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Schon war in der Herrengasse das auf dem Schloß des Grafen vorgefallene und mit Blitzesschnelle sich verbreitende Unglück bekannt geworden. Dem gesammten mit Bestürzung ihn umringenden Dienstpersonal fühlte sich Benno gedrungen, es noch einmal mit allen Umständen zu erzählen.
Mit heroischer Selbstbeherrschung ordnete er das Nothwendige an, damit nicht die Gräfin, die jeden Tag eintreffen konnte, vom Vorgefallenen zu jäh benachrichtigt würde.
Längst war die Tischzeit bei den Zickeles versäumt. Auch würde Benno nicht die Stimmung gehabt haben, wie vorausgesetzt, an einer gemeinschaftlichen Tafel, auch nicht an einer Abendgesellschaft theilzunehmen. Er begnügte sich mit einem stillen Winkel in einer der schon dunkeln Nebenstraßen am Hohen Markt. Sich verirrend, kam er in die Currentgasse. Er kämpfte mit sich, ob er zu Therese Kuchelmeister gehen sollte, der einzigen Seele, die hier wol, nächst dem Grafen und der Mutter, wahrhaft seinen Schmerz mitempfand. Er mußte es aufgeben, da sich besorgen ließ, daß seine Thränen sein Geheimniß verrathen würden.
Als er in seine Wohnung zurückkehrte, war von den Zickeles aus bereits zu ihm geschickt worden; die Unglückskunde hatte sich auch dort verbreitet. Harry kam dann selbst, abgesandt, wie er sagte, 52 von Theresen, die in Verzweiflung wäre. Er erhielt die Mittheilungen, die ihn fähig machten, von jetzt an bis Mitternacht jedem Vorübergehenden, allen im Theater vor und neben ihm Sitzenden das Neueste zu erzählen mit hinzugefügter Versicherung: Ich bin so gut wie selbst dabei gewesen!
Noch war der Chorherr nicht daheim. Es war sechs Uhr. Nun kam auch Herr von Pötzl voll Bestürzung. Mit und ohne Verstellung zeigte er das hohe Interesse, das gerade er an diesem erschütternden Vorfall zu nehmen hatte. Mancher Charakterzug der so jung Dahingeschiedenen vervollständigte das Bild eines Wesens, das mit der Zeit an innerer und äußerer Heimatlosigkeit ohne Zweifel zu Grunde gegangen wäre.
Benno's Lage war bei diesen Erörterungen die tiefschmerzlichste. Die Frage: Ob Selbstmord oder nicht? wurde in Gegenwart des inzwischen gleichfalls heimgekommenen Chorherrn erörtert. Auch dieser hatte die Kunde vernommen. Herr von Pötzl weinte. Sein Taschentuch war über und über naß. Er »verbürgte« sich seinerseits für einen bloßen Unglücksfall. Alle Welt kenne ja die Wildheit der Gräfin Maldachini.
Der Chorherr stimmte ihm nicht bei, sondern sagte: Selbstmord ist die Folge einer lange vorausgegangenen Abwägung der zu tragenden Leiden und der Kräfte, die sie tragen sollen. Ueberwiegt die Summe jener, so hört die Willensfreiheit auf und mit Seneca sagt dann jeder Athemzug: »Die Thür ist ja offen – geh' doch hinaus!«
Pötzl schauderte vor diesem »heidnischen« Worte.
Der Chorherr sprach vom Selbstmord eines geistvollen Benedictinermönchs, der sich kürzlich erst von der Höhe eines der palastähnlichen Donauklöster in die Fluten gestürzt hatte, von einem kaiserlichen Censor, einem sinnigen Dichter, der sich aus 53 Zerfallenheit mit sich selbst und mit der Welt getödtet hatte. Er sprach, wie Ludwig Löwe in der Burg als »Roderich« so schön sagt:
»Und selbst die Träume sind nur Traum!« . . .
Alle Erschütterung und wehmüthige Betrachtung schloß bei Pötzl nicht die Bemerkung aus, daß ohne Zweifel der Graf in den Entresolzimmern des Casinos den Nachlaß von Briefen und »dergleichen« mit Beschlag belegt, vertilgt, überhaupt wol die »Erbschaftsfrage vereinfacht« hätte. Benno ging auf diese Gedankengänge der Habsucht ein, um etwas von Angiolinens Ursprung zu hören. Wesentlich Neues erfuhr er nicht.
Dem Zugeständniß, daß nun durch eine ebenso überraschende wie schmerzliche Fügung des Himmels die Willensfreiheit des Grafen und das Arrangement seiner Finanzen gesicherter wären, konnte er sich nicht entziehen – um so weniger, als jetzt auch Leo Zickeles voll Schreck und Staunen kam und die nämlichen Gesichtspunkte aussprach.
Pötzl ging und flüsterte Benno ins Ohr: Noch eins, Herr Baron! Ich kann Ihnen aus guter Quelle mittheilen, Ihre Anwesenheit erregt Interesse in – den höchsten Kreisen, sage: den höchsten! Se. Durchlaucht wundern sich, daß Sie sich nicht bei ihm persönlich gemeldet haben. Stadtrath Schnuphase wird von ihm morgen empfangen werden. Sehr begierig ist man, von Ihnen über – doch ich weiß nichts, als daß der Herr Oberprocurator von Nück hierher geschrieben haben, Sie hätten halt die Absicht, in diesseitige Staatsdienste zu treten! Da werden Sie ja bald das Nähere erfahren!
Benno horchte staunend auf und lehnte diese Voraussetzungen als völlig unbegründet ab.
Klug und schmerzlich lächelnd – und alles immer mit einer und derselben Miene – ging Pötzl. Auch Leo Zickeles blieb 54 nicht zu lange. Hier war die Bildung eines »Comités zur Unterstützung von Hinterlassenen« nicht am Platze. Der Chorherr wurde abgerufen. Ob er gleich Angiolinen nicht gekannt hatte, war sein Blick doch voll Trauer.
Schon schlug es sieben Uhr. Um acht wollte Fürst Rucca kommen. Benno besaß nicht die mindeste Neigung, heute noch den Cardinal Ceccone kennen zu lernen und Olympia zu sehen. Entschlossen, sich nicht zur Gesellschaft anzukleiden, ging er mit steigendem Unmuth auf und nieder. Da kam der Chorherr mit einem Schreiben zurück, das ihm eben für Benno – wirklich aus der Staatskanzlei zugekommen war. Ein kaiserlicher Rath schrieb: Se. Durchlaucht hätten die überbrachten Briefe empfangen und würden, da der traurige Vorfall von heute früh bei Sr. Erlaucht dem Grafen von Salem-Camphausen dem Herrn Baron wol ohnehin für seine nächsten Aufträge Muße gäbe, es gern sehen, wenn die von Herrn Stadtrath Schnuphase in Aussicht gestellten mündlichen Mittheilungen sowie die schriftlichen des Herrn Dr. Nück von ihm ergänzt und bestätigt werden könnten. Se. Durchlaucht erwarteten ihn morgen in der Frühe um zehn Uhr.
Benno betrachtete das überraschende Schreiben von allen Seiten und traute seinen Augen nicht. Nun erst haftete er an Pötzl's Aeußerung: Nück empföhle ihn für den hiesigen Staatsdienst . . . Ist denn das eine von Nück über mich verhängte gewaltsame Entfernung? Kann er wol gar meinem Blick, meinem Verdachte nicht mehr begegnen? Darum die stete Aeußerung: Auch der Domcapitular muß eine Stelle antreten – in Oesterreich, in Ungarn! Wohin möchte er uns nicht alles verbannen, nur um – Lucinden ganz für sich allein zu behalten, oder weil er fürchtet – wir durchschauten seine teuflische Veranstaltung mit der gefälschten Urkunde!
Benno's nicht minder erstaunter Wirth wünschte ihm Glück 55 und setzte in seiner ironischen, immer durch einen elegischen Ton gemilderten Weise hinzu: Es ist jetzt nur schade, daß der große Staatsmann die Gewohnheit hat, alles schon selbst zu wissen! Er sagt, er will von Ihnen lernen und wird Sie nur belehren! Das ist seine Art! Er fängt einen Satz an, – Sie wollen ihn ergänzen, Sie rufen: Sire, geben Sie Gedank – – Da bleibt sein Auge an Ihren Rockknöpfen hängen und sagt Ihnen, wo in Oesterreich die besten Knopffabriken blühten! Sie wissen keine bessern draußen im Reich –! beweist er Ihnen und der Discurs endet gemüthlich: Hab' mich unendlich gefreut! Jetzt ist sein Hauptgedanke unser Anschluß an den Zollverein, nämlich um das Supremat Ihres Staats zu beschränken. Nehmen Sie getrost eine Anstellung – etwa im Finanzfach!
Das muß rasch kommen, erwiderte Benno, denn ich reise schon morgen!
Wie? rief, von dieser Mittheilung ernstlich überrascht, sein freundlicher Wirth.
Das Nichtglaubenwollen des Greises hinderte Benno nicht, zu erklären – Graf Hugo wäre von seinem Unfall zu sehr erschüttert, um mit ihm geschäftlich zu verkehren. Er würde demzufolge seine Reise nach Italien beschleunigen.
