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Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts.

Das Jahrhundert, in welchem Hume und Voltaire lebten, setzte das Individuum höher, als unsre Zeit, die durch Napoleon die Kraft nur in den Massen finden lernte. Es ist eine eben so interessante als belehrende Aufgabe, die psychologischen Eigenthümlichkeiten des vorigen Jahrhunderts zu untersuchen, seine historischen Begebnisse auf die Menschen zurückzuführen und diese wieder zu verfolgen bis in die Träumereien, welchen sich jene Zeit der erwachenden Freiheit hingab. Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts läßt sich in ein Capitel der allgemeinen Geschichte der Mode verwandeln. Denn die Philosophie dieses Jahrhunderts, seine Literatur und beinahe auch seine Politik, dieß Alles hatte einen eigenthümlichen, durch äußere Auffallenheiten bestimmten Anstrich. Vom Reifrock an bis zu Rousseau's nackten Menschenthieren ist die Geschichte der öffentlichen Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Individuum.

Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen berechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theorien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schätzen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Stadien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis XIV. zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Erfindung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligée oder der griechisch-französischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu dienen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu machen. Das ist Alles anders geworden.

Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zugeschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre verschlagenen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Individuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Individuen.

Ich will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außerordentlichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen Antlitze zuckt, ist mir eine Offenbarung deiner Gedanken, deiner Gefühle und deiner Zeit!

Master Wilson, (es ist aber ein Name, der erfunden ist, und auf welchen sich keine Erben melden dürfen, überhaupt nie, nie, mein Trefflicher!) Master Wilson wurde in London geboren, erzogen, verließ es nie, er kennt nur London, aber von einer Seite, wie Andre nur ihre kleine Meierei auf dem Lande kennen, ihren Wiesengrund, ihren Erlenbach. Sein Vater war ein reicher Passamentirer, der damals, als die Soldaten noch in Schnüren, wie in Strickleitern und Takelwerk hingen, Etwas, wie die Leute sagen, geschafft hatte. Mein Freund hat es mir nie gesagt, aber ich hab' es erfahren, daß seine Eltern gemein und ausschweifend waren. Sie wurden durch ihr Glück übermüthig, übernahmen sich und stürzten in Verlegenheiten hinein, die mit einem Bankerutte endeten. Mein Freund war damals ein artiger Bursch von sechzehn Jahren, der bis in sein vierzehntes Jahr hoffte, Arzt, Advokat, Parlamentsglied zu werden, und kaum darauf geachtet hatte, daß zu diesem Zwecke die Eltern an seine Erziehung Etwas hätten wenden müssen. Dieß war nicht nur nicht geschehen, sondern der junge Mann mußte sich auch bequemen, an die Passamente zu gehen und Schnüre zu winden. Er sagte mir einmal beiläufig, er hätte damals in seinem Schmerze gedacht, daß er sich ja selbst den Strick drehen könne, mit welchem er sich sein Ende machen wollte. Der Schmerz war groß. Er hatte sich selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirthschaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne's und Rousseau's hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all' unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz zu tödten und hinzugeben auf die glühende Hand des Molochs: Allgemeinheit. Wilson war in dem Alter, wo andre junge Leute schon einen scheuen Blick haben, ihre heimlichen kryptogamischen Gänge, wo man sie auf der Angst ertappen kann, daß ein gewisser Mangel an Zurückgezogenheit gegen das Kammermädchen ihrer Mutter Folgen haben könnte. Wilson war immer noch mit seinen Sternen beschäftigt, er lief mit Pope's Menschen hinaus in die schöne Natur, die bekanntlich erst da anfängt, wo man Londons Schornsteine nicht mehr rauchen sieht. Des Sonntags lief er den Strand der Themse entlang, Arm in Arm mit seinem Freunde, sie philosophirten, sie stritten sich, sie umarmten sich. Das war eine Begeisterung, stolzer noch als die, welcher sich unsre Söhne hingeben.

Der Enthusiasmus des neunzehnten Jahrhunderts ist auf Ideen gerichtet, welche die Leidenschaft erregen, das Blut in's Haupt treiben und ihre Wonne darin finden, Genossen, Anklang zu haben, Freunde, die eben so denken. Dann tritt man sich bei uns näher, drückt sich die Hand, blinkt mit den Augen und sagt mit erstickter Stimme: Die Zeit wird kommen! Der Enthusiasmus des achtzehnten Jahrhunderts aber war egoistischer und darum seliger. Er lag darin, die Welt zu vergessen und den Himmel offen zu sehen, Gott in sich zu fühlen oder bei mystischen Naturen sich in Gott. Die Freundschaften hatten einen wunderbaren Schmelz: sie waren melancholischer, nicht wie jetzt cholerischer Natur, sie waren auf keine Zwecke gerichtet, sondern dieß war ihr Zweck, sich zu haben und zu kennen, sich zu fühlen wie Brüder vor Gott oder der Natur, und dasselbe zu fühlen und eben so zu seyn der Eine, wie der Andre. Wilson spricht nie davon, aber ich seh's an seinem leuchtenden Auge, wenn er von Freundschaft spricht, daß es so unter seinen Sternen muß gewesen seyn. Den Freund nennt er nur mit Thränen. Er erschoß sich später, aus Liebe zu einem Mädchen, das ihn verschmähte, weil er häßlich war und von Blattern ganz zerfetzt. Will der Häßliche bei den Frauen Glück machen, so muß er seyn, wie Mirabeau war, wild, unternehmend, ein Himmelsstürmer, vor dessen Zorn das Weib zittert, durch dessen Kühnheit gegen Andre sie sich geschmeichelt fühlt, und den sie nicht läßt, wenn sie ihn oder er sie einmal schwach gesehen.

Auch Wilson war unglücklich, als er mit einem weiblichen Wesen anknüpfte. Sein Freund war der Sohn reicher, kalter und vornehmer Eltern, Fabrikanten, die mit der Aristokratie der Geburt und des Ranges wetteiferten. Die Wilson anbetete, war die Schwester seines Freundes. Er sagte mir, sie hätten sich vier Jahre geliebt und es sich mit den Augen, zuweilen mit der Hand gestanden, aber niemals sey eine weitere Annäherung zwischen ihnen vorgefallen. Ihr Verhältniß hielt sich in den Schranken einer conventionellen Begegnung. Wilson war ein niederer Handwerker. Eines Tages reichte sie ihm schluchzend die Hand, er wandte sich ab, er verstand sie, einige Wochen darauf war sie verheirathet. Ein Jahr später starb sie im Kindbette.

Den Schmerz dieser Geschichte kann man fühlen, wenn man nur ein Herz hat; aber die ganz eigenthümliche heilige Weihe, die auf ihr liegt, versteht man nur, wenn man dabei Wilsons lächelnde Resignation auf einem hinreißend einnehmenden Antlitze sieht, wie er fast beschämt, fast jungfräulich sein Auge niederschlägt und eine Thräne nicht zu bemerken scheint, die ihm zwischen seinen schwarzen Augenwimpern hängen bleibt! Wilson ist jetzt seit zwanzig Jahren verheirathet. Es war Pflicht der Dankbarkeit, die ihn bestimmte, einem Frauenzimmer seine Hand zu geben, das ihn anbetete (er war schön), und das ihn doch verschmähte. Ein eignes Verhältniß! Sophiens Eltern waren einfach genug, aber sie zogen eine ansehnliche Pension, die sie durch irgend einen Zufall mit der von Wilson nur mühsam ernährten Passamentirfamilie theilten. Dieß edle Verhältniß währte lange Zeit hindurch. Wilson bekam freie Hand. Er warf sich auf die Kaufmannschaft und trat, durch seine Kenntnisse und seine imponirende Gestalt empfohlen, sogleich in eine große Handlung ein. Für seine Eltern war gesorgt. Sophie wurde darüber dreißig Jahr: es verstand sich von selbst, daß Wilson die stillschweigende Verpflichtung hatte, sie zu heirathen. Sie sträubte sich, weil sie einen starken, fast männlichen Charakter hatte. Er, weil er sie nicht lieben konnte. Endlich verbanden sie sich, ohne Rücksprache, ohne vor dem Altar sich anzusehen, stumm und kalt. Nach der Trauung, welcher ein einziger Zeuge beiwohnte, schlief Sophie in ihrer Wohnung (Wilsons Eltern und ihre eigene Mutter waren todt). Wilson schlief bei sich. Es kränkte ihn, daß er keine Wirthschaft hatte und daß es heißen sollte, er wäre zu ihr gezogen. Sie erwartete ihn nicht. Sie hätte ihn von sich gestoßen. Aber die Zeit ist ein Tropfen vom Dache, der zuletzt einen Stein aushöhlt. Sie näherten sich, und beide besitzen jetzt zwei Töchter.

Wilson hat viel mit seinem Herzen zu thun gehabt. Er hat die Dinge der Welt übersehen. Er hörte von Napoleon und wurde sein Vertheidiger, weil er ihn ohne Politik, weil er ihn nur aus dem poetischen Gesichtspunkte betrachtete. Für die Reaktionen der Bourbonen und Castlereaghs hatte er keinen Sinn. Auch ist er gegen ein Uebermaß von Freiheit, ohne daß er dieß jemals ausspricht. Er scheint sagen zu wollen, daß ihm eine große politische Freiheit nur denkbar scheine, wenn ihr eine Selbstemanzipation der Individuen vorangegangen wäre. Er würde sich recht gern zu einer Republik bereit finden, nur müßte sie aus lauter solchen Philosophen bestehen, wie er einer ist. Cuviers Geschichte der Erdrevolutionen machte mehr Eindruck auf ihn, als die Julirevolution. Es war kurz nach dieser, als ich ihn kennen lernte.

Wilson ist den ganzen Tag beschäftigt; doch benutzt er jede Pause, die er erübrigen kann, um irgend eine werthvolle neuere Erscheinung, zu denen er meine Schriften nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. »Sie zerpflücken,« sagte er über die modernen Dichter zu mir, »sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen.«

Wilson's Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich aber, als einer Reliquie der Vergangenheit, nicht umgehen kann. Nicht ein Blutstropfen der neuen Zeit wohnt in ihm, und doch ist er so achtungswerth. Wer würde nicht das stille Glück dieses Mannes theilen mögen, der nur den Sonntag sein nennt, dann schon früh hinauswandert in die wilden Verschlingungen des königl. Parks, einen Band von Tristram Shandy in der Tasche! Wenn er Menschen kommen hört, flieht er; denn der Sonntag ist sein, am Sonntag ist er selbst sein Eigenthum. Dann kann ihn nichts erfreuen, als höchstens ein Waldhorn, das weither durch die Gebüsche schallt. Kurz, Wilson ist hinter seiner Zeit zurückgeblieben. Dem neunzehnten Jahrhundert ist er durch nichts verwandt. Man wird ihn auch nie sehen, daß er beim Poll irgend einem Candidaten für das politische Leben unsrer Zeit seine Stimme gäbe. Leben Sie wohl, Wilson! Jenseits, jenseits, mein Theurer! Dort wird Alles wahr!

