rennen, alle Portiers kennen, überall eingelassen werden, 100, 500, 1000 Abonnenten im Nu und verhältnißmäßig Aktionäre zusammentrommeln. Ich komme nach Paris, ich nehme mir vor, ein Journal herauszugeben: Wischiwaschi, Journal quotidien, littéraire, politique, industriel. Ich spreche mit einem Freunde: er schickt mir einen Commissionär. Mein Herr, heißt es hier, erst einen glänzenden Prospektus! Mr. J. Janin muß ihn schreiben.

Ich habe kein Geld!

Das ist schlimm. Sie wollen erst Geld verdienen. Nun denn, versuchen wir's selbst!

Er nimmt Feder, Dinte und Papier: erst der Titel. Der Titel ist gut! Lapidarschrift! Jetzt Fond de la Société: 600,000 Frks. Nun Artikel I. Emission des Actions: Jede Aktie zu 500 Frken: 1200 Aktienbetrag zahlbar in fünf Terminen: erste Einzahlung acht Tage nach der Subscription 100 Frks. Dazu ein Banquier genommen, der Namen hat: Mr. Rougemont, Mr. Fould. Advokat der Gesellschaft: Mr. de Haber. Jetzt, mein Herr, die Grundsätze: 1) Liberté civile, religieuse et commerciale pour tout le Monde. 2) Impartialité générale. In ähnlicher Weise entwickelt der gewandte Commissionär die Versprechungen des Wischiwaschi immer weiter. Ich, ganz erstarrt, frag' ihn: Ja, mein Herr, wie dieß Alles nun realisiren! Er springt auf, sagt: haben Sie keine Sorge und eilt davon. Der Prospekt wird mitgenommen.

Ich höre acht Tage von dem Manne nichts mehr und gebe die Probe, den Pariser Leichtsinn zu erforschen, schon auf, da erhalt' ich eines Abends ein Billet: Morgen früh, mein Herr, in der und der Straße das Nähere. Ich gehe hin und bin erstaunt über das, was ich finde: 1) meinen Commissionär mit einer langen Liste von Kapitalisten, die auf das Journal Wischiwaschi bereits Aktien genommen haben; 2) einen zweiten Commissionär, der mir die Unterschriften von fünfzig Buchhändlern, Marchands de Mode, Aerzten, Sprachlehrern u. s. w. bringt, die sich entschließen werden, ihre Werke, ihre Modesachen, ihre Méthodes dépuratifs et végétales gegen Dartres und Maladies secrètes, endlich ihre Hamilton'schen Sprachkourse in meinem fertig etablirten Wischiwaschi anzeigen und sich die Kosten dafür berechnen zu lassen, 3) endlich ein ganzes Stück der lebenden französischen Literatur: einen Exoffizier der Munizipalgarde als Gérant responsable, der sich für das Journal in vorkommenden Fällen einstecken läßt oder duellirt, einen ehemaligen St. Simonisten, spätern Präsidenten einer Sektion der Menschenrechte und unter polizeilicher Aufsicht stehenden Aprilgefangenen, guten Stylisten sonst und Fechthahn mit der Feder, als Hauptredakteur, drei andre als Hülfsarbeiter, junge Studenten der Rechtsschule, die kein Geld haben, um zehen Jahre Advokat ohne Prozesse zu seyn, einen deutschen Flüchtling, der die Allgemeine Zeitung excerpirt, einen ditto polnischen, der mit einer gewissen Gewandtheit mörderische Lügen von sibirischem Kindermord und litthauischen Rekrutenaushebungen zu erfinden weiß, endlich einen Feuilletonisten, einen eiteln affektirten Geck, in welchem ich die Ehre habe Herrn Alphonse Karr kennen zu lernen. Das Journal ist fertig; 100,000 Franks sind baar vorhanden, davon sind 100,000 Cautionnement, 10,000 für den Anfang, für ein großes Gründungsdiner, Annoncen, Ermunterung eines Druckers und Douceur des Commissionärs bestimmt. Die übrig gebliebenen Aktien gehören mir. Ich bin der überwiegende Eigenthümer des Wischiwaschi. Ein solches Glück, wenn es anders so zu nennen ist und man nicht zuletzt einen schmählichen Bankerutt machen muß, kann man in Paris täglich haben.

Wie ich hier ein Beispiel in Betreff der Literatur gegeben habe, so würde ein anderes aus dem Bereich der Industrie noch schlagender seyn. Denn in der Literatur hat sich der Schwindelgeist schon erschöpft, allein auf die Industrie ist jetzt Alles gerichtet. Es ist lächerlich genug, daß sich die Schwindler hier einbilden, sie wären reell geworden, sie hätten sich auf Nützliches und Menschheitbeförderndes geworfen. Alle Welt glaubt das bis jetzt noch mit und träumt, wenn sie etwas Kapital hat, von Aktien und Dividenden. Allein bald wird man einsehen, daß hier dieselbe Windbeutelei herrscht, die die Journalistik vernichtet hat. Gesetzt, jener Commissionär, der mir den Wischwaschi geschaffen hat, hätte allmählich gefühlt, daß mit der Literatur nichts mehr zu verdienen ist, und hätte sich auf den Materialismus der Industrie geworfen, so würd' es seine Pflicht seyn, statt der frühern lustigen und frivolen, jetzt eine sehr ernste und bürgerliche Miene anzunehmen. Es gilt jetzt den Interessen der Nationalwohlfahrt, dem Progrès social sans phrase, den Morastausschlemmungen an der Loire, den Bergwerken im Jura, der Reinigung der Seine und der möglichst wohlriechenden Verbreitung der Gasbeleuchtung für das Universum. Er darf nur bei den Kapitalisten vorfahren. Die Zimmerthüren fliegen auf, er tritt herein zu dem podagristischen Rentenbesitzer, der die Reduktion der Dreiprozents fürchtet und nach einem höhern Zinsfuß schmachtet, er wirft nur eine einzige donnernde Phrase hin: Encouragement industriel, und der Kapitalist nimmt hundert Aktien für zehn, wenn nur Eisen, wenn nur Dampf bei der Sache vorkommt. Von dieser einzigen Phrase, angebracht zur rechten Zeit und an den rechten Mann, kann in Paris ein sonst gewandter Schlaukopf sein ganzes Leben fristen, denn er läuft niemals Risiko, er hat seine Prozente immer nur vom Wagniß, vor dem Scheitern. Eh' das Schiff ausläuft, versichert er sich: Encouragement industriel! Société générale pour favoriser les enquêtes utiles! Association anonyme pour le mercantilisme! O Zeitgeist!