Der Chorherr wurde nun unwillig. Er beklagte, den Abend nicht frei zu haben, um seinem jungen Freunde diesen Plan gründlich durch eine Zerstreuung auszureden. Er scherzte und sagte, er würde jedenfalls zu der Italienerin gehen, die heute früh schon um seinetwillen sein stilles Haus alarmirt hätte und die würde ihn festzuhalten wissen! Wissen Sie denn nicht, welche Connexionen Ihnen für Italien und Rom entgehen? Man muß die Menschen, gleichviel ob sie gut oder schlecht sind, als Material benutzen, um sich daraus das Leben auf seine Weise zu gestalten! Bleiben Sie aber doch heute Abend zu Hause, lesen Sie wenigstens für die 56 möglicherweise folgenschwere Audienz im Conversations-Lexikon drüben bei mir, pêle mêle, Band 7, Band 10 – machen Sie's wie die Großen, wenn sie imponiren wollen! Den ersten besten Artikel z. B. über die Muschelkalkversteinerungen lernen Sie auswendig und bringen Sie das Gespräch durch eine einzige geschickte Wendung etwa auf – urweltliche Austern – Sie wissen, da beißt die Diplomatie immer an –! Dann einige entsprechende Citate von Cuvier so fallen gelassen und Sie sind ein gemachter Mann! Denn man wird glauben, »urweltliche Austern« wären bei Ihren Kenntnissen das tägliche Brot! . . . Ja, ja! Der Fürst steht freilich schon, hör' ich, auf dem Standpunkt des Fertigseins, wo sich ein Großer nach einer Audienz nicht mehr sagt: Wie hat mir dieser Mann gefallen? sondern: Wie hab' ich ihm gefallen? Aber das Ereigniß bleibt darum merkwürdig an sich! Sie bleiben und nehmen jedes Anerbieten. Unser Curs steht immer noch leidlich. Einmal fängt man ja überhaupt an. Gewiß, gewiß! O, ich werde Sie reisen lassen –! Der Chorherr that, als wollte er Benno in seinem Zimmer einschließen.
Es war acht Uhr. In der Ferne hörte Benno das Rollen in den Straßen. Es war wie das Rauschen des Meeres. Nun begannen die Stunden der Geselligkeit, – die Sicherheit der Lüge und des Zwanges! Mit Herzen voll Trauer können andere lächeln! Wegtändeln sollst auch du solche Lebensbürden –! Sollst morgen – nach diesem Heute –? Nein! Wie könntest du nur, ohne Aufsehen und mit einem triftigen Grunde, schnell und ungehindert von hier wegkommen?
Er ordnete bereits seine Effecten. Da wurde an seine Thür gepocht und der Mohr des Principe Rucca, in weißen Kleidern mit Goldtressen, erschien, um ihn abzurufen. Der Wagen stünde bereits unten! So berichtete er in gebrochenem Italienisch.
Benno entschuldigte sich und zeigte auf seine Haustoilette.
57 Der Mohr verstand nur halb, ging und kam jetzt mit dem Principe selbst. Aber mein Himmel, rief dieser, was ist das! Sie hatten uns ja versprochen –
Vergebung, Hoheit, ich bedauere – Ich fühle mich nicht wohl!
Aber der Cardinal erwartet Sie ja schon! Sie müssen kommen!
Benno schützte seine Erschöpfung vor, die Nachwirkung der traurigen Eindrücke des Tages. Auch eine wichtige Einladung auf morgen in der Frühe.
Principe Rucca, der das Pflaster endlich abgelegt hatte, machte eine Physiognomie, wie ein Kind, dem man ein Naschwerk versagt hat. Seine rothe gestickte Uniform schien er einen Augenblick ganz zu vergessen. Sein schwarzes Bärtchen wäre ihm ohne Zweifel sonst ebenso wichtig gewesen wie sein großer Stern auf der Brust – Jetzt zerzupfte er nur vor einem Spiegel die Feder an seinem Galahut. Ich kann mich ja so nicht sehen lassen! sagte er. Der Cardinal wollte Sie schon mit dem Bisthum überraschen für Ihren – Herrn – Bruder, nicht wahr? Die Herzogin hat ihm alles erzählt! Die Gräfin hat sogleich an den Onkel geschrieben: Der heiligste Priester der Welt ist gefunden –! Die Sühne für die Existenz eines Fefelotti auf Erden –! Der Bruder des Herrn Baron von Asselyn –! . . . O machen Sie keine Scherze! Kommen Sie! Ich wage nicht, ohne Sie zum Cardinal zu fahren! . . . Ihr Bruder soll sogleich nach Wien kommen. Wenn er auch nur etwas Italienisch spricht, so braucht er hier an unserer Kirche »Maria zum Schnee« nur dreimal zu celebriren und ist Bischof von Robillante. Das Uebrige findet sich! Es gibt ja Kinderbücher und Grammatiken!
Benno erstaunte über diese rasche Begünstigung Bonaventura's, blieb aber bei seiner Weigerung. Der Principe mußte 58 in seinen Wagen allein zurückkehren. Er ging wie ein Kind, das eine große Strafe befürchtet, ja verlangte fast einen Schwur, daß nur wenigstens morgen Benno im Palatinus beim Diner nicht fehlte.
In höchster Aufregung und auch diese Zusage verweigernd blieb Benno zurück. Er hatte an Bonaventura, an den Onkel Dechanten, an seinen Bruder, den Präsidenten schreiben wollen. Nun ging er rathlos in seinem Zimmer auf und nieder. Es schlug neun. Als es zehn geschlagen hatte, klopfte es heftig am Hausthor und in dem stillen Priesterhause wurde es noch einmal lebendig von einer lauten Stimme, die nach ihm selbst fragte. Er erkannte Harry Zickeles, der ihm noch einen an sein Haus adressirten, mit dreifachem Porto belasteten Brief überbrachte. Ich dachte, daß es Ihnen angenehm sein würde, den Brief bald zu haben – sagte er, als er sich erschöpft niedergelassen hatte. Aber daß Sie zu Hause sind! Wer hätte das erwartet! Ganz Wien ist voll von dem Unglück der armen Angiolina, das Sie so mit erleben mußten! Mein Bruder Percival läßt auf sie eine Ode drucken. Der Graf muß in Verzweiflung sein! Ich war eben in der Josephstadt und habe ein neues »Ausstattungsstück« gesehen. Charmant für die dortigen Kräfte! Aber morgen speisen Sie bei uns? Gelt? . . . Warum nicht? O dann kommen Sie den Abend –! Der Laërtes von gestern ist denn richtig engagirt worden! Biancchi und Dalschefski arbeiten schon gemeinschaftlich, was sagen Sie, gemeinschaftlich! an einem Requiem für Angiolina – Und haben Sie den Pötzl beobachtet? – Wissen's, als er bei Ihnen war, hat er unten auf den Leo gewartet und bereits von der Erbschaft gesprochen! Nehmen's »Ihnen« in Acht vor dem Mann –! Er sagte, Sie erregten in höchsten Kreisen Aufsehen! Das heißt: Die höchsten Kreise sind bei ihm halt die Polizeidirection –
59 Benno warf ein: Der Staatskanzler hat mir für morgen früh eine Audienz anberaumt –
Harry erstarrte und traute seinem Ohre nicht. Er sah Benno mit aufgerissenen Augen an – Bei Sr. Durchlaucht –? wiederholte er, um sich ganz zu vergewissern.
Morgen früh um zehn Uhr!
Für Harry Zickeles war diese Thatsache außerordentlich. Sie bot für ein geheimnißvolles Beiseitnehmen aller ihm nur irgend bekannten Menschen die interessantesten Chancen. Ihre natürliche Nachwirkung mußte sein ein unausgesetztes: Aber der Harry Zickeles weiß es für ganz bestimmt! Es ist von einer Staatsbegebenheit über man weiß noch nicht was die Rede –! Verlassen's »Ihnen«! Harry zog vor, sich sofort zu entfernen und seine Neuigkeit noch um elf Uhr nachts wenigstens bei einigen ihm etwa begegnenden bekannten Nachtschwärmern und im Salon seiner Aeltern in Umlauf zu setzen.
Für Benno hätte es sonst eine Erquickung gewähren dürfen, den sechs Bogen starken Brief von Thiebold de Jonge lesen zu können, den Harry Zickeles überbracht hatte.
Heute – verschob er es für den folgenden Tag.
Nach einer beinahe schlaflosen Nacht, nach phantastischen wilden Bildern und gespenstischen Erscheinungen, die ihn um Mitternacht vom Lager trieben, Licht anzünden ließen und zwangen, auf dem Sopha sich mit gestütztem Haupt zu sammeln nach neuen Versuchen, endlich doch noch einige Ruhe zu gewinnen, nach neuen Spukgestalten mit verzerrtem Angesicht – brach der Morgen an, Benno erhob sich und ließ sein glühendes Antlitz von der kühlen Herbstluft erfrischen.
Noch mochte er niemanden im Hause wecken. Sein Herz war voll Fieberunruhe. Er wollte Wien verlassen – durchaus –! Er überlegte, ob er sich nicht sogar beim Staatskanzler 60 entschuldigen sollte. Konnte er Ruhe für die Stürme finden, die in seiner Brust während dieser Audienz toben mußten? Die Pein der Zweifel konnte sich nur mehren. Der Zweck seiner Reise nach Wien war durch ein wunderbares Zusammentreffen aller Umstände in einem einzigen Tag erreicht; was er suchte, war gefunden – es in Besitz zu nehmen, beseligend zu genießen war nicht möglich. In Italien, dachte er, da versuchen wir eine Form des neuen Daseins zu finden! Damit zog er seinen Koffer hervor und fuhr im schon gestern begonnenen Ordnen desselben fort. Ueber Triest wollte er zunächst nach Mailand gehen.
Er ergriff Thiebold's Brief in der sicher nicht ungegründeten Besorgniß, der Ton und Inhalt desselben würden zu seiner Stimmung nicht passen. Dennoch las er ihn. Die Buchstaben flimmerten vor seinen ermatteten – nur der Thränen bedürfenden Augen.
