Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Erziehung.

Wir sind allmählig, was den Faden unsrer Betrachtungen betrifft, aus der materiellen Sphäre in die moralische gestiegen. Unserm früher entworfenen Plane gemäß sollen jetzt die Beziehungen, welche sich an die menschliche Seele anknüpfen, die zweite Reihe unsrer Unterhaltungen bilden. Erziehung, Sitte und Moral werden uns in drei hintereinander folgenden Kapiteln beschäftigen, eine Reihe von Gedankenvariationen, welche zwischen der Materie und der Reflexion die Mitte halten und alle das menschliche Gemüth zum Grundthema haben.

Allgemeinheiten über die Erziehung vorzubringen halt' ich eines Schriftstellers, der im vollen Bewußtseyn seiner Kräfte ist, für unwürdig. Die meisten Gemeinplätze finden sich in den Erziehungstheorien; die unbeholfensten Geister nehmen einen Schein von praktischem Talente an, wenn sie über Erziehung sprechen. Wären wir über diesen Gegenstand nur erst in die Nähe jenes Ziels gekommen, welches das achtzehnte Jahrhundert deutlich genug vorgezeichnet hat! Der Humanitätsenthusiasmus jener Zeit war hauptsächlich auf ein verbessertes und veredeltes System der Erziehung begründet; was jene glänzenden Geister, welche die Strahlenkrone des vorigen Jahrhunderts bilden und die ihm sein eigenthümliches Lüstre gaben, über Menschenerziehung gesagt haben, hat so viel guten Grund, daß wir schwerlich früher über den Gegenstand etwas Neues aufstellen dürfen, ehe wir nicht ihre Vorschriften vollständig erfüllt zu haben uns rühmen können. Wie wir überhaupt nur für die Ideen des vorigen Jahrhunderts in unsrer Zeit die Anwendung, für die alten Ideenklingen die neuen praktischen Stiele und Griffe suchen, so haben wir auch die Erziehungstheorien jener Zeit jetzt durch bessere Schuleinrichtungen zu verwirklichen gesucht; allein neue Wahrheiten über das Verhältniß des Kindes zu seinen Eltern und zu seiner eignen Zukunft wurden nicht entdeckt. Wie sollte dieß auch, da die öffentlichen Thatsachen wahrlich nicht von der Art sind, daß sie die einfache Lehre von der abstrakten Menschenwürde, welche der Philosophie des vorigen Jahrhunderts zum Grunde liegt, hätten ersetzen können. Welche historischen Resultate haben wir gewonnen, um daran die Schößlinge der Erziehung aufzuranken; wir hörten Begebenheiten über unsern Häuptern wegrauschen, wir sahen Charaktere, welche die Fahne ergriffen und, die Brust den Kugeln der Feinde zugewandt, in die Bresche stiegen. Wir folgten selbst nach, begeistert für irgend ein Symbol, für eine Farbe, ein Losungswort; allein noch ist unsre Philosophie nicht zu der Grausamkeit gesteigert, daß wir von der Jugend blos verlangten, sie müsse erzogen werden, um Sklaven der Begebenheiten, Zielpunkte der feindlichen Kugeln, blose Echo's der Parteimeinungen zu werden. Nein, was wir Würdiges und Hohes über die Menschheit glauben, das ist noch immer nicht verschieden von jenem Begriffe der Humanität, welcher das Ideal der klaren und hochherzigen Denkart des vorigen Jahrhunderts war. Menschen zu bilden, ist noch immer das Losungswort, nur daß die alte Zeit gestattete, sich menschlich zu bewähren im Frieden, die neue Zeit aber verlangt, den Menschen zu entfalten, selbst in dem Sturm unsrer, durch so mannigfache Umstände hervorgerufenen und in steter Nahrung erhaltenen Kämpfe. Möge es daher dem Misch- und Detailcharakter unsrer Zeit nicht unangemessen erscheinen, wenn ich mein Kapitel über die Erziehung statt mit Maximen, lieber mit Porträts beginne. Ich will aus meiner Bekanntschaft mehrere Individuen hervorgreifen, welche uns besser als Raisonnement die gegenwärtige Lage unsres Erziehungswesens werden vergegenwärtigen können. Ich beginne mit Master Schlehsack.

Schlehsack ist der Sohn eines Webers und lernte das Handwerk seines Vaters. Er selbst pflegte zwar zu sagen, er hätte es lernen müssen; allein sein Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, er hätte auch etwas anderes kaum lernen können. Peter Schlehsacks Vater hielt es mit einer Methodistengemeinde. Er besuchte die Abendzirkel derselben und sang dabei einen sehr unreinen, aber doch in Gott freudigen Tenor. Peter Schlehsack, der Sohn, erbte die Neigung seines Vaters und bekam bald jene den Pietisten eigenthümliche fixe Idee, daß sie sich zu irgend einem großen Zwecke vom heiligen Geiste getrieben glauben. Peter hatte nächtlich seine Visionen, er sah sich auf der Kanzel predigend und lehrend, im schwarzen Leibrock mit der Perrücke; er behauptete, daß ihn der Herr triebe, sein Kreuz zu predigen. Als Weber schlug Peter nicht ein; der Einschlag mißglückte, er verwirrte die Garnfäden seiner Stuhlmaschine, er war zu nichts nütze und verdiente die Ohrfeigen seines Vaters mit Recht. Endlich offenbarte sich Peter einem Geistlichen und erklärte, daß er studiren müsse. Dieser zog einen frommen Kapitalisten zu Rathe und es ergab sich eine kleine Summe, um Peter Schlehsack studiren zu lassen. Er beginnt mit Latein, es setzt sich der alte Bursch unter die kleinen Rangen, die ihn an Klarheit der Auffassung und Gedächtnißkraft bei weitem übertreffen. Mit Mühe steigt er aus der untersten Klasse einige Stufen höher. Es ist die Bewegung eines Faulthiers, das zwar recht fleißig ist, aber die Zeit längst verpaßt hat, wo man etwas lernen kann. Ich sehe Peter Schlehsack vor mir, wie er, der alte Backenbart, wie die Eule unter den Sperlingen sitzt und verspottet und geneckt wird. Sie binden seinen Fuß heimlich an eine Bank an, so daß er, wenn er aufsteht, fallen muß. Sie nehmen ihm seine Ausarbeitungen fort, um ihn den Bestrafungen der Lehrer auszusetzen und sich zu weiden an den Betheurungen seiner Unschuld. Wenn der Lehrer der Klasse eine schwierige Frage vorlegt, die niemand zu beantworten weiß, am wenigsten Peter Schlehsack, so erhebt sich plötzlich eine Stimme und sagt: »Schlehsack weiß es,« oder es heißt, »Schlehsack will etwas sagen,« wobei die zornige und etwas rohe Art, wie er hierüber seine Entrüstung ausspricht, es sogar noch dahin bringt, daß er für den Andern bestraft wird. Eines Tages soll Schlehsack eine Rede halten; der Lehrer schmeichelt sich, irgend einen guten künftigen Parlamentsredner zu entdecken und gibt zur Uebung ein allgemeines Thema über den Aberglauben. Wer sollte mehr Beruf haben, sich hören zu lassen, als der alte Bruder, der, um einst Pfarrer zu werden, sich hier mit Griechisch und Latein quält? Er betritt den Katheder und beginnt mit lispelnder Stimme und gen Himmel gerichteten Augen: »Als -- Gott -- dem -- Menschen -- seinen lebendigen Odem in die Nase blies ....« Dieser Anfang erregte allgemeines Gelächter; der Lehrer, um seine eigene Reizung der Lachmuskeln zu verbergen, verlangte das Manuscript der Rede und ersah daraus, daß Peter Schlehsack, um über den Aberglauben zu reden, die ganze Schöpfungsgeschichte des Menschen erzählt hatte. Schlehsack mußte abtreten und kam sich in diesem Augenblicke wie Luther vor, dem ein Concilium den Vortrag seiner Lehrmeinungen untersagte. Seit dieser verunglückten maidspeach machte Schlehsack auffallende Rückschritte; er konnte bei keinem Avancement mehr flott werden, blieb mehrere Jahre in jener Klasse, wo er seine berühmte Rede über den Aberglauben hatte halten wollen und verlor zuletzt die Unterstützung jener frommen Herren, welche gehofft hatten, aus diesem Klotz einen Stab für Israel zu schnitzen. Er verließ die Schule, weil man seine Fähigkeiten zu gering achtete, um sie ihm unentgeltlich zu gestatten. Sein Vater machte ihm schon wieder den Sitz am Webstuhle zurecht. Doch nun erklärte er, wenn auch nicht Prediger, doch wenigstens Lehrer werden zu wollen. Nach jahrelangem Bemühen hat er es endlich dahin gebracht, daß er die Leitung einer kleinen Landschule erhielt, deren Ertrag kaum hinreicht, ihn vor dem Hunger zu schützen.

Eine andere Figur unter den Volkslehrern spielt jener junge Mann, der eines Morgens zu Fuß in das kleine Städtchen tritt, welches der Sitz eines Schulmeisterkollegiums ist. Auch er hat, wie der Sultan außer dem Schulregiment, welches er erst erlernen will, schon etwas anderes gelernt, nämlich ein Handwerk. Er ist das, was sein Vater ist, nämlich Schneider, und will das werden, was sein Vater ebenfalls ist, nämlich Schulmeister. Auf dem Lande pflegen diese beiden Handthierungen nicht selten verknüpft zu seyn. Die Löcher, welche sich die Kinder auf den Bänken der Schule in ihren Kleidern reißen, können auch in der Schule wieder zugenäht werden. Die Einkleidung des Geistes und des Körpers geht von einer und derselben Kunstfertigkeit aus. Der Sohn wird einst vom Vater die Elle, welche auch zugleich der Schulbakel ist, erben. Er verläßt auf einige Jahre das väterliche Haus, um zu lernen, wie viel Reiche in der Natur es gibt, wie vielerlei Fische in dem Tweed hausen, in welchem Jahre Julius Cäsar gestorben ist und wie man ein geschickter und besorgter Bienenzüchter wird. Diese Leute müssen außerordentlich viel Eigenschaften in sich vereinigen. Ja es wird von ihnen nicht allein verlangt, daß sie im Choral singen, sondern daß sie auch die Geige dazu spielen. Seitdem das Kumuliren der Aemter so eingerissen ist, übernehmen die Schulmeister auch die Dienste der Kirche und müssen sich des Orgelspiels befleißigen. Kurz wenn diese Leute später ein gewisses närrisches und übergeschnapptes Wesen bekommen, so liegt die Schuld davon nur in der Fülle von Gegenständen, mit welchen man ihre geringe Fassungskraft überladen hat. Ich habe noch immer gefunden, daß Männer, welche mehr lernten als wozu sie die Weihe, den Beruf und fast die Kraft hatten, ein sehr abgeschmacktes Wesen annehmen. Man wird es zum Beispiel immer finden bei den sogenannten commis voyageur, bei Kellnern, welche mit der Anstrengung, mit welcher man andern Leuten die Zähne auszieht, sich die Kenntniß einer fremden Sprache angeeignet haben. Sie sind fortwährend in einem ekstatischen Zustande, sie können den Mund nicht halten, und überhaspeln sich in ihren Reden so sehr, daß sie zuletzt auf Narrheiten hinauskommen. Sie verlernen auch ihre eigne Muttersprache und fangen an, wie gebrochen zu sprechen; sie übersetzen gleichsam, was sie in ihrer Muttersprache sagen wollen, erst aus der angelernten fremden Sprache. Mir scheint es in der That ein partieller Wahnsinn zu seyn, der mir vor der krampfhaften Ueberbildung der Ungebildeten immer Furcht einflößt. Der menschliche Geist hat seine Gesetze und Stufen, er ist so organisirt, daß man seine Mittelglieder nicht überspringen darf. Schnell und krampfhaft zusammengeraffte Kenntnisse, welchen man keine Unterlage geben kann, sondern die man mit den Sporen der fürchterlichsten Anstrengung in sein Gedächtniß einhackt, werfen das ganze Gleichgewicht der Maschine um und machen, daß in dieser Art gebildete Leute oft wirklichen Narren ähnlich sind.