*

Ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts dagegen liegt vor mir in der Wiege. Sie steht nicht mehr auf runden Füßen, die getreten werden, das ist schon von Rousseau geerbt; aber das Kind ist in Federn gehüllt, nicht in Pferdshaaren, das ist wieder alte Praxis, Empirie ohne Rousseau, das haben die Aerzte so gewollt; denn ein Kind soll Wärme haben, Alles, was wächst, muß Wärme haben. Das neunzehnte Jahrhundert verbindet den Idealismus mit der Gesundheit, die Phantasie mit einem unverstopften Magen, die Schwärmerei mit einem warmen Umschlagetuch, das vor Erkältung schützt. Wir combiniren die erste und zweite Hälfte des 18ten Jahrhunderts, den Comfort mit dem Spiritualismus; wir sind nicht ganz so bequem, daß wir nicht über die Nachtigall, die am Weg im Gebüsche singt, fünf Minuten still ständen, um sie zu belauschen; aber auch nicht ganz so idealisch, daß wir nicht schnell nach Hause gingen, wenn wir merken, daß wir von der feuchten Abendluft den Schnupfen bekommen werden. Unsre wunderbare Industrie, unsere Eisenbahnen und Dampfmaschinen sind aus diesem Triebe entstanden, das Mährchenhafte mit dem Handgreiflichen zu verbinden. Sollt' ich einem Künstler die Vorstellung unseres Jahrhunderts in einem Bild anrathen, so würd' ich ihm sagen: Malen Sie, mein junger Mann, die Schneekuppel der schweizerischen Jungfrau, rosig angeglüht von der aus der Tiefe aufgehenden Sonne, und oben auf der Spitze, recht in der Mitte des Glorienscheines (wie man von Napoleon dergleichen Apotheosen hat), einen dünnen, zerbrechlichen Gentleman im bis an den Hals zugeknöpften Frack, zitternd vor Frost in Nankinbeinkleidern! Unser Jahrhundert ist dieser Contrast zwischen Poesie und Prosa.

Meinem Normalmenschen, der bereits laufen kann, wird viel Freiheit gelassen, und wenn sie gestört wird, so geschieht dieß nicht durch System, sondern durch Temperament der Erziehenden. Ueber den Säugling und die junge ohne Fallhut herumlaufende Brut machte sich das achtzehnte Jahrhundert schlaflose Nächte. Gatte und Gattin erzürnten sich über das Erziehungssystem, welches sie befolgen wollten bei einem Kinde, das erst geboren werden mußte. Man sprach damals sehr viel von der Natur; doch war die damalige, darunter gemeinte Natur weit künstlicher, als die jetzige, die nahe an Verwilderung streift. Der Zweck unsrer Zeit ist der Bürger, nicht mehr der Mensch. Dem Bürger schadet das Ammenmährchen nicht, das Federbett nicht, das zu hohe Liegen mit dem Kopfe nicht. Mein Emil, der des neunzehnten Jahrhunderts, wird für den Staat erzogen, für die Partei; mein Emil vegetirt unter dem Schutze der Kindermädchen, die ihn auf der Promenade in's Gras legen, während sie mit einem Constabler sich etwas zu erzählen haben. Emil hat nicht die Bestimmung für die Familie, für das Haus, sondern er muß eine Zahl werden, die mit angeschlagen werden kann. Er wuchert auf, ohne ein andres pädagogisches Moment, als das der Leidenschaftlichkeit. Jetzt kommt Emil dem Vater recht, er will ihn auf den Schoß nehmen, jetzt hat er zu thun, jetzt küßt er ihn, jetzt schlägt er ihn. Er lernt früh, daß alle Wissenschaft und Kunst, alle Civilisation und Ueberfirnissung der Menschheit nichts ist; daß der alte, finstre, zornige und despotische Adam unausrottbar bleibt, und heuchelt, verstellt sich, schreit, lacht, kurz er schickt sich oder schickt sich nicht, und bekömmt dabei, was das achtzehnte Jahrhundert hintertrieb, sein eignes struppiges, rauhes und hinlänglich anstößiges Wesen. Es ist eine so große pädagogische Unachtsamkeit eingerissen, daß es wahrlich ein Glück ist, wenn sich das durchaus verdächtige, vernachlässigte, kein soziales Vertrauen erweckende Individuum dem Allgemeinen fügen und sich unter der drängenden und stoßenden Masse auf dem Markte des Lebens seine Kanten abschleifen lassen muß.

Wollen wir Emils weitre Entwickelung verfolgen, so müssen wir das Haus verlassen und eine Pension oder die Schule besuchen. Emil wird hier nicht der Erziehung, sondern des Unterrichts wegen hergebracht; denn die Anforderungen an den Einzelnen, der Bildung zu haben später vorgeben will, sind so ungeheuer, daß man in seinem fünften Jahre schon muß lesen können, um nur im achtzehnten Jahre so weit zu seyn, daß man wenigstens eine alte und sechs neuere Sprachen versteht, alle complicirten Fragen der Fachwissenschaften als Vorkenntnisse besitzt, um dann erst wieder etwas Neues zu lernen, was sich gar nicht beschreiben läßt, da es alle Tage durch jede neue Erfindung vermehrt wird. Glücklicherweise haben die Pädagogen, welche man nicht mehr über die Seele der Kinder um Rath frägt, ihre Muße dazu benutzt, allerhand Kunststücke zu ersinnen, welche das Lernen erleichtern. Man hat es möglich gemacht, daß Kinder, die noch nicht sprechen können, doch schon anfangen, lesen zu lernen, durch eine ganz verzwickte Kunst, wo die Kinder nur zu mauzen, prauzen, pusten, husten und zu zischen brauchen, um nicht nur die Buchstaben, sondern sogar buchstabiren zu lernen. Oder, was sag' ich? Sie buchstabiren nicht mehr, sie syllabiren sogleich und lesen sogar, wenn es sich auch anhört, als wollten sich eigentlich die Kinder übergeben. Dem mag seyn, wie ihm wolle, ist diese Methode nicht für den Magen schädlich, so ist sie es doch für die Zunge; denn ich glaube, das jetzt so häufig verbreitete Stottern kommt von dieser neuen Methode des Lautirens her.

Ich glaube ferner, es war ein sehr großes Unglück, daß sich unsre Großältern so lächerlich trugen. Wären wir weniger gereizt, über sie spotten zu müssen, wir würden weit mehr von ihnen entlehnen können, wir würden zumal ihre pädagogische Gewissenhaftigkeit nicht für Pedantismus ausgeben. Wir betrachten aber unsre Väter, diese ernsten, brummenden und mürrischen Männer, die stundenlang schweigen können; unsre Mütter, von denen die jüngern sehr zärtlich sind und unter den Vätern viel leiden, die ältern aber alle Indifferentismen der Väter theilen. Wir glauben, daß eine Erziehung, die diese Brummkreisel hervorgebracht hat, das Werk der schlechtesten Pedanterei gewesen seyn müsse. Keinesweges! Die tiefen Baßtöne kamen in unsre Eltern nur durch die Wendung, welche die junge gegen die alte Zeit nahm. Unsre Großältern sind so drollig und liebenswürdig, unsre Eltern so barsch. Dieß liegt in dem Widerspruche der Erziehung, die die letzten empfangen sollten, mit der Bestimmung, welcher sie plötzlich durch das Jahrhundert folgen mußten. Sie waren erzogen für das Haus und wurden für die Welt in Anspruch genommen. Sie sollten sich als Menschen fühlen und durften sich plötzlich nur innerhalb der Begriffe des Bürgers bewegen. Das hat ihnen so übeln Humor gemacht. Das bestimmt sie, da sie nie gerecht genug sind, ihre Magensäure nicht auf die Zeit und ihren Weinkeller, den sie unmuthig leeren, sondern auf die Erziehung zu schieben, ihren Kindern grade eine entgegengesetzte Erziehung zu geben, als sie empfangen haben. Wo die Alten streng waren, sind sie nachsichtig. Wo jene lachten, da erzürnen sie sich. Unsre Kinder werden zum Trotz erzogen.

Ich behaupte immer, man kann zwar einen sehr guten Gebrauch von seiner Freiheit machen, wenn man nur für sie erzogen ist; allein man kann seine Freiheit nicht so fühlen, wenn man sie nicht vorher hat entbehren müssen. Die Strenggezogenen pflegen, freigelassen, nicht selten zügellos zu werden. Mäßigt sie aber eine edle Bildung, ist sie der Ranzen, der recht schwer ihre Schultern drückt, dann werden sie ihre Schritte schon einhalten und sich Zeit nehmen. Ich finde, daß unsre so frei erzogenen Kinder sehr oberflächlich werden, weil sie die Freiheit mit den Kenntnissen zu gleicher Zeit erhalten, statt daß die Freiheit eintreten sollte, wenn sie sich die Kenntnisse bereits angeeignet haben. Es gibt viele sehr strenge Erziehungen unter uns. Besonders wird viel gepredigt und viel auf den äußern Anstand gesehen. Die Kinder dürfen nicht auf das Sopha kommen. Sie müssen nach einer kurzen Mahlzeit den Tisch verlassen; das wenigste des zu ihrer Bequemlichkeit Dienenden dürfen sie vom Gesinde verlangen. Das läßt sich Alles hören. Es ist eine strenge puritanische Erziehung. Aber sie wird unvernünftig, wenn die Knaben sich nicht zwei Schritte von den Eltern entfernen dürfen, wenn sie noch in ihrem sechzehnten Jahre kurze Jäckchen und eine breite Tellermütze mit einer Troddel tragen müssen, wenn die Mädchen nichts ansehen dürfen, das nicht vorher von der Mutter mit einem moralischen Gesundheitsschein ausgestattet wurde. Hier ist die englische Erziehung namentlich die beschränkteste unter allen möglichen. Sie macht die Generation so langweilig, wie es unsre Sonntage sind.

Wenn man die Furcht kennte, welche das Kind vor der Wissenschaft hat, man würde nicht so eilen, es in sie einzuweihen. Ganz lebhaft schwebt mir noch die Scene vor, als ich zum ersten Male in die Gemeindeschule gebracht wurde. Meine Schwester führte mich hin. Ich war still bis auf die Hälfte des Weges, fing aber da so erbärmlich an zu schreien, daß die Leute still standen und meiner Schwester helfen mußten, um mich nur von der Stelle zu bringen. Betäubt von hundert süßen Versprechungen folgt' ich und kam unter Knaben zu sitzen, die, wenn sie einen Zoll größer waren, als ich, mir wie die Riesen vorkamen. Komisch ist aber auch, daß wenn kleine Kinder zum ersten Male in die Schule gebracht werden, einige von ihren künftigen Kameraden heranzurücken pflegen und allerhand zärtliche, von ältern Personen nur sonst gebrauchte Ausdrücke an sie richten. Dieß tröstete mich aber nicht. Ich sah in ein Lesebuch, das ich mitbringen mußte, und verstand nicht ein Wort, ich hörte, daß vor mir Einer nach dem Andern auftrat und aus dem Buche Etwas hersagen konnte: ich konnt' es nicht, ich war außer mir vor Angst, schrie auf und sagte zitternd zum Lehrer, daß ich ja noch nicht einmal lesen könne! Der gute Mann beruhigte mich und hat gewiß über meine Furcht vor den Wissenschaften innerlich lachen müssen.

Noch bleibt aber dem Knaben zuweilen Zeit zum Spiele. Das Spiel ist massenhaft, es ist von kriegerischem Geiste beseelt, war es wenigstens, so lange noch auf den Straßen Pamphlets gegen Napoleon ausgerufen wurden. Man hatte die Wahl, entweder im Garten des Vaters das Beet zu bepflanzen, welches Erbeigenthum des kleinen Pachters wurde, oder draußen auf den Plätzen sich den Freiwilligen anzuschließen, die unter dem edeln Herzog fechten wollten oder der kaiserlichen Garde, später den Griechen oder den Türken. Diese Spiele scheinen sich aber verloren zu haben mit den Congressen von Verona und Aachen und werden schwerlich durch die Quadrupelallianz wieder belebt werden. Im Gegentheil werden die Stimmungen unsrer Jugend immer friedlicher, so daß man glauben möchte, sie wollten einmal alle in Staatspapieren handeln. Dennoch ist dieß keine Rückkehr und Einkehr bei sich selbst, sondern der Nachahmungstrieb hat sich erhalten. Ich habe Kinder beobachtet, die behaupteten, sie spielten Cholera. Jetzt spielen sie Eisenbahnen und Dampfmaschinen, sie fühlen es, daß einst die Welt enorme Anforderungen an sie machen wird, und fangen bei Zeiten an, schon in ihre Scherze Ernst zu mischen. Die gemüthliche Phantasie geht leer aus. Die Theatermanie früherer Zeiten findet man jetzt nicht mehr bei den Kindern.