Thiebold schrieb sorglos: »Verehrter Freund! Sie werden es für eine meiner gewöhnlichen Redensarten halten, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß ich in dieser Stadt nur noch vegetire! Seitdem Sie sich unsern bekannten klimatischen Einflüssen entzogen haben, kann ich keine verspätete Schwalbe und keinen lahmen Storch mehr sehen, ohne von einem unwiderstehlichen Verlangen heimgesucht zu werden, Sie eines schönen Morgens mit meiner Ihnen allerdings nicht immer willkommenen Gegenwart zu überraschen. Hätte ich nicht den alten Mann, meinen Vater, bei Beginn der Gänsebraten-Saison in seiner Diät zu überwachen und wär' ich nicht für den Winter, wo wieder endlich, trotz der Kirchentrauer, getanzt werden soll, breitgeschlagen worden, einige Cotillons zu arrangiren, so würde mich keine Macht der Erde abhalten, selbst Ihr eigener Verdruß über meine Zudringlichkeit nicht, das Schrecklichste der Schrecken wahr zu machen und Sie in Person zu überfallen.«
61 »Aus Westerhof und Witoborn erfahr' ich wenig. Mehr noch aus dem Stifte Heiligenkreuz. Ich habe mir daselbst siebzehntehalb Freundinnen erworben durch meine Empfänglichkeit für Poesie, Austausch höherer Gefühle, Nichtberechnung der Portospesen für Notensendungen, Parfümerieen, ja selbst Commission und Spedition in Modesachen. In meiner Verzweiflung über diesen Reichthum an Freundschaft und Unverschämtheit sage ich bei jeder Gelegenheit zu Moppes: Sie können versichert sein, liebster Freund, Fräulein von Merwig hat sich in Ihr: ›Maikäferlein, flieg' auf!‹ verliebt und singt es täglich! Damit aber flicke ich ihm weder die ›Anflickerin‹ noch eine der übrigen Veteraninnen als Correspondentinnen an; Timpe, Effingh, Schmitz, niemand nimmt mir diese anstrengende Velinpapier-Correspondenz ab! Und gerade jetzt, wo der alte Mann, mein Vater, wieder Land sieht und in systematischer Opposition macht, gerade jetzt, wo ich mit dem Holzhandel mehr als zur Genüge beschäftigt bin (Sie wissen, welche Empfindungen der Mensch zwischen einem Haufen Buchen- und Eichenholz haben kann!) grade jetzt – – Vergeben Sie das Abbrechen dieses Satzes! Ich fühle ihn mehr, als ich ihn in Worte fassen kann.«
»Ja, damals, als wir, im Winter, hinter zwei Erlen standen! O, o – zwei Procent nur wär' es gewesen – aber doch bei alledem unvergeßlich!!! – – – – – – Malen Sie sich diese Gedankenstriche mit Schiller, Goethe und Nück aus! Nück – das ist ein Skandal –! dichtet – und wie! Keinem Zweifel unterworfen, er ist complet zum Tollhaus reif! Einen schwarzen Frack trägt er nicht (daran verhindert ihn, seines zu tragen verweigerten Ordens wegen, ein Gelübde), aber einen grünen mit Mattsilber, einen blauen mit Gelb, sogar rothe Sammetweste mit weißem Atlasfutter! Piter ist nichts dagegen, der übrigens in Paris mit Trendchen glücklich verheirathet sein soll.«
62 »Nück's Gegenstand ist natürlich niemand anders, als diejenige, welche – einem On dit zufolge das Kattendyk'sche Haus verläßt, sintemalen sie sich mit Guido Goldfinger, jetzt Procura, vertragen kann infolge folgender –«
»Zwei Tage später. Soll ich denn auf die Geschichte zurückkommen? ›Na‹! Es war der erste ›Abend‹ nach Piter's Entführung der Gertrud Ley, jenem bekannten Skandal auf dem Römerweg, als von Goldfinger's in ihren neuen Räumen auch ein ›Abend‹ gegeben wurde. Rührender Hinblick auf die Zimmer des verbannten Piter, auf die Treppe, wo ihn das leiseste Knarren schamroth machte, Hinblick auch auf die früh vollendete Schwester, die Delring – Delring jetzt in Antwerpen etablirt – großes Geschäft – möglicher Ruin von Kattendyk's! – Kurz erst die Hausfreunde sehr salbungsvoll und edel, hernach gutes Souper und Moppes und Timpe sehr gesprächig! Kamen aus Paris, erzählten von einem neuen Mittel, das Piter gefunden haben will, noch interessanter als bisher zu werden. Statt: Au contraire! mit dem er uns, Sie wissen's, sogar bei Gräfin Camphausen dazumal in Angleterre ausstach, statt seines impertinenten ewigen: Im Gegentheil! soll in einem Zornausbruch Nück ihm jetzt etwas anderes angerathen haben, nämlich – um noch interessanter zu erscheinen, sich sozusagen dumm zu stellen! Piter überlegte sich diesen Vorschlag zur Güte. Moppes und Timpe haben ihn in Paris besucht, wo er mit seiner kleinen Exnonne glänzendes Haus macht. Richtig, statt wie bisher immer jähzornig aufzufahren und mit: Das verstehen Sie nicht! Im Gegentheil! um sich zu werfen, spielt Piter den von der Liebe Gezähmten, träumerisch und kindlich in dieser komischen Welt Umirrenden, unbewußt die gewöhnlichsten Gegenstände – aus ›Ueberfülle an Geist‹ nämlich! – Verwechselnden; kurz, wenn von Schinken gesprochen wird, beschreibt er: Na! ein Thier, von dem man, na! 63 einen gewissen Theil seines Körpers mit besonderm Wohlgefallen auswählt und, na ja! durch die Methode des Räucherns roh oder gekocht zu verspeisen pflegt! und ruft dann die ganze Gesellschaft: Herr Gott, Kattendyk, Sie meinen ja Schinken? so sagt er, sich besinnend und lächelnd: Na ja, natürlich, Schinken heißt das Dings da! Kurzum er besinnt sich vor Ueberfluß an Geist nur ganz dunkel auf seine alte Köchin Kathrine Fenchelmeyer im Hause seiner Aeltern, sagt auch bei einem Diner prima Sorte, das Moppes und Timpe bei ihm durchmachen mußten: Ich bitte dich, Trendchen, warum ißt man nur diesen Plât da mit der Gabel? Ueber alles stellt er sich so unwissend, wie er vielleicht in Wirklichkeit ist; aber die anwesenden Fremden schwuren, dies simpelhafte, nirgends mehr Land wissende Wesen müßte eine wahre innere Ueberschwemmung an Geist verdecken und Piter wäre eine der genialsten Offenbarungen unsers sich überlebt habenden und demzufolge wieder von Kindesbeinen an beginnen müssenden Jahrhunderts!«
»Doch ich komme von meinem Abend bei Goldfinger's ab – Also –«
»Zwölf Stunden später! Mein Brief, lieber Freund, wird, seh' ich, endlos werden. Also denken Sie sich – erstens Lucinde! Sie trug, da die Haustrauer zu Ende ist, in ihrem schwarzen Haar einen Turban von gelbem und rothem Kaschmir, mit an beiden Seiten herunterfallenden Perlenschnüren. Nie hab' ich sie so vornehm und so schlank gesehen! Enganliegendes aschgraues Atlaskleid, gleichfalls mit gelben und rothen Bandschleifen besetzt! Ich habe den Abend fast nichts als Toiletten beobachtet, weil nämlich dieses der interessantere Theil meiner Correspondenz mit den Stiftsfräulein geworden ist, weniger die Schwelgerei in Gefühlen, welche ich, wie Sie wissen, ›principiell‹ hasse. Da bei Goldfinger's nicht eine einzige Adelige vorhanden war 64 und ich, wie Sie wissen, in Witoborn und Umgegend zum Adel gehöre, so sammle ich, ohne alle Anzüglichkeit für mich, Stoff zu einer Menge Fi-donc's und Abscheulich's, die mir aus dem Stift über die hiesigen Farbenzusammenstellungen bei Toiletten zur Antwort werden. Ich bekomme auf die Art das Zeug, ein – förmlicher Kattundrucker zu werden! Getanzt wurde nicht, aber nahe daran kam's. Nück, zum Stutzer adonisirt, intonirte Moppes' Maikäferlied und der ganze Chor fiel ein. Die herzlose Bande hatte die arme Hendrika schon vollständig vergessen und ich, seit Sie fort sind, ohnehin immer wehmüthig gestimmt, ich verlor mich denn darüber dermaßen in Reflexion, daß Frau Oberprocurator Nück, die bekanntlich immer in jeder Gesellschaft über Hitze klagt, in den Schatten meiner kühlen Denkungsart flüchtete, ja sogar Lucinde mich als Fächer benutzte gegen Nück, den man allgemein unausstehlich fand!«
»Wieder sechs Stunden später – Mein Alter opponirt denn also richtig gegen die Regierung in Sachen des Kirchenfürsten! Wir werden schöne Späße erleben! Also, wo blieb ich stehen? Anfangs ging es in unserer gewöhnlichen Cadenz fort: Langeweile, Thee, Langeweile, Klavier, Langeweile, Quartett – Endlich hatte Lucinde, die in ihrem türkischen Staat die bescheidene Magd spielen wollte, beim Serviren einige Teller zerbrochen, auch mehrere Kleider verdorben und mit dem Professor einen Zank angefangen, als dieser, ohne je in Asien oder, wie Moppes sagte, wenigstens im pariser Jardin des plantes gewesen zu sein, behauptete, das Holz der Cedern auf dem Libanon so gut zu kennen, wie deutsches Fichtenholz – denn, sagte er, zu seiner ›heiligen Botanik‹ hätte er vierzehn verschiedene heilige Kreuzartikeln in Deutschland und der Schweiz gründlich studirt – unser Erlöser wäre seines Erachtens auf Cedernholz gestorben. Lucinde, von den Vorwürfen über ihr 65 Serviren gereizt, entgegnete: Entweder sind Sie im Irrthum oder der heilige Bernhard war es! Wie so? rückte der Professor seine goldene Brille in die Höhe und mochte sich erinnern. daß vorm Jahr eine Etage tiefer Armgart's Mutter ebenfalls in dieser Art schlimm mit ihm gestritten hatte. Der saubere Terschka erzählte es uns ja! Lucinde ließ sich nicht werfen. Zornig, wie sie war, entgegnete sie: Nach dem heiligen Bernhard bestand das Kreuz des Erlösers aus Cedern-, Cypressen-, Oliven- und Palmenholz –! Natürlich – mich als Holzhändler interessirte das! Ich sage: Nur Cedernholz! donnerte der Professor, bei allem Respect vor dem heiligen Bernhard. Die Commerzienräthin bat um Unterlassung solcher Streitigkeiten. Sie können sich jedoch denken, verehrter Freund, daß dieser Gegenstand nunmehr mich hinriß. Mein Temperament zwang mich zu der Bemerkung –«
