Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. VI. Buch
Karl Gutzkow

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48 3.

Schon nach einigen Tagen zeigte sich die Wirkung einer nunmehr gegen Bonaventura offen ausgesprochenen Anklage. Die geheimen Mächte, die alles Edle und Bedeutende in dieser Welt umwühlen, hatten endlich die Achillesferse des bisher so Unverwundbaren gefunden. Wer die Anklage zuerst formulirt, sie verbreitet hatte, das war nicht zu sagen. War es vielleicht Frau von Sicking? In solchen Dingen macht sich alles namenlos und von selbst, bis Einer dann hervortritt und für alle redet.

Die Nachricht über den Vorfall im Kloster verbreitete sich blitzesschnell. Die Mehrzahl sprach über den allgeliebten Priester ihr Bedauern aus und doch – das Mitleid ist ein Zoll, der, wenn auch mit noch so voller Hand gereicht, keine Zinsen trägt! Ein Gefühl des Beistandes muß fruchtbar, die Liebe mehrend sein. Hier stockte alles. Im negativen Bedauern – verlor der junge Priester.

Bonaventura, dessen ganzes Leben unter Roms Magie litt, war selbst nun ein Magier geworden. Man theilte ihm die Anklage des Pfarrers vom Berge Karmel im Original mit. Wie im Geist des Mittelalters stellte eine zitternde Handschrift Beschwerde über die Wahl dieses Stellvertreters, der ihm »seine Beichtseelen beschädige«! Der Domcapitular von Asselyn hätte in Witoborn die Gräfin Paula von Dorste-Camphausen magnetisirt, 49 hätte Visionen dadurch veranlaßt und da man noch den Geist, aus dem sich diese Thätigkeit der menschlichen Hand offenbare, nicht zu erkennen vermocht hätte, da die Kirche, trotz einzelner Beispiele der Anerkennung und Heiligsprechung der Prophetengabe, über alles, was an Zauberei erinnere, den Stab breche und mit Moses Zeichendeuterei und Aberglauben verwerfe, so müsse er das Heil seiner Beichtkinder wahren und wünschen, daß die Seelen der Nonnen am Römerweg behütet blieben vor einer Berührung mit so gefährlicher Naturbeschaffenheit, wie die des Domcapitulars.

Diese Warnung vor Aberglauben kam aus dem Munde eines Mannes, der ein Scapulier trug, das den Sterbenden den Tod erleichtern soll! Aus dem Munde eines Mannes, den Bonaventura vernichten konnte, wenn Roms Gesetze die Mittheilung dessen gestatteten, was ein Priester aus der Beichte weiß! Selbst die Frevel jener Verbindung der Schnuphases mit dem Kloster durften von ihm nicht angezeigt werden –! Und hätte Trendchen Ley gestanden, was vollends sie so schwer drückte – mußte er auch da nicht schweigen? Das sah Bonaventura deutlich, was ihm diese Aermste hatte gestehen wollen. Unter dem Schein der Religiosität hatte selbst Seelenmord ein zur Schwärmerei geneigtes Kind mit geistlich-sinnlichen Vorstellungen erfüllen wollen. Beten, Fasten, Kasteien hatte ihr Rother in Formen vorgeschrieben, die auf der Grenzlinie zwischen Demuth und Schamlosigkeit unsicher hingingen. Ohne Zweifel hatte er ihr die furchtbarsten Strafen des Himmels angedroht, falls sie verrathen sollte, was er sie lehrte, um auch körperlich dem Erlöser mit seinen blutenden Wunden ähnlich zu werden. In welchen Bildern mochte er ihr die Hingebung an Christus geschildert haben! Angst um ihre Geschwister im Waisenhause, Verehrung vor Priesterhoheit, Priesterunfehlbarkeit hatte das ungebildete Kind mit 50 widerstrebenden Gefühlen zur Sklavin seiner Autorität gemacht. Alles das, Bonaventura wußte es, war bei einem Cajetan Rother möglich und unter nichts anderm litt Trendchen Ley. Der alte Pater Sylvester, von dem Serlo's Denkwürdigkeiten erzählten, hatte in seiner Weise im Seminar all diese alten Methoden, Heilige zu machen, mit kindisch raffinirter Naivetät erzählt.