Dagegen brechen in den Schulen oft Empörungen aus. Die Souveränetät der Masse ist auch bis hieher gedrungen. Der Lehrer kann streng seyn, aber die Klasse wird immer lauschen, bis sie ihn überrumpelt. Es ist in manchen Collegien schon vorgekommen, daß Pulververschwörungen entdeckt wurden, die nichts weniger beabsichtigten, als die Lehrer in die Luft zu sprengen. An Knallerbsen und Mordschlägen, die auf den Katheder gestreut wurden, fehlte es selbst bei Erziehern nicht, die für populär, so zu sagen, gehalten wurden. Es ist hier schon wie in der politischen Welt. Ein Agitator steht an der Spitze. Er hat Kraft, aber man traut ihm Alles zu. Was Niemand kann, wird O'Connell können. Er knechtet aber auch seine Anhänger genug zum Dank, daß er sie vertheidigt. Er erhebt sich täglich seinen Tribut, der entweder darin besteht, daß er den Schwachen ihre Arbeiten entreißt und sie für die seinigen ausgibt, oder daß er sich an die Thür der Klasse stellt, die Scholaren abwartet und jedem einen Obst- oder Brodzehnten aus der Rocktasche nimmt. Dafür ist er aber auch der große Nationalheld! Er wagt sein Leben für sein Volk, er ist der, der mit den Gegnern parlamentirt, der, welcher den Tirailleur spielt, er ist Commandeur und Trompeter zu gleicher Zeit. Ruft er mit starker Stimme sein Hurrah, so stürzen sich ihm die Seinigen mit blinder Wuth nach, und wenn's um den Kopf ginge. O'Connell ist auch die Personification der Ehre; alles in diesem Punkte Zweifelhafte (der irische kümmert sich darum nicht) wird von ihm entschieden; ja ich erinnre mich einer recht eigenthümlichen Servilität unter meinen Kameraden im Colleg. Sie drängten sich immer in O'Connells Nähe und trumpften mit Kerndrohungen und Faustredensarten nur deßhalb auf, damit er sie hörte und würdigte, gleichsam als könnte er sie bei irgend einer Parlamentswahl unterstützen. O'Connell war dabei immer still und lächelte. Wer ihm zu vermessen, wer zu kühn für die Kühnheit O'Connells sprach, den griff er dann von der Seite auf, hob ihn hoch in die Luft, die Beine verkehrt, und ließ den strebenden Rivalen so lange zappeln, bis sich die Thür öffnete, und das hereintretende Ministerium zu sehen hatte, wer auf's neue eine Rüge verdiente. Das Ministerium mußte aber selbst darüber lachen.

Wenn die Menschen unsres Jahrhunderts von ihren Kenntnissen nur Kopfweh haben, so liegt dieß weniger, wo man es immer sucht, in der Methode, als in der Unentschlossenheit, den alten Unterrichtsstoff mit dem neuen auszugleichen. Die alte und die neue Welt streiten mit einander; wir werden erst für Asien, dann für Amerika erzogen. Wenn wir wissen, wo die Griechen sich ihre Orakel holten, dann erfahren wir erst, woher wir den Zucker holen. Ich halte das Erstere für so wichtig, wie das Zweite. Man sollte es nur verbinden. Man sollte nicht erst Gelehrte machen und sie dann in Kaufleute umformen. Mühe, Zeit und Lust gehen verloren. Der Knabe hat eine schnelle Phantasie. Er versetzt sich bald von der Tiber an den Orinoko. Man brauchte den Gelehrten vom Kaufmanne nicht so entschieden zu trennen, wenn man nämlich, wie bei uns noch immer geschieht, den Kaufmann noch immer erst die Hälfte Weges auf die Gelehrsamkeit losgehen läßt. Es kömmt Alles darauf an, die Periode des Unterrichts abzukürzen, ihre Ausdehnung zusammen zu drängen und in dem Augenblicke, wo plötzlich der Funke der Erleuchtung in den menschlichen Geist fällt, ihn einen fertig Unterrichteten seyn zu lassen. Erst in dem Momente Stoff erhalten, wo man lernt, Stoff beherrschen, heißt, um die entscheidendsten Momente seines Lebens betrogen werden. Man biete bis in das sechzehnte Jahr Unterricht massenweise und nur für das Gedächtniß; späterhin aber arbeite man nur auf Ordnung und Zusammenhang!

Ich greife die gothische Physiognomie unsrer Erziehung, wie sie überall auch auf dem Continente ist, ungern an, weil ich fürchte, die weißgetünchte Flachheit unseres modernen Maschinen- und Dampfgeistes möchte ihre Stelle einnehmen. Ein Entschluß ist schwierig. Die Gelehrsamkeit der lateinischen Schule wird freilich immer mehr in das Extrem getrieben. Früher traktirte man den Horaz, das neue Testament und einige Dialogen des Plato; die Lehrer waren Theologen, welche, ehe sie ein Vicariat hatten, auf der Schule zurückließen, so viel sie wußten. Jetzt sind es eigens zugerichtete, sogenannte Philologen, die eine Menge von Subtilitäten in die Köpfe der Jugend einschmuggeln und ihnen statt von Pompeji's Untergang zu erzählen und sie vor meinem Romane zu warnen, die ganze Geschichte der Pompejanischen Ausgrabungen hersagen und es versuchen, an etrurischen Nachtgeschirren den Sinn für die Antike zu wecken. Die Inschriften auf den Marmordiebstählen des Lord Elgin beschäftigen diese Herren mehr, als die klassische Literatur und deren Schönheiten. Ich habe mir diese Menschenklasse auf immer erzürnt, seitdem ich auf dem Kollegium um einen Pedanten zu verspotten, in das Lokalblatt einrücken ließ:

»Ergebenste Anfrage an die Herren Philologen!

Ein junger Gentleman, der von seinen Eltern und Hofmeistern eine dringende Vermahnung zum Anstande mit auf die Lebensbahn bekommen hat, wünscht sich dem Alterthume zu widmen und fordert alle Lehrer desselben auf, sich unter der Bedingung bei ihm zu melden, daß sie ihm authentische Versicherungen sowohl über die Schnupftücher, wie über die Speinäpfe der Alten geben können. Sollte derselbe Gentleman aber in Erfahrung bringen, daß die Alten ohne Weitres in's Zimmer gespuckt und in die Hand geschneuzt haben, so brächte denselben keine Bill des Parlaments dahin, ihnen irgendwie eine ergebenste Berücksichtigung zu schenken. Das Nähere auf dem Bureau des Morning Herald von ***«

Ich wurde wegen dieses Inserats auf ein halb Jahr excludirt, eine Zeit, die ich so gut benutzte, daß ich die spätern Unterrichtsstunden nur für Gelegenheiten zum Schlaf ansah.

Ich kehre endlich zu Emil zurück. Emil soll kein Gelehrter werden, sondern in das Geschäft seines Vaters treten. Emil ist ein wunderliches Wesen geworden. Er hat auf der Schule auch seine Rede gemacht, ist nicht dumm und nicht gescheidt, aber er behauptet sich, wie einen sehr Eingeweihten. Das Beste aber und zugleich Eigenthümliche ist, daß Emil plötzlich an sich die Erziehung beginnt, welche die Eltern an ihm vernachlässigt haben. Sein Kopf wird von einem neuen Enthusiasmus der Abhärtung, Gleichgültigkeit und des männlichen Sinnes beherrscht. Er steht um fünf Uhr auf. Er kauft sich eine Weckeruhr, um die Zeit nicht zu verschlafen. Er liest Byron, Moore, Shelley, es wird licht in seinem Haupte; wenn man nachsieht, wird man an der Stirn eine Flamme brennen sehen. Emil trinkt Milch, keinen Thee mehr. Er lernt schwimmen, er ficht sogar und schießt auf dem Schützenhofe alle Samstag sechs Pistolen ab (der Schuß kostet einen Schilling). Ueber seinem Bette wird man auch bald ein paar eigne Pistolen, kreuzweis gelegt, erblicken. Darüber zwei Stoßdegen und eine abgeschmackte Mütze, wie sie unsere Rheinreisenden als die Studentensymbole aus Heidelberg und Bonn mitbringen. Die Nacht hindurch liest der fürchterliche Emil Romane, er lernt Geschichte aus Walter Scott, Geographie aus Cooper. Dieser Enthusiasmus des Frühaufstehens, des Schwimmens und der Abhärtung dauert ein Jahr. Es ist die Zeit, wo Emil sich von der Schule den Weg in das Comtoir bahnen soll. Er wirft einen Blick in die große Welt, er sieht zugleich, daß die Romantik mit der doppelten italienischen Buchhaltung zwar ein Vaterland, aber keine weitre Verwandtschaft hat, er wird das, was wir mehr oder weniger Alle sind, Commis. Einige Jahre vergehen in Zurückgezogenheit und Bescheidenheit. Der junge Mann hat ein schüchternes Wesen; man sieht ihm nicht mehr an, daß er früher für jede Pistole, die er abschießen konnte, einen Schilling zahlte. Emil macht die erste Reise zu einem Geschäftsfreunde seines Vaters. Seitdem wird er ein Mann seines Willens, seiner Kraft und, ohne welches Beides nicht möglich wäre, ein Mann seiner eignen Kasse.

Das Stutzern war im achtzehnten Jahrhundert nur das Privilegium entweder des Standes oder der Narrheit. In unsrer Zeit ist es eine Bahn, die einmal von Jedem eingeschlagen werden muß. Es liegt in der Luft unsers Jahrhunderts, daß die jungen Leute insgesammt in einem gewissen Alter den Verstand verlieren und sich wie Wahnsinnige gebärden. Der Begriff des Fashionablen ist über die ganze Erde verbreitet, ruinirt eben so viel Gemüther, wie es deren kräftigt. Es ist eine Passage, die der Engländer macht, der den Stein der Weisen in seiner Weste sucht. Der Franzose, der ihn im Hut und der Cravatte findet, der Spanier, dem Alles auf die weiten Pantalons ankommt, der Deutsche, Russe und Italiener, die es dem Engländer, Franzosen und Spanier nachmachen. Dieß Stadium der modernen Bildung ist so eigenthümlich, daß es ein längeres Verweilen an dieser Stelle verdient.

Ich habe jedoch das Leben der englischen Stutzer zu oft geschildert, die französischen Incroyables sind zu bekannt, als daß ich nicht einen Ausweg vorziehen sollte, den mir ein Freund angeboten hat. Er lebte länger als zwölf Jahre in Deutschland, spricht deutsch und hat, ob er gleich die deutschen Sitten oft lächerlich macht, sich ihnen doch gänzlich anbequemt. Warum haben die Deutschen nie etwas in einer Manier geschrieben, fragt' ich ihn, die von Franzosen und Engländern mit so vielem Glück cultivirt ist? Ich habe über deutsche Sitten weder etwas Descriptives entdecken können, noch eine poetische Schöpfung, der sie mit einer guten Dosis romantischer Wahrscheinlichkeit wären einverleibt gewesen. Schriften von Jean Paul hab' ich zu lesen versucht, aber so weit ich sie verstand, enthalten sie nur Beschreibungen ganz abseits gelegener Zustände, Idyllen, die auf einer Straße liegen, wo die Post nicht durchfährt. Erklären Sie mir dieß!