Dennoch müssen wir bei dem Associationsgeiste, der sich unsrer Zeit bemächtigt hat, Halt machen, weil er einen neuen Abschnitt unsres Gegenstandes bildet. Er ist nämlich, zurückgeführt auf einfache und solide Grundsätze, ein vorzügliches Hülfsmittel geworden, um die Schwierigkeiten der modernen Existenz zu erleichtern. Es haben sich, um nur das Einfachste zu nehmen, in England namentlich Familien und Personen zusammen gethan und mit ihren verschiedenen, sonst sehr einfachen Einkünften einen Gesammtfonds gebildet, der auf jeden Theil eine weit anständigere Existenz kommen läßt, als hätten sie Alles für sich allein bestritten, was sie brauchten. Vier Familien miethen ein Haus auf gemeinschaftliche Rechnung: einzeln hätte jede 100 Pfund zahlen müssen, alle vier brauchen sie nur 300 zu zahlen. Ebenso ist das Verhältniß in allen übrigen Bedürfnissen. Sie essen gemeinschaftlich aus einer Küche, die sie von einer Haushälterin verwalten lassen, ihre Vergnügungen sind gemeinschaftlich: kurz sie stellen, wenn jeder einzeln früher 500 Pfund zu verzehren hatte jährlich, jetzt eine allerdings sehr starke und umfangreiche Familie vor, die aber doch auf eine Existenz von 2000 Pfund angewiesen ist. Gewonnen hat jeder der Theilhaber mehrere 100 Pfund; denn jeder kann leben, als hätte er 750 Pfund im Vermögen. Warum verbreiten sich diese Common-Houses nicht weiter? Warum ahmt sie der Continent nicht nach? Der Bettelstolz ist der am schwierigsten ausrottbare; denn bekömmt er, so steigt er ohnehin und wird sogar begründet, verliert er, so ist es seine Natur, desto pretentiöser zu werden, je weniger er hat. Niemand läßt sich, seitdem man das Geheimniß des Credites erfunden hat, gern in seine Karten sehen. Auch mangelt es zur Zeit noch an Frieden und Freundschaft genug unter den Menschen. Es würden immer nur erprobte Freunde oder Verwandte seyn können, die eine Verbindung dieser Art einzugehen sich entschließen und dazu passen könnten.

Die Verbindungen der Handwerker, um die Arbeitspreise auf der Höhe eines von ihnen selbst angesetzten Tarifs zu erhalten, haben mehr Verbreitung gefunden. Sie sind meist immer veranlaßt worden durch einige philanthropische oder auch demagogische Theoretiker, in England durch die Owensche Nützlichkeitsphilosophie, in Frankreich durch die Clubbs, die, von politischen Ideen ausgehend, sich Material schaffen mußten im Volke, um sie durchzuführen. Vor zwei Jahren haben aber beide einen harten Stoß erlitten, der sie so ziemlich mit Vergessenheit bedeckte. Die Associationen der französischen Handwerker verbluteten sich in Lyon. Die Culmination der englischen war die große Prozession in demselben Jahre, die vom Copenhagenfeld zu Lord Melbourne wallfahrtete, um ihm eine Adresse an den König zur Abstellung oder Milderung einer allzuschweren Strafe einiger ihrer Brüder vorzulegen. Vielleicht löste die Scham diese Verbindung auf: denn beschämend war es, eine Anzahl von nahe an 100,000 zu bilden, und sich so gebückt, artig und hungrig durch die Straßen zu schleichen, wie es jene Arbeiter thaten. Die Vorstellung eines großen Handwerksbundes war drohender, als der Anblick. Statt Furcht fing man an Mitleiden mit diesen Armen zu empfinden. Als mehrere Sektionen von ihnen, die immer eine ganze Zunft vorstellten, sich weigerten, zu einem von den Meistern bestimmten Preise zu arbeiten, engagirten diese Frauenzimmer. Das Risiko war hier für die Gesellen so groß, wie die Schande. Sie mußten eilen, um jeden Preis zu ihren Arbeiten zurückzukehren, weil sie sie sonst entweder besetzt gefunden oder die Anzüglichkeit hätten ertragen müssen, das zu leisten, was Frauenzimmer auch vermögen.

In Frankreich und Belgien sind jetzt die Associationen von den Gesellen auf die Meister und von diesen auf Kapitalisten übergegangen, welche sich vor dem schwankenden Cours der Staatspapiere fürchten. Soll man sagen, die Begünstigung der Gewerbe wäre nur ein Vorwand für den Spekulationsgeist, oder liegt eine rein populäre Idee den Vorschlägen zum Grunde, die man in dieser Rücksicht kürzlich gemacht und theils schon durchgeführt hat? Die Franzosen, immer erhitzt von Centralisationsideen, haben die letzte Geldkrise benutzt, auch für die Industrie eine Einheit vorzuschlagen, von der man im Augenblicke nur so viel wahrnimmt, daß dabei Aktien emittirt und Dividenden vertheilt werden sollen. Ein Herr von Girardin, derselbe, welcher, um ein eigenes Journal zu heben, den Redakteur eines andern todtschoß, hat sich in Paris zum Mittelpunkte dieser Ideen gemacht und Verbindungen entworfen, welche man gegenwärtig in Belgien bereits zu schließen anfängt. Herr von Girardin sagt ungefähr Folgendes, indem er dabei von der neuesten Finanzkrise, von diesen bleichen Gesichtern ausgeht, welche die fünfprozentigen Piasterschwindler zeigen, von den zerstreuten und stieräugigen Antworten, die man in diesem Augenblicke von den Kapitalisten nur noch herausbekommen kann. Herr von Girardin will in seinem Vierzigfrankenblatte: Die Presse das Uebel heilen. Eine gute Absicht. Möge sie sich im Zusammenhange aussprechen! Da sey Gott für, Jemanden zu hindern, der sich einbildet, Gutes wirken zu können.