»Wieder einen Tag später! Ich mußte gestern einer Holzauction in Euskirchen beiwohnen! Mein Alter ist in der Majorität und macht Enckefußen schön zu schaffen! Den Telegraphen kann ich gar nicht mehr spielen sehen, ohne mir zu sagen: Diese Manöver bedeuten: Stecken Sie nur gleich die ganze de Jonge'sche Familie, Vater und Sohn, zu Loche! Wo blieb ich also gestern stehen? Richtig; ich erlaubte mir die bescheidene Bemerkung, daß die Bauten des Königs Salomo bereits die ersten Grundlagen des Holzhandels und zwar nach Tyrus gelegt und bewiesen hätten, daß Palästina und Umgegend wenig Waldung gehabt hätte, daß demnach also, als drei Kreuze auf dem Berge Golgatha auf einmal gebraucht wurden, diese allerdings wahrscheinlicher und möglicherweise aus mehreren Holzarten genommen werden mußten – Da hierauf die ganze Gesellschaft in ein, beiläufig bemerkt, sehr unpassendes Gelächter ausbrach – das mich verdroß. da ich mir bewußt war, 66 wissenschaftlich gesprochen zu haben – so schnurrte mich der Extraordinäre a. D. wie ein Kater an, betrachtete mich von oben bis unten und machte Miene, als wollte er, um mich zu strafen, diese Aeußerung griechisch beantworten. Sie wissen aber, daß ich nie hitziger werden kann, lieber Freund, als da, wo ich mich nicht ganz sicher fühle, nämlich ob ich recht habe. Gelehrte Seitenhiebe reizen mich dann vollends bis zur Tollkühnheit. Moppes, Timpe, Schmitz, Effingh, alle standen sie um mich und suchten mich zu beruhigen. Mit maliciöser Zurückhaltung sagte der gelehrte Kerl jetzt lächelnd: Fräulein Lucinde ist so geistreich, daß ihre Erwiderung nur für einen Scherz zu nehmen ist! Sie weiß sehr wohl, die Bemerkung des heiligen Bernhard ist ein Spiel des frommen Witzes und der Phantasie. Der hochgelehrte Mann will an jede Gattung seiner vier Holzarten Betrachtungen anknüpfen. Ohne Zweifel sucht er, ich erinnere mich jetzt der Stelle, in den vier Holzarten das Symbol 1) des Lebens – das ist die Ceder, 2) der Trauer – das ist die Cypresse, 3) des Trostes – das ist die Olive, und 4) des Friedens – das ist die Palme. Ich habe die feste Ueberzeugung – Weiter kam jedoch der Mensch nicht; denn ich unterbrach jedes seiner Worte. Nun fuhr er auch mich an, als wenn ich Piter wäre: Schweigen Sie! und als ich ihm ein: Herr Professor –! fast im Ton wie eine Maulschelle lancirte, mußte ich erleben, daß dieser niederträchtige Kerl an den Kamin geht, wo ein eiserner Holz- und Kohlenkorb stand, hineinlangt und mir feierlich vor der ganzen Gesellschaft ein Stück Eichenholz überreicht mit den Worten: Das ist Ihr Fach –! . . . Nun kann ich Ihnen aber doch sagen, daß ich Beistand fand. Wir Kaufleute halten in Einem Punkt unter allen Umständen zusammen – Gesellschaftliche Anspielungen auf unsere Branche sind in dem Grade mauvais goût, daß ich – –«
»Wieder einen Tag später! Fast wurde mein Alter in 67 die Deputation gewählt, die zu Sr. Majestät nach der Residenz abgehen soll! Eine schöne Verwirrung hier –! Nück hat eine fürchterliche Adresse beantragt, fiel jedoch damit durch. Enckefuß will ihn nun vor die Assisen bringen. Nämlich – entre nous! – das Gerücht geht, Hammaker wäre für Nück gerade zur rechten Zeit um seinen Kopf gekommen; der Brand und die Urkunde hätten vollkommen die Zweifel verdient, die mich, wie Sie wissen, damals bei Fräulein Benigna in Westerhof in Ungnade und um meinen Adel brachten. Da aber mein Vater in Kirchensachen ganz mit der Ritterschaft geht und wir plötzlich so populär sind, daß ich mir des vielen Grüßens wegen einen neuen Hut habe kaufen müssen, so schlug ich auch an dem Goldfinger'schen Abend den Professor vollständig aus dem Felde. Nämlich ich wurde wild. Ich sprach von einer nothwendigen mikroskopischen Untersuchung aller vorhandenen heiligen Kreuzpartikeln durch Professor Liebig und blieb bei meinen viererlei Holzarten und nannte zu Ehren meiner Branche, ich meine der Beschäftigung mit Holz, den Erlöser sogar selbst den Sohn eines – Zimmermanns, der schon früh mit Säge und Hobelspänen Wunder verrichtet hätte und vielleicht selbst für den Zimmerplatz und den Holzhandel erzogen worden wäre. Da erhob sich dann freilich Kanonikus Taube vom Whist und schlug über solche Streitigkeiten die Hände über dem Kopf zusammen, der Professor verzog sich, seine Gemahlin sprang wüthend ans Klavier und paukte eine neue Tremolo-Etüde und nach diesem Abend mußte denn die Commerzienräthin der Lucinde, die allerdings den ganzen Streit angefangen hatte, auf Anstiften dieses giftigen Außerordentlichen kündigen und das ist also jetzt das Allerneueste! Sonst weiß ich nichts, als daß der Domcapitular wieder im alten Ansehen steht. Man spricht von einer Predigt, welche die Regierung sehr unangenehm berührt haben soll. Der Text: ›Fürchtet Gott, ehret den 68 König!‹ Das soll Ihr Cousin so gewandt haben: Daß ein Christ Gott zu fürchten, den König aber blos zu ehren brauchte –! Erzählt man –! Ich bin so vollständig wieder Heide, daß ich seit dem letzten Winter keine Kirche gesehen habe und um so mehr wieder Ihrer persönlichen Anleitung zur Tugend bedarf. Bester Freund – verlier' ich an Ihnen in Zukunft vielleicht ganz meinen Halt? Man sagt allgemein, Sie gingen unter die Diplomaten –! Das könnte mich veranlassen, Sie wegen mancher höchst bedenklichen vertraulichen Aeußerung, die Sie mir gethan, zu denunciren und somit steckbrieflich verfolgen zu lassen, damit Sie sicher wieder hierher an Ort und Stelle gebracht werden! Adieu, theurer Freund! Wissen Sie denn auch, daß die alte Gräfin Dorste-Camphausen hier durchgereist ist, ohne sich nach mir erkundigt zu haben! Postscript. Die Damen Schnuphase lassen ihren Vater bitten, sich nicht zu erkälten! Von London nichts – gar nichts –! ›Ob sie meiner noch gedenkt!‹ O! – – – – Große Revolution im Männergesangverein, parteiische Vertheilung der Solis, Sturz des Präsidiums, Austritt der Minorität, Bildung eines Oppositionsmännergesangvereins! Nächstens besuch' ich Kocher am Fall! Schreiben Sie bald Ihrem – Unverbesserlichen! – – Compliment auch von Gerhard Schmitz an Herrn Ritter Fuld in Wien ›Man waiß schon‹ –!«
Wie lag das alles – nach Ton und Inhalt – dem Gemüth Benno's jetzt so fern –! Er legte den Brief lächelnd in Thiebold's Abschiedsgeschenk, das große Reiseportefeuille, das vor ihm aufgeschlagen lag. In den Andeutungen über Nück, über den Kirchenstreit, über Bonaventura's Predigt lag eine Mehrung seiner Sorgen. Benno sah voraus, was der Staatskanzler von ihm werde hören und erläutert wissen wollen. Er dachte an die Scherze mit seinem Bruder, dem er gesagt: Vor dem Staatskanzler würde er den »Posa« spielen! Wie sollte er einem 69 vielleicht wohlwollend entgegenkommenden eine Seite herauskehren, die sich, ihm gegenüber, für seine Jugend und unbedeutende Lebensstellung schwerlich ziemte? Und doch – verlockend blieb die Begegnung bei alledem! Denn unwahr würde er sich benommen haben, wenn er dem Fürsten in allem zustimmte – ihn glauben ließ, daß Nück in Uebereinstimmung mit ihm gehandelt hätte! Er warf sich in die schickliche Toilette.
Der Chorherr kam herüber und machte ihm wegen seiner Zurüstungen zur Abreise, die er doch also bestätigt sah, ernstliche Vorwürfe. Sie sind, sagte er fast gekränkt, auf der hohen Flut der Gunst und des Glücks! Ich schreibe noch heute dem Dechanten! Gestern Abend war ich bei einer Anzahl alter Freunde und Freundinnen Ihres Onkels. Alle wünschen, Sie zu sehen. Und nun bekommen Sie – das Kanonenfieber? Von einem vernünftigen Posa heißt es nicht: Nach Munkatsch! sondern: »Der Ritter wird künftig unangemeldet vorgelassen!«
Zur Mehrung der Verlegenheit, zur Schärfung der Vorwürfe des Chorherrn kam dann wieder der Mohr des Prinzen Rucca, brachte eine wiederholte Mahnung, um vier Uhr das Diner nicht zu vergessen und schlug aus einem Rosaseidenpapier ein prachtvolles Bouquet, das ihm aus dem Palatinus von Altezza Amarillas oder von Eccellenza Contessina geschickt wurde – Der eigentliche Absender blieb unaufgeklärt, selbst gegen ein überreich gespendetes Trinkgeld. Es war ein mit italienischer Kunst gewundener Blumenstrauß von weißen Camellien, in der Mitte ein Herz von Pensées. Pensez-à-moi! scherzte der Chorherr und verließ Benno mit dem satirischen Zublinzeln, daß er sich wol hüten würde, einen Boden zu verlassen, wo ihm jeder traurige Eindruck gleich wieder so hold und vielversprechend verwischt würde!