Die Pedanten stehen in unserer Zeit einsamer als früher, wo es noch an öffentlichen Thatsachen fehlte und die Philosophie noch mehr in alterthümlichen und scholastischen Formen befangen war. Um so mehr fällt jetzt eine Erscheinung wie die des Herrn Titus Pomponius Sylbenstecher auf. Es mögen in England noch ein hundert Exemplare vorhanden seyn, die die Presse des Zufalls ganz von demselben Satze, wie jenen, abgezogen hat. Die in England herrschende klassische Bildung verlockt allerdings mehr zum Pedantismus, als anderswo; allein die kursorische Lektüre der Alten, die bei uns eingeführt ist; der Vorzug, welchen man bei uns dem Inhalt der alten Schriftsteller gegen ihre Form schon auf der Schule einräumt, bewahrt uns, daß die ganze gelehrte Erziehungsmethode auf den Buchstaben so begründet ist, wie z. B. in Deutschland. In Deutschland spricht man weit mehr von der alten Grammatik, als von der Philosophie, Moral und Staatsweisheit des Alterthums. Man entläßt die Zöglinge auf die Akademie mit der Phrase: wir haben in euch den Baum der Humanität gepflanzt .... und hat ihnen doch nichts anders in das Gedächtniß geprägt, als z. B. eine ellenlange Reihe von Zeitwörtern, die ihre zukünftige Zeit in der handelnden Form passivisch bilden oder ähnliche große Wahrheiten über die Partikelwelt, die man auf dem stürmischen Meere der allgemeinen Zeitgeschichte und seiner speciellen Existenz nun brauchen soll als Schwimmblase, Rettungsboot, oder wozu die Wissenschaften doch sonst in der Verlegenheit uns dienen müßten. Es ist wahr, einige englische Pedanten, die sogar Bischöfe geworden sind, haben diese Unfruchtbarkeit der klassischen Studien durch ihre eignen beschränkten Beschäftigungen noch höher getrieben. Wie viel geistlose Lexikographien und Glossarien sind nicht z. B. von Männern ausgegangen, wie dem Bischofe Blomfield? Unser Titus Pomponius Sylbenstecher ist ein Seitenverwandter von ihm und der Fürsorge seines Herzens innigst betraut. Er hat ihm geholfen bei der Zusammensetzung seiner Glossarien über den Aeschylus, welche nicht eine einzige feine Bemerkung, sondern nur die äschyleischen Tragödien selbst, in lexikographischen Schutt verwandelt, obwohl nach dem Alphabete eingerichtet, enthalten. Titus Pomponius ist der Sohn armer Eltern und fand durch Protektion die Mittel, um studiren zu können, wenigstens theilweise, denn sie würden doch nicht hinreichend gewesen seyn, wenn er nicht durch Lektionen, die er schon früh gab, die, welche er selbst noch brauchte, gedeckt hätte. Es war niemals ein freier Blick, mit welchem Sir Titus in die geöffneten Pforten des Alterthums trat. Die großen mit Epheu und Lorbeer umwundenen Pforten desselben waren ihm zu vornehm und stolz, er schlich wie ein Bettler sich um die Mauer herum, kletterte über die antiken Trümmer und Schutthaufen, er stahl sich in jene große Welt, die dahin gegangen, ein und machte sich selbst an dem Göttermahle der klassischen Vorwelt zu einem ungebet'nen Gast, der unter den Tisch gehört, und welchen man bei römischen Schmäusen einen Schatten nannte. So ist bei Titus Pomponius in Haltung und Geberde nicht ein Schimmer von jenem Sternenlicht der griechischen und römischen Schriftsteller, die uns aus der Nacht der Vergangenheit zuleuchten, sichtbar; seine Gestalt ist gebückt, sein Auge matt, sein Gesicht voll Runzeln, sein Athem ist kurz und besitzt jene Eigenschaft, von welcher Caska in Shakspeares Julius Cäsar eine Ohnmacht befürchtete; er ist ein Bettler auf den Trümmern, wo man nur König seyn sollte, begibt sich auch selbst aller Ansprüche auf ältere und erwachsene Leute, nur der Jugend gegenüber verwandelt er seine Krücke in einen Zepter und bläut ihr mit jenen Knochen, die er vom Göttermahle erhaschte, nicht das, was Jupiter ist, sondern den Dialekt ein, in welchem er zu den Griechen gesprochen hat. Die liebe Jugend! Ihr gegenüber wird jeder unterste Tempeldiener zum Propheten, sie begreift am wenigsten, daß dasjenige, was ihr ein Titus Pomponius mit der hektisch'sten Strenge einzuprägen sucht, sein ganzer Reichthum ist, sein erstes und zweites Glied, seine Avant- und Arrieregarde. Den eigentlichen Pedanten charakterisirt der unerschütterliche Ernst, mit dem er unter seinen Zöglingen waltet und sich gleichsam mit der Thorheit derselben identificirt hat. Wenn ich mit Titus Pomponius spreche, so duckt er die Augen, kriecht und ist verlegen; so wie er aber in seine Schule tritt, schnellen sich alle schlottrigen Glieder seines Wesens empor; jetzt trägt er den Kopf hoch, er hört nur sich selbst, er hat fünfzig lernbegierige Bewunderer um sich her; er schwelgt in der staatsgefährlichen Wollust, seine Thorheiten von allen diesen Kindern als Vernunft anerkannt zu sehen, nachgeahmt, gebilligt, angestaunt. Die Jugend ist wie nachgiebiges Wachs, das alles vorstellt, was man daraus formen kann. Die größten Weisen und größten Narren haben sich an sie gewandt, weil sie weder prüft noch widerspricht. Wenn Sokrates, wenn Rousseau dieß thaten, so ist der Eindruck rührend; man sieht, daß nur die Verdorbenheit der Erwachsenen sie von ihnen fortschreckte. Allein nun denke man sich eine ungewasch'ne und ungekämmte Natur, einen Narren mit den häßlichsten Manieren, die man sich in Betreff des Nasenputzens und Ausspeiens nur angewöhnt haben kann; man denke sich Titus Pomponius Sylbenstecher mit seiner Vorliebe für schweinslederne Einbände, mit den Fettflecken auf seiner Weste und der Zettelweisheit seines Gedächtnisses. Um diese obsolete Natur reiht sich die Jugend als ein Muster, als einen Tyrannen, ja sogar, da das kindliche Herz gar rein und edel ist, als einen Gegenstand liebevoller Verehrung! Die Knaben erhalten von der Wissenschaft dürre und blutlose Begriffe; wenn sie Fortschritte machen sollen, müssen sie in eine ganz neue Welt versetzt werden.

Daß man das Alterthum als Bildungsmittel so vielfach angegriffen hat, rührt hauptsächlich nur von dem Pedantismus derjenigen her, welche die Kenner und Lehrer desselben sind. Es ist verzeihlich, aber durchaus nicht zu billigen, daß man das Alterthum als Inhalt mit der allerdings unerträglichen Form verwechselte, in welcher uns dasselbe geboten wird. Ich habe auf der Schule Plato, Demosthenes und Tacitus gelesen; allein nur den letztern verstand ich völlig, den ersteren zum Theil, den mittleren gar nicht. An wem lag die Schuld? Nicht an der Auswahl des Schriftstellers, nicht an meiner Fassungskraft, sondern an dem Unterricht jenes Lehrers, der sie so schlecht zu erklären wußte. Alle Lehrer, durch deren Hand ich ging (und jedermann sollte ohne Rücksicht solche Selbstgeständnisse machen, damit die Verständigung über klassische Erziehungsmethode beschleunigt wird), waren eingefleischte Philologen. Nur der erste von ihnen, der Rektor des Collegs, besaß eine gewisse universelle Bildung, kannte die Dichter der Nation und schrieb in seiner Muttersprache selbst einen Styl, der, wenn auch nicht schön und melodisch, doch nach guten Mustern gebildet war. Dieser las die Rede gegen den Verres mit uns und zwar ziemlich kursorisch. Er hatte dabei nicht die Antiquitäten als Hauptgesichtspunkt, allerdings auch nicht blos die formelle Grammatik, sondern nur den Styl im Auge. Wäre Cicero in seinen langen Perioden weniger klar, als er es ist, so würden uns, was auch diesen Lehrer anbetrifft, die Verrinischen Reden ihrem wahren Inhalte nach ein verschlossenes Buch geblieben seyn. Ein Anderer laß den Horaz und in einer andern Stunde den Sophokles. Dieser glaubte, die alten Dichter hätten nur gelebt und gesungen, ihrer Metra wegen. Eine Horazische Ode uns in ihrem Verfolg zu analysiren oder den Chor einer Tragödie auf einfache, vor den Augen sich schematisirende Grundgedanken zurückzuführen, verstand er nicht; den Rest von Muße, den uns die Metrik ließ, verbrauchte die Grammatik und die Mythologie. Es war immer ein wüstes Chaos, was uns vor Augen schwebte und das uns dunkel blieb, selbst wenn wir es ganz leidlich übersetzen konnten. Rekapitulationen des Inhalts und Zusammenhangs kamen nie vor; bei'm sechsten und siebenten Verse hatten wir schon wieder vergessen, was im zweiten und dritten gesagt war. Den Plato erklärte uns ein junger Mann, der kränklich war, aber, was unter Philologen so selten ist, gern den Fashionable gespielt hätte. Er ritt seiner schwachen Brust wegen und kam fast immer mit Sporen in die Klasse. Oft war sein Hals so angegriffen, daß er nicht sprechen konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: »Sämmtliche Fenster zu!« Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Infinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Imperativ nie anders als durch den Infinitiv aus: »ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!« waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Irrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Ich beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. Mir ist es ein Räthsel, wie sich unter uns jungen Leuten die vollständige Lebensgeschichte dieses Mannes so authentisch verbreiten konnte. Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olythischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben.

Es war meine Absicht, eh' ich mir in diesem Kapitel die Feststellung einiger Grundsätze erlauben wollte, den größten Theil des pädagogischen Details zu erschöpfen, in so fern es auf Personen und Historie in unsern Unterhaltungen immer zunächst ankommen soll. Ich kann Sie hier nicht übergehen, Miß Sylvia! Sie müssen sich schon gefallen lassen, daß ich Sie im Schooße der kleinen Frauenzimmer aufsuche, welchen Sie wohl noch ein wenig mehr, als nur Rechnen und Schreiben zu lehren verstehen! Ja Miß Sylvia würde, wenn ihre Kenntnisse, wie sie jetzt aus Realien bestehen, aus Humanioren bestanden hätten, im Alterthum, ich meine im Mittelalter, gewiß so gut haben unterweisen können, als jene italienische Dame, deren Standbild im Hofe der Universität von Padua rechter Hand aufgestellt ist, die so vielen Zulauf in ihre Vorlesungen hatte und den Andrang, gewiß auch noch aus Rücksichten der Galanterie, durch Schranken zurückhalten mußte, so daß sie nur hinter einem Sprachgitter ihre Vorträge hielt. Wenn Sie, meine gute Miß Sylvia, nun so stehen müßten vor den Studenten der Londoner Aktienuniversität, und entweder lateinisch sprächen, wie Madame Dacier oder wie Miß Elisabeth Wright Macauley, die nun plötzlich gestorben ist, und mehr als eine Schauspielerin, eine Methodistenpredigerin war, die auch über Botanik, Volkswirthschaft und Schädellehre so häufige, nicht unbesucht gebliebene Vorträge hielt! Doch Verzeihung, daß ich Sie in die Reihe excentrischer Frauenzimmer bringe, Miß Sylvia! Sie erziehen nur Frauen, Sie geben nur Unterricht in der Naturgeschichte bis zu einem gewissen Grade, Sie kämpfen für die Emancipation des Weibes auf die edelste Art; denn was emancipirt das schöne Geschlecht besser und schneller, als die Kenntniß der Wissenschaften!