Finanzielle Zerrüttungen, sagt Herr von Girardin, ziehen so viele Uebel nach sich, daß man sie nicht nahe genug betrachten kann. Der Unglücksstern, welcher bei diesem Phänomen zu walten pflegt, drückt von Tag zu Tag mehr auf die Industrie und den Handel von Europa. Wir glauben zwar nicht, daß uns schon wieder eine neue Krisis bevorsteht. Wenn auch einzelne Erwerbszweige sehr in die Enge getrieben sind, und auch mehre Fallissements aufs Neue sich ankündigen sollten, so gibt es doch nichts Allgemeines, was den Handel in Unruhe versetzen könnte. Wenn wir deßhalb doch auf die Frage zurückkommen, so geschieht es, um die Mittel zu entdecken, für die Zukunft sich sicher zu stellen, und besonders deßhalb, weil die öffentlichen Blätter, welche die gegenwärtige Frage behandelten, doch nur die Auswüchse des Stammes betrachteten, welcher kürzlich so bittre Früchte getragen hat. Sie hätten, um wahr zu seyn und auf den Grund des Uebels zu kommen, vor der Gesellschaft selbst ihre Sitten, ihre Vorurtheile und ihre materielle Existenz anklagen sollen. Die Verallgemeinerung des laisser faire, die Erleichterung der allgemeinen Conkurrenz, der wenig vorwärts gerückte Zustand unserer Binnenbeziehungen, die zufällige und auf den Versuch gewagte Produktion, das allgemeine Verlangen nach Wohlhabenheit, und im Gefolge desselben der Beginn unsinniger Entreprisen und die verschwenderische Emission von eingebildeten Werthbestimmungen, die nichts repräsentiren -- braucht man mehr, um Krisen hervorzubringen und sie dauernd zu machen? -

Und wenn man ferner noch hinzunimmt die revolutionären Regungen der Völker, welche fast immer unvorsichtig und vor der Reife der Freiheit sich bemächtigen wollen, die unzeitigen Wünsche der Einen und den hartnäckigen Widerstand der Andern -- braucht man mehr, um die allgemeinen Krisen zu unterstützen?

Wenn Alles in Frage gestellt ist, fährt Herr von Girardin fort, wenn man auf der einen Seite das Volk mit Radikalismus und Epikuräismus äzt, und man es antreibt, Alles unter dem Vorwande eines bessern Aufbaues niederzureißen; wenn man auf der andern Seite nur Gefühle für sich und seine Kinder hat und sich systematisch abstumpft; wenn endlich überall Jeder nur darauf ausgeht, sich mit Beobachtung des Criminalcodex Vermögen zu erwerben: kann man erstaunen, daß das Meer fortwährend bewegt, und der geringste Sturm die Ursache einer Menge industrieller Schiffbrüche ist?

Man hat, um die letzte Londoner Krise zu erklären, theils darauf hingewiesen, wie Amerika aus jener Welthauptstadt neuerdings viel Gold und Silber ausgeführt, theils, wie die englischen Spekulanten die Bankgesellschaften mißbraucht haben, theils, wie das Mißverhältniß des Papiers zum Gelde außerordentlich war; theils endlich, mit welcher Geschicklichkeit sich die Londoner Börse benommen, und mit welchem Takt sie ihren Vortheil gewahrt hat. Auf einen Punkt kam Jeder hinaus, daß man nämlich über die Krisis nur deßhalb sprach, weil sie da war, wie man eine Krankheit erwartet, ohne sich um das Heilmittel zu bekümmern. Weil z. B. in Frankreich die Krisis keine bedeutende Wirkungen hinterließ, und Handel und Industrie im Allgemeinen ihren gewöhnlichen Gang fortgingen; daraus haben die öffentlichen Organe nur blos auf die Gegenwart geschlossen und haben die Gründe dafür in äußern Ursachen gesucht, in der allgemeinen Politik, ja sogar einzig und allein in dem Ministerium.

Ein Theil dieses Schlusses ist richtig. Eine Krisis scheint nicht nahe zu seyn, was die Industrie betrifft, allein dafür braucht es keine eigenen Gründe zu geben; die schon bekannten erklären die Sache hinlänglich, auch sind es weniger politische als industrielle. Es ist bekannt genug, daß die Schulden der europäischen Staaten furchtbar groß sind, daß Industrie und Handel sich in einer Lage befinden, die Krise unterstützen zu müssen. Es ist bekannt genug, daß nur 4 Milliarden baares Geld in Europa die Circulation eines Papierhandels aufrecht halten müssen, der in etwa 30 -- 40 Milliarden Staatsschuld und mehr als 20 Bankbillets, Eisenbahnaktien u. s. w. besteht. Dieß ist heute so wie gestern. Aber es ist gefährlich in jedem Falle.

Was kostet heute der Industrie das magische Wort Kredit? Unter welchen Bedingungen hat man, unter welchen verliert man ihn? Hier liegt das eigentliche Uebel der commerziellen Maschine. Von hier aus kömmt das meiste Unheil.

Der Kredit für den Handwerker besteht darin, daß er die Instrumente seiner Arbeit, den Boden, die Kapitalien von denen erhält, welche sie feilbieten für einen Zins, für eine Dividende. Soll der Kredit etwas taugen, so muß er eine gewisse Dauer haben. Man kann ihn heute nicht geben und morgen wieder nehmen; ist das letztere der Fall, so ist er ein successiver Mißkredit. Er gibt der Industrie eine verderbliche Sicherheit, weil er ihre Berechnungen und Operationen auf Quellen basirt, welche der Einfall des Gläubigers sogleich kann versiegen lassen.