Mein entengländerter Deutscher that dieß in einer sehr weitläuftigen Weise, indem er vom Ei anfing. Dennoch bin ich ihm dafür verbunden, weil es mir jetzt die Mittel gibt, folgende Bemerkungen herzusetzen:

Wien und Berlin geben den Ton an. In diesen beiden Hauptstädten kann wirklich von einer systematischen Gewißheit und Nothwendigkeit in diesen Dingen die Rede seyn. Am Rhein, in den süddeutschen Residenzen herrscht ein gewisser Dilettantismus in dieser Rücksicht vor, eine Beliebigkeit, die sich nach Pariser und bei den untern Klassen allenfalls nach Frankfurter Traditionen richtet. Der junge Baron, der nach Paris reist, läßt sich dort auf einige Jahre seine Garderobe anfertigen; der junge Commis, der die Frankfurter Messe bezieht, versieht sich bei dortigen Modisten. Es gibt hier sehr viel Nüanzen, aber in der Hauptsache möchten sich doch die verschiedenen Terrains gleichkommen.

Ein junger Mann beginnt seine Civilisation zuerst mit der wichtigen Frage, wie er künftig seinen Hals bedecken soll. Er hatte früher seinen Hemdkragen über die Achseln gelegt. Plötzlich sieht man ihn eines Tages mit einer ungeheuern Cravatte erscheinen, daß man über ihn laut auflachen möchte. Das letztre würd' ich jedoch Niemanden rathen, der nicht einiger durchbohrender Blicke gewärtig seyn will. An die Cravatte reihen sich gern kleine gesteifte Lappen, die durch ihre gefährlichen Spitzen sich den Namen der Parriciden zugezogen haben. Hiermit ist der Grund gelegt; höchstens, daß sogenannte Sprungriemen der aufgeschossenen Gestalt künftig ein glattes Ansehen geben, oder daß sie wohl gar die Länge ihrer Röcke beschneidet, um recht kurze, Jagdröcken ähnliche Taschenflügel über die Lenden schwirren zu haben. Der Hut von oben quetscht das rothe, wangige, blonde Haupt ebenso sehr zusammen, wie von unten die Cravatte, das Prinzip der Emanzipation, mit fischbeingemäßer Elasticität hinaufstrebt.

Wenn dieß bis jetzt noch keine Narrheit war, so pflegt sie regelmäßig in dem Momente einzutreten, wo sie sich mit einer gewissen Melancholie verbunden zeigt. Es ist nämlich die Frage des Bartes, die sich mit einer dringenden Nothwendigkeit geltend macht. Sie hängt an einem einzigen Haare, welches sich bereits auf der Oberlippe eingestellt hat, und welches plötzlich der jungen Phantasie einen ganzen Wald von im Nothfalle gefärbten Täuschungen vorzaubert. Armer Junge! Ich versichre dich, dieses Haar ist nur die Frucht eines Leberfleckes, du wirst noch zehen Jahre brauchen, um einen Rothbart auf den Lippen zu haben! Allein der junge Mann, dem täglich das Blut höher in den Kopf steigt, glaubt nicht und blickt wie ein indischer Fakir stundenlang auf seine aufgeworfene Oberlippe herab, auf welcher freilich ein Flaum, wie ihn auch Mädchen haben, nicht fehlt. In der Sonne sitzend, richtet er seinen Kopf immer so auf die Seite, daß er im Schatten, wo die kleinen Federn sich vergrößern, in der That einen Dragonerunteroffizier zu sitzen glaubt. Wir Engländer, die wir keine Bärte tragen, haben keinen Begriff von dieser stillen Tollheit, welcher sich in Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, Rußland, kurz auf dem ganzen Continente die jungen Leute hinzugeben pflegen. Sie lassen sich rasiren, um das Wachsthum zu befördern, ja es fehlt sogar an einer Leichtgläubigkeit nicht, die sich aufreden läßt, der Abgang der Tauben, frisch aufgelegt, beförderte den Haarwuchs. Mein Freund sagte mir, er hätte einen jungen Mann beobachten können, der sich Buxbaumholz siedend heiß abkochen ließ und mit der daraus erzeugten Lauge sich täglich Oberlippe und beide Wangen bepinselte!

Endlich aber ermüden entweder die fruchtlosen Anstrengungen oder die ersehnte Zierde stellt sich wirklich ohne Geheimmittel ein. Das Nächste, dem sich der werdende Dandy auf dem Continente hingibt, sind jetzt die Kaffeehäuser bei den Feinern, die Tabakspfeifen bei den Gröberen. Ich unterlaß' es, eine Schilderung der ungeheuren Schwierigkeiten zu machen, die beim Tabakrauchen überwunden werden müssen, und erinnere nur, daß das achtzehnte Jahrhundert diese Mode nur bei Holländern und alten Philistern kannte. Sie ist aber ganz übereinstimmend mit dem Charakter unsrer Zeit, mit der ruhigen Gleichgültigkeit, welche sich in einen selbstverfertigten Dampf einhüllt und von hier aus orakelt, zuweilen ausspeit, und seine wohlgeborne, übrigens unzielsetzliche Meinung abgibt. Frägt man aber die andre jugendliche Partei: Was thun Sie denn den ganzen Tag beim Zuckerbäcker? so wird der Befragte unfehlbar antworten: Ich lese nur die Journale. Das ist es. Jetzt beginnt jene Bildung, welche mitsprechen kann, die Bildung des Theaters, der Conzerte und der literarischen Hahnenkämpfe. Zuerst wird dieß Alles noch mit einer Art frommer Neugier betrachtet, dann ist man schon im Zusammenhange, man weiß, heute muß diese Kritik, morgen jene Antwort auf einen schaamlosen aber sehr belustigenden Angriff kommen; jetzt wird man bald in die Kolonnen jener tiefsinnigen Geschmackskenner treten, welche im Parterre das Glück oder Unglück eines ganzen Theaters wörtlich in ihren Händen haben. Der Cursus ist jetzt fertig. Emil, auf dem Continente geboren, kann jetzt in die große Welt eintreten.

Und wie tritt er ein! Der Idealismus seiner früheren Garderobe ist verwischt. Er ist jetzt das Machwerk seines Schneiders. Nur für seine Handschuhe und die Westenzeuge, die er wählt, sorgt er selbst. Er ist noch nicht in das zweite Stadium zurück, wo sich der junge Mann in einen einzelnen Herrn verwandelt, er sorgt noch nicht für comfortable Wohnung, Wachslichter und feine weiße Wäsche (dutzendweis). Er hat keine ernstlichen Liebschaften, wo er erwarten müßte, daß ihm eines Morgens ein Vater auf's Zimmer rückte, um ernstliche Rücksprachen zu nehmen; sondern er richtet, mehr auf der Straße, als bei sich verkehrend, bis jetzt noch alle seine Aufmerksamkeit auf den ersten Eindruck, auf das Exterieur eines angenehmen in die Augen Fallens. Ich sehe mit Schrecken, daß Emil, der große Geschmackskenner, der mit zwei Feuilletonisten umgeht, ob sich gleich beide heftig befehden, Emil, der Freund des ersten Helden, der Anbeter der Soubrettenprimadonna des Theaters sich ganz abgeschmackte Manieren angewöhnt. Ist es nicht, als näselte seine Stimme ein wenig? Hat noch ein Satz Zusammenhang mit dem andern? In der That, das hat Emil von den Engländern angenommen. Jetzt macht sich Master Fop geltend. Jetzt werden die wahrscheinlich mit Stecknadeln befestigten Handmanschetten über den Rockärmel zurückgeschlagen, so daß Emil aussieht, als wollt' er jeden Augenblick einen Kapaunen tranchiren. Die Hände ruhen sich wechselseitig in dem rechten oder linken Westenschlitze aus. Der Gang bekömmt etwas Unsichres, etwas um Hülfe Rufendes, eine Nelke im Knopfloche scheint in der That die Stelle eines Riechfläschchens zu vertreten. Woher nur diese Gebärden? Es ist das jämmerliche Leibschneiden der Langenweile, einer Zeit, die verloren ist bis zu der Stunde, wo sich Adelaide, die Sängerin, Fanny, die Tänzerin, sprechen läßt. Emil reitet täglich eine Stunde; aber er sitzt auf dem Hintertheile des Gaules, zusammengeknickt, und läßt vorn die Zügel so tief schießen, daß man eine Don-Quixotiade zu sehen glaubt. Man nehme! Dieß ist alles Kunst, diese Vernachlässigung will ungemein genau studirt seyn, man muß, dieß ist die große Aufgabe! sich selbst ennüiyren, ohne für Andre ennüiyant zu seyn. Alle Leidenschaften müssen gezügelt seyn, man muß schon Alles erfahren haben, man muß sogar auf Genüsse resigniren, wenn auch hier Master Fop, der durch seine Abgeschmacktheit nur lächerlich wird, sich schon in einen französischen Blasé verwandelt, d. h. in einen Charakter, der für die Moral der Gesellschaft etwas Gefährliches hat.

Mein armer Emil! Die Mode wird dir alle Kraft aus den Sehnen saugen. Du kennst Sophokles, Horaz, Shakespeare, Göthe und welche jämmerlichen Scharteken liest du? Du liest Paul de Kock, um zu wissen, welche Wirkungen er auf die Phantasie der kleinen Grisette, der du nachstellst und einstweilen nur Bücher leihst, hervorbringen wird und wo du sie wirst anfassen können! Du bist Abonnent mehrer Morgenblätter, welche von deinen Freunden redigirt werden, und deren Witz dich vergessen lassen soll, daß sie auf deines, des Mäcenas, laufende Rechnung an hundert Orten laufende Schulden haben! Emil greift einige Fragen des Tages auf, er beschäftigt sich mit einigen gelehrten oder ungelehrten Streitigkeiten, welche gerade an der Tagesordnung sind, er macht sogar Gedichte oder schreibt zuweilen an die Zeitungen Briefe, die dann unterzeichnet sind: Ein Abonnent; ein Mann ohne Vorurtheile: ein Quidam, Utis, Nemo, Alethophilos und ähnliche Bezeichnungen mehr, die ihm und seinen Freunden dann immer sehr witzig erscheinen.

Endlich aber rückt auch die Zeit heran, wo entschieden werden muß, ob Emil unter den Hagestolzen oder den Ehemännern hinfort dienen wird. In diese beiden Lager, welche beinahe eine gleiche Anzahl enthalten möchten, theilen sich die Männer unsrer Zeit. Der freiwillige Cölibat scheint den gezwungenen zu verdrängen. Die römischen Geistlichen haben die Aussicht, bald jene Frauen heirathen zu dürfen, welche die Cölibataire verschmähen. Diese Herren heirathen nicht mehr, wie ein großer Theil der Männer auch schon aufgehört hat, zu tanzen. Auf den Bällen bilden die Heirathsfähigen eine große Chaine rings um den Saal herum, und beobachten die unglücklichen Mädchen, welche verurtheilt sind durch die Prüderie der Männer, nur noch mit jungen Menschen von neunzehn Jahren zu tanzen, die gewöhnlich die Brüder ihrer Freundinnen sind und vorher schon engagirt wurden, mit jungen Menschen, die in zehn Jahren erst an das Heirathen denken dürfen, wenn sie überhaupt jemals daran denken. Ich tanze nicht, ich bin zu alt; ein kindisches Vergnügen! So urtheilen die, welche den Kreis ringsherum bilden und ihren Witz erschöpfen, um diejenigen, welche noch unbefangen genug sind, um sich an der alten Tradition der Françaisen, Cotillons und der neuen Erfindung der Walzer und Gallopaden zu ergötzen, zu mustern und zu kritisiren. Es ist unausstehlich! sagen die Tänzerinnen und reißen die noch unreifen Jünglinge, die erst kürzlich die Lektionen des Tanzmeisters verlassen haben, mit sich hin und her, rechts und links, wie es die Touren vorschreiben.