Miß Sylvia hat mit vielen ihres Amtes gemein, daß sie durch körperliches Unbehagen frühzeitig daran gemahnt wurde, die große Welt, ja vielleicht ein männliches Herz werde sich ihnen nie erschließen. Miß Sylvia litt an vielen Uebeln. Ich kenne sie nicht. Ich werde auch nicht darnach fragen. Es genügt mir, daß sie meist sehr blaß aussah in ihrer Jugend, und daß sie niemals hoffen konnte, die Erbin eines reichen Vaters oder Oheims zu werden. Es ging ihr fast wie einem meiner Bekannten, der mir neulich unter heftigen Schmerzen klagte, er hätte von seinem Vater nichts als die Hämorrhoiden geerbt. Verzeihung, Miß, wenn ich den Anstand verletze! Die Dame, von der ich spreche, zeigte früh einen großen Wissenstrieb; sie wuchs weniger nach außen, als nach Innen. Sie hatte sogar das Unglück, daß bei dem rückschlagenden Wachsthum ihre Glieder das harmonische Gleichgewicht verloren und sie einer bis zum Höcker steigenden Verschiebung der Schulter wegen viele Jahre im Streckbett liegen mußte. Großer Gott! von sechzig Jahren, die man lebt, von fünfundvierzig, wo man das Bewußtseyn seines moralischen Daseyns hat, fünf Jahre in einer eisernen Maschine liegen, unbeweglich, ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: A young lady, hwo u. s. w. Sie will Unterricht geben, die Stunde zu einem Schilling; sie bietet sich erst den Französinnen an, welche Englisch lernen wollen. Sie ist so billig und so gründlich! Sie wartet lange. Endlich klopft es. Es war ein Stutzer, der mit verlegenem Lächeln hereintrat. Er hatte sich eingebildet, daß jene Annonce von jungen Mädchen, die Unterricht und Gesellschaft leisten wollen, nur Winke und Gelegenheitsmachereien wären. Miß Sylvia erschrickt über seine forschenden Mienen. Sie ist nicht durch die Welt, aber durch Bücher klug genug, um die Absicht des jungen Mannes zu errathen. Dennoch mochte sie nicht entfliehen. Einmal, weil sie nur ein Zimmer hatte, und zweitens, weil sie sich später mit Schaamröthe die kleine Eitelkeit gestehen mußte, die sie verhindert hätte, die Thüre zu suchen und ihre zweideutige Schulter zu zeigen. Sie ergriff das letzte Mittel, das ich Frauen für Fälle dieser Art anrathe. Sie schrie nicht, sie drohte nicht, sie spielte keine Komödie. Sie bat den jungen Mann, sich niederzulassen und führte ihn durch die Gegenwart ihres Geistes allmählig von seinem irrthümlichen Gedanken ab, verwickelte ihn in ein so feines und gedankenreiches Gespräch, daß dieser sich zusammennehmen mußte, um zu antworten. Er wurde besonnen, und besann sich auf seine Thorheit. Staunend über die Kenntnisse und Würde Miß Sylviens verließ er sie. Sie behandelte ihn artig und ließ ihn eine Demüthigung nicht entgelten. Eine Stunde darauf meldeten sich drei Damen, um bei Miß Sylvien Unterricht zu nehmen; es waren Engländerinnen. Sie hatten große Lücken in ihren Kenntnissen auszufüllen. Es ergab sich später, daß sie die Schwestern jenes jungen Gentleman und von ihm veranlaßt waren, seine eigne Vergehung wieder gut zu machen. Es war dieß die einzige Attake, die Miß Sylvia in ihrem Leben von Männern zu erfahren hatte; doch war die Wendung, welche sie nahm, so zart und rührend, daß Miß Sylvia ihr ganzes Leben hindurch gut von den Männern dachte und nicht selten mit einer aus den Augen leuchtenden Zärtlichkeit von dem Bruder ihrer ersten Schülerinnen sprechen konnte.

Es ist unerläßlich nothwendig, daß weibliche Erzieher gute Männer sind, oder wenn es Frauen sind, daß sie von jenen eine gute Meinung haben. Nichts entstellt Erzieherinnen mehr und schadet den Fortschritten ihrer Zöglinge, als ein geheimer Groll gegen das männliche Geschlecht. Schon die Sprödigkeit ist eine unglücklich gewählte Emballage der Bildung, welche man Frauen mitgibt. Zwischen kalter Zurückhaltung und verliebter Neigung gibt es eine Mittelstraße, welche Erzieherinnen immer einschlagen müßten. Nichts ist dem weiblichen Charakter so gefährlich, als der Glaube, die Wissenschaften müßten den Frauen als Waffe gegen die Männer dienen. Miß Sylvia erzieht vortreffliche Gattinnen und Mütter. Sie hat mit Hülfe hoher Protektionen ein Erziehungsinstitut eröffnet, das den glücklichsten Fortgang nimmt. Ich empfehle ihre Adresse. Sie wohnt Albemarle Street Nro. 114.

Nicht alle Erzieherinnen erfüllen so gediegen ihre Bestimmung. Ich kenne von dem Charakter Sylviens außerordentlich viel Anomalien. Die gefährlichsten Geschöpfe dieser Art sind solche, welche das anständige Kleid einer Lehrerin nur als Deckmantel ihrer großen und kleinen Leidenschaften benutzen. Die erträglichsten Weiber dieser Art sind hier noch diejenigen, welche blos nach Herrschaft strebten und kindisch genug denken, eine Herrschaft über Kinder auch eine Herrschaft zu nennen. Die Frauen kommandiren gern. Haben sie keine Hoffnung, daß sie es über eigne Kinder können, so knechten sie fremde. Der affektirt rauhe, kurze Ton der Lehrerinnen ist dasjenige, was ihnen den meisten Genuß gewährt. Sie scheinen aus Liebe zum Despotismus Unterricht zu geben. Bedenklicher schon ist es, wenn eine Lehrerin nach gesellschaftlicher Auszeichnung strebt. Aus diesem Triebe entstehen meist in Familien untern Standes die pädagogischen Gelüste. Meine Tochter wird eine Lehrerin! Diese stolze Proklamation einer sehr ungelehrten Mutter entzündet das junge Mädchen, das sich quält, Fortschritte in der Musik und im Französischen zu machen. Das junge Kind ist eitel und will dem Loose entgehen, ehe sie eine Gattin wird, eine Nähterin zu werden. Es kostet den Eltern viel Anstrengung, die Mittel zu der Vorbereitung einer solchen pädagogischen Vorzukunft herbeizuschaffen; allein sie haben dabei noch den Trost, daß die Partie, welche sich ihrer Tochter einst anbieten könnte, nicht aus dem Handwerks-, sondern vielleicht aus dem Kaufmanns- oder Gelehrtenstande kommen möchte. Endlich ist es aber nicht selten die Sinnlichkeit, die sich in Lehrerinnen, namentlich von reiferem Alter (ich meine die auslaufenden zwanziger Jahre) offenbart. Es ist dieß eine sehr schwierige Partie; dennoch will ich mit kurzen Worten eine Charakteristik versuchen.

Miß Livia mag eine solche Dame heißen, der leichten Parallele zu Miß Sylvia wegen. Nennen darf ich sie doch nicht; denn sie würde mir einen Prozeß an den Hals hängen. Niemals hab' ich ein Mädchen gesehen, das kerlhaftere Gesinnungen hegte, als Miß Livia. Ich geb' ihr einen aus der Geschichte zur Genüge bekannten Namen, weil ich nicht zweifle, daß sie Gift mischen würde, wenn sie Gelegenheit dazu, und nicht zu große Furcht vor der Strafe hätte. Gerechter Himmel! die Beschuldigung ist stark, aber sie ist verdient. Miß Livia empört meine Kritik ihres Charakters, empört mein Inneres um so mehr, als sie Erzieherin ist. Gott sey Dank! nein, sie ist nur Lehrerin. Sie gibt nur Unterricht in weiblichen Schulen. Sie kommt nur wöchentlich in 8 bis 10 Stunden mit ihren Zöglingen zusammen; wenn es auch ein recht großes Unglück ist, daß sie an drei Anstalten zu gleicher Zeit Lektionen gibt. Ihr Vater ist Musikus, er ist ein halber Schauspieler, wenigstens spielt er im Orchester des Theaters. Ihre Mutter spielt auch ihr eignes Instrument, nämlich den Ehrgeiz und die Koketterie, letztere, wenn nicht mehr mit sich selbst, mit ihren Töchtern. Sie hat deren mehr und alle sind Lehrerinnen geworden. Sie haben sich alle glücklicher verheirathet, als sie es verdienten, nur Livia ist noch übrig und intriguirt, um zu einer Partie zu kommen. Weil ihre Schwestern schon das pädagogische Handwerk trieben, so ergriff sie es selbst ohne Weihe, ohne ernsten Entschluß. Die Lehrerin war für sie eine Tradition, eine Familienprofession, ein ausgetretener Schuh, in welchen sie ihren eignen Fuß nur hineinzustecken brauchte. Sie war viel zu jung, als sie das Handwerk begann. Sie begann es mit kleinen Kindern, denen sie die ersten Rechnungs- und Buchstabenbegriffe beibrachte. Während sie schon lehrte, lernte sie noch. Sie tyrannisirte schon Andre, als sie selbst noch tyrannisirt wurde. Sie war Mitglied der ersten Klasse, als sie in der letzten schon die Herrin spielte. So blieb sie kindisch und intriguant in allen ihren Manieren und trieb von Jugend auf die Erziehung als eine unartige Leidenschaft, indem sie sich für ihre eigne Abhängigkeit an der Unabhängigkeit Anderer rächte. Livia kannte keinen größern Stolz, als sie endlich die letzte Klasse, ein siebenzehnjähriges Mädchen, verließ, als den, recht bald in sie als Lehrerin wieder zurückzukehren. Sie blieb kindisch und unreif, wie sie war, und nahm nur eine neue Richtung in ihre beschränkten Anschauungen auf, die Verliebtheit. Sie war nicht häßlich. Sie hatte dunkle, leidenschaftliche Augen, schwarzes Haar, weißen Teint, obschon ohne allen Rosenanhauch der Wangen; die Jagd auf Männer gab ihr Welterfahrung. Alles, was sie jetzt von praktischer Philosophie lernte, stand in Berührung mit dem stärkeren Geschlechte. Sie bekam eine allgemeine Anschauung der Menschen und Dinge, welche auf dem Pessimismus der Männer beruhte. Sie dachte träumend und wachend nur an die Männer und kleidete ihre Liebe zu ihnen in das Gewand des Hasses; denn sie war Lehrerin, sie wurde beobachtet, sie hatte Rücksichten zu nehmen. Miß Livia richtete dadurch sehr viel Unheil an, daß es ihr wirklich gelang, durch konsequente Intrigue gegen ihre weiblichen Collegen es endlich bis zur Lehrerin in den ersten Klassen zu bringen, doch nur für einige Objekte, für die leichtesten nämlich. Selbst noch so jung, war ihr Verhältniß zu den liebenswürdigen »Backfischen,« welche sie zu unterrichten hatte, beinahe das einer Conspiration. Die Arbeiten, welche sie leitete, ließen vertrauliche Gespräche zu. Die Zungen lösten sich, die Herzen quollen auf und es zeigte sich, daß alle diese jungen Knospen schon üppige Geheimnisse in sich verschlossen. Miß Livia war die Geburtshelferin der kecken Geständnisse, welche sich die jungen Damen in Form von Neckereien machten. Sie war aber zu gleicher Zeit die Nebenbuhlerin jeder Neigung, die hier zwischen Sticken und Stricken zum Vorschein kam. Es fehlte nicht, daß sie in alle von ihren Zöglingen und deren Angehörigen arrangirten Gesellschaften gezogen wurde, sie wurde Mitglied von mehr als fünfzig Familien, deren Interessen sie bald durchschaute und gegeneinander spielen ließ. Alle ihre Bewegungen werden heftiger, ihr Auge rollt, ihre Sprache hat etwas Schonungsloses, ihre Gesichtsmienen zittern, wenn sie etwas erwartet, das gesagt oder gethan werden soll. Kurz sie ist in einer fortwährenden Aufregung. Die Stunden in den Schulen (sie bedient ihrer drei) dienen nur dazu, daß dasjenige fortgesetzt wird, was im Thee des vergangenen Abends abgebrochen wurde. Schülerin und Lehrerin, beide geizen nach dem Momente, wo der Lehrgegenstand einen Uebergang auf familiäre Discussionen zuläßt. Dieß Treiben ist nicht ohne Gefahr. Hundert Reklamationen erfolgen in einer Woche. Hier ist eine üble Nachrede gehört worden, dort vermuthet man die Quelle, man wälzt Verdächtigungen von sich auf Andere, man hat etwas gesagt, etwas wiederholt, es gibt Untersuchungen, Confrontationen, anonyme Billets, tausend Verwirrungen, denen nur noch fehlte, daß sich die Polizei einmischte. Miß Livia ist unter dieser geistigen Aufgeregtheit früh verblüht. Sie muß Toilettenmittel brauchen, um ihre Reize frisch zu erhalten. Frauen werden unter diesen Verhältnissen nur noch heftiger in ihren Leidenschaften und Intriguen. Miß Livia ist so verstrickt in Lügen- und Intriguengewebe, daß sie oft Krämpfe bekömmt oder wenigstens in verstellte Ohnmachten fällt. Wie oft ruft sie nicht aus: So soll mich Gott um die ewige Seligkeit bringen, wenn ich das gesagt habe! Aber man kann gewiß seyn, daß, wenn von einer Verläumdung die Rede ist, sie sie immer gesagt hat. Sie zählt unter den Männern eben so viele Widersacher, wie unter den Frauen, denn mit wem hätte sie nicht ein Verhältniß gehabt? mit wem wäre sie nicht des Abends schon im Mondschein spazieren gehend erblickt worden? Und immer mit denjenigen, welche vierzehn Tage nach dem belauschten Rendezvous die heftigsten Gegner der Dame sind und behaupten, sie in allen ihren Eigenschaften erkannt zu haben. Die Liebhaber werden bald inne, daß sie weit mehr von ihrer geistigen Unruhe als von der Liebe zu ihnen verzehrt wird. Sie sollen ihr dazu dienen, sie in Schutz zu nehmen, in ihnen Bundsgenossen zu haben; sie liebt jetzt nur noch deßhalb, um ihre Partei zu verstärken. So ist selbst die sinnliche Neigung schon von der Fieberhitze ihres intriguanten Herzens aufgezehrt. Unter allen diesen Verhältnissen hört Miß Livia jedoch nicht auf, ihre so ernste Rolle als Lehrerin durchzuführen. Sie findet immer wieder faules Holz genug, mit welchem sie sich in der unheimlichen Nacht ihres Rufes glorienartig umzaubern kann. Sie weiß Pfarrer und Schulpatrone in ihr Interesse zu verflechten und hat manche Schulvorsteherin schon gezwungen, sie in ihrer Stellung an der Anstalt zu lassen, während jene aus ihrer Machtvollkommenheit ihr schon ein dutzendmal kündigte. Jetzt hab' ich lange nichts mehr von ihr vernommen, weil ich selbst altre und mit jenem jungen Nachwuchs der Gesellschaften nicht mehr so eng verbunden bin, daß ich mich in die kleinen Angelegenheiten ihrer Schulzeit mischen dürfte. Ich bin aber überzeugt, daß Miß Livia noch immer ihr Wesen treibt, bis sie vielleicht irgend einen stämmigen Handwerker heirathet, der ihr in ihrer fortwährenden moralischen Epilepsie die Daumen aufzubrechen versteht.