Ganz ebenso ist es mit dem, was die Kapitalisten den Kredit nennen. Der höchste Ausdruck des Kredits bei Handelnden und Arbeitern ist ein Wechsel auf drei Monate de Dato; es könnte scheinen, als wäre dieß das außerordentlichste Vertrauen und eine Kombination, die nichts mehr zu wünschen übrig läßt; aber in Wahrheit, diese Uebereinkunft, welche der Industrie zu Hülfe kommen soll, verursacht ihr eine Menge von Verlegenheiten und Benachtheiligungen. Die Dinge stehen heute so, daß kein Handwerker und Fabrikant mehr auf seine Berechnung etwas geben kann, und dennoch muß er es thun. Auf seine Berechnungen hin stellt er Wechsel aus. Er berechnet einen Gewinn für diese Zeit, einen andern für jene; er verspricht neue Zahlungen auf drei Monate. Nun kommt aber ein Fallissement, ein Aufstand, eine Wolke, die nur blos den politischen Horizont bedeckt, ein zufälliger Nachlaß des Absatzes und Verbrauches. Wenn in diesem Falle der Handwerker oder Fabrikant temporisiren könnte, wenn sein Reservekapital oder sein gestriger Kredit ihm noch übrig bliebe, um schwierigen Vorfällen eine entschlossene Miene zu zeigen, wenn mit einem Wort die Kapitalisten, welche oft gar keinen ernsten Grund haben, an der Güte seiner Berechnungen zu zweifeln, und bis dahin noch immer auf seine Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit vertraut hatten, ihm dieses Vertrauen auch nur noch einige Tage bewahren wollten, so würde er ruhig seinen Gang weiter gehen können. Aber weit davon entfernt, nehmen alle Einbildungen einen Schwung an, alle Interessen kommen außer Achtung, ein großer Theil der Kapitalisten kömmt und verlangt sein Geld wieder, ein anderer verschließt seine Kassen und verweigert die gewöhnlichsten Gefälligkeiten. Nun verbreitet sich in alle Werkstätten und auf alle kleine Handelsplätze eine schreckliche Verwirrung, eine traurige Verschwendung von Zeit und Kraft; denn wenn ein Kapitalist nur einem bedrängten Fabrikanten seinen Kredit entzieht, so verhängt er Unglück über eine Menge Andere; ja sogar über solche, die nicht einmal in dessen Branche arbeiten.

Sehr oft ist der Industrie- oder Handeltreibende in folgendem Falle: Er hat 50 oder 60,000 Franken, die ihm eigen sind, die die Grundlage seines Geschäftes bilden, er operirt aber mit Wechseln so, als wenn er 100 -- 200,000 besäße! Die Fiction ist das Uebel. Ein Wechsel auf sich selbst ist heutiges Tags nur ein sehr schlechtes Hülfsmittel. Es ist ein Uebel für den, der den Wechsel ausstellt, wie für den Kapitalisten. Der Bankier operirt für jenen, er hält ihn für äußerst solid, für um so solider, je höher die zu escomptirenden Summen steigen. Grade das Gegentheil sollte er annehmen.

Leider ist dieß der Fall der meisten industriellen Geschäftsleute in Frankreich. Heute haben wir Kredit im Ueberfluß. Morgen macht ein kleiner Umstand, daß ihr hin seyd! Ein Haus darf nur 50,000 Franks verlieren, der Kredit wird ihm entzogen, und 200,000 folgen dem kleinen Verlust. Es ist eine Preisaufgabe, hier einen Weg zur Reform zu entdecken.

Es handelt sich nicht allein darum, das Mißgeschick seltener zu machen, sondern es auch, wenn es unvermeidlich ist, auf eine möglichst große Anzahl von Interessen zu verbreiten. Wir gehen hier nämlich davon aus, daß man einmal den Weg der Aktien auch für die Industrie und den Handel versuchen möge. Dann würden die Gewerbe nicht sogleich ohne Hülfe durch einen Bankerutt geopfert werden; sie würden nur den Verlust als die ersten Aktionäre einer Entreprise erleiden.

Wie die Geschäftsführer einer solchen Aktienverbindung in Zukunft blos allein die Richter der Gefahr seyn würden, so würde auch der große, blinde Zufluß von Individuen, die für commerzielle Spekulationen gar keinen Sinn haben, der Vorsicht einer geringen Anzahl von kenntnißreichen Männern Platz machen. Der jetzt so komplicirte und verworrene Mechanismus würde zum großen Vortheil Aller vereinfacht werden. Man würde nicht bei jeder Gelegenheit ein allgemeines »Rette sich wer kann« unter der ganzen Schaar der Produzenten und Handeltreibenden vernehmen. Was können hier noch Aufstände und politische Verwirrungen ausrichten, wenn das Interesse des Einzelnen das Interesse der Gesammtheit ist, wenn, mit einem Worte, die kleine vereinzelte Industrie unsrer Tage durch großartige Aktienunternehmungen, welche oft einen ganzen Handelszweig an sich reißen müßten, ersetzt wird.

Es scheint dieß der einzige Weg Hrn. von G., der die Gewerbs- und Handelsthätigkeit unserer Zeit in einen neuen Schwung bringen könnte. Aktiengesellschaften haben die Bestimmung, in kurzer Zeit, wenn sie von den Kapitalisten richtig verstanden werden, die ganze Physiognomie und die Gewohnheiten der Industrie und des Handels zu verändern, weit mehr als die Discontobanken oder jedes andere von den Oekonomisten vorgeschlagene Banksystem. Sie müssen sich aber dann nicht mehr auf die Unternehmungen der höheren Industrie beschränken, auf Eisenbahnen und Kanäle; sondern die Industrie des zweiten Rangs, die jetzt so sehr zerstückelt ist, soll zu den Vortheilen derselben gleichmäßig berufen seyn. So würde man erst industrielle Mittelpunkte besitzen, welche eine nothwendige Funktion in dem allgemeinen Mechanismus der Erzeugung und Vertheilung der Reichthümer ausfüllen. So würde es erst eine Gelegenheit geben, neue Verfahrungsweisen auf die Industrie im Großen anzuwenden. Ja sogar der Ackerbau kann durch dieses System einen neuen Anstoß erhalten, wie wir denn schon mehrere glückliche Beispiele haben, daß ausgedehnte Besitzungen in Frankreich durch Aktionäre verwaltet werden. Man erschrecke nicht, wenn wir hier den Buchhandel als Beweis anführen, einen Erwerbszweig, dem der übrige Handelsstand nicht das größte Vertrauen zu schenken pflegt; und doch haben schon die ersten Buchdrucker von Paris das Aktiensystem sich angeeignet; mehrere Buchdruckereien haben sich in eine einzelne verwandelt, verringern dadurch die Conkurrenz und erhöhen ihren eigenen Ertrag. Wie geht es jetzt in der industriellen und Handelswelt zu? Die Conkurrenz macht, daß sich alle Interessen entgegengesetzt sind; sie stellt die Industrie unter verachtete Bedingungen und überhäuft sie mit schlechten Projekten. Finanzkrisen werden aufhören, wenn die Interessen näher zusammentreten und sich wechselweise unterstützen.