Nück, der geistige Bundesgenosse solcher Frevel, und Lucinde umflatterten ihn wie mit schwarzen unheimlichen Schwingen. Wieder erhielt er anonym folgende Zeilen: »Sie werden von der Beichte suspendirt werden! Zur Vermeidung dessen räth man Ihnen, lieber selbst Vacanz zu begehren, um eine Reise zu machen. Nur gehen Sie nicht nach Witoborn, wodurch Sie das Uebel noch ärger machen würden! Gehen Sie nach Kocher am Fall! Uebernehmen Sie die Aufträge nach Wien, so gilt dies für einen Bruch mit der Regierung. Doch wie Sie wollen – nur folgen Sie mit Vorsicht den Rathschlägen Nück's –!«

Der Athem stockte dem Priester beim Lesen. Nück begegnete ihm auf der Straße und rieth ihm, für immer mit der Heimat zu brechen. Wir müssen uns alle an Oesterreich halten! sagte er. Fort! fort!

Was sollte Bonaventura thun! Der Rath Lucindens war klug, beachtenswerth. Aber ein Rath aus ihrem Munde –! Nück's Absicht, ihn für immer zu entfernen, war unverkennbar. Man kam ihm wieder mit dem Auftrag, nach Wien zu gehen. Er sollte dem erwarteten Cardinal Ceccone und dem Staatskanzler die Vermittelung zwischen Rom und dem Landesfürsten, die Befreiung des gefangenen Erzbischofs, welchem zum irdischen Ersatz für seine Märtyrerkrone die Kirche den Cardinalshut schicken wollte, aufs dringendste ans Herz legen. Bonaventura war allerdings, wie Benno, ein Gegner der Waffengewalt, wie sie von der Regierung angewandt worden. Dennoch gingen sie 51 beide so wenig mit dem Geiste, aus dem Nück alles leitete und einfädelte!

In dieser zagenden Ungewißheit theilte ihm Kanonikus Taube, der Hausfreund der Kattendyks, im Tone des Bedauerns die Nachricht mit, daß man ihn ohne Zweifel vom Beichtstuhl entbinden würde durch die Pönitentiarie in Rom. Er möchte sich, setzte der Weltkluge hinzu, rasch zur wiener Mission entschließen. So entginge er allen seinen Neidern und Feinden und bliebe geachtet und angesehen. Der Regierung wäre er ja doch unter allen Umständen anstößig, wie vorzugsweise jetzt sämmtliche Priester, die adelige Namen trügen. Bleiben Sie so lange in einem Donaukloster, bis eine Pfründe offen ist! Ja, ja, es sind die Tage des Exils –! sagte er und ging zur Whistpartie bei der Commerzienräthin.

Auf einzelne hervorragende Häupter legt sich in großen Krisen die Verantwortung. Oft sind es nur Loose, welche der Zufall ausspielt. Irgendein Misverständniß, irgendeine unbegründete Hypothese vertheilt die Rollen. Ein katholischer Priester vollends kann seine wahren Meinungen und Gesinnungen nicht kund geben. Bonaventura war gegen den damaligen so nüchternen und freiheitsfeindlichen Geist der Bureaukratie tief eingenommen, er war adelig, galt noch von früher her für gespannt mit seinem Stiefvater, dem Präsidenten, war intim mit dem hervorragenden Adel von Witoborn – Wegen alles dessen galt er für einen Römling. Wie konnte er dagegen protestiren –!