Es steht nur allzufest, daß die weisesten Maximen über Erziehung nichts vermögen ohne den moralischen Einfluß der Lehrer. Unsre Zeit ist hievon auch so überzeugt, daß sie die Erziehung durchaus nicht mehr dem Zufall einer so glücklichen pädagogischen Persönlichkeit, als man deren habhaft werden könne, überläßt, sondern Zögling und Lehrer in gleiche Fesseln schmiedet durch Theorien, die nichts mehr mit der Erziehung, sondern Alles nur mit dem Unterrichte zu schaffen haben. Aber ich frage: Ist dieß nicht ein Extrem?

Im Alterthum war der Unterricht die Nebensache. Man lernte bald, was man bedurfte, die encyklischen Wissenschaften, von denen Plutarch spricht. Alles übrige Wissenswerthe erlernte der griechische und römische Jüngling durch Anschauung und frühe Uebung. Es galt bei ihm nur die Nothwendigkeit, ihn zu einem freien Manne zu erziehen; während bei uns der freie Mann auch alle Künste in sich aufnehmen muß, die früher dem Sklaven gehörten. Die Bestimmung und der Erwerb entscheiden bei uns. Bei den Alten verstand sich jene von selbst, dieser fiel den Sklaven anheim und verwandelte sich in Genuß. So hatten die Alten über Erziehung nur moralische Vorstellungen. Man wird in Plutarchs Abhandlung über die Erziehung weder die Andeutung irgend einer pädagogischen Theorie, noch sonst einen praktischen Fingerzeig finden. Er beschäftigt sich nur damit, den Eltern die Einpflanzung allgemeiner Humanitätsbegriffe in die Seele ihrer Kinder zur dringenden Pflicht zu machen; Begriffe, die uns für Gemeinplätze gelten, weil wir davon überzeugt sind, daß man damit jetzt keine Hunde mehr vom Ofen lockt. Weise, nüchtern, keusch, fromm seyn, wer machte daraus heut zu Tage den Hauptvorwurf der Unterweisung? Unser Gedächtniß und unser Verstand wird in Anspruch genommen; unsre Seele bleibt uns selbst überlassen.

Weil nun diese Veranstaltung ein beklagenswerthes Unglück der neuern Zeit zu seyn scheint, so haben sich die Lehrer zu helfen gesucht. Sie behaupten, daß die Wissenschaften nicht blos den Kopf stärken, sondern auch das menschliche Herz veredeln. Dasjenige, was die Wissenschaften nicht thun werden, fügen sie hinzu, wird die Religion und die Gesittung unsers gesellschaftlichen Zusammenlebens thun. Will man die Wahrheit sagen, so denken sie, daß wir schon die sittliche Weisheit lernen werden, weil sie von der Polizei geboten wird. Unsre moralische Ausbildung ist der Furcht oder der Klugheit überlassen. Wahrlich, wenn wir nicht ganz verwildern bei dem einseitigen Erziehungssystem unsrer Zeit; wenn wir wirklich den größten Theil unsrer Sittlichkeit dem Christenthum verdanken, so besteht die welthistorische Bedeutung desselben vielleicht am meisten in der erziehenden Kraft desselben oder in einer Aushülfe, die es der überbeschäftigten und gedrängten Menschheit leistet. Hat wohl Rousseau irgend einen Hauptpunkt in seiner beabsichtigten Reform der Erziehungsmethode getroffen? Seine Schriften sind im Grunde alle weit mehr politischer als moralischer Natur. Daß die Frauen ihre Kinder selbst säugen, darum brauchte kein Prophet aufzustehen. Man brauchte deßhalb nur auf die Alten zu verweisen, nicht auf die Thiere.

Die Alten glaubten, die Tugend könne gelehrt werden. Viele Dialogen des Plato behandeln dieß Thema; beim Plutarch findet sich eine Abhandlung unter dieser Ueberschrift, die aber nicht vollendet ist. Sokrates, der jungen Atheniensern Stöcke zwischen die Beine warf, um sie davon zu überzeugen, daß sie straucheln könnten, machte sich zu weiter keinem Unterrichte anheischig, als dem in der Tugend. Bei uns hat man dieß so verstanden, wie die Medicin ihre Pharmakologie versteht. Ein Kranker leidet am Magen. Er hat zu gleicher Zeit Fieber und Verstopfung. Jetzt raisonnirt die aufgeklärte Arzneikunde unsrer Zeit so: Ich geb' ihm ein Dekokt, worin saure Ingredienzien das Fieber stillen und salzige eine Abführung verursachen. Daß Sauer und Salzig in ihrer Mischung ferner weder sauer noch salzig sind, geben die weisen Männer nicht zu und vertheidigen ihre Mixturen gegen ein neues aus Deutschland über Paris zu uns gekommenes System der einfachen Arzneimittel mit einer Hartnäckigkeit, deren guten Grund ich, weil ich ein schlechter Mediciner bin, nicht antasten will. Aber alle medicinische Fakultäten mögen mir wenigstens erlauben, ihr Princip eben so sonderbar zu nennen, wie das, wovon unsre neue Geistesheilkunde, die Pädagogik, geleitet wird. Die jetzigen Erzieher rechnen auf die moralische Kraft der Wissenschaften, die ihnen von selbst inwohne. Sie lehren die Tugend zu gleicher Zeit mit dem Schönschreiben. Ihre Vorschriften sind eben so für die Verbesserung der Handschrift als des Herzens berechnet. Man nimmt die Einleitung zu den Naturwissenschaften aus dem ersten Buch Mosis her. Das Eine soll das Fieber, das Andere die Verstopfung heilen. Ich glaube, es ist hier wie bei allen Kranken. Die schlechte Arznei macht nur, daß der noch gesunde Theil des Menschen sich in ihm empört, und die eigne innere Heilkraft wieder die Oberhand gewinnt. So werden wir nicht deßhalb gut, weil wir soviel gelernt haben, sondern wir werden es, trotz dem, daß wir so viel lernen mußten.

Ich bin davon überzeugt, daß unsre Zeit weit mehr Laster erzeugt, als das Alterthum und die Zeiten der Barbarei. Wir haben mehr Ordnung, als in der Völkerwanderung herrschte; aber unsre Tugenden sind nicht nur, was schon lasterhaft genug ist, passiver Natur; sondern an wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem Mangel an moralischer Bildung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger moralische Haltung als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Innerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt hinlegte. Er taumelt mit dem Strom der Zeiten fort. Er ist aus seinem natürlichen Boden mit allen Wurzeln des Herzens herausgerissen. Seine redlichen Begriffe werden ihm, dem gereisten und gewitzigten Manne, bald als Ammenmährchen erscheinen.

Schon oben führte ich den Satz durch, daß es gar keine andere Moral gibt, als die, welche sich an historische Thatsachen anlehnt. Wer würde leugnen, daß die Lehren der Moral zu allen Zeiten ziemlich dieselben waren, daß sie ewige sind? Allein es handelt sich darum, diese Lehren lebendig zu erhalten in den menschlichen Gemüthern. Es kömmt weit weniger auf das an, was die Moral gebietet, denn das wissen alle Menschen, die Vorstellung des Guten ist ihnen eben so angeboren, wie die Neigung zum Bösen. Aber wie wird die Vorstellung des Guten geweckt? wie wird die träge, schlummernde, indifferente Menschennatur zur Uebung desselben hingezogen? wie erlangt sie die Kraft, alle Gründe der Bosheit ihres Herzens mit weit mächtigeren Gegengründen der Tugend in sich niederzukämpfen? In dieser Rücksicht hatte das Alterthum weit bessere Veranstaltungen getroffen, als die polizeilichen unsrer Zeit sind. Großartige Impulse müssen den Menschen aus seiner brütenden Unentschiedenheit aufjagen. Impulse dieser Art sind gesellschaftliche Institutionen, namentlich politische und religiöse, und vor allen Dingen die Begebenheiten der Geschichte.

Wie ist es bei uns? Unsre Erziehung bildet sich ein, sie erreiche Alles, indem sie in der Jugend die Vorstellung vom Guten weckt. Das ist leicht geschehen. Es soll auch die Uebung des Guten veranlaßt werden. Daß diese Uebung jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, daß man aus dem Gewissen einen so verzärtelnden und hätschelnden Hanswurst der Tugend machte und die Tugend darein setzte, ohne Reue schlafen zu können; das ist wahrlich das gefährlichste moralische Uebel, an welchem unsre Zeit kränkelt. Man hat gesagt, die Verbrechen steigern sich leider mit der Zunahme der Bildung. Welch' ein gräßlicher Satz, wenn er wahr wäre! Gott sey Dank, er ist nicht ganz so wahr, als man ihn ausgesprochen hat und zum Theil durch statistische Tabellen beweisen kann. Die Verbrechen steigen nur mit der Zunahme jener äußern Bildung, die die Statistiker in der Zunahme des Schulbesuches finden, und ähnlichen Dingen, die selbst, wenn sie als Hebung der untern Volksklassen ehrenwerth sind, doch nur immer kahl, inhalts- und wirkungslos dastehen, wenn sie durch keine umfassenden Thatsachen unterstützt werden. So bringt man nur das Bewußtseyn eines unglücklichen Dualismus in die Gemüther des Volkes und befördert die Verbrechen mehr, als man sie verhindert. Die Bildung, welche den Menschen veredelt und ihn zum Muster für Andre macht, besteht am allerwenigsten darin, daß jeder Rekrut, der zur Conscription kömmt, auch Lesen und Schreiben gelernt hat. Eine despotische Monarchie, deren Unterthanen noch so gut lesen und schreiben können, bleibt immer todt und dumpf, wenn die Unterthanen nicht auch Alles, was sie wollen, lesen, und Alles, was sie wollen, schreiben können.