Es geht durch die Sitten unsres Jahrhunderts ein merkwürdig prüder Zug, der von den Frauen auf die Männer übergegangen ist. Diese Erscheinung ist so auffallend, daß man sich wohl erklären kann, wie närrische aber wohlmeinende Philosophen aufstanden und die Frauen, wie sie sagten, emanzipiren wollten. Diese Herren hätten bedenken sollen, daß die Reformation mit ihnen beginnen mußte, daß die Frauen sich verändert genug vorkommen würden, wenn die Männer nur dahin gebracht werden könnten, ihr Benehmen zu ändern. Es ist die Täuschung des Fahrenden, daß er glaubt, die Bäume der Landstraße flögen an ihm vorüber. Ebenso in dieser Rücksicht. Die Prüderie der Männer scheint ein Erbübel unsrer Tage werden zu wollen. Woher kömmt sie? Was bezweckt sie?

Wir glauben, daß sich hier ebenso viel moralische, wie materielle Veranlassungen darbieten. Der Ernst unsrer Zeit theilt sich den Männern, die für die Zeit berufen sind, mit. Der Krieg kann nicht mürrischer stimmen, als ein Friede, der eine Menge Interessen, die Geist und Leib berühren, unaufhörlich in Frage und hitzige Abrede stellt. Im Kriege, in den finstersten Zeiten, wo die Guillotine herrschte, wo Napoleon siegte, konnte man durch die Ereignisse nicht so mißgestimmt werden, wie es jetzt die Männer sind. Denn damals war es das Schicksal, an welches man sich leicht gewöhnte, man sahe Begebenheiten, die vom Zufall oder individueller Energie herrührten, während man jetzt nur Personen als die Faktoren der Dinge beobachten kann, nur partikuläre Interessen und verblendete Ansichten. Die Hand an einen Säbel zu haben, der fest genietet ist, erzürnt heftiger, als ihn über das Haupt seines Gegners zu schwingen. So werden die Männer jetzt in einer fortwährenden Gallenerregung erhalten, das öffentliche Leben absorbirt sie, und ohne Feuer, ohne Humor sinken sie in die Arme ihrer Weiber, die unter diesen Umständen, wenn sie brav sind, monotone Hausmütter werden, wenn sie aber Temperament haben, sich in jene Situationen werfen, welche von der neuern französischen Romantik so neu, soll man sagen, erfunden oder kopirt werden?

Die Männer ihrerseits bleiben auch bei der Erschöpfung nicht einmal stehen. Sondern, was bei ihnen nur eine Folge der Umstände ist, das nimmt sogar die primitive Farbe der Ueberzeugung an. Aus der Erschöpfung, aus dem Momente, wird eine stationäre Leidenschaft, eine negative Leidenschaft, die Indolenz. Es bilden sich Begriffe unter den Männern, welche man wohl bis in ihren natürlichen Ursprung verfolgen kann, welche aber das Unnatürlichste sind, was sich voraussetzen läßt. Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegitimer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jungfräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Indolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blasés erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blasés, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Ich habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten.

Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürfnissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Conkurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agrarisches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte. Die Reichthümer sind weit ungewisser geworden, als sie es früher waren. Der kleine Zinsfuß, die Verführungen des Staatspapierhandels lockten das Geld aus den verschlossenen eisernen Truhen und setzten es in Umlauf, wo es seinen Ertrag auch Denen abwerfen muß, die den Umlauf, ich will nicht einmal sagen, befördern, sondern sogar Denen, welche sich überwinden, ihn nicht zu verhindern. Bei diesem allgemeinen Aechzen und Keuchen nach Besitzthum theilte sich die Besorgniß sogar Denen mit, welche reichlich daran gesegnet sind. Ein Reicher ist nicht mehr so sicher, wie er es ehemals war, er hat die alte Ruhe nicht mehr; ihn scheucht dieß laute Toben auf, so daß er glaubt, mit Hand anlegen zu müssen und dasjenige erst zu erwerben, was er schon besitzt. Und siehe, sein Reichthum mehrt sich. Denn es ist eine nicht minder erwiesene aber nicht minder betrübende Thatsache unsrer Zeit, daß nur diejenigen bekommen, welche haben, und denen genommen wird, welche nichts haben. Man gewinnt nichts mehr ohne Einsatz. Ein Geschäft muß »hineinstecken« können, wenn Etwas dabei »herauskommen« soll. Was ist Credit? Credit, der nur auf den ehrlichen Namen ausgestellt wird? Die ehrlichsten Leute haben fallirt. Credit muß Abglanz des bereits Vorhandenen seyn, Schatten einer Sonne, die baar und blank versilbert nachgewiesen werden kann. Kurz nur der Vermögende erwirbt; und ist das Vermögen kein Geld, so ist es ein Leben! Verkaufe deine Seele, setze dich selbst zum Pfand! Darbe, entziehe dir deine Lieblingsvergnügen, bewohne ein Zimmer, richte dich ein, knapp, mit eigner Menage, halte dir eine Magd, eine Magd »für Alles«, kurz, werde Cölibatär, ein Hagestolz, dasjenige, was der Storch, der ewig einsam lebt, unter den Vögeln zu seyn scheint! Wer keinen baaren Einsatz machen kann, um zu erwerben, setzt seine Zukunft ein, die Resignation auf das stille Glück der Häuslichkeit.

Es gibt auch schwankende Charaktere in unsrer Zeit, die zwar die Mittel, aber den Muth nicht haben, oder von beiden Erfordernissen nur eine kleine Quantität. Diese ungewissen Menschen zu beobachten, erregt Lachen und Mitleiden zugleich. Sie sind unausgesetzt auf der Freite, wie Lord Bubbleton. Dieser edle Herr besitzt nur ein geringes Vermögen; doch würd' es, wenn er noch eine Richterstelle annähme, hinreichend seyn, ihn, seine Frau, vielleicht auch zwei Kinder, wo aber kaum für eines Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, zu ernähren. Zuweilen glaubt er dieß, zuweilen zweifelt er daran. Sie werden heirathen, Mylord? fragt' ich ihn. Niemals; antwortete er entschieden. Auch Miß Eliza nicht? Wer ist Miß Eliza? Hier mußte man ihn sehen. Die kahle Platte des Kopfes überzog sich plötzlich mit einem üppigen Haarwuchs. Die zusammengeschrumpfte Gestalt glättete sich auf. Ein sanftes Roth flog über die trocknen Wangen. Er zog in lebhafter Unruhe seine Handschuhe aus und an, und zupfte so lange an seinen Manschetten, bis ich ihn erinnern mußte, daß sein Hemde zum Vorschein käme. Lord Bubbleton hatte eine neue Hoffnungsblase. Ich sprach Vielerlei von Miß Eliza; aber gleichsam als käme ihm jede recht, er hörte nicht darauf, sondern schien in ein tiefes mit Zahlen beschäftigtes Nachdenken versunken. Er rechnete an den Fingern und hielt, um sich die einzelnen Posten zu merken, einen Rockknopf nach dem andern fest, so daß er die Hunderte nicht verwechselte. Endlich warf er seinen Kopf auf und rief mit einem Lächeln, was an Verklärtheit grenzte: Yes, Sir! Er hatte sich überzeugt, daß er es wagen durfte. Er schlüpfte unter meinen Arm und zog mich fort, ihn mit Miß Eliza bekannt zu machen. Ich that es, weil ich die Wünsche dieser Dame hinlänglich kannte. Sie sahen sich öfters, Miß Eliza hatte ein kleines Vermögen, Lord Bubbleton rechnete, die Seifenblase zerplatzte und er war so resignirt, wie früher.

Als ich ihn sahe, war ich erzürnt und machte ihm empfindliche Vorwürfe. Er sah aus, wie das Leiden Christi. Ich mußte Theilnahme für ihn empfinden. Ich glaube sogar, er weinte, als er mir die Berechnung machte, daß Miß Eliza ein Vermögen von 1000 Pfund besäße. Desto besser, sagt' ich. Sie haben gut reden, fiel er ein; wer 1000 Pfund mitbringt, verlangt einen Aufwand für eine Summe, wovon diese 1000 Pfund nur die Zinsen sind. Ich übertreibe, verbesserte er sich, als ich die Augen aufriß; allein das werden Sie mir nicht streitig machen, daß eine Frau ihre Mitgift immer um die Hälfte höher anschlägt, und immer von ihrem Eingebrachten 10 % Nadelgelder haben will. Miß Eliza ist ein himmlisches Geschöpf; aber sie hat eine Mutter, eine Tante, eine Großtante, eine Schwägerin ihres verstorbenen Bruders, der wieder von Seiten seiner verstorbenen Frau eine Nichte mütterlicher Seits in die Familie gebracht hat, kurz, was sie nicht weiß, wissen diese: und -- es geht nicht, ich kann nicht, ich darf nicht, ich habe mich übrigens auch mit meiner eignen Kasse verrechnet. Er zuckt die Achsel und schleicht davon.

Lord Bubbleton ist ein ewiger Bräutigam. Wen er sieht, den will er heirathen. Er hat seine Emissäre, seine weiblichen Spione, alte Kuppler jagen ihn des Morgens aus dem Bette und erregen seine Phantasie, die nie ermüdet. Mit dem Pupillencollegium gibt es fortwährende Relationen: in den Magistratsbüchern auf Manshion-House wird nachgeschlagen, wie viel diese oder jene Partie besitzt, in den Kirchenbüchern, wie alt sie ist. Er ist in allen Winkeln zu sehen, wo sich mehr Damen als Herren befinden und dem Gespräche das Uebergewicht auf die weibliche Seite hingeben, indem die Unterhaltung dann die Damen zu Registern der Stadtchronik macht, aus denen er sich notirt, was er wissen will. Bei kleinen verabredeten Café's erscheint er oft als zufälliger und unverhoffter Besuch; aber alle, die sich hier treffen, treffen sich mit Voraussetzung. Es gilt eine Bekanntschaft, eine wechselseitige Musterung, es wird viel Zartes und Empfindsames zur Schau getragen. Bubbleton ist außer sich vor Uebereinstimmung und wenn er nach Hause kömmt, schlägt er sich vor den Kopf und wälzt sich im Bett herum, stöhnend: Es ist nicht möglich, es geht nicht, ich kann es nicht ausführlich machen. Ich hab's nicht, Gott verdamm mich!

Lord Bubbleton hat alle Tage eine unglückliche Liebe und alle Tage eine neue, die ihn trösten kann. Es ist eigen, einen Mann zu beobachten, der in einer ewigen Ungewißheit zwischen Schmerz und Freude lebt, der in dem Momente eine Thräne zerdrücken möchte, wo schon wieder ein Hoffnungsstrahl aus seinen Augen blitzt. Er verbindet Abälard und Lovelace, er ist in einer fortwährenden Entsagung begriffen und kostet dabei doch überall herum. Er gleicht einem Pfarrer, den ich kenne, welcher für das elegante Sonntagspublikum predigt, seine Augen mit allem Schmelz der Verklärung gen Himmel werfen kann, und der doch immer das Stechende, Forschende, seine Zuhörer Zählende in ihnen prädominiren läßt. Man weiß nicht, soll man sagen: da kömmt ein sehr unglücklicher Mann, oder: da ist so eben ein sehr frivoler Mensch um die Ecke gegangen!