Die weißen Camellien konnten nur der Gedanke seiner Mutter sein. Den Muth aber, einem fremden jungen Mann 70 überhaupt Blumen zu schicken, hatte ohne Zweifel nur die kleine Gräfin eingeflößt. Ihr Verlangen nach ihm schien keiner Beherrschung mehr fähig.
Gegen zehn Uhr nahm Benno einen Fiaker und fuhr in die Staatskanzlei. In einem Gewirr größerer Gebäude, die in winkeliger Zusammenstellung allen Jahrhunderten angehörten, hier an die Babenberger, dort an die Zeit der Maximiliane, an einer anderm Stelle an Kaiser Joseph erinnerten, lag ein Haus mit mäßiger Fronte, einladend nur durch seine nach den Basteien hinaus gerichteten Seitenfenster. Der Wagen hatte sich pfeilgeschwind durch diese Winkel und kleinen Plätze hindurchgewunden.
Benno stieg aus. Bereits ein zweiter Miethwagen stand vor dem Portal.
Der Minister wohnte im ersten Stock. Ein großes dunkles Vorzimmer wurde durchschritten. Dann kam man in ein lichteres, das eine schöne Aussicht auf die belebten Umgebungen der Stadt und den Volksgarten bot. Hier hatte sich ein Anzumeldender bis zu näherem Bescheid aufzuhalten.
Benno traf, wie erwartet und gefürchtet, mit Schnuphase zusammen. Herr Maria stand unter dem Druck seiner »hochgespönnten« Nerven. Vom Sperl, aus Döbling, Hietzing, von allen möglichen Zerstreuungen, die ihrem Gastfreund die Tuckmandl's und Pelikan's trotz der Wundermedaillen und Paternostervereine bereiteten, erschöpft, schnappte und schnalzte er nach Luft. Jetzt, beim Anblick des Barons von Asselyn, erleichterte sich ihm die Brust vor Freude und Ueberraschung. Der Gruß des Herrn Thiebold de Jonge und die Mahnung an seine Leibbinden rührten ihn. Nur jedes Knarren einer Thür unterbrach sofort den Strom seiner Mittheilungen.
71 Benno war in einem Traum. Er wußte nicht, wie er hierher gekommen. Um seine Aufregung zu verbergen, fragte er scherzend: Werde ich jetzt erfahren, welches Ihre geheime Mission ist?
Schnuphase hob, wie zur Andeutung eines Schwurs, seine weißen Handschuhe gen Himmel. Da öffnete sich die Thür. Schnuphase verbeugte sich bis zur Erde. Der Eingetretene war aber noch nicht der Beherrscher aller europäischen Cabinete, sondern erst jener Hofrath, der an Benno geschrieben hatte. Die leutseligste Anrede von der Welt berichtigte Schnuphase's Irrthum. Der Herr Hofrath wandte sich an den Herrn Baron von Asselyn und entschuldigte Se. Durchlaucht, die noch einen Augenblick verhindert wären. Herr Stadtrath Schnuphase –?
Zu Dero –!
Die Kiste ist angekommen?
Zu Dero –!
Zum ersten Mal in Wien –? kehrte der freundliche Herr zu Benno zurück.
In dem Augenblick wurde Stadtrath Schnuphase durch einen Bedienten abgerufen – Nach einer Thür zu, die eben da wieder hinausführte, wo er hereingekommen war. Schnuphase flog und taumelte mehr, als er ging . . .
Mit einem, wie es schien, in Wien stereotypen, an Pötzl's »Gemüthlichkeit« erinnernden Lächeln, halb prüfend, halb zerstreut, setzte der hohe Beamte sein Examen über Benno's erstmalige Anwesenheit in Wien fort. Bei sich bald herausstellender völliger Bekanntschaft mit den Zwecken der Anwesenheit des jungen Mannes kam er auch auf den gestrigen »grausamen« Unfall mit dem »Fräulein von Pötzl«. Das, was ihm, wie er sagte, ihr Pflegevater selbst schon erzählt hatte, konnte Benno bestätigen.
72 Es folgte das herzlichste Bedauern und die Mittheilung, daß einige Wochen lang für die arme Seele in »Maria zur Stiegen« würde gebetet werden.
Eine Klingel ging. Der Diener von vorhin öffnete eine andere Thür. Mit einem: »Ich hab' mich unendlich gefreut!« und dem innigsten Händedruck wurde Benno von dem zuvorkommendsten aller Epigonen jener Gesellschaft, die der überfliegende Don Carlos mit dem Worte bezeichnet: »Da, wo Ihre Domingos, Ihre Albas herrschen!« an die Thür begleitet. Noch zwei Zimmer und der vom System des Staatskanzlers sonst mit jugendlicher Idealität urtheilende, jetzt wie ein geknicktes Rohr sich ihm nähernde – unfreiwillige Posa stand vor dem neuen – Don Philipp.
Der Gefürchtete war an Wuchs etwas kleiner, als Benno. Schmächtig, ebenmäßig gebaut, mit feinen, geistvollen Zügen. Die Stirn breit und hochgewölbt. Die Augen blau, die Nase mäßig gebogen, die Farbe der Wangen, die nicht schmal waren, blaß. Die Lippen durch lange Gewöhnung – auch die Ehe macht Ehegatten ähnlich – beinahe habsburgisch geworden, doch abwechselnd belebt von Ironie. Besonders auffallend blieb die schöne, wenn auch stark gerunzelte Stirnfläche, mit weit auseinander liegenden Augenbrauen. Das Haar war schon ergraut und zu erzwungener Jugendlichkeit geordnet. Die Sprache war zwar nicht leise, doch etwas unverständlich. Benno wußte, daß der Staatskanzler am Gehör litt und die Taubheit beeinträchtigt bekanntlich mit der Zeit die Schärfe des eignen Redevortrags.
Nach den freundlichsten und herablassendsten Begrüßungen setzte man sich. Nebenan hörte man ein Klingen von Gläsern. Benno erstaunte darüber. Jedenfalls war Schnuphase auf der Höhe seiner, dem Johannisberger Weinkeller geltenden Mission.
Der Fürst ergriff eines von den eleganten großen und 73 kleinen Büchern, die auf einem Tisch vor dem kleinen Kanapee lagen, steckte die Finger in die Blätter, klopfte in leichtem Taktrhythmus auf den Tisch und begann in geschmeidiger, fast zu regelrecht fließender Rede alle ostensiblen Veranlassungen für Benno's Anwesenheit in Wien herzuzählen. Dem Schmerz des Grafen Hugo, der zufälligen persönlichen Anwesenheit des Herrn von Asselyn beim Unglück mit Angiolina Pötzl trug er mit unverstellter Theilnahme Rechnung. Dann kam er auf den Oberprocurator Nück, mit dem er seit Jahren »immer sehr gern zu thun« gehabt hätte, auf die Empfehlungen, die ihm »Doctor Nück« über Herrn von Asselyn und dessen Wünsche gegeben.
Wünsche?! loderte es in Benno auf. Er begann auch sofort: Ew. Durchlaucht wollen entschuldigen – . . . Ohne jedoch Zeit zu bekommen, irgend auch nur die einfachste berichtigende Aeußerung zu thun, hörte er sogleich den Fürsten aus den ihm von Wien her, ja schon vom »Parterre der Könige« in Erfurt sehr wohlbekannten Dechanten zu St.-Zeno übergehen. Des Fürsten eigne Familie stammte aus der Gegend von Kocher am Fall. Selbst Bonaventura war ihm genannt worden.
Die Aeußerung, die der Staatskanzler auf die für Bonaventura gebrauchte Bezeichnung: Er wird ein »Heiliger« genannt! sofort folgen ließ, war charakteristisch. Ich wünschte wohl, sagte er, der Adel folgte überall solchen Beispielen und nähme sich etwas mehr der Kirche an! Seitdem die Pfründen schmaler geworden sind, hat man sie nicht mehr für die jüngern Söhne der Familien so ausgesucht, wie selbst noch in meiner Jugend Sitte war. Sagen Sie, würde Ihr Kirchenfürst den Muth gehabt haben, so für seine geistliche Pflicht aufzutreten und mit soviel Glanz sein Martyrium durchzuführen, wenn ihm nicht sein Zusammenhang mit dem Adel des Landes zu Hülfe gekommen wäre? Der Uebergang der geistlichen Stellen nur an Bürgerliche öffnet 74 jenem kleinen Ehrgeiz zu sehr die Bahn, welcher mit Intrigue verbunden ist. Dem Emporkömmling wird nie genug zu Theil –!
Wenige Verbindungsglieder fehlten hier und die Gedankenreihe wäre bei den Jesuiten angekommen, die der Staatskanzler hassen sollte – Doch unmittelbar flocht sich die Bemerkung ein: Ein reizendes Geschöpf, diese Angiolina! Ich kann nicht glauben, daß sie sich selbst den Tod gegeben hat. Sie wurde über die, welche ihr vorreiten wollten, zornig und überschlug sich. Jetzt ist's freilich eine freiwillige Handlung – ein »Poem«! sagte man gestern. Romantik und leider manchmal auch die Logik machen sich nur zu oft durch den Zufall erst ex post, gerade wie der Witz. Manche Leute, die ich positiv als dumm kannte, galten auf die Art für gescheidt – eben weil sie immer schnell bei der Hand waren, einer zufälligen Wirkung eine prämeditirte Absicht unterzulegen. Das wissen Sie gewiß, es gibt einen Humor der Thatsachen! Viele Staatsmänner haben sich jahrelang damit erhalten, den glücklichen Zufall sogleich auch für das Resultat ihrer Absicht auszugeben. Besonders stark sind in diesem wohlfeilen Klugseinwollen die Politiker Ihres Staates – Bitte, Herr Doctor Nück schreibt mir, Sie wollten daselbst keine Carrière machen! Erzählen Sie mir doch die dortige Sachlage, Herr von – Sagen Sie, sind die Asselyns nicht eigentlich italienischen Ursprungs –?