Der alte Weihbischof übersah seine ganze Lage und rieth ihm gleichfalls, eine Vacanz zu begehren vorläufig, um in Kocher am Fall den kränkelnden Dechanten zu besuchen. Benno rieth ebenso. Niemand wußte besser, als Benno, wie Bonaventura dazu gekommen war, seine Hand auf Paula zu legen. Gezwungen that er es, um Schmerzen zu stillen –! Armgart hatte ja mit Gewalt seine widerstrebende Hand geführt! 52 Jetzt war dafür an seine Stelle der Oberst getreten – schon beim ersten Erscheinen auf Schloß Westerhof, wo Paula während des Mittagsmahls eine Vision von ihrer Heirath hatte – auch bei seinem Abschied, wo er sie schlafend fand und sie ihn Bischof nannte. Alles das – er hätte es so gern vergessen – man rief es in seinem Gedächtniß gewaltsam wieder wach. »Nach Witoborn?« Das war allerdings unmöglich. Als Benno dann aber sagte: »Vielleicht übernehme auch ich es, dem Cardinal Ceccone und dem Staatskanzler unsere hiesige Lage zu schildern, Nück drängt in mich, daß ich seine Proceßacten befördere« – als ferner Benno dann fortfuhr und sagte, daß es ihn südwärts zöge und er sich vorkäme, jetzt mehr denn je, wie ein Zugvogel, der wider Willen auch den Winter im Norden zubringen müsse, weil ihm die Flügel gebrochen wären – es wäre ihm, als hätte er sonst die Sprache Aegyptens verstanden, nun aber kämen die Gefährten im Frühjahr von der Reise zurück und plauderten Dinge von den Pyramiden, die er doch nur noch halb verstünde – da entschloß er sich in der That, einige Wochen in der Dechanei beim Onkel zuzubringen – denn zu mächtig schlug sein Herz, Benno endlich sagen zu dürfen, wo sein wahrer Dachgiebel zum Nestbauen im Norden und im Süden wäre, auf Schloß Neuhof und in Rom – und dann mit dem Onkel und Benno das Weitere zu berathen. Vielleicht gab die Pfingstzeit, wo Benno nach Kocher nachzukommen versprochen hatte, die geeignete Stunde der Enthüllung über Benno's Ursprung.

So reiste denn Bonaventura nach Kocher am Fall ab.

Was sich auch seit den überraschenden Mittheilungen über Benno's Herkunft in des Neffen Gemüth gegen den leichtsinnigen »Abbé« aus Napoleon's Zeit festgesetzt hatte, es wich bald dem edeln und versöhnenden Eindruck, den des Onkels liebevolle persönliche Erscheinung machte.

53 Er fand den Milden, Gütigen in einer fast krankhaften Aufregung und von allen seinen alten Principien der Gleichgültigkeit besorgnißerregend verlassen. Um zehn Jahre war er älter geworden, muthloser, verdrießlicher, die Fliege an der Wand konnte ihn ängstigen. Leicht drohte auch eine Untersuchung für den alten leichtsinnigen Betrug –!

Frau von Gülpen war eine Mehrung dieser Unzufriedenheit des Greises mit sich selbst und keine Linderung. Seit dem grauenvollen Erlebniß mit ihrer Schwester, seit Hammaker's Hinrichtung war eine Schreckhaftigkeit über sie gekommen, die in allem Gefahren sah, selbst im Alleinwohnen auf der Dechanei. Wäre nicht Windhack's gute Laune die alte geblieben, das Leben seiner jetzigen Vereinsamung wäre dem Onkel ganz jene Qual geworden, die der römische Priester für seine alten Tage fürchtet.

Die Frage nach einer neuen »Nichte« war keineswegs unerörtert geblieben. Bonaventura erstaunte, auf wen der Onkel, angstvoll, sein Auge gerichtet hatte. Nach den ersten Begrüßungen, nach den ersten Auslassungen des Scherzes, sogar über die Ursache dieser Reise des Neffen, über den magnetischen Rapport desselben mit der schönen Seherin von Westerhof, folgte die Mittheilung, es dauere der Briefwechsel zwischen ihm und dem Präsidenten von Wittekind aufs lebhafteste fort. Der Renegat Terschka hätte zwar Schweigen gelobt, doch müsse man alles höchst vorsichtig »applaniren«, auch mit der Schwester Benno's – Angiolina Pötzl in Wien. Auf diese hatte der Onkel für seine letzten Lebensstunden und zur Vorbereitung einer möglichen Anerkennung sein Auge gerichtet und darüber nach Wien geschrieben –! Freilich war schlimme Antwort gekommen. Graf Hugo lebte mit ihr wie durch die Ehe verbunden. Wäre auch, hieß es, ein Bruch, infolge der wahrscheinlichen Heirath des Grafen mit Paula, vorauszusehen, so eigne sich doch weder der Ruf noch 54 das Naturell jenes vom Glück verwöhnten, nur in Erfüllung aller ihrer Wünsche auferzogenen Mädchens für die Rücksichtnahmen einer geistlichen Wohnung.