Wir wissen wohl, daß sich, um eine solche Umänderung mit Regelmäßigkeit und Nutzen zu machen, eine einige Absicht an die Spitze stellen muß; doch braucht dieß nicht die Regierung zu seyn, wenn sie sich nur beschränkt, diesem Zwecke kein Hinderniß in den Weg zu legen.

So weit die Ansicht des Herrn von Girardin. Man beurtheile seine Vorschläge, wie man will, man wird nicht verkennen, daß das Beste daran von den Prinzipien des St. Simonismus entlehnt ist, und daß das Originelle und Eigene nur die Zuthat des vaguen Schwindelgeistes aus der Schule des französisch-belgischen Industrialismus ist.

Hier verdient die Lehre St. Simons, so weit sie politisch-industriell war, eine ausführlichere Erwähnung; denn selbst auf die Gefahr, mich vom Pfarrer zu St. Andrews, zu dessen Kirchspiel ich gehöre, excommunizirt zu sehen, wag' ich es, dieser Lehre trotz ihrer großen Unvollkommenheit eine große Wichtigkeit, was die neuere Geschichte betrifft, beizulegen. Das Lächerliche und Unverschämte des St. Simonismus kommt zum großen Theile auf die Rechnung Enfantins, dieses verschmitzten Cagliostros, der nur durch Zufall nicht die Wahl gehabt zu haben scheint, ob er lieber als katholischer oder als ketzerischer Heiliger selig gesprochen werden wollte. Enfantin hat durch seine Thorheit und Uebereilung das ganze Gebäude der Lehre St. Simons untergraben. Dieser Narr wollte Papst seyn, ehe noch eine Kirche da war. Er allein erfand die Abgeschmacktheit der St. Simonistischen Tracht, er erfand das Dogma vom freien Weibe, von der Intervention des Priesterthums bei der Ehe, die Lehre von der Wiedereinsetzung des Fleisches, Behauptungen, die weder von St. Simon aufgestellt waren, noch von allen Genossen Enfantins gebilligt wurden, und die mit dazu beitrugen, die ganze neue Religion jener Sekte in einen Straßenspektakel und einen kläglichen Conkursprozeß zu verwandeln. Das Richtige und Tüchtige am St. Simonismus hat nicht nöthig, an die Landenge von Suez zu flüchten, sondern ist in Europa geblieben und wird wirken, wenn auch unter gänzlich veränderten und den bedenklichen Ursprung unkenntlich machenden Gestalten. Brauchen wir hier mehr, als an die gediegenen Leistungen ehemaliger St. Simonisten, Lerminiers und besonders Michel Chevaliers, zu erinnern?

Theologen und Haarspalter von Oxford und Rom, irdische Pfründeninhaber und Wegweiser zum Himmel, wollt ihr leugnen, daß in der Feindschaft, die der St. Simonismus euch schwur, doch ein großer Theil der Freundschaft lag, die zu befördern ihr berufen zu seyn vorgebt, der Freundschaft für höhere und geistliche Dinge? Ich bezweifle nicht, was Gott wohlgefälliger ist, die Satzungen einer positiven Religion hinnehmen als tägliches Brod, als eingelernten Morgen- und Abendsegen, als Gemeinplatz, auf den man immer mit etwas herabgelassenen Augenliedern zurückkömmt, und der in so viel mit Goldschnitt gebundenen Phrasen sich ausdrücken, begreiflich machen und äußerlich erwerben lassen kann; oder jener Muth, sich verfolgen und verspotten zu lassen, das Positive umzustoßen und zu versuchen, etwas Neues, aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Interessen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.

Ich werde mich niemals der Vermuthung aussetzen, als wär' ich ein geweihter Anhänger der Väter von Menilmontant, einer Religion, die vielleicht in diesem Augenblick noch aus fünf oder sechs Bekennern besteht; allein ich glaube, der St. Simonismus hat eine Aufgabe, freilich nicht gelöst, aber konstatirt, die nämlich, den arbeitenden Klassen eine geistigere und moralischere Stellung zu geben. Der St. Simonismus hat sogar das Mittel richtig angegeben, welches hier einzig und allein helfen könnte: Befreiung der untern Volksklassen von der Noth um ihre Existenz. Um diese Befreiung zu bewirken, kam er auf die agrarischen Ideen des Alterthums zurück, auf die sogar apostolische Gemeinschaft der Güter, kurz auf vortreffliche Vorschläge, wenn es sich darum gehandelt hätte, ganz Europa in kleine Gemeinwesen aufzulösen und vom Grund friedlich gesicherter idyllischer Duodezterritorien aus das neue Evangelium praktisch zu verbreiten. Die Spartanische Verfassung war einst auf den reinsten St. Simonismus gebaut. Der platonischen Republik lagen ähnliche Annahmen unter. Die öffentlichen Mahlzeiten, die große allgemeine Suppenterrine der Nation, aus welcher jedes Individuum seinen Teller voll bekam, ja sogar die den antiken Völkern nicht ekelhafte Gemeinschaft der Weiber, das Alles ist von Lykurg und Plato eben so konsequent entwickelt und auf ein kleines Terrain so glücklich angewandt, wie St. Simon sein Gebäude nur immer aufstellen, und Enfantin nur immer corrumpiren konnte. Warum versuchten diese Begründer einer neuen Sozietätsphilosophie nicht mit einem kleinen Schweizerkanton oder der Republik von San Marino ihre Reformation zu beginnen? Leider waren sie vom Geist der Hierarchie beseelt. Sie wollten herrschen, noch ehe sie ein Volk hatten.