Benno hätte jetzt erwidern mögen, daß sich Nück in den Motiven seiner Reise nicht an die Wahrheit gehalten, hätte erzählen mögen, was zur Erleichterung der heimatlichen Schwierigkeiten dienen konnte, mußte jetzt aber der gestellten Frage antworten und sagen: Doch nicht, Durchlaucht! Friesischen Ursprungs!
Sie sollen aber das Italienische à perfection sprechen! fiel der Fürst sogleich ein.
Ich wollte zunächst Italien sehen, um mich im Sprechen der 75 italienischen Sprache noch mehr zu vervollkommnen und überhaupt alte Studien wieder aufzunehmen –!
Die italienische Sprache ist schwerer, als man anfangs glaubt! unterbrach der Fürst, der seine eigenen Gedankengänge festhielt. Sie ist ebenso falsch und tückisch, wie die Italiener selbst. Man glaubt mit dieser Grammatik auf dem besten Fuße zu stehen et d'un tour de main on a perdu tout son latin! Wo studirten Sie?
Benno nannte die betreffende Universität.
Der Staatskanzler warf einen der ihm eigenen Augenblitze, die den für gewöhnlich milden, ja matten Ausdruck seiner Augen unterbrachen, scharf und bestimmt zu dem jungen Manne hinüber und hatte jedenfalls eine Rüge der deutschen Universitäten im Sinne, sprach dann aber doch: Sie sind Jurist – Arbeiteten bei Dr. Nück in der – Apropos, die Gräfin Paula von Dorste ist ja clairvoyant! Wie sich das in Wien ausnehmen wird, bin ich begierig! Ein eignes Kapitel, die Clairvoyance! Ich habe sie in allen Stadien kennen gelernt! Auch in ihrer Verbindung mit der Politik – gerade bei Ihren aufgeklärten Staatsmännern –! Fürst Hardenberg war ganz in die Hände der Pythonissen gerathen und hat auch, glaub' ich, aus diesen Quellen seine Begeisterung für die Freiheit Griechenlands in Verona geschöpft! Die Verbindung mit der Religion ist mir weniger geläufig, aber unsere Salons sprechen mit Andacht davon – Leider wird mit dem ersten Kind der Gräfin diese neue Quelle der Unterhaltung für Wien verloren sein. Ihre Heimat ist ein seltsames Land, Herr von Asselyn, kernhaft jedoch und voll aufrichtiger Sympathie für uns. Wir haben davon täglich Beweise! In unserer Armee sowol wie im Klerus! Kennen Sie die Aebtissin Scholastika? Eine Tüngel-Heide! Es gibt mehrere Linien der Tüngel's?
76 Schon griff der immer nur allein Redende zum kleinen goldschnittgebundenen genealogischen Kalender, der auf dem Tische lag. Er suchte die Tüngel-Heide und die Tüngel-Appelhülsen. Nebenan klangen die Gläser . . . Benno beobachtete nur und – resignirte sich.
In Ihrer Provinz lebt noch fest und sicher die Ueberzeugung, fuhr im Umblättern der Fürst fort, daß es in der Politik nur Erhaltung oder Umsturz gibt. Die Reform soll uns heilig sein, ja, aber sie muß aus den Elementen der Erhaltung und für die Erhaltung hervorgehen! Nach Napoleon's Verwüstung alles Bestehenden konnte und durfte nichts Anderes kommen, als das System der Erhaltung. Selbst Napoleon fing zuletzt zu erschrecken an vor einer täglich sich mehrenden Lust an Neuerungen. Unter dem Zeitalter der Revolution haben die Völker zu viel gelitten, sie bedürfen auf hundert Jahre der Erholung. Ich weiß nicht, was dann kommen wird, aber ich meine, die von der Zeit gebotene Aufgabe war, Halt zu gebieten, und ich glaube, die nach mir kommen, werden noch lange dieselbe Nothwendigkeit einsehen! Ich gebe das sehr gern den jetzigen römischen Ansprüchen zu: Es ist auch so mit der Kirche –! Freilich hören die schwarzen Herren nicht gern, daß der Fels, auf den die Kirche gebaut wurde, irdisches Material ist, so gut wie jede andere Steinart, und daß einst eine Zeit kommen wird, wo sich die Philosophie verbreitet wie schon jetzt bei unsern reichen Bauerntöchtern im Salzburgischen das Klavierspielen – Aha! Da! – »Die Tüngel-Appelhülsen. Wappen: Die geschlängelte Schale eines Apfels« – Falls das nicht – glauben Sie nicht, Herr von Asselyn? ursprünglich eine Schleife war –! Auch so ein Witz – ex post!... Da sind ja die Camphausen! Zwei Linien –! Seltsam. Bei uns lebt die protestantische und Gräfin Erdmuthe ist sogar eine gefährliche Fanatikerin! Der Graf wird den 77 Militärdienst quittiren – Und – – Ja, der religiöse Riß zu Deutschland wird oft beklagt –! Ich schätze diesen Riß! Deutschland kann, da es eben seine Fürsten und seine verschiedenen Stämme hat, nur durch das Gleichgewichtssystem bestehen. Das hab' ich immer befördert und ohne Rückhaltsgedanken! Der Zollverein gibt ein zu einseitiges Uebergewicht – Sie kamen mit dem Herrn Stadtrath Schnuphase –?
Ich reiste nur zufällig mit ihm –
Doctor Nück schickt mir durch Sie alle Tabellen Ihrer Weinversteuerung, an der ich, wie Sie wissen, persönlich betheiligt bin. Die Centralisation der Interessen Deutschlands ist nicht möglich! Schon die natürlichsten Lebensbedingungen, Essen und Trinken, beruhen auf disparaten Organisationen. In Frankreich, Spanien, Italien sogar, dem ich sonst doch jede andere Einheit absprechen muß und nur die eines geographischen Begriffs lassen kann, hat die Lebensweise eine und dieselbe Bedingung. Nehmen Sie aber unsere Verschiedenheiten! Die barocke Abwechselung schon unseres – Brotes allein! Wie verschieden die Charaktere des Weins am Rhein und an der Donau! Vom Trank der Gerste gar nicht zu reden! Man glaubt es mir nicht, aber ich bin gegen ein Uebermaß von Uniformirung. Ich hasse den Josephinismus – nicht seiner Aufklärung wegen – behüte, nein! – nur deshalb, weil er am Ende doch nur den absoluten Polizeistaat proclamirt! Der absolute Polizei- oder Beamtenstaat aber kann zuletzt nur zur constitutionellen Monarchie führen, d. h. zur legalisirten Revolution und Republik!
Die Phantasie Ew. Durchlaucht überspringt große Intervallen! sagte Benno mit Entschiedenheit.
Geb' ich zu –! erwiderte der Minister und ließ einen seiner scharfen Blicke auf Benno hinstreifen. Aber darin denk' ich ganz wie die Kirche: Gutta cavat lapidem! Apropos, was sagt denn 78 Graf Camphausen zu dem sogenannten Baron von Terschka? Der Mensch ist in London Protestant geworden und der intimste Freund der italienischen Emigration. Ein Ex-Jesuit! sagt man sogar – hier bei uns aber nur entre nous!
Benno berichtete von dem ihm so verhaßten Namen, was er wußte, und wagte, angeregt von den Worten seiner Mutter, die Bemerkung: Die größte Gefahr des Stabilitätssystems droht nicht unmöglich von Italien und von Rom selbst –!
Sie meinen, daß die Zeiten des Cola Rienzi wiederkehren? lächelte der Fürst, nahm ein großes Kupferwerk, das vor ihm lag, schlug die Abbildung einer Burg auf und zeigte sie seinem Besuch mit den Worten: Sehen Sie da die Burg in Böhmen, wohin Cola Rienzi flüchtete, als seine Zeit in Rom um war! Zu uns ist er geflüchtet! Nach Böhmen! Ja, fuhr er dann fort, die Italiener sind allerdings die elendeste Nation von der Welt und zu allem fähig! Diese Nation wird den Monarchen, von denen sie regiert wird, und uns allen in Europa noch viel zu schaffen machen, sie wird conspiriren, morden, vielleicht ein vorübergehendes Glück gewinnen, von einzelnen Mächten vielleicht begünstigt werden, von England, das für seine Waaren sich einen Absatz in Sicilien und Neapel zu verschaffen sucht – aber elend wird alles nach kurzer Zeit wieder zusammenbrechen. Wie Barbarossa werden wir dann ihre Städte in Asche verwandeln müssen! Wir werden den Pflug darüber hingehen lassen und Salz aussäen müssen, um eine neue Erde zu schaffen! Das Salz werden deutsche, ungarische, böhmische Colonieen sein, unsere Sitten, unsere Verbesserungen, unsere Bürgschaften polizeilicher Ordnung! Zurückrufen werden die Elenden uns dahin, von wo sie uns verjagten, um nicht von ihren eigenen Landsleuten gemordet zu werden! Gemordet von ihren neuen Häuptern! Lesen Sie nur die Geschichte! So ging Crescentius unter, Cola Rienzi 79 flüchtete – Was wollen Sie von einer Nation, wo alles käuflich ist! Wo die Furcht jeden zum Verräther macht! Wir haben alle Conspirationen in der Hand, von jeder Carbonariloge besitzen wir die Namen. In Turin regiert ein Fürst, der als Kronprinz Carbonaro war und als er den Thron bestieg, lieferte er uns – sämmtliche Listen der Venditas aus! Ich zweifle nicht, daß er uns auch wieder verräth und als Carbonaro endet . . . Lassen Sie Krieg kommen – behalten wir noch Herrn Thiers lange am Ruder Frankreichs und will sein Schüler, der Herzog von Orleans, sich die Sporen verdienen, so haben wir Krieg und mit schwankenden Erfolgen! Angenommen, wir sind heute geschlagen – gut; aber von dem Tage an, wo die Italiener den Franzosen dankbar und einig sein sollen, rufen sie wieder die Deutschen zurück und geben uns die alte eiserne Krone! Dies Italien –! . . . Sie müssen es aber kennen lernen, Herr von Asselyn! Sie wollen dort hinreisen? Wollen Sie es dabei bequemer haben, so mach' ich Ihnen den Vorschlag, ein paar Depeschen mit nach Rom zu übernehmen – Freilich müßten Sie dann sogleich und noch in diesem Augenblick reisen! Würde Sie das hindern? . . . Nück schrieb mir, fuhr der Fürst fort, die Verlegenheit und aufwallende Röthe im Antlitz des jungen Mannes bemerkend, Sie wollen eine politische Laufbahn antreten –?