Der Präsident, Bonaventura's Stiefvater, überrascht und fast erschreckt durch Terschka's Flucht nach England und sein dortiges Auftreten unter Protestanten und Mitgliedern der italienischen Emigration, ließ jetzt in seiner Reizbarkeit gegen die Anerkennung seiner ihm bekannt gewordenen Geschwister immer mehr nach, correspondirte mit berühmten Lehrern des Kanonischen Rechts und wurde vorzugsweise vom Willen seiner Gattin bestimmt, sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß die heimliche und trügerisch geschlossene zweite Ehe seines Vaters vor der Kirche zu Recht bestünde. Schon ergab er sich in jede Wendung, welche die Zukunft nehmen würde, und erklärte, auf weitere Nachforschungen seinerseits verzichten, auf Ausgleichungsvorschläge gern eingehen zu wollen.

Bonaventura staunte, daß sowol vom Kloster Himmelpfort, wie von Wien und Rom aus über diese Angelegenheit ein plötzliches Schweigen eingetreten war – Hatte sich Ceccone den Jesuiten unterworfen? Zuletzt war es seine Mutter, die in ihrer steten Gewissensbedrängniß und dem den Frauen eignen System der Vertuschung von selbst darauf kam, ihr Gatte sollte sich dadurch den Blick in die Zukunft erleichtern, daß er dem Schlimmen aus eignem Antrieb entgegenkäme. Ihr mit wühlerischem Verstand um sich blickender Sinn erkannte sofort, daß die ihr jetzt erst ganz offenbar gewordenen Beziehungen des Kronsyndikus zum Dechanten mit dem Dasein Benno's zusammenhingen. Der Präsident hatte in einem eben beim Onkel angekommenen Briefe seine Ueberraschung über die ihm von seiner Gattin mitgetheilte Möglichkeit ausgesprochen und den Dechanten ersucht, den vortrefflichen jungen Mann, den er schon lange schätzte als den Freund seines 55 Sohnes, des Domcapitulars, klug und besonnen seinem brüderlichen Herzen näher zu führen.

Diese Enthüllung erfolgte dann in den Tagen, wo Benno, nichts von dem ahnend, was ihm bevorstand, gleichfalls in Kocher erschienen war. Auch Benno wohnte in der Dechanei. Er kam heiterer und sorgloser, als man ihn seit lange gesehen. Er brachte Briefe von Thiebold, der soeben sich in Geschäftssachen in England befand und Wunderdinge berichtete über das Ansehen und die Geltung, die sich Terschka in London durch seinen wirklich erfolgten Uebertritt zum protestantischen Glauben und den Anschluß an die Sache des jungen Italien erworben hatte. Benno war besonders auch für Frau von Gülpen ein trostreiches Element. Ihr Herz hing an ihrem Zögling mit jener Innigkeit, die bei Frauen zwischen polternden Vorwürfen, wie schlecht man seine Wäsche behandeln lasse, und der Angst, man könnte sich bei geringster Erkältung, z. B. auf Windhack's Sternwarte, den Schnupfen holen, rührend die Mitte hält.

Es war dann an einem jener Abende, wo die Cassiopeja ihren funkelnden Schein zur Vorleuchte am Baldachin des Himmels macht, wo aus Nordost der »Schwan« sein mildes, wie ein flockenreines Gefieder strahlendes Licht erzittern läßt, unter dem Schmettern der Nachtigallen, die im Park der Dechanei nisteten, beim Duft der Hollunderblüten – als Benno im stillen Wandeln unter den einsamen Alleen aus Bonaventura's Mund das Geheimniß seines Lebens erfuhr.

Er erfuhr es allmählich. Beim feierlichen Nachzittern des Stundenschlags der Kathedrale von St.-Zeno, nach einem feierlichen Gelübde, das ihm Bonaventura abnahm, nichts zu unternehmen, was nicht im Einklang stand mit den Interessen seiner nächsten Freunde und jetzigen Verwandten.