Das erste Prinzip dieser neuen gescheiterten industriellen Religion war die individuelle Freiheit. Der Mensch ist eine Person, keine Sache. Diese Umwandlung des Menschen in sächlichen Werth zieht sich durch die ganze Geschichte von der ersten Tyrannei des Jägers über den Ackerbauer an bis zu unsern großen Landesherren, die eben auch nur fuchsjagende Personen sind, während die Pächter und Arbeiter ihnen als Sache dienen müssen. Die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die Lohnarbeit, das sind die drei Stufen, welche die individuelle Freiheit allmählich erklettert hat und die doch nur zu einer gewissen glätteren Aussenseite der Menschennutzung, aber noch nicht zur Aufhebung des sklavischen Prinzipes derselben geführt haben. Der St. Simonismus will den Lohn nicht aufheben, noch weniger die Arbeit, die ihres Lohnes werth, sondern die Methode der Bezahlung soll nur eine andere werden. Nicht das eine Individuum bezahlt das andere, sondern die Gesammtheit ist dem Einzelnen verpflichtet. Was ich arbeite, arbeit' ich nicht dir, Herzog von Wellington, nicht dir, Master und Meister Schurzfell, ich, der Pächter Kornwurm, ich, der Geselle Knieriem, sondern ich arbeit' es mir selbst, meinem moralischen Menschen, meiner sozialen Stellung, meinen Ansprüchen auf die große universelle Bundeskasse, auf welche ich meine Wechsel ausstelle. Diese Stiefeln bezahlen Sie nicht mir! ich mag kein Geld, das in Ihrer Tasche warm geworden ist, woran der Rost Ihrer Herrschsucht das Bild des Gepräges schon angenagt hat, zahlen Sie's nur in die Bundeskasse, dort hab' ich mein Soll und Haben, dort erhält ein Jeder nach seinen Fähigkeiten und jede Fähigkeit nach ihren Werken!

Dieser letzte Satz ist das Fundament des St. Simonismus und zu gleicher Zeit der revolutionäre Keim, der in der neuen Lehre lag. Denn er zerstört den Begriff des Privateigenthums. Niemand hat noch das Recht zu sagen: Ich besitze! Das Besitzthum schuf die Tyrannei, die Menschennutzung, und die Ungleichheit der Existenzmittel. Es darf künftig weder etwas erworben, noch etwas vererbt werden. Ein Jeder hat das, was er braucht, und vielleicht noch etwas mehr, wenn die ungeheueren hie und da aufgehäuften Schätze zerschlagen sind, und Jeder ein Stück davon erhält. Der Superdividend der menschlichen Gesellschaft wird dazu gebraucht, sich zu erheitern und durch Musik, Tanz und Anschauung schöner Formen die Menschen auf eine immer idealischere Höhe zu bringen. Durch die Geburt bekömmt jedes Kind nur das Recht, bis zu einem gewissen Alter von der Gesammtheit ernährt zu werden. Ererbte Güter empfängt es nicht. Die Stellung des Vaters ist für das Kind verloren. Das Kind muß suchen, es so weit zu bringen, wie es der Vater gebracht hat. Erbrecht ist die Grundlage alles Nationalunglücks. Ein Jeder erhält nach seinen Fähigkeiten und jede Fähigkeit nach ihren Werken.

Bis hieher hat die Theorie der St. Simonisten eine Färbung, die allerdings fantastisch, aber durchaus nicht unreell ist. Erst mit dem Bau verschiedener Erwerbsklassen, mit der großen Bevorzugung der Priester, welche zugleich die Civilbeamten der neuern bürgerlichen Gesellschaft sind, beginnt ein Nebulismus, hinter welchen sich der Eigennutz zu verstecken wußte. Denn während die Gelehrten und Künstler grade nicht vorzugsweise bedacht sind, erhalten doch die Priester eine so große Autorität, daß schon ihr Wille für Gesetz gelten soll. Es sind dieß wirklich St. Simonistische Beichtväter, die den ganzen Tag müßig gehen, predigen und lehren und die Harmonie des Ganzen aufrecht halten sollen. Die Priester sind ebensowohl mit der Erziehung der Kinder, als mit der Gesetzgebung für die Männer beauftragt. Wollen dieß aber dieselben Personen seyn, so möchten die idyllisch-naiven Sitten eines St. Simonistischen Gemeinwesens einen so beträchtlichen Rückschritt in der Cultur der Geschichte bezeichnen, daß man Bedenken tragen müßte, sich diesen gesetzgebenden Ammen und Kinderwärtern anzuvertrauen. Denn wer die Natur der Kinder versteht, pflegt selten richtig zu greifen, wenn er Männer belehren will.

Um es von vorn herein abzumachen, der St. Simonismus bleibt durch seine bis an die Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit und durch den in ihm athmenden katholisch hierarchischen Geist immer verdächtig. Er ist mir vollends verdächtig durch seinen letztlichen Entschluß, nach dem Orient auszuwandern. Wär' er nach Nordamerika gegangen, wohin sich Alles begibt, was tief ergriffen ist von der Liebe zu seiner Ueberzeugung, von dem Streben, mit ihr zu leben und zu sterben, wo man, um existiren zu können, Hand anlegen muß, thätig seyn, graben, dämmen, bauen, handeln, hobeln, zimmern, sägen -- dann würde der St. Simonismus gezeigt haben, daß es ihm ernst ist um seine Theorie. So aber, nach dem trägen und sinnlichen Orient auswandernd, hat er gezeigt, daß nur schlaffe, blasirte Empfindungen ihm seine gesellschaftliche Theorie eingegeben haben, und daß er, gerade wie der Jesuitismus, das Produkt einer entzündlichen, fast wollüstigen, jedenfalls faulen Phantasie ist. Hierüber herrscht kein Zweifel mehr. Am wenigsten soll er von mir angeregt werden, der meines Wissens dem St. Simonismus den eben erwähnten Vorwurf zum Erstenmale macht.