Die Tugenden der Alten hatten gerade durch ihre Institutionen und ihre Geschichte alle einen öffentlichen Charakter. Die Menschen lehnten sich aneinander an, ihre Bestrebungen waren massenhaft, sie bedurften sich Einer den Andern, um ihre Bestimmung zu erreichen. Der Feind unsrer Moral ist die Zersplitterung. Der Isolirte hält sich schwerer aufrecht, als der, welcher sich auf einen Andern lehnen kann. An wen darf man sich in jetziger Zeit lehnen? An seinen eigenen Schatten. Alles Andre weicht; Jedermann verbittet sich eine allzunahe Berührung. Es ist richtiger Takt, Niemanden anzureden, dem man nicht vorgestellt ist. Hundert Reisende können in einem Gasthofe zu gleicher Zeit am Tische sitzen, und Niemand spricht mit seinem Nachbar. Unter solchen Verhältnissen als Einzelner für sich einstehen zu können, ist schwer, und mit allen äußern Unterrichtsmethoden, mit all unsern statistischen Tabellen über den vermehrten Schulbesuch sind wir doch noch nicht reif genug, um so Jeden selbstständig sich selbst überlassen zu können. Von dieser Ueberzeugung muß die Erziehung ausgehen, und wenn sie sagt, daß sie, um in dem hier angedeuteten Betracht wirken zu können, der Hülfe des Staates und der Geschichte bedarf, so müssen wir aufhorchen und nachdenken, was zu thun ist.

Gemeinsame Bänder fehlen, sagten wir. Welche können damit gemeint seyn? Zunächst ist die individuelle Freiheit die Grundlage eines Erziehungssystems, wie es die Interessen der Moral verlangen. Meine Zöglinge sollen nicht sagen: nos numerus sumus: wir sind der 3,881,221ste im Volke, sondern sie sollen sich fühlen als Integration der Masse, als ein Glied in der Kette in Beziehung auf die Idee des Allgemeinen, wenigstens in Beziehung auf die Gemeinde, wenn nur überhaupt auf etwas, das nicht durch Einzelne, sondern nur durch Mehrere erreicht werden kann. Ich kann nicht von mir sagen, daß ich ehrlich genug bin, um ein mir anvertrautes Gut getreu zu verwalten, aber gebt mir die Kasse einer Gesellschaft, ich will es versuchen, ich glaube, ich werde sie nicht bestehlen! Mein zweiter Grundsatz wäre dann allerdings das Gewissen. Ihr bildet am Gewissen nur die Ruhe aus, die es gibt; ich würde von der Ruhe niemals sprechen, sondern immer nur von dem Stolz des Gewissens. Die Ehre und der gute Name wirken auf das strebsame und unruhige Gemüth des Kindes weit mehr, als die sentimentale Schilderung eines Greises, der heiter und zufrieden auf einem mehr oder weniger schmerzlosen Krankenlager stirbt. Drittens: in dem moralischen Ehrgeiz ist noch nicht jener Dualismus enthalten, nämlich Herz und Kopf, Bildung nach zwei verschiedenen Seiten hin. Die Ehre, in Beziehung auf das Allgemeine, ist das Bestreben, nicht blos für einen braven, sondern auch gescheuten Menschen zu gelten. Unter diesem Gesichtspunkte geht Alles Hand in Hand, was der Zögling an Fortschritten leistet. Kömmt hier noch die Ausbildung des Körpers hinzu, so braucht man niemals zu moralisiren und kann doch die Ueberzeugung haben, daß man Tüchtiges erzieht. Mit der Religion würde ich meinen Zögling erst spät in Berührung bringen, noch später mit dem Christenthum. Daß er vom Christenthum schon vieles weiß, hindre ich nicht. Er hat aus der Bibel lesen gelernt, aber ich reproducire noch lange nicht die Bibel mit ihm, ich trag' ihm keine Dogmen vor; ich mach' ihn erst für das Wesen der Religion empfänglich, eh' ich ihn selbst Religion lehre. Das Lehren von Religion wird dann überhaupt erst in einem Stadium beginnen, wo ich nicht mehr Sorge tragen muß, daß mein Zögling erst aus den Lehren der Religion Religion lerne. Diese muß er längst haben. Was ich ihm als Dogma gebe, darf nur entweder Geschichte oder Philosophie seyn. Ich werd' ihm das Christenthum erklären. Ich werd' ihn in einem Momente mit der Dreieinigkeit bekannt machen, wo er darin keine sinnliche Vorstellung mehr findet, sondern ein Philosophem. Ich werde ihm die Gottheit Christi nicht einprägen, sondern nur erklären. Ich werde nicht die Tollheit begehen und ihm dadurch Religion geben wollen, daß ich ihm die Dreieinigkeit und die Gottheit Christi zu moralischen Verpflichtungen mache. Er soll Ehrfurcht haben vor diesen Dogmen, aber von ihnen keine Wunder erwarten. Ich bin gewiß, daß ich unter diesen Umständen einen Christen erziehe; denn er wird Einsicht genug haben und sich die historische Stellung des Christenthums erklären können. Er wird um so frommer seyn, je mehr er von seiner Urreligion in den Dogmen wieder findet.

Ich bin hier in das Gehege der Theologen gekommen. Ich höre, wie man mir Vorwürfe macht, daß ich schon so lange über die Erziehung und erst jetzt vom Christenthum spreche. Ich habe so viel Achtung vor diesen Vorwürfen, daß ich hier die schickliche Gelegenheit wahrnehme und einen Brief, den mir kürzlich ein achtbarer presbyterianischer Geistlicher auf dem Lande schickte, hier einrücke. Ich will keine Stimme überhören, wenn sie aus dem Munde eines Zeitgenossen kömmt. Die Veranlassung zu diesem Briefe nahm sich der Verfasser desselben selbst. Er lautete, wie folgt:

 

Mein theurer Herr!

Seit Jahren les' ich mit Vergnügen die Werke, mit welchen Sie das Publikum beschenkt haben. Ich würde sie aber, um offen mit dem Zweck meines Schreibens hervorzutreten, mit noch weit größerem Wohlgefallen lesen, wenn ich fände, daß sie von der Kraft des Christenthums durchströmt und in einem festeren Glauben an die Pforten der Ewigkeit, die uns der Heiland erschlossen, geschrieben wären. Ich darf Sie nicht zu jenen Schriftstellern rechnen, welche mit einer Frivolität, die hinter Voltaire immer zu spät kömmt, das Christenthum angreifen; aber Sie, indem Sie das Christenthum ignoriren, vergehen sich noch mehr an den ewigen Wahrheiten dieses Glaubens, als Jene, die durch ihre Leichtfertigkeit eher nützen als schaden. Mein theurer Herr, ich schreibe Ihnen diese anspruchslose Epistel aus einem Befinden, das, zurückgezogen von der Welt, die Ursachen und Folgen der Dinge mit dem Auge der größten Unparteilichkeit verfolgen kann. Ich bin nicht das, was man gewöhnlich einen Kopfhänger nennt, sondern recht im Strome meiner Gedanken, in der freudigen Anschauung einer mich umgebenden reizenden Natur bin ich zu einer Ueberzeugung gelangt, die ich Ihnen von ganzem Herzen einflößen möchte.

Ihre Schriften, namentlich das Buch über England, verrathen eine zusammenhängende Weltansicht. Sie sind auf's Tiefste von dem hohen Werth und der Bestimmung der Menschheit ergriffen. Sie denken mit Schwermuth an die Masse von Leiden und Lastern, die in den Schicksalen und Herzen unsrer Zeitgenossen Hand in Hand gehen. Wie recht haben Sie, wenn Sie zuweilen die Menschen entschuldigen und statt ihrer die Sitten, die Vorurtheile, die Institutionen anklagen; wenn Sie die Verbrechen mildern durch die Rückblicke auf die Erziehung derjenigen, die sie begingen; wenn Sie in dem Prinzip des Egoismus die Klippe aller unsrer Wünsche und Bestrebungen wahrnehmen. Ach, Sie sprechen zuweilen auch über die Religion. Sie sind nur geneigt, das Beste von ihr zu sagen, unter der Bedingung jedoch, daß Sie Religion mit der blosen Moral verwechseln dürfen. Ihre Worte werden erzürnt, bitter, ich will nicht einmal sagen, ungerecht, wenn Sie von der Kirche sprechen. Wenn irgend ein Land durch eine übergroße äußerlich zur Schau getragene Begünstigung der Religion den Wahrheiten derselben geschadet hat, so ist es unser Vaterland. Wenn sich irgend ein Land findet, das noch mehr als England gewisse äußerliche Thatsachen der Honnetetät und Respektabilität als gleißnerisches Gewand um die Religion gelegt hat, so würde es bald so sehr ohne alle Religion seyn, wie England es seyn wird, wenn nicht seine geistigen Lenker den schlaffen Zügel des allgemeinen Gewissens schärfer anziehen und im Lande eine tiefe, recht aus dem zerknirschten Zustande der Seele kommende Besinnung und Reue wirken. Sie und wer Ihnen verwandt ist, haben ein Ziel. Sie hoffen, die Menschheit aus dem Schlamme des Materialismus durch moralische Anrede, durch enthusiastische Darstellungen der Menschenwürde und durch die größtmögliche Aufklärung über die unklaren Freiheitsbegriffe erlösen zu können; allein, soviel Wärme Ihrem Busen entströmt, so leuchtend Ihre Rede in der Nacht aufflackert, Sie werden nie mehr bewirken, als daß die Edeln ihres Schmerzes nur noch gewisser werden. Verzeihen Sie diese entschiedene Erklärung, der ich noch den Vorwurf hinzufüge, daß ich an den Männern Ihres Glaubens die Hingebung und die Liebe vermisse.

Es gibt nur einen Eck- und Schrittstein für das Gebäude unsrer und jeder Zeit -- Jesus Christus. Und dieses Heilandes Reich war nicht von dieser Welt. Ach, was mühen Sie sich, daß Sie die Wunder dieser Welt, den Schmuck der Erde und den Stolz der Menschen malen, da Alles, was wir besitzen dürften und noch nicht besitzen, Alles, was wir sehen und nicht unser nennen, die Lohe unsres Unmuthes schürt und die Sehnsucht des Herzens in jenes verstockte Gefühl verwandelt, das Sie, mein theurer Herr, mit so glänzenden Farben als philosophischen Stolz malen können, das aber ganz derselbe Grund und Boden ist, auf welchem jener Indifferentismus der Zeitgenossen wuchert, gegen welchen selbst Sie Ihren Stolz richten. Ach, nur in des Himmels klarer Bläue, nur in dem Blick gen Oben liegt für die Menschheit jener Friede, der Schmerzen löset. Schmerzen heilet? Schmerzen heilt man nicht, Wunden nur; aber die Wunden, die uns geschlagen sind, als der Herr für uns, ein Bild der Menschheit, am Kreuze hing, diese Wunden heilen nicht mehr; nur die Schmerzen können gestillt werden. Heilung ist erst im Anblick des Todes und der Ewigkeit. Sehen Sie, mein theurer Herr, dieses Leid, welches Sie über die Ziellosigkeit der Jetztwelt empfinden, empfindet der Christ noch weit tiefer, als Sie; aber er ist dennoch weniger unglücklich, als mir die Stimmung Ihres Herzens zu seyn scheint, wenn Sie über die Laster und Gebrechen Ihrer Zeitgenossen klagen. Ihr unseliger Irrthum ist der Glaube an eine neue, aus lauter positiven Tugenden und aus lauter Enthusiasmus geschaffenen Welt. Im Hintergrunde aller Ihrer Polemik liegt ein irdisches Eldorado der Freiheit und der Philosophie. Sie täuschen sich und Andere. Es gibt eine neue Welt, aber nur im Jenseits. Der magnetische allgemeine Zug des Himmels ist die Seligkeit der Erde. Das Christenthum hat das tiefste Räthsel der Menschenbrust ausgesprochen, daß es eine neue Welt predigte, deren irdische Vorhalle die Hoffnung und das Gottvertrauen seyn sollte. Für Menschen, die sterben müssen, für Menschen, die die Ahnung einer jenseitigen Zukunft haben, wird nimmer Ruhe liegen in der Abgrenzung irdischer Gedanken, in dem noch so fein und groß gedachten Umkreis jener Tugenden, von welchen Ihr stolzes Herz träumt. So oft der Tod mit seinem kalten Lebewohl vor das Lager der Jünger Ihres Glaubens treten wird, so oft wird sich Alles, was hinieden zurückbleibt, in Verwesung vor unsern ersterbenden Augen verwandeln. Für Ihre Jünger wird der Tod immer eine Anklage des Himmels seyn; denn der Himmel raubt ihnen, was sie hier auf Erden schon in einer allgenügenden Vollkommenheit glauben besessen zu haben. Ihre Jünger werden schön leben, aber muthlos sterben.