Zuerst erfuhr er den Namen und die Lebensstellung seiner 56 Mutter! So steigt die Sonne mit purpurrothen Gluten aus der Erde. So kommt eine Friedensbotschaft an die Menschheit verkündet von dem Klang unzähliger in den Lüften schwebender Harfen. Eine Römerin –! Eine Herzogin –! Aber noch fehlte der schrille Accord: Der Name des Vaters! Die Schwere des Erlebnisses war zu niederdrückend.

Noch wurden nur die Namen Kassel, Altenkirchen, Rom, auch Wien, letzteres um der Schwester willen, genannt, noch erst die Auffassungen der Kirche und des Dogmas erörtert. Fast sprachlos starrte Benno, der wie ein Träumender stand, allem, was Bonaventura sagte. Die Freunde mußten sich unter den Hollunderblüten auf eine Bank niederlassen. Die Schilderung der Scene in der Waldkapelle, wo seine Mutter so ruchlos von einem verbündeten Complott betrogen wurde, raubte Benno die Sprache. Stumm blickte er auf die Lippen seines Freundes, der in seiner milden, innig zum Herzen sprechenden Weise immer entschuldigend erzählte und alles näher und näher bezeichnete bis auf den Namen – des Vaters.

Nenn' ihn nicht –! rief Benno, als müßte er die Mutter rächen, wie Orest den Vater rächte.

Bonaventura sagte: Er ist todt! Endlich nannte er auch diesen Namen.

Da brach Benno zusammen an des Freundes Brust. Ein Gefühl der Scham überflog ihn und wie mit einem Gifthauch südlicher Luft nahm es ihm den Athem. Auf der so plötzlich aufgesprungenen Blüte seines wunderbaren Daseins wälzte sich ein giftiger Skorpion –!

Tiefgeheimnißvoll ist das Blut, das durch die Geschlechter rollt. Der gespaltene Funke wird wieder zur Flamme; die gespaltene Flamme mehrt sich wol auch an Kraft. Ein Geschlecht kann auf Jahrhunderte die Signatur des Körpers und Geistes bewahren, 57 wenn die Mischungen darauf bedacht sind, immer wieder liebend auch das Fremdartige sich anzueignen. Benno aber mußte mit erstickter Stimme sprechen: Ich ein Wittekind –! Ist das nicht, wie wenn Wettersturm aus den Schluchten des Teutoburger Waldes braust! Meine Ahnenreihe geht bis in die Sagenzeit –! Doch – Friedrich und Jérôme von Wittekind meine Brüder! Der Geist abgewelkt im Vater schon! Oder war sein Loos nur das der Ichsucht? Ja, so gehen Despoten hinüber, die keinen Gegner finden, der sich mit ihnen mißt –!

Alle die Beziehungen des Vaters, die Benno so gut kannte, wurden dem von Entsetzen Ergriffenen wie der Eingang in eine dunkle Höhle voll unheimlicher Gestalten, die er in Waffen betreten sollte. Klingsohr, der Sohn des ermordeten Deichgrafen, »der geistige Sohn« des Kronsyndikus, stand plötzlich mit wirren Blicken vor ihm und reichte ihm mit dem Brudernamen die blutige Rechte. Doch stieß er sie zurück. Klingsohr war ja nur der Phantasie-Bastard des Schlosses Neuhof –!

Ein Fieber ergriff Benno. Wie das Hemd des Nessus brannten alle diese Namen und Beziehungen – Seine Schwester eine – Angiolina – »Pötzl« – dieser Name schon ein höhnischer Satyrkopf hinter Rosenbüschen! Wie kam der alte Schauspieler Pötzl bei den Kattendyks zu – dieser Verlornen?

Und nun diese Mutter! Einst – Schauspielerin, jetzt zwar Herzogin von Amarillas –! Zugleich aber die »Freundin« eines Cardinals Ceccone –! Ach, es schmerzte, verwundete, tödtete ihn alles!

Leiden unter etwas Angebornem ist nicht zu schwer. Der Krüppel, der Blinde, der Taube nimmt das Leben, wie die Geburt ihm es beschert. Aber die Schönheit erst verlieren, das Häßliche erst gewinnen, plötzlich ein Blinder, plötzlich ein Tauber werden, das ist ein bejammernswerthes Menschenloos! Benno 58 riß sich an jenem Abend aus Bonaventura's Armen und rief: Ich könnte in die Wälder rennen wie ein Wolfsmensch!