Allein weit weniger beunruhigt mich etwas Anderes, was man gewöhnlich Projekten dieser Art vorwirft. Man fürchtet die Verwandlung der Menschen in Maschinen, man fürchtet den Untergang der Wissenschaft, der Kunst und des Gefühls. Die gewöhnlichen Einwendungen gegen den St. Simonismus, gesteh' ich, lassen mich kalt, weil sie immer darauf hinaus kommen, die Gelehrten würden nicht mehr geachtet werden, und weil es doch nur die Gelehrten selbst sind, welche diese egoistischen Besorgnisse aussprechen. Allein nicht nur ist im St. Simonismus hinlänglich für die Identifizirung der Wissenschaft mit den Gelehrten, der Humanität mit den Künstlern, der Religion mit den Priestern gesorgt; sondern es frägt sich noch, ob man z. B. die Poesie der Geschichte nicht zu theuer erkauft, wenn man darum der physischen Existenz der Menschheit nicht aufhilft, weil man freilich für das Auge weit angenehmere bunte Abwechslungen hat, wo der Stärkere mit dem Schwächeren im Kriege liegt, und Recht und Unrecht große heroische Schauspiele unter einander aufführen! Würde uns der St. Simonistische Staat so fein individualisirte und originelle Charaktere bringen, wie Chatham war, wie Fox, wie Canning? Vielleicht nicht; aber wenn man nun das Wohl von tausend Michel Meerrettigen dadurch erkaufen könnte, daß man sagen muß: Fox hat nie gelebt!? Was würden Sie vorziehen: d'Israeli, Chelmar, Chateaubriand, Lamartine, Tiek? Würden Sie nicht alle menschlich genug empfinden, zu sagen: Besser, es war nie ein Shakespeare da, als daß seinetwegen die Harmonie der behaglichen Existenz in der Welt gehindert wäre, besser, wir alle sind unbekannt und müssen hinterm Pfluge gehen, als daß unsertwegen eine Aristokratie der Geister etablirt werde, die auf hundert Menschen immer neunzig Darbende brächte.

Was thu' ich? Diese Fragen sind die müßigsten von der Welt. Die Umstände, nicht Personen könnten sie allenfalls entscheiden. Welche Thorheit, Fragen aufzuwerfen, die nicht anders klingen, als wenn man Jemanden früge: Würden Sie wohl von einem Thurme herabspringen, wenn das Leben Ihrer Schwester davon abhinge! Und doch liegt vielleicht ein Sinn hinter der Frage -- mag ihn die Zukunft auffinden. Ich fühle nur zu gut, daß aus Theorien nichts Ewiges geboren wird, und daß in der Geschichte keine Theorie wahr ist, wenn sie nicht sogleich Eile hat, daß sie von der Praxis nicht überholt werde. Auch Fourier's Phalanstère, große Gemeindehäuser, wo jeder zur Philosophie der Attraction passionée sich Bekennende finden solle Wohnung und Erholung, Rath, Unterhalt und Opern, auch diese Musterkolonien einer nach unsrem Owen zugeschnittenen Volksbeglückung haben sich nicht erhalten können. Doch auch in ihnen liegt die Andeutung eines Bedürfnisses, und an alle Gesetzgeber und Staatsmänner die Mahnung, ernstlich über eine Abhülfe desselben nachzudenken.

Im Allgemeinen ist die Natur die große Macht, die hier allein wirken und ordnen kann. Aber die Natur ist grausam, sie baut nur nach Zerstörungen auf; wo sie Gleichgewicht schafft, thut sie es mit geringer Rücksicht auf den Ballast, den sie aus dem Schiffe wirft, um es oben zu erhalten. Wer ihren Riesenschritten im Wege steht, wird zertreten; wer ihr in die Arme fällt, den erdrückt sie oder schleudert ihn weit hinter sich zurück. So wird es auch in allen Verhältnissen gehen, welche die Schwierigkeit der menschlichen Existenz, die Uebervölkerung und Ueberfüllung aller Geschäftsbranchen vermehren. Was in der Natur liegt, was der gesunde, kalte, nüchterne Verstand dieser halb göttlichen, halb dämonischen Gewalt ist, was bei ihr so zu sagen auf der Hand liegt, das setzt sie durch, ohne Verantwortung; denn die Menschen hält sie für ihr eigenes Produkt und schaltet und waltet nach Belieben mit Seelen, zu denen sie wenigstens die fleischlichen Hüllen lieferte. Die Perruquiers würden, wenn es nach der Natur gegangen wäre, alle verhungert seyn. Alle die Handarbeiten, welche durch die neuen Erfindungen von Maschinen ersetzt werden, alle Stuhlarbeiter, Mousselinweber und Garnspinner tritt die Natur nieder. Ja, wenn es nicht noch einige Bücher gäbe, die man sauber gedruckt zu haben wünscht, so würden auch die Drucker, abgelöst von den Schnellpressen, darben, betteln, verderben können.