Lord Bubbletons Liebschaften näher zu betrachten, erregt Mitleiden für den Gegenstand, welchen er sich ausgewählt hat. Das ist zuerst ein Flüstern und Wispern, ein Handdrücken und Einrichtungentreffen; die Mutter beschleunigte das wechselseitige Geständniß, sie hat Alles Interesse, auch die Verbindung zu beeilen. Es wird gekauft, gemiethet, es fehlen nur noch die Ansätze für den Verlobungs- und Hochzeitstag. Man berathet sich darüber, Bubbleton wird bleich, rückt mit dem Stuhl, geht in Zerstreuung fort, kommt den folgenden Tag wieder und sagt, er hätte sich nur seine vergessenen Handschuhe holen wollen. Miß erschrickt, Bubbleton hält nicht mehr Wort, endlich kömmt ein Brief, und die Seifenblase ist zerplatzt. Stürben diese gewöhnlich schon 28jährigen Damen alle, so wie sie es zuerst nicht anders thun zu können vermeinen, so wäre durch Lord Bubbleton schon ein ganzer Kirchhof bevölkert, und man müßte diesem raffinirten Mörder eigner Art einen Prozeß und wo möglich auch einen Strick an den Hals werfen.

Genug von ihm! Er ist jetzt in die Vierzig getreten. Er wird so lange wählen, bis sich ihm keine Auswahl mehr darbieten wird. Kehren wir zu den Männern zurück, welche den Einsatz wagen und durch ihre Versuche, etwas für die Vermehrung der Bevölkerung zu thun, dem Zwecke der Geschichte sich zu nähern suchen! Aber für sie selbst ist die Ehe eine unerhebliche Umwandlung. Ihre Geschäfte laufen darüber so fort, wie sie angefangen haben. Werthvoller ist es, an dieser Stelle einige Pinselstriche an dem Bilde einer Dame unsres Jahrhunderts zu wagen, wenn sich auch ergeben sollte, daß plötzlich in unsern Sitten die Tendenz ausgebrochen scheint, die Existenz des Weibes der des vergangenen Jahrhunderts näher zu bringen. Es ist zweifelhaft, ob wir auf die Schönpflästerchen wieder zurückkommen, aber vermuthen möchte man es, wenn man sieht, wie die Kleider der Frauen, wenn auch noch nicht den altfränkischen Zuschnitt, doch allmählich schon wieder die altfränkischen Desseins bekommen. Jene großen Blumen im weißen Felde, welche die Kleidermuster des achtzehnten Jahrhunderts waren, und die sich nur auf Bettüberzügen erhalten hatten, kehren auf die Kleider wieder zurück. Die langen Taillen sind Annäherungen an die alte Zeit, die weiten Aermel ebenfalls, kurz es ist hier dieselbe Erscheinung ersichtlich, welche sich auch in den Formen der zur Bequemlichkeit dienenden Gegenstände wahrnehmen läßt. Das Ameublement bekömmt jenen breiten, kolossalen Charakter wieder, den die Stühle und Schränke des vorigen Jahrhunderts hatten. Das Tafelservice wird durchaus wieder altfränkisch; denn nachdem es die Oekonomie lange mit Wedgeworth, Gesundheitsfayence und ähnlichen Surrogaten versucht hat, ist man wieder darauf zurückgekommen, tiefe, bemalte Teller mit breiten Rändern, Suppenterrinen mit Henkeln, Compottbehälter in viereckter Form, und dieß Alles aus feinstem Porzellan, für das Geschmackvollste und Modernste zu halten.

Doch was sprechen wir von Tellern und Suppenterrinen, wo wir von unsern Weibern reden wollen!

Ein Mädchen unsrer Tage hat ohne Zweifel mehr Wissenschaftsstoff, als ehemals. Im vorigen Jahrhundert ersetzte die Kenntniß der französischen Sprache alles Uebrige, das heißt, die Frauen besaßen ein Mittel, sich immer für geistreich und gelehrt genug hinzustellen, da die französische Sprache, von einem Fremden gesprochen, bekanntlich auch der Abgeschmacktheit selbst den Firniß des Genies gibt; eine absolute Uebung dieser Sprache, eine Uebung, die in der Illusion leben könnte, als wäre das Französische die Muttersprache selbst, wird doch niemals erreicht. Das Parliren ist und bleibt eine Gedächtnißsache, bei welcher die unleugbare, wenn auch noch so hinreichende Anstrengung in Betreff der Form das immer ersetzt, was man in der Muttersprache aus seinem eignen Kopfe an Inhalt hinzuthun müßte. Diese Kenntniß versiegte, wie man einen Fluß abschützt und dann auf dem Boden untersuchen kann, was da verloren ist. Man sah, daß nicht viel da lag, daß man sehr viel andre Gegenstände brauchte, um so viel Zeit mit Sprechen auszufüllen, als man früher ausfüllte, nur indem man französisch, d. h. ohne Inhalt sprach. Man besann sich nicht lange, sondern ließ für ein und dasselbe Geld die Mädchen am Unterrichte der Knaben Theil nehmen; denn wie anders kann man es erklären, daß sich die Bildung des Mädchens derselben Einflüsse und derselben Behandlung gewärtigen mußte, welche die Bildung der Knaben erforderte? Die Mädchen haben auch bald die Männer überflügelt. Es stehen in einem Jahre jetzt mehr Schriftstellerinnen auf, als deren das ganze Alterthum zählt, und nur bei den Griechen zählt; denn auffallend genug, bei den Römern gab es nie weibliche Schriftsteller! Wir haben Schriftstellerinnen, wie Sappho und Erinna, die den Mond besingen, aber auch solche, die über Nationalökonomie schreiben. Die Manie der Autorschaft ist unter den Frauen so verbreitet, daß ich, wo ich ein unliebenswürdiges Frauenzimmer sehe, immer bereit bin, sie für eine Schriftstellerin zu halten.

Es ist auffallend, daß die Frauen im ledigen Stande eine Sucht haben, sich zu vereinigen, um geschlossene Ketten zu bilden, dann aber als verheirathete Frauen sie wieder auflösen und lange Zeit mehre Kindbetten erst abwarten, ehe sie wieder auf den alten Trieb zurückkommen. Das Gefühl der Liebe entspringt bei den meisten weiblichen Naturen nicht aus dem stillen Nachdenken über die Geheimnisse der Paarung, sondern aus einer magnetischen Gewöhnung an andre Individuen, die sie für besser und schöner, als sich selbst halten. Gewöhnlich geht der Liebe zum Manne eine oft grenzenlose Liebe zum Weibe voraus. Junge Mädchen verlieben sich in ältre, eine Erscheinung, die sich freilich auch bei den Knaben findet: wie ich mir denn bewußt bin, einst als Knabe zu einem meiner Kameraden, der mir jetzt ganz fatal ist, die heißeste Leidenschaft getragen zu haben. Wenn ich mit ihm zusammen arbeitete, so war mir dieß ein Festtag und die Krone desselben, wenn ich seinen fleischigen Arm überraschen und einen Kuß, der aber mehr Biß als Kuß war, darauf drücken konnte. Ich erinnere mich aus dem Colleg einer Knabenliebe, die etwas Bedenkliches für die Lehrer, die sie sahen und duldeten, hätte haben sollen. Um einen Kameraden von zarter und blödäugiger Natur stritten zwei ältre, die sich aber redlich im Besitze ihres Ideals theilten. Sie hatten beide während der Lektionen stets ihren Arm um ihn geschlungen, und ich weiß, daß es viele gab, die das Glück dieser beiden aus der Ferne beneideten. Wenn meine Phantasie an etwas hängen blieb, so war es an jenem Knaben, von dem ein freundliches Wort zu bekommen, mir der größte Genuß gewesen wäre. Nach etwa sechs Jahren sah' ich ihn wieder, war täglich um ihn, er hatte keinen bloßen Hals mehr, keine offne Brust, er trug sich so patent, wie ich, und war mir in jeder Beziehung gleichgültig. Bei Frauen ist aber auch dieß anders. Ich bemerkte oft, daß sie noch in reiferem Alter errötheten, wenn sie ein weibliches Wesen sahen, in das sie einst verliebt waren, ohne diesem auch nur eine Ahnung davon einzuflößen.

Wir haben so zahllose Darstellungen der Psychologie, aber keine noch wird über die mannigfachen Gestaltungen der Liebe Auskunft geben. Wir haben Anwendungen der Physik auf die Moral, wir haben Versuche, in der Physik hier und da moralische Lichtblicke und Ordnungen festzustellen; allein vergebens, daß wir von einem Philosophen erfahren könnten, unter welchen Umständen sich die Menschen zu verlieben pflegen. Man sagt, daß dieß in den Roman gehört. Im Gegentheil, Cultur- und Naturgeschichte dürften von einer Untersuchung dieser Frage Vortheil ziehen. Wir würden sie allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen.

Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Geschlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher stehen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den erstern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Geschlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe vielleicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser oder jener männlichen Personnage gelingen konnte, ein Weib zu bekommen. Der Grund lag darin, daß sie so glücklich war, einem Mädchen, das zum ersten Male einen Mann betrachtete, gerade in diesem Momente zu begegnen. Schont man die Verlegenheit des armen Kindes, so hat man sein Herz gewonnen. Welch' ein Unterschied gegen die Liebe des Calculs, die gerade dadurch angefacht wird, daß man sie verletzt!

Die besten Hausfrauen werden durch die erste Liebesgattung, welches man statt der moralischen die eigentlich physische Liebe nennen sollte, erzogen. Aber ebenso auch ergeben sich die unglücklichsten Ehen aus ihr. Ein Wesen, das gleichgültig von ihrer Puppe zur Freundin, von dieser zum Geliebten übergeht und dabei auch recht gern die Wärme haben kann, welche die Ahnung des Rechten und die Seligkeit des Besitzes erzeugt, wird leicht die Liebe als etwas Natürliches betrachten, da man sich fortdauernd doch nur auf übernatürliche, mehr himmlische als irdische Weise lieben kann. So einfach der Ursprung des Verhältnisses war, so einfach wird auch der Maßstab, den das Weib an sich zu legen duldet, da doch alle Welt bezeugen wird, daß nichts so complicirt ist, ja in der That nichts so schwer, als sich ohne Wankelmuth ausdauernd zu lieben. Den Mann beglückt der Gedanke, daß er in den Gegenständen seiner Liebe eine Revolution anstiftet, daß für sein Weib ein neues Leben beginne, und es sich oft besinnen wird: ist es ein Traum, oder ist es denn Wahrheit? Dieß Gefühl kömmt schwerlich in Gemüthern auf, die die Liebe als eine angenehme Fortsetzung ihrer Kindheit nehmen, die sich trotz ihrer Jugend höchst gewandt in ihr neues Haus installiren und fast immer hartnäckig und trotzig darauf sind, daß sie den Mann wählten und dann gern mit der Redensart zur Hand sind: Wenn dir meine einfache Liebe nicht genügt, so -- Diese Ehen enden entweder damit, daß sie zwei unglückliche Menschen machen, falls im Manne ein eigner Sinn und vielleicht selbst Eigensinn wohnt, oder zwei Eheleute, die sich dulden und recht gut sind, ob sie gleich den ganzen Tag im Haus herumschlorren und immer zu brummen und zu zanken haben.