Ruhe! Ruhe! sprach Bonaventura und beschwichtigte ihn durch seine Umarmung.

Am Morgen nach diesem verhängnißvollen Abend war die Begegnung Benno's mit dem Onkel und mit Frau von Gülpen erschütternd genug. Der Onkel begrüßte ihn, mit Wehmuth und die Augen tief niederschlagend, als »Julius Cäsar von Wittekind-Montalto« – auf den Namen der Mutter war er getauft worden. Er hätte die ewig dunkle Binde über Benno's Augen vorgezogen. Das sagte er auch und lobte, als ihm Benno krampfhaft um den Hals stürzte, die Blindgebornen, weil die alle so heiter blieben. Benno preßte nur stumm seine Hand. Es lag die Verzeihung der Liebe und der Dank für ein ganzes, nur vom Dechanten ihm gerettetes Leben darin. Reden konnte er nicht. Sein Blut rollte wie ein ihm fremd gewordenes und ungebändigtes durch die Adern. Als er zu scherzen versuchte, sagte der Onkel: Das hat er ganz von seinem tollen Alten! Der konnte auch, wenn er wollte, verteufelt liebenswürdig sein –!

Dies Wort kam noch zur Unzeit und doch – als Benno jetzt düster die Augenbrauen zusammenzog, mußte der Dechant wieder sagen: Wie sein Vater, der grimme Jäger!

Der Onkel hatte das Bedürfniß, das Ueberseltsame wieder in das Altgewohnte zurückzulenken. So sprach denn auch Benno, als seine Pflegemutter Frau von Gülpen sich ausgeweint hatte: Nun bitt' ich nur um eines! Gebt mir meine drei Julius Cäsar-Jahre heraus, die ich schon länger auf der Erde weile, als ich Erinnerungen habe – und die Taufscheine es wußten. Um wie viel früher hätt' ich jetzt Hoffnung, meinen Militärmantel abzulegen!

Alle nähern Umstände dieser Verheimlichungen wurden erzählt. Mit dem ihm eignen scharfen, aller Lebensverhältnisse 59 kundigen Ueberblick durchschaute Benno alle neuen und nicht offen kund zu gebenden Bedingungen seines Lebens. Er beruhigte den Präsidenten in einem Schreiben, worin er ihn noch nicht als Bruder begrüßte. Mit edler Selbstbeherrschung bot er jede Bürgschaft dafür, daß ihn seine langgeprüfte Geduld, die Ergebung in sein räthselhaftes Dasein an Entbehrung äußerer Anerkennungen gewöhnt hatte. Ja, der Adoptivname, den er einstweilen trage, »von Asselyn«, wäre ihm durch seine theuersten Freunde geheiligt, auch schon von der Krone genehmigt. Er mache nur dann Ansprüche auf die Wiederherstellung seiner Stellung zum Leben, wenn niemanden damit eine Kränkung widerführe, am wenigsten seiner noch lebenden Mutter. Diese freilich in ihrer Ansicht über das Vergangene zu erforschen, ihr, wenn es irgend ohne Verletzung äußerer Rücksichten möglich wäre, sich zu nähern – dafür ergriffe ihn, das gestand er, ein unwiderstehliches Verlangen. Es wäre der Ausgleichungs-, der Gerechtigkeitstrieb, der ihn hierin bestimme. Ebenso zöge es ihn zur Annäherung an Angiolinen. Eine Reise nach dem Süden läge nun fest beschlossen in seiner Seele.

Der Präsident antwortete voll Güte und dankte. Er bot ihm reichere Mittel, als Benno annehmen durfte, da eine zu schnelle Veränderung seiner Lage Vermuthungen hätte wecken können, die von allen Betheiligten nicht gewünscht wurden. Auch Thiebold durfte noch nichts erfahren. Dieser tolle Mensch, sagte Benno zu Bonaventura, thut in der Regel alles, was ich zu thun mich schäme und was ich im Stillen doch manchmal gern thun möchte. Er verhindert mich an Thorheiten, weil er sie statt meiner übernimmt. Ich glaube, er übernähme auch ein Drohen mit meinem Geheimniß, ein Zupfen an Schleiern, die man allenfalls lüften könnte. Besser, wir schweigen auch gegen ihn!