Hier soll nun das menschliche Herz, die Staatskunst und die gesellschaftliche Philosophie der Natur in den Weg treten und sie bekämpfen. Allein dieß muß dabei immer der erste Satz seyn: Wollet das, was die Natur will, aber wollet es nur auf andere Weise, als die Natur! Das Einfache und Natürliche wird immer den Sieg haben, nur muß es dabei Waffen führen, die unser Gefühl, unsre Besorgniß ihm in die Hand geben. Laßt diese oder jene Thätigkeitszweige aussterben, aber sorgt für die, welche darauf sitzen und durch einen euerer allzuschnellen Handgriffe unten würden zerschmettert liegen. Gebt keine Einfuhrsteuer eher frei, ehe nicht an die gedacht ist, welche durch übertriebnen Liberalismus an der Grenze im Innern die größten Sklaven werden, die es gibt, die Sklaven der Armuth! Der Staat hat die Verpflichtung, nicht blos, wie es in England geschieht, die Armuth ausschließlich zu ernähren, sondern sie zu beschäftigen und das Armwerden, wenn es nicht durch physische und moralische Umstände bedingt ist, politisch wenigstens ganz unmöglich zu machen. Oeffentliche Bauten und Communalzwecke, selbst wenn es nur erfundene Zwecke sind, haben immer dazu gedient, die Armuth zu hintertreiben. Ich verachte diese rauhe Philosophie, die sich seit einiger Zeit unsrer Staatsmänner und unsres ganzen Egoismus bemächtigt hat, daß Jeder selbst sehen möge, wie er fortkomme! Wer kann sagen, daß er etwas ist, ohne es durch Andere geworden zu seyn? Selbst denen, welche unter mir stehen, hab' ich zarte und geheimnißvolle Verpflichtungen. Alle die, welche nicht streben, wonach ich, dienen mir. Ich muß dankbar seyn denen, welche mir Gelegenheit geben, mich vor ihnen auszuzeichnen, die nicht meine Bildung, nicht meine Anschauungen, nicht meinen Styl besitzen, die aber meine Folie sind, der Gegenstand meiner Betrachtungen, die freiwillig mit Bescheidenheit und Entsagung sich darbietende Aufgabe meiner Studien. Gräßlich ist diese Grausamkeit, welche ringt und ringt und die Vereinfachung der menschlichen Thätigkeit, um Hundert in sich allein zu konzentriren und auch für Einen den Gewinn von Hunderten zu haben, auf die höchste Spitze treibt, und die vollends ein Verbrechen wird, wenn sich Staatsmänner von ihr beherrschen lassen und unter dem Vorwande, die Regierungskunst im großen Style zu treiben, an dem Körper der Gesellschaft Amputationen und tödtliche chirurgische Schnitte vornehmen. Die Zünfte sollen aufgehoben, es soll aber eine Grenze auch der Gewerbefreiheit gezogen werden. Man soll die Maschinen einführen, soll aber erst daran denken, den dadurch brodlos werdenden Handwerkern andere Nahrungszweige zuzuwenden. Denn nichts ist so betrübt und rührend, als einen rüstigen, frommen und in seiner Art gewandten Arbeiter zu sehen, der thätig seyn will und es nicht kann, der, indem man ihm seine Nahrung nimmt, auch um seinen Stolz und seinen innern moralischen Haltpunkt gebracht ist; nichts ist auf der andern Seite so thöricht, als durch die Armengesetze diejenigen Menschen müßig gehen zu lassen, welche man durch Industriegesetze zu ihrem eignen und dem allgemeinen Besten beschäftigen könnte.

Jeder Staatsmann und Gesetzgeber soll sich über das Arbeitsquantum der Nation, für deren Wohl er zu sorgen hat, einen sichern Ansatz machen. Er soll berechnen: 1) Soviel sind zu ernähren, 2) Soviel haben, 3) Soviel müssen verdienen. Er muß von seinen Ansätzen, wenn er sie im Durchschnitt macht, den Reichthum abziehen; denn der ist todt und würde, wenn er coulant werden sollte, doch auch nur todte Verschwendung werden müssen. Er muß ferner abziehen den Müßiggang privilegirter Aristokratien, die davon leben, daß sie so oder so heißen, daß sie dieß oder jenes vorstellen; er muß sich eine klare Vorstellung machen sowohl über das, was gebraucht wird, als über das, was vorhanden ist. Der Staatsmann muß einsehen, daß alle diese Berechnungen nicht Stich halten, wenn nicht ein Reservefond von Arbeiten, die noch nicht begonnen, von gleichsam Kapitalien, die noch nicht angegriffen sind, vorhanden ist. Diesem Reservefond, einem unbebauten und zum Theil noch unentdeckten Lande, widme er eine spezielle Aufsicht, engagire Künstler, Gelehrte und praktische Geschäftsmänner, um zu forschen, wie und wo noch neue unbekannte Goldadern nationeller Thätigkeit zu entdecken sind. Bricht nun der Aufklärung und dem Zeitgeist zu Gefallen hier oder da eine Arbeitsbranche ab, so möge eine der reformirten Minen angelassen und den Betheiligten zur Bearbeitung angewiesen werden. Und wieviel Möglichkeiten gibt es noch in dem, was die Menschheit sich aneignen kann, was noch unbekannt ist und solche Früchte tragen dürfte, deren einmaliger Genuß ihnen bald ein dauerndes Publikum schaffen würde! Es kömmt nur darauf an, hier dem Schwindelgeist und der Projektmacherei, überhaupt der individuellen Glücksritterschaft und industriellen Abenteuerlust den Weg zu versperren, und alle die noch möglichen Supplemente für ersterbende und verdorrende Geschäftszweige unter eine sichere, ihrer Forschungen sich bewußte und unausgesetzt dem Nachdenken gewidmete Commission im Staate zu stellen. Möchte dieser Vorschlag überall geprüft werden, wo in größeren Staaten die Besorgniß gehegt werden muß, die Nahrungsquellen möchten mit steigender Bevölkerung, mit steigendem Egoismus, mit steigender, die Weitschweifigkeit der bisherigen Arbeitsmanieren vereinfachender Aufklärung sich nicht mehr auf zu erwünschende Weise ausgleichen, es möchte jeder Fortschritt in der Industrie zuviel Rückschritte in der Moral nach sich ziehen, wo man befürchten muß, daß die in ihrem Erwerb gestörte Masse wohl gar zu ungesetzlichen Mitteln greift und der bestehenden Ordnung der Dinge gegenüber eine drohende und an allgemeines Nivellement der Glückseligkeit, der Rechte und der Reichthümer denkende Stellung einnehmen könnte. Ich werde selbst in der nächsten Parlamentssitzung für England die Errichtung einer » nationalökonomischen Commission,« (im Gegensatze zu den vielen von der Regierung verlangten Finanzcommissionen!) in Antrag bringen, einen Verein tüchtiger Gelehrten und Geschäftsmänner, die sich permanent mit der Beaufsichtigung der materiellen Existenz des Volkes und der Ausgleichung des alten und neuen Zeitgeistes, unabhängig von der Regierung, aber berechtigt, ihr Vorschläge zu machen, beschäftigen müßte. Vielleicht bleibt das Beispiel auf dem Continente nicht ohne Nachahmung.


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