Das zweite Bindemittel der Herzen haben wir Calcul und Berechnung genannt, hätten es aber auch eben so gut freie Wahl und die Vernunft in der Leidenschaft nennen können. Der Unterschied ist nur der, daß man eine Zeit lang gewartet hat, daß man älter geworden ist, als die, die sich unter der ersten Rubrik schon verheirathet haben. Es ist ein großes Unglück für die Frau, auf einen Mann zu warten, aber ein ansehnlicher Gewinn für den Mann, den sie endlich wählt. Wenn man das nur vollkommen genießt, wonach man eine Sehnsucht empfunden hat, so kann auch die Liebe erst den beseligen, der sich auf sie vorbereitete, und der ihr schon resigniren wollte, als er eben plötzlich am Ziele ankömmt. Die zweite Liebe ist sogar der ersten vorzuziehen; schon weil man die Fehler vermeiden kann, die die erste aufgelöst haben. Es wird mir immer willkommner seyn, wenn mir meine Geliebte sagt, daß sie mich gewählt habe, als wenn sie sagte, daß ich ihr vom Himmel beschieden bin! Bin ich das letztre, so stehen wir unter dem Gesetze einer Nothwendigkeit, die, wenn wir sie zur Freiheit erheben wollen, immer mit einem Zanke endet. Bin ich das erstre, so verband uns ein freier Akt, der, zur Nothwendigkeit erhoben, eine Quelle der reinsten Beseligungen ist. Wir verschweigen nicht, daß die Ausartungen dieser Kategorie die Prüden, die Sentimentalen, die Magnetischen, die Gefallsüchtigen und zuletzt die alten Jungfern sind.

Die Ehen unsres Jahrhunderts sind weit mehr compromittirt, als die des vergangenen. Ehemals waren die Verhältnisse, welche die Grundlage der Ehe bilden, weit geordneter, als jetzt. Das ganze familiäre Leben klang harmonischer zusammen. Bei uns sind durch die Zeiten tiefe Risse in die Familien gekommen, die Familien bilden keinen einigen Gesammtkörper mehr, sondern stehen sich mit ihren Interessen und oft sehr schwierigen Aufgaben kalt gegenüber. Das politische Leben hat eine Menge Laufgräben durch die bürgerliche Existenz gezogen, weniger, um sie zu vertheidigen und zu befestigen, als sie in eine Art von Belagerungszustand zu versetzen. Die Geschichte macht jetzt an die Männer beinahe dieselben Ansprüche, wie die Familie, und es ist dadurch ein nicht unwesentlicher Hebel des neuern Romans jener Zwiespalt geworden, mit welchem sich die Interessen der Welt und des Herzens gegenüber stehen. Recht bürgerlich und platt-patriotisch ist dieß neue Prinzip, das Prinzip der Nationalgarde. So kann man meistens dieses Halbpart! bezeichnen, welches bei ihrem Manne das Leben dem Weibe zuruft! Wir wollen den höhern Offenbarungen dieses Leidens nicht nachspüren; denn in ihrer Höhe haben sie sich zu allen Zeiten wiederholt. Aber dieser Zwiespalt eines Nationalgardisten, der aus seinem Ehebette springen muß, um in baumwollner Nachtmütze das Feuer einer Revolution zu löschen, dieses Malheur ist das des Jahrhunderts und greift tief in unsre modernen Sitten und Anschauungen, selbst in Betreff des Familienlebens ein.

Die Frauen unsrer Zeit befinden sich in einem zweideutigen Zustande. Sie scheinen einer transitorischen Krisis unterworfen, einem Zustande, der nur auf einstweilen halten wird. Die Frauen, isolirt, von den Männern vernachlässigt, haben sich zuvörderst entschlossen, es den Männern nachzuthun. Sie erlernten die Wissenschaften, sie eignen sich auch die physische Kraft der Männer an. Sie baden sich im offnen Strome, sie schwimmen; ja, man sieht sie sogar mit Schlittschuhen über gefrorne Teiche fliegen. England hat davon noch keine Ahnung. Aber unsre Frauen zählen hier auch nicht mit. Sie haben eine ganz eigenthümliche, von Gott nur für sie bestimmte Complexion. Ich gönne ihnen den Stolz, den sie über ihre Beschränkung empfinden, und gestehe gern zu, daß man eine eigne Geschichte ihres Geschlechts schreiben könnte, wenn nämlich in der Geschichte der Prüderie und Medisance seit dem vorigen Jahrhundert so wichtige Veränderungen vorgefallen seyn sollten.

Man kann nicht von der Bildung der Frauen sprechen, ohne erst die Untreue der Männer zu erwähnen. Ich meine jene geistige Untreue, welche mit dem öffentlichen Leben, der Kunst, mit seinem Unterhalt täglich Hochzeit hält und das Weib daheim in Einsamkeit läßt. Aus dieser Einsamkeit heraus entwickelt sich jene eigenthümliche Anschauungsweise, welche die Frauen unsrer Tage charakterisirt. Im Durchschnitt werden sie alle gegen das Uebermaß der Gefühle protestiren, sie haben in ihre Empfindungen etwas Kaltes aufgenommen, das vielleicht auch in einer größern Stumpfheit der Nerven bestehen könnte. Unsre Frauen haben dadurch, daß man durch unsre sehr mittelmäßige pädagogische Literatur immer nur auf ihre Bestimmung hinarbeitete, auf die Tochter, auf die Confirmandin, auf die Braut, auf die Gattin, auf die Mutter, vergessen, jenes rein Weibliche, das sich durch alle diese Zustände doch hindurchziehen müßte, zu cultiviren. Indem sie immer nur an die Zielpunkte denken lernen, vergessen sie, was zwischen ihnen in der Mitte liegt. Man kann sogar eine gewisse Furcht wahrnehmen, dem unmittelbaren Drange der Natur, wie sie in uns wirkt und gewirkt wird, sich hinzugeben, wie ich denn eine Frau kenne, die um keinen Preis es über sich gewinnen kann, den Moment zu ertragen. Sie windet sich unter dem, was ihr Schmerz und Freude verursachen könnte, und sucht, wie irgend möglich, beiden zu entfliehen. Als sie einen Freund wiedersah, nachdem sie sich Jahre lang gesehnt hatte, lief sie in einen versteckten Winkel des Hauses und zitterte, weil sie nicht die Kraft hatte, den Moment tüchtig und kräftig durchzuempfinden. Im Schmerze ist sie eben so schwach. Sie jammert nicht: das will ich nicht sagen; aber sie sucht das Ernste wegzuleugnen, sie klammert sich an Etwas an, das zerstreuende Kraft ausüben könnte. Sie ist nicht mitten drin in dem, was sie fühlt; und doch ist sie ein herrliches Geschöpf. Die Erziehung ist hier an Allem Schuld.

Die Frauen unsrer Zeit scheinen es zu ahnen, daß so viel Begriffe und heilige Thatsachen von ihren Männern angetastet werden, und haben zu der herrschenden, etwas frivolen sozialen Philosophie ein eigenthümliches Verhältniß. Sie wandeln am Rande eines Abgrundes, ihr weißer Saum flattert am Winde, sie wandeln mit Angst, weil sie den Abgrund ahnen und ihn nicht sehen. Es bemächtigt sich unsrer Frauen oft ein eignes sinniges Nachdenken, welches sie in Strudel hineinreißt, von wo sie nur durch die Liebe oder ihr Temperament wieder herauskommen. Unsre Frauen lieben es, wenn sie begabterer Natur sind, sich mit den Männern in Zweifeln zu ergehen, die all' ihren moralischen Fond aufzehren könnten, wenn nicht die Männer unsers Jahrhunderts den philosophischen Zweifel dem vorangegangenen überlassen hätten und sich mit andern Negationen beschäftigten. Ob sich diese Erscheinung schon in den Sitten nachweisen läßt, möcht' ich nach einigen Beispielen noch nicht behaupten. Es sind auch diese Beispiele mehr aus dem französischen neuen Romane, als aus der Erfahrung hergenommen. Wenn Madame Düdevant in ihren Poesien Recht hat, so ist es nur so weit, als Lelia Georg Sand selber ist.

Machen wir, indem wir jetzt zu den Männern zurückkehren, den Schluß dieser Skizze damit, daß wir noch einige Fragen der Natur, der Moral und der Politik mit individueller Rücksicht zu beantworten suchen.

Wir wollen im Verlaufe dieses Werkes die Höhen unsres Jahrhunderts erstürmen. Welche Truppen können wir gegen die Verschanzungen anführen? Welche Gestalten schließen sich unsrer bald beginnenden Expedition an?

Der jetzige Sultan wird besonders deßhalb von den Türken gehaßt, weil er den Ruf ihrer männlichen Schönheit vernichtet hat. Indem er den europäischen Kleiderzuschnitt bei der Armee einführte und die weiten Gewänder und Beinkleider abschaffte, stellte er plötzlich aller Welt die krummen aus- und einwärts gebogenen Beine dar, welche sich bei den Türken durch ihre sitzende Lebensart traditionell gemacht hatten. Dasselbe erlebte Europa, als es die Kleidertracht des achtzehnten Jahrhunderts abwarf. In den weiten, bauschigen Gewändern der alten Mode hatte sich Alles das verbergen können, was jetzt verlassen, knapp, bekleidet und jeder Kritik unterworfen dastand. Die zusammengeschrumpften Gliedmaßen mußten sich strecken, dem Körper mußte eine vorzügliche Pflege zugewandt werden. Seither werden wir finden, daß die Leiber unsrer Zeit so ziemlich schlicht und pappelhaft gewachsen sind. Doch gestehen wir es nur, wir sehen Alle ziemlich blaß aus und haben Reißen hier und da. Der Wuchs ist schlank und stolz; doch fehlt es an Uebeln nicht, die in der alten Zeit weniger allgemein waren.

Es gibt zwei Siechthümer: eines der Armen und eines der Reichen. Das letztre fand zu allen Zeiten Statt und steigerte sich nur in einer gewissen Beziehung, für die ich keinen Namen, sondern nur ein Beispiel habe. In großen Städten, besonders solchen, die eine eigne Separatverfassung haben, findet sich eine immer mehr gesteigerte Tendenz zum Krüppelhaften. Dieß ist nicht die Folge des Wohllebens, sondern eine physiologische Folge, die sich aus einer kümmerlichen Moral ergibt. Die Heirathen pflegen dort nämlich überzwerg aus einer Familie in die andre überzugehen, selten mit recht heißer Liebe, fast immer nach längst vorangegangener Bekanntschaft, die das Ueble für Liebende hat, daß es ihren Produktionen das kräftige Inkarnat der Neuheit nimmt. Ihre charakteristischen Züge haben sich durch langes Sehen und Beisammenleben ausgewischt. So hat selbst das Kind eines solchen Verhältnisses einen Zug, der es sogleich der Familie einverleibt und ihm von vornherein schon einen Typus gibt, der immer nach der Schlafmütze der Großältern zu greifen scheint. Die Heirathen in der Verwandtschaft vernichten alle freie Ausbildung der Individualität; die Natur hat nicht Freiheit mehr und Raum, sich schöpferisch und originell zu bewähren. So kömmt es, daß z. B. in der reichen Stadt Hamburg so wenig körperliche Schönheit unter den Gebildeten zu finden ist, und daß man sie unter den Elementen suchen muß, welche vom Lande in die Stadt kommen, um dort entweder ihre Milch oder ihre Unschuld zu verkaufen. Die Aristokratie der Geburt ist zuletzt diejenige, welche Krüppel erzeugen würde. Dieß ahnte die englische Gentry und hat von jeher, nach Heinrichs VIII. verwünschtem aber originellem Beispiele sich immer aus den untern Volksklassen in ihrem stockigen Blute wieder auffrischen lassen.