Je lichter somit von der Dechanei aus der Blick auf das sonnige, waldumkränzte, so lange geheimnißvoll verschleierte Schloß 60 Neuhof wurde, desto düsterer blieb der auf Witoborn und Westerhof gerichtete. Bonaventura hatte seit einem Vierteljahr sich nur im Entsagen geübt, auch nichts mehr von dorther vernommen, was ihn besonders wieder hätte aufregen können. Der Oberst, das erfuhr er erst hier, leitete die Vorbereitungen zu seinem Papierbetrieb. Der muthige Mann fand die größten Schwierigkeiten. Sie gingen sogar bis zu muthwilligen nächtlichen Zerstörungen seiner Bauten, wobei sich Armgart und Monika in ihrer ganzen Kraft zu zeigen hatten. Sie hatten sich ein kleines Haus in Witoborn geschmackvoll, wenn auch einfach eingerichtet.

Hedemann schrieb an den Dechanten von einer mit Porzia Biancchi, der Tochter des Gipsfigurenhändlers, beabsichtigten Heirath. Seine Aeltern waren schnell hintereinander gestorben.

Man ersah aus diesen Mittheilungen, daß sich in und um Witoborn ein schönes Familienverhältniß hätte begründen können, wenn nicht die Beunruhigung durch die lichtscheue Bevölkerung der Gegend zu groß gewesen wäre. Armgart verlöre, hieß es, allen Halt in ihren Anschauungen. Wo sie hinginge, müßte sie – »sie«! betonte man – Reden halten zur Vertheidigung – des Papiers und der Aufklärung! Ueber Ulrich von Hülleshoven, ihren Vater, erfuhr man, daß er auf Schloß Westerhof bald die Autorität seines Bruders Levinus überflügelte. Mußte ihm das gelingen schon durch seinen männlich festen Sinn, seine Lebenserfahrung, so kam noch ein eigenthümlich wohlthuender Eindruck hinzu, welchen hier ein sonst nur schroffer Mann auf die Frauen machte. Monika's Entschiedenheit, die indessen den Dechanten immer noch in ihrer Correspondenz entzückte, mußte ihr Gatte mildern. Während Monika bald das Stift Heiligenkreuz zum Feinde hatte, während sie Frau von Sicking durch ihren unverhohlenen Spott, z. B. über die Exercitien, zur Aenderung ihres Aufenthalts bewog und in diesen Kämpfen von 61 Armgart's wie aus einem Traumleben erwachendem gesunden und frischen Sinn unterstützt wurde, schlösse man sich, erzählte der Onkel aus Monika's Briefen, dem Obersten an, der stets zu begütigen und auszugleichen wisse. Vollends Paula gewann, das wußte Bonaventura, den Obersten lieb und erlag seiner magnetischen Einwirkung. Der Oberst durfte sie nur einige male berühren und sie versank in jenen Schlummer, der ihr das einzige Labsal blieb im Schmerz ihres Nerven- und Seelenlebens. Bonaventura beobachtete dies an jenem Mittag unmittelbar nach Terschka's Flucht, wo Paula bei Tisch mit der abwesenden Armgart zu sprechen angefangen hatte. Der Oberst führte sie damals in ihr Zimmer und sie antwortete auf jede seiner Fragen.

Bonaventura erzählte davon dem Onkel. Paula, berichtete er, ohne Zweifel übermannt von einer seit dem Fund der Urkunde sie folternden Angst um den Grafen Hugo, hatte die bei Tisch fehlende Armgart gefragt. was sie am Schranke suche? . . . »Am Schranke?« fragten die ringsum Sitzenden . . . Ein Kleid! Nimm ein weißes, sprach sie, es steht dir besser! Auch die Myrte nimm! setzte sie hinzu . . . Die Myrte? fragte der Oberst. Macht denn Armgart Hochzeit? . . . Darauf stockte Paula und erwiderte: Armgart sucht ein Kleid für sie aus! Sie meinte: für sich selbst . . . Niemand hatte den Muth, zu fragen: Heirathest du denn? . . . Ihr Kleid ist aber noch nicht fertig! sagte sie dann wie aus sich selbst und zeigte hinaus in die Luft mit den Worten: Sieh, sieh, die vielen Körbe –! . . . Fast so heiter sprach sie diese Anschauung, daß die Umstehenden – alles war jetzt aufgestanden – erst an die Zahl der zunehmenden Bewerber denken mochten . . . Aber Paula setzte hinzu: Korb an Korb! Am Altar der »besten Maria« stehen sie! . . . Jetzt hätte leise die Tante erklärt, wie Terschka vom Schloß Castellungo erzählte, daß die demselben zunächstliegende Kapelle der »besten Maria« gewidmet wäre und oft 62 in Hunderten von Körben die Seidencocons unter Blumen malerisch schön dort niedergestellt würden zur Segnung durch Priesterhand . . . Paula entschlummerte dann . . . Jeder sagte: Sie hat in den Körben die Anfänge ihres Brautgewandes gesehen.