Durchlaucht – nein! sagte Benno fest und bestimmt. Nur der Gedanke: Da erlöst dich ja das Geschick im Nu! ließ ihn zur Uebernahme der Depeschen mit funkelnden Augen zustimmen.
Sie meinen, Ihre Grundsätze sind noch zu jugendlich? Sie opponiren noch zu gern? Mein lieber junger Freund, die Staatskunst muß es machen, wie die Kellerei mit den Weinen! Liegen die Fässer zu lange, so müssen sie aufgefüllt werden, alte Jahrgänge mit jungen! Sie haben ohne Zweifel die Calamität gehört, die sich auf meinem Weinberg am Rhein zugetragen? Ein 80 nachlässiger Küfer hat sieben der besten Stücke nicht aufgefüllt und nun sind sie Alterationen des Entwickelungsprocesses ausgesetzt – Dergleichen muß freilich ebenso geheim bleiben, wie unsere diplomatischen Schachzüge. Bitte also! Ich spreche nur darüber, weil Sie mit Stadtrath Schnuphase gereist sind –
Der Fürst öffnete die Thür und machte Benno zum Zeugen einer, wie es schien, außerordentlich ernst genommenen Scene. Ein feingekleideter, wohlbehäbiger älterer Herr, ohne Zweifel der Kellermeister des Fürsten, saß mit Schnuphase an einem Tisch. Vor ihnen stand eine Reihe kleiner Flaschen, die mit Zetteln beklebt waren. Einige Dutzend Gläser standen in der Nähe, um bei den Prüfungen nacheinander gebraucht zu werden; denn der Duft des Weins erhielt sich in jedem gebrauchten Glase zu lange und hätte die Aufgabe erschwert, welche die zu sein schien, die Mischungen und Auffüllungen aufs strengste zu unterscheiden.
Schnuphase und der Kellermeister waren aufgesprungen. Letzterer eben mit zwei Gläsern in der Hand, die prüfendste Miene in den gerötheten Gesichtszügen. Noch schienen Zunge und Nase nur mit Geschmack und Duft beschäftigt. Schnuphase stand mit seinem »Glöse« ganz in – »Extöse«. Der Duft, das Probiren, die Situation, die Nähe des »größten Mannes der Zeit«, die Satisfaction vor Benno, alles war ihm zu Kopf gestiegen.
Es wird wol nicht anders gehen, bemerkte der Fürst, man muß unserer Verwaltung, die an dem Versehen ohne Schuld ist und den Küfer entließ, Recht geben und »Dorf« oder »Berg« zur Erkräftigung des »Schloß« wählen? Ganz wie Ihr jungen Staatsneuerer ja auch wollt! Gern adoptiren wir Euer junges Blut! Oder wählen wir beides? wandte er sich, zum Scherzen aufgelegt, zu den Mischenden.
Schnuphase stand wie ein Retter des europäischen Gleichgewichts, obgleich er nahe daran war, das eigene zu verlieren. 81 Das Nippen an jedem dieser Gläser, das Streiten und Aeußern entgegengesetzter Zungenwirkungen, die wiederholt erprobt werden mußten, hatte ihn bereits zum Opfer des in ihn gesetzten Vertrauens gemacht.
Der Fürst billigte jede Entscheidung der gemeinschaftlichen Berathung und ordnete an, daß auch beim heutigen Diner, wo um deswillen die feinsten Kenner der Weinblumen des Rheines entboten wären, die Proben servirt und einem Verdict derselben unterworfen werden sollten. Die maßgebendste Stimme behielten die beiden anwesenden Herren selbst und lieb wäre es ihm, sagte er, nunmehr zu hören, daß sie so schnell ihre Meinungen vereinigt hätten. Wichtig genug war die Sache. War für die nächste Auction im Ruf der vernachlässigten Fässer irgendetwas versehen und verbürgten sich nicht die ersten Zungen für die volle Integrität des Gewächses, so konnten dreißigtausend Gulden auf dem Spiele stehen.
Es thut mir leid, sagte der Fürst in freundlicher Laune beim Zurückkehren in das vorher von ihnen eingenommene Zimmer, daß ich meine Einladung, mein Gast zu sein, nicht auch an Sie richten kann, Herr Baron! Die Aufgabe, die ich Ihnen vorschlage und der Sie sich, da Sie doch einmal nach Italien wollen, immerhin unterziehen sollten, wenn auch nur Ihrer Reisekasse wegen, bedingt eine sofortige Abreise! Um fünf Uhr Nachmittag geht die Eilpost! Sie brauchen sich nur dieser zu bedienen! Von Triest aus müssen Sie über Ancona zur See. Das ist unerläßlich. Nach einem halben Jahr kommen Sie in derselben Weise – ich meine, ohne Ihrer eigenen Kasse wehe gethan zu haben, wieder mit Depeschen, wofür ich schon sorgen werde! – zu uns zurück, und ich werde begierig sein, Ihre römischen Eindrücke zu vernehmen, falls Sie nicht vorziehen sollten, sie mir sogleich direct oder – an die »Allgemeine Zeitung« zu schicken. Wählen Sie für 82 erstern Fall die Adresse eines unserer Großhandlungshäuser. Versteht sich, bald diese, bald jene! Die Depeschen händigt Ihnen der Herr Hofrath ein, mit dem Sie vorhin gesprochen haben. Man soll Sie zu ihm führen –! Glückliche Reise! Frohes Wiedersehen!!
Der Fürst klingelte. Damit war die Audienz zu Ende.
Es war Benno eigentlich, als konnte er nicht von der Stelle. Er hatte nicht widersprechen, hatte, in Rücksicht seiner Jugend, seiner gedrückten Stimmung, seiner unbedeutenden Lebensstellung, überhaupt nur hören und, wenn er sprach, nur Nück's Empfehlungen ablehnen wollen. So aber hatten ihn hundert angelegte Fäden umstrickt – und nicht ein einziger war ausgeführt worden –! Er mochte über alles sprechen und hatte über nichts gesprochen. Demosthenische Reden, die auf der Zunge liegen geblieben! Jetzt verstand er, was man »Treppenwitz« nennt –! Dicht am Weltrade hatte er gestanden. Wie ein donnernder Wassersturz mußte ihm die Triebkraft erscheinen, die dies Rad in Bewegung setzte! Noch blieb er wie von einem unsichtbaren Sprühnebel umrieselt und betäubt.
Aber ein Diener folgte ihm und führte ihn schon zu dem Hofrath. Sie mußten noch eine Treppe höher steigen. Sollst du – oder sollst du nicht –? So stand er eine verhängnißvolle Secunde und sagte sich: Eine Gunst des Geschicks! Die Uebernahme dieser Verbindlichkeit verpflichtet dich ja zu nichts! Du hast nun doch einen triftigen äußern Grund, vor Situationen zu entfliehen, die sich jetzt noch nicht von dir durchleben lassen!
So trat er in ein düsteres Zimmer. Hier wurden ihm »die Depeschen«, ein einfach versiegelter großer Brief, eingehändigt. Am besten trägt man das in einer kleinen Tasche, sagte der freundlichste aller Hofräthe, aber an einem Riemen –! Haben Sie die Schnalle immer hübsch vorn auf der Brust! Schließlich hält das auch noch den Leib warm. Ist für die Seefahrt gut! Die 83 Reisekosten sind für acht Tage berechnet, für jeden Tag zehn Dukaten. Sie bekommen eine Anweisung auf die Cassa, Herr von Asselyn. Bitte! Nehmen Sie! Hier ist sie! Damit Sie keine weitere Mühe haben, werden wir gleich einen Platz im Coupé reserviren lassen! Sie zahlen ihn dann bei der Abfahrt! Habe die Ehre, eine glückliche Reise zu wünschen!
Benno reiste demnach als Kurier. Eine unverfängliche Gefälligkeit, die ihm noch obenein bezahlt wurde. Er nahm die Depesche, die Anweisung und ließ sich einige Zimmer weiter achtzig Dukaten zahlen. Das Ablehnen dieser Summe würde befremdlich erschienen sein und wol gar den Auftrag rückgängig gemacht haben. So faßte er es auf, im jugendlichen Sinn und von den äußern Umständen bestimmt. Später fand er Gelegenheit genug, diese Auffassung zu bereuen. Sie brachte ihn mit seinen heimatlichen Verpflichtungen in einen, sein ganzes Leben entscheidenden Conflict.
Beim Verlassen des Palais fand er die Treppe belebt. Boten, Jäger, Diener liefen hin und her. Zwei Lakaien in auffallender Livree eilten hastig an ihm vorüber. Hinter ihnen her schritt langsam die Treppe herauf, mit schwebendem Gang und mit einer lächelnd um sich blickenden Sicherheit, eine hohe, breitschulterige Gestalt in fremdartig priesterlicher Tracht. Hinter ihr folgten zwei andere, ebenfalls Priester. Benno empfing aus dem stark gerötheten Antlitz der ersten einen Blick des holdseligsten Grußes. Er trat zur Seite und erfuhr, daß es Cardinal Ceccone gewesen, der an ihm vorübergeschritten.
Dieser freundliche Blick war ihm wie der Stich eines Messers durchs Herz gegangen. Gekannt konnte Ceccone ihn noch nicht haben, er konnte nicht wissen, daß der ihm Begegnende die Sehnsucht seiner Tochter war. Der Gruß sollte nur aus dem Schatz der Liebe kommen, die Rom für alle seine Kinder ansammelt. Wenn ihn etwas aus Wien vertrieb, so hatte nur noch diese Begegnung 84 gefehlt! Der üppigste Triumph, verbunden mit dem Schein der holdseligsten Demuth und mit den unauslöschlichen Merkmalen einer schon von der Natur in den Augen, ja in den Ohren vorgezeichneten List! Welche Begegnung jetzt drinnen zwischen zwei nur äußerlich verbundenen Principien –! dachte er. Der Fürst, der die Jesuiten haßt, der Cardinal, der auf seine alten Tage, unter dem Druck der Frauen, die »Freiheit Italiens« anbahnt –! Wie unfertig, wie halb, wie überlebt erschien ihm alles nach dieser Audienz –! Wie wehte ihn der Odem Gottes mit neuen, den Völkern und dem Jahrhundert verheißenen Offenbarungen an –!