Ach, mein theurer Herr, Sie werden mir erwiedern, daß Sie die Segnungen des Christenthums nicht verkennen; Sie werden aber hinzufügen, daß Ihnen dasselbe viel zu viel Spuren einer äußerlichen, zeitlichen Begebenheit trägt, als daß Sie darin etwas Ewiges erblicken dürften. Welch' ein eigensinniger Vorwurf! Es treten von allen Seiten Kenner auf, historische Forscher, die dem Christenthum seinen zeitlichen Ursprung zum Vorwurf machen. Großer Gott! diese Anklagen der Bibel wegen ihrer Zusammensetzung, diese kritische Anatomie der Wunder des Heilandes, dieser Jubel, wenn in den einfachen Erzählungen schlichter Handwerker und Landleute Widersprüche entdeckt werden, indem doch gerade das Vorhandenseyn derselben die unverfälschte, zufällige, unverabredete Entstehung der ersten Berichte von den großen Vorgängen beweist -- ja, mein theurer Herr, dieser ganze Apparat von Gelehrsamkeit ist in seinen Schlußfolgerungen sehr ungerecht und lieblos. Der Heiland war kein Schriftsteller; ach, wahrhaftig nein! Die Apostel wollten es seyn und hatten nicht die Fähigkeiten dazu. Das Evangelium war kein Buch, sondern eine Begebenheit. Als solche mußte sie alles Risiko der Geschichte und der Tradition laufen. Ist nun darum, daß sich so Manches als unecht vor der Kritik bewiesen hat, d. h. als jünger, denn Christus, ist darum der Kern, den sie aus der Schaale genommen haben, weniger duftend und rein? O wenn es erwiesen seyn sollte, daß Menschen viel zur Feststellung dieses beseligenden Glaubens beigetragen haben, sollte er uns nicht deßhalb gerade wahrscheinlicher, faßlicher und liebenswürdiger seyn? Dürften Ihre wackern Glaubensgenossen diese Frage bestreiten, welche doch auf den Triumph der Humanität hinauszukommen scheint?

Wäre das Christenthum eine Kunst, die man lehren kann, eine Kunst, die, um nicht in blose Technik zu verfallen, nicht soviel eignes Talent voraussetzte, dann würd' ich in diesem Lobpreisen meiner Erlösung fortfahren. Wie man nicht auf dem festen Lande schwimmen lernt, so kann Christus nur in denen wirken, die Lust bezeugen, ihn in sich aufzunehmen. Aber darum nur, mein theurer Herr, wollt' ich Sie bitten, ob Sie Ihren hohen Beruf als geistiger Vormund des Publikums nicht dahin benützen könnten, wenigstens einigen Fragen, wenn nicht der Hauptfrage, die Grundlage des Christenthums zu geben? Sie empfehlen, wo Sie können, bei der Erziehung Grundsätze, Methoden, Sie empfehlen einen Stoff des Unterrichts vor dem Andern, Sie dringen auf Sittlichkeit. Sie geben das Ideal der Menschheit, welches Ihnen vorschwebt, in lauter vereinzelten Stücken, wie die Theile jenes Panzers, mit welchem der griechische Liebesgott spielt; ach, mein theurer Herr, Sie werden doch fühlen, daß die Erziehung aus einem Stücke kommen müsse, und daß die Menschen, welche in ihrer Jugend nur die eine Hälfte ihrer Bestimmung kennen gelernt haben, ihr ganzes übriges Leben vergeblich daran setzen müssen, die andre zu finden? Vergessen Sie das Christenthum, wenn Sie mit Männern über das Ewige, Große und Herrliche der Geschichte sprechen, aber vergessen Sie es nicht, wenn Sie mit Kindern und Greisen darüber sprechen. Scheuchen Sie von der Wiege und dem Grabe nicht die Friedensboten unsres Heilands fort. Wehren Sie den Kindern nicht, die er ruft, noch ehe sie gehen können; die Greise, denen er ruft, wenn sie müde sind. Ich will nicht zürnen, wenn Sie über den Staat, ja selbst über unsre verdorbene politische Kirche, wenn Sie über die Geschichte, über Zahl, Maß und Gewicht, Heer und Flotte, über Gewerbe und Handel sprechen und dabei das Christenthum vergessen; aber über die Hoffnungen der Kinder, Greise und Armen sprechen Sie nie, ohne Ihre Betrachtungen an Jesus anzuknüpfen, der den Kindern und Armen einen Trost gegeben hat, den Sie ihnen nie geben werden, den, daß ihrer das Himmelreich ist.

Ehren Sie, mein theurer Herr, in Diesem die Worte eines alten Mannes, der aller Welt so freudig zu sterben wünscht, wie Ihr ergebener .....

Was ich auf diese rührende Zuschrift erwiederte, möge hier gleichfalls mitgetheilt werden. Ich schrieb:

Ehrwürdiger Herr!

Auch nicht einen Ihrer vertrauensvollen und mich ehrenden Zusprüche würd' ich in Betreff der christlichen Religion in Abrede stellen; denn Sie schließen in Ihren sanften Vorwürfen niemals, daß ich jenem Glauben die ehrfurchtsvollste Achtung versagte. Nur um die größere und wirksamere Geltendmachung Ihrer Neigung zu Jesus handelt es sich, und wenn ich glaube, daß Sie damit nicht zum Ziel kommen werden, so klag' ich weit mehr den Lauf der Dinge, den Zug der Weltbegebenheiten und den allgemeinen Charakter der Menschen an, als jenes Radikalmittel der göttlichen Heilsordnung, das Sie selbst, dadurch von Ihren Zweifeln geheilt, aller Welt empfehlen möchten. Ehrwürdiger Herr, ich bin heilig davon überzeugt, daß das Christenthum zum zweiten Male die Menschheit erlösen würde, wenn wir nur im Stande wären, unsre Begriffe und Vorstellungen, unsre Wünsche und Verhältnisse, unsre Hoffnungen und Leiden so zu vereinfachen, als das Christenthum einfach ist. Aber wie wollen wir das möglich machen? Wie wollen wir alle jene Leidenschaften, die sich in der Welt durchkreuzen und ihre Tagesordnung machen, auf eine einzige Gemüthsstimmung, die Resignation, zurückführen; wie wollen wir ein Gewirr von Interessen, das schon widerspenstig ist, wenn wir ihm nur einige allgemeine moralische Fragen vorhalten, gar durch das Christenthum vereinfachen, durch eine Lehre zumal, die durch ihr äußerliches, weltliches und vor Gott unverantwortliches Auftreten selbst in den Strudel der Discussionen hineingerissen ist und sich dem Zeitgeiste gegenüber am wenigsten unbefangen hat erhalten können? Ja, ehrwürdiger Herr, ich will Ihnen zugestehen, daß ich das Evangelium in meinem schriftstellerischen Apostelamte predigen möchte. Ich will rufen wie ein Vorläufer der Wiedererscheinung Christi, daß man Buße thun und sich bekehren solle! Welches wird die Wirkung meiner Mahnungen seyn? Immer nur eine vereinzelte. Ich werde immer nur Einzelne gewinnen. Das Christenthum hat seinem innersten Wesen nach wohl eine Berufung an Jeden, aber nicht an Alle auf einmal. Ehemals, wo die Menschenherzen so leer waren, mochte das Christenthum überzeugte Anhänger massenhaft gewinnen können. Jetzt aber ist es längst nur noch in seiner wahren Gestalt eine Thatsache für den Einzelnen in der Einsamkeit. Man kann durch die Predigt des Evangeliums Einen nach dem Andern von dem großen Haufen, der seinen Wahnbildern und Tagesgötzen nachläuft, abziehen; aber man kann die ganze Menge nicht mehr damit blenden, wie Saulus auf dem Wege nach Damascus geblendet wurde und sich bekehrte. Fänden nur Viele durch Geistliche auf diesem Heilswege Frieden! Der Autor, der nicht für Einzelne schreiben darf, der sie Alle in ihren Neigungen und Leidenschaften zu umfassen suchen muß, muß Principien von der weitesten Ausdehnung in seinen Schriften vertheidigen. Er hat schon Alles gethan, wenn er nur die Widersprüche, welche sich in der Welt so hartnäckig bekämpfen, gegeneinander ausgleicht, die Ansprüche der Einen denen der Andern näher führt und eine Vereinfachung der Fragen erzielt, welche die Verständigung erleichtert und das Terrain ebner macht, mag nun ein neuer Prophet oder ein Christus-Apostel oder ein Ereigniß kommen, welches Erlösung bringt.

Wenn Sie, ehrwürdiger Herr, die Lage der Dinge, wie sie jetzt in der Welt ist, übersehen, so werden Sie mir zugestehen, daß es hauptsächlich die Begriffe von Recht und Unrecht sind, welche mit sich im Streite liegen. Es handelt sich nicht einmal so sehr darum, was der Eine von dem Andern herausgegeben und mit ihm zu theilen verlangt, sondern um das Princip: Was ist Recht? Was gebietet die Natur, die Vernunft in diesem oder jenem verwickelten und von dem Herkommen überlieferten Verhältnisse? Denken Sie besser von der Menschheit, ehrwürdiger Herr! Verurtheilen Sie uns nicht alle als Egoisten und Wegelagerer! Gott sey's geklagt, daß der Egoismus so vielen Vorsprung in der Jetztwelt gefunden hat; allein noch hat er nicht das ganze Terrain gewonnen. Unser Zeitalter ist ein kritisches. Es sträubt sich nicht unbedingt gegen die Vergangenheit; es will nur, daß jede Tradition derselben neu geprüft, mit Gründen der Billigkeit und des Rechts bestätigt werde. Recht und Gerechtigkeit, ja, ehrwürdiger Herr, dieser rein kritische, schöne und doch so leidenschaftliche und als solcher gefährliche Gedanke ist das Symbol der meisten Kämpfe, welche durch unsere jetzige Weltlage ausgefochten werden sollen. Dieß Symbol, das so viel Freiheit und Adel der Gesinnung, so viel Triumphe des scharfsinnigen Nachdenkens enthält, sollt' ich als Selbstgenügsamkeit, wie das Christenthum es benennen würde, preisgeben und um den Sieg desselben unbekümmert seyn? Ich sollte den Fabrikarbeitern, die Brod haben wollen, den Eckstein des Lebens, Christus, vorhalten und ihnen die Entbehrung als die Würze der kargen Kost, an welcher sie nagen, schildern? Nein, ehrwürdiger Herr, diese Lehre konnte zu einer Zeit gepredigt werden, als es für den Schwächern gegen den Stärkern keine Garantie der Billigkeit gab, zu einer Zeit, als die Juden von den Römern wie alle Völker ohne Aussicht auf Rettung geknechtet wurden. Jetzt würde die Welt diese Lehre verlachen und ihre glänzenden Seiten, deren Ewigkeit ich nimmermehr bestreiten werde, in den Koth werfen. Mit dem Christenthum mehr ausrichten wollen, als in ihm liegt, das hat sich zu allen Zeiten an dieser Lehre gerächt. Je mehr sie sich in den Vorgrund stellte, weltliche Macht und irdischen Einfluß ansprach, desto mehr wurde sie gedemüthigt und in ihrem innersten Wesen verkannt, von der Frivolität eines ganzen Jahrhunderts sogar verhöhnt. Diese Lehre, daß man bei einer empfangenen Ohrfeige auch noch die andere Wange hinhalten solle, mag ich jetzt den Armen, die, daß man alle seine Habe verkaufen und nur Christo nachwandeln solle, vermag ich nicht einmal den Reichen unsrer Zeit zu predigen.