Allein die niedern Stände sind selbst von der Gefahr bedroht, die Consistenz ihres Gesundheitszustandes immer mehr zu verlieren. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie in Fabrikstädten die meisten Arbeiter schlank und schön gewachsen sind, und wie sie doch von der Arbeit und den mannigfachen technologischen und Fabrikationseinflüssen, die in der Einsaugung giftiger Stoffe bestehen, ein sieches und mattes Ansehen haben. Die Kartoffel hat sich zu diesem Verderben hinzugesellt. Denn, indem sie das einzige ist, was diese Menschen erhält, ist sie auch dasjenige, was sie tödtet. Man weiß, wie viel Blausäure verhältnißmäßig die Kartoffel enthält, man weiß, daß sie stimulirende Kräfte hat, welche auf das Malthus'sche Schreckbild vermehrend einwirken. Mit der steigenden Zahl der Kinder vermindert sich die Pflege derselben. Durch die Kartoffel wurden sie geboren, durch die Kartoffel werden sie sterben. Aus den Scropheln winseln sie sich heraus, in hundert Uebel, die die Folge derselben sind, hinein. Man vergesse diese Thatsache des Siechthums nicht, und wenn wir die sublimsten Ideen unsrer Zeit zergliedern! Sie folgt überall hin dem Geiste des Jahrhunderts nach, ja sie gibt ihm ein besonderes Gepräge, sie steigert ihn sogar. Denn je unzuverlässiger der Leib ist, desto mehr strebt die Seele nach Entschädigung. Das physische und materielle Elend ist längst ein Uebel unsrer materiellen Zustände geworden, nicht blos in dem Sinne, daß es die Leidenschaften aufregte, sondern sogar in dem, daß es sie milderte. Die Revolution und der Pietismus, beides sind die extremen Folgen der im Volke verbreiteten materiellen Unzulänglichkeiten.

Die Moral erbaut sich über das, was der Körper anrathet, zuläßt und verbietet. Man kann darin bis zu einem Spiritualismus steigen, wo das Gefühl des Körpers verschwindet. Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Prinzipien ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der Bildung war, die die Menschen unsrer Zeiten über ihre angebornen Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht.

Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Interessen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann. Wir würden uns höher erheben, wenn wir nicht von so tief unten her anfangen müßten. Ich vertheidige den Egoismus der Zeit nicht; ich such' ihm nur eine günstigere Beurtheilung zuzuwenden.

In Epiktets Moral finden sich zwei Gedankenreihen, die zwar in dem Systeme der stoischen Schule nur eine seyn sollten. Die Ruhe des Weisen ist unleugbar eine Mischung aus Stolz und Gleichgültigkeit. Wir sind eben so unleugbar trotz aller philosophischer Moralsysteme, die in unsrer Zeit aufgestellt wurden, doch im Allgemeinen, in der großen Praxis der Masse und der vorzüglicheren Individuen, die sie bestimmen, weit mehr dem Stoicismus, als selbst dem Christenthume hingegeben. Das Christenthum erleidet keine schlagende Anwendung auf die Geschichte. Es belohnt den Menschen nicht für seine Resignation; denn ist Demuth, welche das Ende all unsres Strebens seyn soll, nicht eine neue Aufopferung? Der Stoicismus lohnt aber; denn der Stolz, auf welchen er hinstrebt, ist Ersatz genug für die Gleichgültigkeit gegen alle Dinge, deren der Weise sich auch nur mit Preisgebung angenehmer Eindrücke befleißigen kann. Individuen, welche sich selbst bilden, die sich isoliren und einen gesunden Körper haben, werden in ihren Gedanken immer auf den Stoicismus hinauskommen. Das achtzehnte Jahrhundert kannte diese Moral mit all dem Stolze, der ihre Seele ist. Wir sind ihr noch ergeben, wenn wir auch mehr ihr egoistisches Prinzip cultivirt haben und statt dem Stolze, der Gleichgültigkeit zueilen.

Wenn es eine Folge der immer mehr um sich greifenden Bildung ist, daß man über seine Sphäre sich zu erheben sucht, so wird die Moral hier immer mehr in die Enge kommen. Die gesteigerte Bildung steigert wiederum die Bedürfnisse, und sie auf diese oder jene Weise zu befriedigen, wird man schon durch das Ammenmährchen des Gewissens wenig gehindert. Die Verbrechen nehmen, wie die Criminalstatistik ausweist, mit steigender Bildung zu. Alles drängt sich nach oben hinauf und tritt schonungslos nieder, was ihm im Wege steht. Unsere heutigen Philosophen scheinen zu fühlen, daß die Verbrechen jetzt mehr durch einen Zug, der in der Zeit liegt, verübt werden, als durch individuelle Verdorbenheit. Aber das Mittel, was sie gegen dieses Uebel anwenden wollen, die Milde der Strafen, ist wenig geeignet, Einhalt zu thun. Man sollte auf die Zeit selbst zu wirken suchen und ihr die gedankenlose materielle Tendenz zu nehmen suchen, welche sich bedeutend mildern würde, wenn unsre Erziehung mehr für die wirkliche Welt geschähe, und wir in der Schule schon lernten, vom Leben nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Es gibt eine dunkle Schattenpartie im menschlichen Gemüthe, die sich, vielleicht durch den vorwitzigen Magnetismus beschworen, an's Tageslicht zu drängen sucht. Allein sie kündigt sich durch keine Thaten an, die dem Zwecke der Gesellschaft entsprechen. Die Revolutionssucht, die sich bis zum Königsmorde in unsern Tagen gesteigert hat, ist eine Erscheinung dieser zweideutigen Art, von der man nicht sagen kann, ob sie etwas ursprünglich rein aus der menschlichen Natur Quillendes, ein nur unsern Zeiten gewordenes Phänomen ist oder eine Folge der unsre Zeit charakterisirenden Gedankenlosigkeit, die nichts Absolutes ist, sondern es duldet, daß sich alle Fähigkeiten und moralische Anlagen auf einen Punkt hindrängen und in einer Manie zum Ausbruch kommen, wo, wie bei den Mördern Louvel, Fieschi, Alibeaud, Sand, alles übrige Gute und Schlechte in eine Indifferenz sich amalgamirt, daß man nicht mehr weiß, wo die Größe aufhört, und das Verbrechen anfängt. Hier sehen wir, wie dringend eine Verbesserung unsrer gesellschaftlichen Zustände Noth thut, da wir sonst in die Verlegenheit kommen werden, alle Thatsachen unsrer bisherigen Moral zu verlieren, oder Gefahr laufen, von unsern Kindern ausgelacht zu werden, wenn wir ihnen sagen: Dieß ist weiß, und dieß ist schwarz!

Man beobachte unsre Zeitgenossen, und man wird finden, daß sie in einem Stück Riesen und im andern Pygmäen sind. Klein sind unsre häuslichen Tugenden, klein ist alles Verdienst, das wir auf die Bildung und Veredlung unsres Herzens verwenden. Die Religion werden wir ebenso wenig andächtig verehren, wie wir nicht den Muth haben, sie zu verwerfen. Dieß ist unser Indifferentismus. Wir lesen wohl gar mit Vergnügen ein sinnliches Buch und billigen es, wenn der Verfasser desselben dafür bestraft wird. Es ist das die Consequenz einer Zeit, wo die Philosophen lehren: »Es gibt zwar einen Gott, aber man kann sein Daseyn nicht beweisen.«

Die stille, sanfte Wärme des Gemüthes ist unsrer Zeit fremd. Dichter, welche auf sie zu wirken suchen, werden einsam dastehen und verhungern. Aber wer die lodernde Flamme der Leidenschaft zu schüren weiß, wer sein Licht in jenen Zugwind stellt, wo man Fackeln haben muß, um sie nicht vom Winde auslöschen zu lassen, dem folgt die jubelnde und schnell erregte Menge. Denn man muß eingestehen, daß Alles, was von energischer und origineller Moral in unsrer Zeit vorhanden ist, von der Beziehung des Individuums zum Allgemeinen ausgeht. Haben wir Tugenden, so sind es politische, oder, was dasselbe sagen will, polemische. Weiche Charaktere wurden stark, wenn sie mit den Ereignissen in Berührung kamen. Pépin weinte, als er vor'm Pairhofe stand, und rauchte hinausfahrend auf's Schaffot gemüthlich seine Pfeife. Die Situationen sind schwieriger geworden in unsrer Zeit, und da Selbsterhaltung unser egoistisches Prinzip ist, so wachsen uns in schwierigen Momenten die Schwingen, so daß aus Hänflingen Geier werden. Es ist zuletzt der Enthusiasmus der Ueberzeugung eine Kraft geworden, die unsrer Zeit mit den Anfängen des Christenthums und der Reformation eine Aehnlichkeit gibt. Wäre der Glaube, der unsre Zeit bewegt, ein gen Himmel gerichteter, wir würden bei unsern Zeitgenossen ein noch weit größeres Entzücken, den Scheiterhaufen zu besteigen, wahrnehmen, als wir jetzt schon knirschende Ergebung und stille Freudigkeit bei denen antreffen können, welche in den Gefängnissen zurückgehalten werden, ihrer Meinung wegen.

Die Tugenden unsrer Zeit fangen erst dann an, wenn sie gegen das Hergebrachte anstoßen und uns mit dem Schrecken erfüllen, es könne wirklich eine andre Moral geben, als die der Tradition. Da wird gelogen und betrogen; aber nach dem schönen Beispiel, wie Pylades log, als er sich für Orestes ausgab. Da wird gemordet; aber wie Timoleon mordete, der die Tyrannen vertrieb. Da werden Eide gebrochen; wie Epaminondas seinen Eid brach, als er wider Pflicht und Befehl den Sieg bei Leuktra gewann. Da werden Dolche in die Brust gesenkt, wie Cato that und Otho, von denen der eine nicht die Schmach der Republik, der andre seine eigne nicht überleben wollte. Bei solchen Gedankenverbindungen -- da werden wir sie laufen und rennen sehen, geschäftig, thätig, glühenden Auges, unsre Väter, Brüder und Kinder; hier ist das Centralfeuer, von welchem aus unser Leben seine Wärme erhält. Hier hat das Jahrhundert keine Scropheln mehr, keine krummen Beine, ißt keine Kartoffeln, hungert nicht und siecht; sondern jetzt haben sie alle die Genüge und Fülle an himmlischer Kost und glänzen wie die Auserwählten des Herrn, die auf weißen Streitrossen in goldner Rüstung zum Kampfe mit den Mächten der Finsterniß ziehen!

Dieß sind die Menschen, wie wir sie brauchen werden, um das Gemälde unsrer Zeit vollkommen zu geben. Mit diesen Charakteren schuf sich Napoleon seine Welt, mit diesen wurde sie zertrümmert. Mit diesen Charakteren kämpft die Positivität, die Diplomatie, auch die Wissenschaft. Wenn wir jetzt einen Abriß unsres Jahrhunderts mit großen und gewölbten Strichen entwerfen, so vergesse man nie, daß die Menschen, die es beleben, verschiedenen Ursprungs sind, und daß sie, wenn sie auch eben noch in der Nachtmütze vor einem Glase Porterbier saßen, sich doch plötzlich in St. George verändert haben können, die uns wie Besessene zusammenreiten, und mit denen kein Auskommen mehr ist.


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