Am Portal sah Benno die beiden Miethwagen in bescheidener Entfernung und bedurfte immer noch Zeit, um sich besinnen zu können, wohin er fahren wollte. Schnuphase kam, begleitet vom Kellermeister. Ersterer hatte alle Ursache, dem kräftigen Arm zu danken, der ihn hielt. Die Aufforderung, in der »Stadt Triest« ein gemeinschaftliches Mahl einzunehmen, lehnte Benno ab, fuhr auf den »Kohlmarkt« und kaufte sich zunächst – die bewußte kleine Reisetasche. Zu Hause angelangt, schrieb er an den Principe Rucca einige Zeilen und bedauerte seine plötzliche Abreise nach Rom, behielt jedoch das Billet bis um vier Uhr noch zurück, wo man ihn erwartete. Lange kämpfte er mit sich, ob er seiner Mutter schreiben sollte. Er konnte nicht anders. Doch drückte er sich in einer Weise aus, die so unverfänglich war, daß jedermann das Billet lesen konnte.
»Herzogin!« schrieb er. »Ich erhalte soeben einen Auftrag vom Fürsten Staatskanzler, der mich zwingt, augenblicklich abzureisen! Ich reise nach Rom und hoffe, Sie dort in nicht zu entfernter Zeit zu begrüßen! Wien ist kein Ort, wo die Trauer einen andern Raum findet, als vor den Altären seiner Kirchen. Gedenken Sie in ›Maria zur Stiegen‹, wo die Seelenmetten Angiolinens gehalten werden, unserer Rückfahrt von jenem Hause des Schreckens! Die dunkeln Tannen, die es beschatten, werden 85 selbst im schönen Italien so lange vor meinen Augen stehen, bis ich Sie wiedersehe . . . Benno von Asselyn.«
Von Olympien schwieg er in beiden Briefen. Auch des Straußes, der vielleicht von Olympia kam, mochte er keine Erwähnung thun.
Der Chorherr blieb über die schnelle, nun freilich motivirte Abreise in hohem Grade verdrossen. Unbekannt mit den Empfindungen, die Benno von dannen trieben, schrieb er sie lediglich auf Rechnung des mächtigen Eindrucks, den denn nun doch der große Kanzler auf den jungen Mann gemacht hatte. Er glaubte ihm Glück wünschen zu dürfen zu einer »vielversprechenden Carrière« und sagte: Sehen Sie, so mächtig ist nun doch der blendende Reiz eines bei alledem großen Mannes –! Man muß sich ergeben, man hört nur noch, staunt und läßt an dem, was man haßt, das Menschliche in seiner Geltung – Protestiren Sie nicht! Sie sind jung! Geht es mir denn anders? Lieb' ich denn nicht auch mein Land und mein Volk? So lebt man in einer unglücklichen Ehe und kann sich nicht trennen. Man weiß, man paßt nicht füreinander, es gibt aber so viel Bindeglieder des Interesses, so viel gemeinschaftliche Sorgen, so viel kleine Aussöhnungen und so manche, wenn auch kurze Momente des Glücks, daß man immer wieder neue Hoffnungen schöpft –! 'S ist freilich ein Gemüths-Elend, woran zwei Menschen und – hier ganze Staaten und Völker zu Grund gehen können!
Benno mußte schweigen. Er hielt sich an die ihm von den Umständen auferlegte Nothwendigkeit seiner Abreise und ertrug den Schein der Inconsequenz. Gern übernahm der sich allmählich in die Trennung findende Chorherr die Meldung an den Onkel. Auch die Besorgung aller Visitenkarten, die Benno noch zum Abschied zurückließ. An den Grafen Hugo schrieb Benno Worte, die seiner Stellung und der Situation angemessen waren – Worte des Trostes und der Hoffnung für die Zukunft.
86 In das Comptoir der Zickeles mußte Benno seiner Creditbriefe wegen. Ueber dem Schreiben, Packen und Expediren seiner Effecten war es hoher Mittag geworden. Der alte Herr Marcus war eben von der Börse zurückgekehrt. Leo befand sich in einem Comité. Harry führte einen neuangekommenen Virtuosen.
Den alten Herrn Zickeles überraschte Benno's Abreise nicht im mindesten. Diese Bankiers grüßen ebenso gleichgültig beim Kommen wie beim Gehen. Nur im Interesse seiner Tochter Jenny bedauerte er. Sie hätte dem Herrn Baron noch etwas vorsingen wollen. Eben wäre sie, sagte er, und auch Angelika Müller, der Benno gleichfalls sich gern noch empfohlen hätte, mit Therese Kuchelmeister an den Ort gefahren, wo sich gestern das Unglück begeben! Auch Dalschefski und Biancchi hätten sich dieser Fahrt anschließen müssen. Der alte Zickeles sah den Vorfall nur in seinen Folgen an und sagte: Das Geschäft wird sich nun machen! Der Graf ist jetzt in Wahrheit frei! Alles hängt nun lediglich von dem ab, was aus Westerhof die Frau Mutter mitbringt. Wir werden ja sehen –!
Benno speiste dann noch mit dem Chorherrn, den des jungen Mannes Entschluß jetzt nicht mehr stören konnte und der allmählich seine wahre Freude daran hatte, den jungen Mann für ein System, das er doch haßte, »gewonnen« zu sehen –! Es zeigte sich hier das Gemüth und das Heimatsgefühl des Oesterreichers. Wie der Onkel Dechant glaubte er jetzt nur an solche Neuerungen und Besserungen, wie etwa die Gletscherbildung die Folge großer Erdrevolutionen ist.
Gegen vier Uhr, wo die Dinerstunde beim Fürsten Rucca war und die Herzogin und Olympia ihn hochklopfenden Herzens gewiß schon in glänzendsten Toiletten erwarteten, besorgte Benno seine Briefe in den »Palatinus«. Die Eilposten nach dem Süden gingen um fünf Uhr. Man mußte sich schon um vier in 87 Bereitschaft halten. Der Chorherr begleitete seinen so schnell gewonnenen jungen Freund, der von dem edeln Mann voll tiefster Trauer schied und ihn bat, seine Liebe und Güte auf Bonaventura zu übertragen, falls dieser in der That nach Wien kommen und dann vielleicht bei ihm wohnen sollte.
Man plauderte. Aengstlich zog Benno die Uhr, aus Furcht, noch eine Wirkung seiner Absagebriefe zu erleben – der Chorherr neckte ihn mit seinen tugendhaften Grundsätzen.
Endlich saß er im Coupé, das ihm in der That durch einen Ministerialboten reservirt worden war.
Schon benutzte er, da der Chorherr noch nicht gehen wollte, die Pause, die bis zum Schlagen der Abfahrtsstunde so langsam zu verrinnen pflegt, zu einem Abschiedsgruß an Angelika, den er auf ein aus seinem Portefeuille genommenes Blatt schrieb und dem Chorherrn mit einer Andeutung über Püttmeyer's Philosophie zu eigenhändiger Besorgung übergab – Da kam ein Mann, der hastig nach Herrn von Asselyn fragte und eine Visitenkarte aus dem »Palatinus« brachte. Von Gräfin Olympia? fragte lächelnd der Chorherr.
Verzeihen, sagte der Lohndiener, Ihre Gnaden die Contessina wollten selbst kommen, aber der Fiaker muß wol falsch verstanden haben und hat sie und den Prinzen vermuthlich nach der Briefpost gefahren, wo allerdings die Kurierposten abgehen, aber erst abends –!
Die Karte war von Benno's Mutter. Auf der Rückseite stand ein einfaches: Al rivedersi –!
Benno sah, daß er das Rechte getroffen, als er für Wien jede weitere Fortsetzung des Begonnenen abgebrochen.
Voll Angst horchte er auf, ob nicht noch Olympia und ihr Verlobter kämen. Er bat den Chorherrn, der »armen Seele« zu gedenken, für welche zwölf Tage lang in dem schönen 88 Kirchlein »Maria vom Gestade« (oder zur Stiegen), zur Schifferkönigin Maria, zur Schutzpatronin aller im – Hafen Eingelaufenen gebetet werden sollte. Der Chorherr drückte ihm zusagend die Hand.
Der Postillon schwang sich auf den Sattel des Handpferdes. Benno rückte seine Tasche mit der Depesche dahin, wo sie nach dem Bedeuten des Hofraths für seine Gesundheit am vortheilhaftesten lag. Der Conducteur setzte sich neben ihn und die Pferde zogen an.
Schon waren die funkensprühenden Schläge der sechzehn Rosseshufe auf dem Straßenpflaster verhallt, noch stand der Chorherr träumerisch sinnend auf seinen Bambusstab mit elfenbeinernem Griff gestützt, dem Wagen nachblickend – da kam ein Fiaker angebraust, aus dessen Schlag Principe Rucca und ein weiblicher Kopf heraussahen. Das Portal der Fahrpost wurde eben geschlossen.
Pater Grödner stand schon zu fern, um die, wie es schien, heftigen Zornausbrüche der Italienerin zu hören. Lächelnd über die Jugend, über den Ehrgeiz, über Menschen, die Liebe finden dürfen und sie nicht mögen, kehrte er zurück in seine stille Klause. Die Bleistiftgrüße an Angelika Müller wollte er erst couvertiren, falls sein Versuch, sie ihr persönlich einzuhändigen, mislingen sollte.
Indessen kam auch noch ein junger dicker Mann athemlos und verzweifelnd an die Posthofthür – Harry Zickeles! Er kam – mit seinem Album zu spät!