Die Frage der Armen und Reichen wird in der Art, wie sie von unserm Jahrhundert gestellt ist, vom Christenthum nicht gelöst werden. Wenn ich Ihnen also, ehrwürdiger Herr, die Armen nicht herausgebe, so will ich Ihnen die Kinder und die Greise gern lassen; ja Ihnen noch die Frauen geben, die Sie, worüber ich mich wundre, verschmäht haben. Kinder, Weiber und Greise saßen auf den Zinnen Trojas und sahen zu, wie Griechen und Trojaner unten ihre Streitkräfte musterten. Kinder, Weiber und Greise mögen daheim am Herde opfern und für die Väter, Gatten und Söhne bitten, die vor den Thoren sich tummeln und das Jahrhundert ausfechten müssen. Warum verlangt die Religion jetzt mehr, als den Dienst der Götter? Warum wird der Ausdruck: »Weltreligion« immer so verstanden, als müßten alle Dinge der priesterlichen Vormundschaft unterthan werden? Wahrlich, wär' ich für das Christenthum ausschließlich so eingenommen, wie ich es für alle historischen Erscheinungen bin, wo Humanität und Vernunft über Sklaverei und Aberglauben siegten, so würd' ich für mein Ideal die größte Genugthuung darin finden, daß die Kämpfer, ermüdet von Wunden oder vom Alter, doch zu mir kommen müßten, um sich heilen oder zur Ruhe bestatten zu lassen, daß ich mit meinem Troste unter einer grünen Linde stehe und Jeden aufnähme, der erschöpft von der Sonnenhitze Kühlung sucht. So bietet sich der einsame Waldbruder in seiner Hütte Niemanden an, weil er kein Wirthshaus hält, nimmt aber Jeden auf, der sich verspätet hat und seine Hülfe, sein Nachtlager, seine Freigebigkeit in Anspruch nimmt. Warum will das Christenthum mehr als diese Mission haben? Warum wollt Ihr stolzen Priester selbst in das Gedränge und Wirrsal der Interessen treten?

Verzeihung, ehrwürdiger Herr, daß ich Ihre von Priesterehrgeiz weit entfernten Anmahnungen von der Seite dargestellt habe, von welcher sie bei klugen und vorsichtigen Leuten genommen werden könnten. Ihr Zuspruch kam aus reinstem Herzen; aber das, was man Ihren edlen Motiven gestatten würde, könnte leicht von Ihrem Nachfolger mißverstanden werden. Leicht könnte aus einem neuen Sieg des Christenthums ein neuer Sieg der Hierarchie werden. Ihrer Theilnahme dankend, verharr' ich ........

Diese Correspondenz hab' ich deßhalb hier eingeschaltet, weil namentlich die Erziehung ein Gegenstand ist, welchen sich die Geistlichen und Weltlichen einander streitig machen. Der Einfluß des Christenthums auf Erziehung kann herrlich seyn. Liebe Vater und Mutter, bete zu Gott, liebe deinen Nächsten, demüthige deinen Stolz, bekämpfe deinen Eigensinn, sey gehorsam, opfre dich auf, meide, was dir verboten wurde! Das ist die Grundlage, davon soll die Erziehung ausgehen. Allein sie soll mit diesen allgemeinen Vorschriften nicht enden. Der Mensch soll nicht erst den Himmel kennen lernen und dann mit einem Male in die Hölle gestoßen werden. Versteht ihr Geistliche es, diesen Uebergang von der himmlischen Moral zur weltlichen Klugheit, von gotttrunkener Anschauung zu werkthätiger Rührigkeit zu bahnen? Liebe Vater und Mutter, bete zu Gott, liebe deinen Nächsten; gut. Aber: demüthige deinen Stolz! Wenn nun dieser Stolz mein einziger Trost ist? Wenn ich nichts mehr habe auf der Welt, als das Bewußtseyn meiner moralischen Würde? Wenn dieser Stolz meine Waffe ist gegen Uebermuth? -- Bekämpfe deinen Eigensinn! Gut; wenn nun aber dieser Eigensinn meine Ueberzeugung ist? Wenn man von mir einen Widerruf verlangt, der so leicht ist; und ich behaupte doch mit Galiläi, daß die Erde sich um die Sonne dreht? Sey gehorsam; gut, ich gehorche. Wenn ich aber als Werkzeug einer schlechten Handlung mißbraucht werde? Wenn ich nur darum gehorchen soll, weil der, welcher mich beherrscht, der Stärkere ist? Mit einem Worte, die Sittenvorschriften des Christenthums, wie sie in den Schulen gelehrt werden, sind viel zu sehr auf eine Bücherwelt, auf eine Welt der Aesopischen Fabeln berechnet. Sie überlassen die Ausführung des Abers, welches sich bei jedem ihrer Sätze aufdrängt, erst dem Augenblick, wo wir schon mitten in den Wirren inne sind, und, von den Umständen schon gedrängt, in die Nothwendigkeit uns versetzt fühlen, unsern moralischen Herzensapparat zu vervollkommenen, zu erweitern und für das praktische Fach vielleicht gänzlich umzugestalten. Welches ist die Folge dieser Verlegenheit? Daß Viele ihr häusliches Gut, ihre mütterliche Reisemitgift, als altfränkisch und unmodisch ganz über Bord werfen, und lieber vorziehen, gar keine, als beschränkte Grundsätze zu haben. O könnt' ich durch diese Bemerkungen die Erzieher veranlassen, sich vom Allgemeinen loszusagen und ihre Zöglinge immer auf das aufmerksam zu machen, was nicht nur wahr, sondern auch heilsam ist! Schlafft die Kinder nicht aus, verzärtelt sie nicht durch weinerliche Allgemeinheiten, sondern flößt ihnen getrost ein tüchtiges Vertrauen auf sich selbst ein! Sie werden zeitig inne werden, wie weit sie mit sich selbst kommen, und werden sich wohl schicken müssen, auf Gott zu vertrauen. Wissen sie aber nur dieß, so werden sie jenes niemals lernen.

An Erziehungsgemälden, Tugendspiegeln und pädagogischen Sittenpredigten haben alle Literaturen Europa's einen noch immer höher anschwellenden Ueberfluß. Alte Jungfern, die nie einen Mann noch weniger ein Kind hatten, geben Anweisungen über moralische Kinderzucht heraus. Geistliche, deren Kinder in der größten Ungezogenheit fortwuchern, schreiben über die sittliche Veredlung der Jugend beider Geschlechter. Die Erziehung ist ein Utopien, wo die Eltern als die weisesten Regenten und die Kinder als die gehorsamsten Unterthanen gedacht werden. Die Widersprüche der menschlichen Natur beachtet der Idealist nicht, der aus seinen vier Wänden heraus Völker erziehen will. Er hat ein allgemeines Schema über die Natur der Kinder. Er hält diese Natur für absolut empfänglich, für eine kahle Tafel, auf welche man durch Lehre und Beispiel schreiben könne, was man wolle. Weit entfernt! Die Kinder sind ein so widerspenstiger und zäher Stoff, daß die Beispiele selten sind, wo sie das werden, was die Eltern erwartet oder gewünscht hätten. An einem schönen Morgen werfen die allmählig erwachsenen Kinder plötzlich zum größten Erstaunen der Erzieher die Hülle ab, welche bisher ihre Eigenthümlichkeit verschloß. Der Schlummerkopf wird ein Schelm, der Ausbund ein Hannes, der sich nicht zu benehmen weiß. Eine Dame klagte mir vor längerer Zeit, daß sie die unglücklichste Frau von der Welt wäre. Wie so, Lady? fragt' ich, lächelnd über den herben Ausdruck. Ach, lachen Sie nicht, entgegnete sie; mein einziges Kind ist die Ursache meiner Leiden. Ist es krank? fragt' ich besorgt. O wär' es das Mädchen! antwortete die Mutter, dann würde ich kein so hartes und grausames Wesen in dem Kinde erstarken sehen. Ich war erstaunt, weil das Kind ungemein viel Zutrauliches und Liebliches in seinem Benehmen hatte, ein Kind von kaum vier Jahren. Die Verstellung ist ihr angeboren, klagte die Mutter; der Geist, der in diesem Kinde tobt, erweckt mir für die Zukunft Besorgnisse, die mich mit Schrecken erfüllen. So jung sie ist, so hat sie doch schon einen so durchdachten, kalten Trotz, daß sie mir mit der größten Ruhe sagen kann: Jetzt will ich weinen, weil ich weiß, daß Du dich darüber ärgerst. Dann weint sie laut und schreit, ohne daß ihr eine Thräne im Auge stünde. Sie stampft mit den Füßen auf und weiß sich, noch so jung, schon einer Miene zu bedienen, die ihr, wenn sie älter wird, gräßlich, teuflisch stehen wird. Niemals offenbart sie auch nur die geringste Zärtlichkeit für ihre Umgebungen. Vater und Mutter sind ihr, trotz der liebevollsten und sanftesten Behandlung eine Qual. Fremden Leuten würde sie ohne Weiteres folgen, wenn ich mich, trotz meiner Leiden, entschließen könnte, sie von mir zu geben. Wenn ich recht schreie, sagt sie ganz kaltblütig, so bekomm' ich doch, was ich will. Ich weiß nicht, was ich für ein Unglück neben mir aufwachsen sehe! Ich suchte die unglückliche Mutter zu trösten. Das Kind hatte in der That etwas Keckes und Kaltes. Seine Stimme kam, wie fast immer bei leidenschaftlichen Menschen, tief aus der Brust und hatte einen angenehmen, tiefen Altklang. Ich frug die Mutter, ob sie nicht bei Erziehern von Fach, Geistlichen und solchen privilegirten Kennern der menschlichen Natur sich Raths erholt hätte. Genug, antwortete sie; aber die Mittel helfen nicht; der Eine räth zur Strenge, der Andere zur Milde. Sie vereinigen sich alle darin, daß, wenn Emilie älter sey, man ihr mit Vernunftgründen besser beikommen würde. Jetzt können Lehre und Vermahnung noch nicht viel fruchten, aber später würde sie schon lernen, was gut ist, oder wenigstens, was sich schickt. Allein dieß Warten tröstet mich nicht; denn vielleicht geht dabei die beste Zeit verloren und das Uebel wurzelt sich nur in dem verstockten Herzen desto tiefer ein! Ich entgegnete der bekümmerten Mutter: Meine Theure, ich glaube, daß unter allen Ihnen angebotenen Heilmitteln die moralischen die unwirksamsten sind. Kindern Moral predigen, kann wohl nützen, um ihnen gewisse allgemeine Wahrheiten über Gut und Böse einzuprägen, die sie später, zu Verstand gekommen, mit geistiger Freiheit durchdenken mögen und innerlich befestigen; allein verlangen, daß Kinder in ihren jungen Jahren nach diesen Predigten ihr Benehmen einrichten, heißt das Unmögliche verlangen. Ich glaube, es gibt nur zwei Mittel gegen die halsstarrige Natur Ihres Kindes. Erstens müssen Sie für entschieden annehmen, daß dieß Kind von seiner angebornen Art nicht läßt. Sie müssen nur suchen, die Extreme dieser Art zu beschneiden. Einen strengen, schroffen und entschiedenen Charakter wird dieß Kind immer behalten. Es kömmt nur darauf an, ihn zu mildern und ihm eine tüchtige und moralische Grundlage zu geben. Alle Menschen empfinden nicht so weich wie Sie, und sind darum doch nicht gefühllos. Ihre Tochter wird ein energisches Wesen ihr Leben lang behaupten, was durchaus kein Unglück ist, wenn nur der Kern eines edlen menschlichen Herzens in der äußern Schaale liegt. Das zweite ist der Unterricht. Wenn bei irgend welchen Naturen nöthig ist, geistige Vorzüge zu geben, so ist es bei diesen. Lenken Sie durch frühzeitige Bildung in Sprachen und Künsten den Eigensinn von Ihrem Kinde ab. Ueber Büchern und Noten verliert sich bald die Kraft der Hinterfüße, auf welche sich die junge Dame stemmt. Die Erweckung des Ehrgeizes in einem solchen Charakter wird dazu dienen, daß er, je älter er wird, sucht, seinem Wesen einen harmonischen Eindruck zu geben, es nach dem Maße, wie man Lob und Tadel erntet, einzurichten. Ein solches Kind kann nicht durch Erziehung, sondern nur durch Unterricht geheilt werden. -- Genug, Emilie ist jetzt sieben Jahre und weit sanfter geworden. Sie ist aber den ganzen Tag mit Büchern und Noten beschäftigt. Ihr starker Geist mußte diesen Ableiter haben.

Ueber Schulwesen, Elementarunterricht, Methoden à la Hamilton oder Jacotot, über Humanismus und Realismus wimmelt es von Gemeinplätzen. Wir haben oben einige Lehrerbiographien entworfen; man kann sich denken, wie die Gedanken durchwässert werden müssen, ehe sie den Verdauungswerkzeugen jener unerzogenen Erzieher angemessen werden. Ja selbst was über die Universitäten gesagt ist, ist so allgemein zugestanden worden, daß man es nicht gern wiederholen mag, so nöthig es in England wäre. Meine Ansichten über diesen Gegenstand hab' ich deutlich genug ausgesprochen. Ich mag sie hier nicht wiederholen. Frankreich betreffend, so hat ja dieß schöne aber schlecht unterrichtete Land jetzt die Schulmeister sogar am Staatsruder sitzen. Wenn da nicht endlich das Schulwesen eine bessere Gestalt gewinnt, dann dürft' es wohl ewig brach liegen. Aber die Herren fangen immer an und kommen nie zu einem Ziele. Herr Guizot bringt alle Augenblicke den Secundärunterricht auf das Tapet, Herr Cousin bereist Holland und Deutschland und doch erfährt man nichts von ihnen, als daß sie einige glänzende Reden von der Tribüne halten, oder einige Artikel in den Revuen schreiben, die sie später als Brochüren sammeln. Herr Guizot hat eine ganze Cotterie von Unterlehrern um sich, die sich sehr gut bewähren könnten in Südfrankreich, in der Normandie, in der Vendee, überall wo der Elementarunterricht einer Reorganisation bedürfte; allein er benutzt sie lieber dazu, daß sie ihm seine Journale redigiren. Ich will nicht in Abrede stellen, daß die von den Doktrinären so dringend gemachte Nothwendigkeit einer Reform des Unterrichtswesens ihnen Ehre macht; allein bis jetzt war der Primär- und Secundärunterricht nur ihr Paradepferd, das sie einen feierlichen Umzug durch die Kammer halten lassen, wenn sie andeuten wollen, daß sie nicht blos für die materiellen, sondern auch moralischen Interessen Frankreichs sorgen. Die Reform des Unterrichtswesens glänzt zur Zeit noch weit mehr in der Thronrede als in der Wirklichkeit. In dem Augenblicke, wo dieß geschrieben wird, ist die Kammer mit der Diskussion eines schon vor einem Jahre eingebrachten den Unterricht betreffenden Gesetzentwurfes beschäftigt. Die Opposition findet an den Vorschlägen Guizots zuviel Centraldespotismus, zuviel Erinnerung an jene Napoleonischen Lyceal- und Universitätseinrichtungen, aus denen die Censoren hervorgingen und später, da sie die Restauration beibehielt, die Jesuiten. Wenn es jedoch Guizot mit seinem Gesetzentwurfe dahin bringt, daß erstens die Unterlehrer mehr Ausdehnung gewinnen, um dem Volke Lesen und Schreiben zu lehren, und zweitens die Oberlehrer weniger Ehrgeiz verspüren, sich in die Staatscarriere zu werfen, dann wird kein billig Denkender gegen seine Vorschläge etwas einwenden.

In Deutschland endlich befindet sich niederer und höherer Unterricht auf einer außerordentlichen Stufe; dennoch ist diese gebildete, so vortrefflich lesende und schreibende Nation fortwährend in pädagogischen Streitigkeiten verwickelt. Jährlich stehen Reformatoren der Methode auf und lehren, daß man Alles, was man bisher gelernt hätte, wieder vergessen und auf eine andere Manier sich einprägen müsse. Die neuen Theorien, welche in andern Ländern entdeckt wurden, bezweckten eine größere Schnelligkeit im Erlernen; die Deutschen streben aber hauptsächlich nach Gründlichkeit und System. Ein Beweis, wie vorherrschend und allgemein in Deutschland die pädagogische Diskussion ist, wie sehr sie die Interessen aller Stände in Anspruch nimmt und mit den höchsten Ideen des Zeitalters in Verbindung gebracht wird, liegt darin, daß in Deutschland die politischen Neuerungen fast immer mit dem Schul- und Unterrichtswesen conspiriren. Die Universitäten in Deutschland sind nicht so sehr Pflanzstätten des mittelalterlichen Geistes, als sie davon das Ansehen haben. Durch den hohen Aufschwung, welchen in Deutschland seit 50 Jahren die Philosophie und die empirische Wissenschaft genommen hat, sind diese alten Formen selbst wieder frisch und neu geworden. Sie schlugen noch einmal wieder aus, die alten Stämme, und trugen einen solchen Wald der duftigsten Blüthen, daß man in Deutschland mit dem unglücklichsten Herzen daran geht, in der Verfassung der Universitäten, diesem einzigen vollständigen Reste des Mittelalters, eine große Veränderung zu unternehmen. Gefährlicher ist aber diesen Institutionen der Antheil geworden, den sie an der Verbreitung und sogar Ausführung politischer Ideen genommen haben. Professoren belebten den jugendlichen, nach Neuerungen trachtenden Geist, die akademischen Gewohnheiten boten der Propaganda liberaler Ideen, ja wohl gar der Propaganda revolutionärer Wagnisse einen sichern Schlupfwinkel. Die kleinen Aufstände, die Deutschland gegen seine Dynastien wagte, gingen theils ausschließlich von den Universitäten aus oder wurden von ihnen unterstützt. Die meisten in den Zeitungen genannten Staatsverbrecher sind Lehrer und Studenten. Mit Erlaubniß unsres Königs, der in England sich die systematische Demagogie eines O'Connel als etwas Gesetzmäßiges gefallen läßt und in Deutschland die Lenker einer Bewegung, der Hannover die Verfassung verdankt, mit Ketten belastet, will ich hier mit einer Bemerkung schließen, die unsern bisherigen Gegenstand in das rechte Licht des Jahrhunderts stellt und zugleich die Wichtigkeit anerkennt, welche Deutschland für die Erziehung hat.

Nicht blos der Charakter der Deutschen bürgt für ihre Befähigung zum Unterrichte und ermuthigt meine Landsleute, sich für die Erziehung ihrer Kinder deutscher Pensionate zu bedienen, sondern es scheint mir höchst bemerkenswerth zu seyn, wie gerade in Deutschland Alles, was für neu, frei und volksbeglückend gehalten wird, in einem so lebhaften Verkehr mit der Erziehung steht. Wenn es eine wahrhafte Form für den Inhalt der verschiedenen Lehr- und Bildungstheorien gibt, so ist es die der Oeffentlichkeit. Die Theilnahme der Nation an ihrem Nachwuchs, an ihrem einstigen Ersatz, die Erziehung als Sache der Politik, darin lag die Größe des Alterthums. Was nützt es mir, dachte der Spartaner, daß mein Sohn an Weisheit mit Bias wetteifert, wenn er die Schmach nicht rächen kann, die man meiner Leiche zufügt, wenn er seinen Herd und sein Erbtheil nicht zu schützen versteht! Montesquieu führt die Merkmale an, welche die Erziehung in despotischen Staaten hätte. Er sagt ungefähr: Tyrannen kann es nur geben, wo es auch Sklaven gibt. Die Sklaverei fußt am sichersten auf der Unwissenheit; Aristoteles sagte schon: für Sklaven gäbe es keine Tugend. Allein Montesquieu hätte noch dieß sagen dürfen: Nicht blos Unwissenheit ist der Stützpunkt der Despotien, sondern eben so sehr die Wissenschaft, wenn sie mit keinen öffentlichen Thatsachen in Verbindung gesetzt ist, die Wissenschaft, beschränkt auf ihre Bibliotheken, auf ihre Quarterly Reviews, auf ihre Experimente, ohne Zusammenhang mit der Nation und mit der Geschichte. Die Alten hatten den großen Vorsprung vor den Neuern, daß sich die Familie und die Schule dem Staate, man kann wohl sagen, dem Weltlauf, unterordnen kann. Wir werden erzogen erst für den Umgang mit unsern Brüdern und Schwestern, dann für unsere Kameraden und zuletzt erst für unsre Mitbürger. Wir müssen ein Stadium unserer Bildung vor dem andern zu verbergen suchen. So wie wir in die Schule treten, streifen wir alle Anklänge der Familie ab. Derjenige, welcher bei irgend einer Unbill ausruft: er wollt' es seiner Mutter sagen, wird ausgelacht. Man schämt sich seiner Häuslichkeit. Tritt man endlich in die Welt, so schämt man sich wieder der Schule. Man erwähnt sie nie anders, als um zu jubeln, daß man ein lästiges Joch endlich abschüttelte. Diese Feindschaft der verschiedenen Bildungsstadien unter einander kannten die Alten nicht. Epaminondas rühmte sich noch, alle Tage seines Alters der zu seyn, der er in seiner Jugend war, als er auf den Bänken der Schule saß.

Es ist ein außerordentlicher Beweis für die in den Deutschen schlummernden Kräfte, daß sie alle Resultate, welche ihnen die Zeit oder die Wissenschaft darbietet, sogleich für die Erhöhung des Unterrichts- und Erziehungswesens verwenden. Aber selbst für den Fall, daß dieser Umstand die Folge einer mangelnden öffentlichen Freiheit wäre, für den Fall, daß man hier eine Nation hätte, die für ihre geistigen Neuerungen nur in der Jugend den bildsamen Stoff finden dürfte, ist es außerordentlich, wie gerade die deutsche Erziehung alles in sich zu vereinigen scheint, was an die Größe des Alterthums erinnert, und ohne dessen Annahme die neue Zeit nicht groß werden wird. Man findet bei den Deutschen Sinn für öffentliche Leibesübungen, für die Bildung einer gesunden Seele im gesunden Körper; die deutsche Jugend zeigte im Jahre 1813 eine Wunderkraft, die sie nur auf den Schauplätzen ihrer gymnastischen Uebungen gelernt hatte. Dieser Sinn erhielt sich lange, ging auf Universitäten und in die Staatsverhältnisse über, wo sich die physisch-phantastische Ausbildung in doktrinell-moralische verwandelt hatte. An die Stelle der Gymnastik trat eine Philosophie, welche, trotz aller Abenteuerlichkeit im Schematismus, sich durch eine Fülle vereinzelter, goldner Ideen auszeichnete. Alles, was geschah, geschah durch Verbrüderung und Oeffentlichkeit. Die Pädagogen waren die Priester einer neuen Religion geworden. Den beschränkten, verzärtelten Eltern wurden die Kinder aus den Betten geholt und in die Flüsse geworfen, wo sie sich bald wie Fische lustig tummelten. Es gab moralische Verpflichtungen in der Luft, in der Literatur, im Zeitgeist, überall, namentlich in der neubelebten Geschichte, welchen sich Niemand, der nicht für einen Heloten und Idioten gelten wollte, entziehen durfte. Ja diese Dinge scheinen mir so außerordentlich, sind so reich an Samen für die herrlichste Zukunft, daß ich eine Nation beklagen muß, die, sie weiß selbst nicht wie, plötzlich darum gekommen ist. Ach, wenn es irgend etwas gibt, was die Schlechtigkeit der politischen Reaktionen, die durch die Julirevolution leider nicht beseitigt worden sind, beweist, so ist es grade diese Beraubung der Menschheit an neuen und schönen Reichthümern, die sich ihr Leben hätte erwerben können. Alles, seh' ich, wird wieder dumpf. Der grelle lachende Sonnenschein wird mit Flor gedämpft. Juristische Abwägungen von mehr oder minder Macht und Einfluß nehmen die Stelle eines welthistorischen Aufschwunges ein. Wuchergeist und Egoismus sind das Gefolge der unterdrückten freien Gemüthsstimmungen. Damit hier oder da keine Regierungsform zu Grunde gehe, damit die Verhältnisse von Fürst, Unterthan, Adel in ihren alten Traditionen erhalten werden, wird die Geschichte um eine neue Epoche betrogen. Die Augen der Zeit, die kaum noch so hoffnungsfreudig leuchtenden, haben sich mit wehmüthigen Wimpern bedeckt; wir leben vom Tage zum Tage, von der Stunde zur Stunde. Das einzige, was uns als neu und originell übrig geblieben ist, ist die Umwandlung der Phantasie in den spottenden Witz einer entsagenden Reflexion. Wir waren am Ziele, eine neue Zeit zu schaffen, und sind jetzt so weit herunter, daß wir kaum im Stande seyn werden, das vorige Jahrhundert so geistreich und originell zu reproduziren, wie jenes war. Der Grundton des leichtsinnigen Themas, welches wir wieder aufführen, ist Kampf zwischen Tyrannei und Freiheit. Wer will das leugnen? Eines von Beiden wird siegen. Wir verschmähen die Ausgleichung, die uns die Zeit selbst geboten hat. Wir wollen uns Zustände schaffen, die aus dem Siege eines von beiden Extremen geboren sind, wir verschmähen es, über beiden Extremen die Wahrheit zu suchen. Wir taumeln so fort. Wir werden bald an dem Abgrunde stehen.


 << zurück weiter >>