Der Onkel schüttelte dazu zwar lächelnd den Kopf, versank aber doch über die Nennung des Namens Castellungo in ein Nachdenken.

Sich selbst führte Bonaventura oft noch seine letzten westerhofer Tage vor. An jenem Mittag damals hatte er sich voll Verzweiflung losgerissen. Glaubte er überhaupt keinen Abschied von Paula nehmen zu können, so griff er nun vollends zur Feder, um seine Empfindungen auszudrücken. Zwei Briefe entwarf er. Einen mit stürmischer Liebesbetheuerung und dem Bekenntniß aller Gefühle, die auf seines Herzens geheimstem Grunde lebten. Es war ein trunkener Rausch der Herausforderung an sein Geschick und doch – diesen Brief warf er in die Flammen! Einen zweiten schrieb er dann milder und, wie ersichtlich war – zum ewigen Abschied.

Aber auch diesen hatte er vernichtet. So stand er rathlos. Da vernahm er neben seinem Zimmer das Aechzen seines Wirthes Norbert Müllenhoff, der im ersten Stockwerk schlief. Ohne Zweifel gehörte das an dessen Hausthür ausgesetzte Kind nur diesem wunderlichen Zeloten selbst. Die Zukunft des Unglücklichen war zerstört, wenn die Rache der Hebamme, im Bund mit dem buckligen Geiger, die finkenhofer Lene zum Geständniß vor Gericht brachte. Einmal hörte er den Pfarrer in seiner Kammer laut ausrufen: Allmächtiger Schöpfer Himmels und der Erden –! Es war ein Hülferuf wie aus der tiefsten Seele. Die Hände wurden dabei von Müllenhoff zusammengeschlagen wie von einem Verzweifelnden – Dann war wieder alles still.

Bonaventura erbebte. Es durchschüttelte fein Gebein, diesen 63 Ausruf gehört zu haben, der aus der Tiefe des Jammers kam. Müllenhoff sah voraus, daß ihm eine längere Verweisung in das Strafkloster Altenbüren gewiß war. Ein ewiger Makel haftete damit an seinem Leben, ein Hinderniß jeder Beförderung! Und hätte nicht auch Bonaventura einstimmen mögen in diese Anrufung des Schöpfers der Natur und alle Elemente entbieten, ihm beizustehen, die Zwingburg unnatürlicher Gesetze zu brechen? Er klopfte an die Kammerthür und trat bei Müllenhoff, der stöhnend und jetzt mit zusammengefaltenen Händen wie bewußtlos dalag, mit der Frage ein, ob er ihm in irgendetwas vor seiner noch am selben Abend bevorstehenden Abreise behülflich sein könnte.

Anfangs fuhr Müllenhoff in gewohnter Grobheit auf. Dann besann er sich, bat für sein ungeberdiges Wesen um Verzeihung und wagte es, überwältigt schon vom so unendlich milden Klange in Bonaventura's Rede, ihn unter dem Siegel der Beichte und als seinen Vorgesetzten zu bitten, zur Frau Schmeling und zu jener Lene zu gehen – um den Versuch zu machen, die ihm drohende Gefahr abzuwenden.

Bonaventura fand sich bereit dazu. Er betrat das Häuschen der Hebamme, redete ihr, ihrer Magd und der noch anwesenden Lene, jeder erst unter vier Augen, dann allen zugleich zu, die Verfolgung des Pfarrers von St.-Libori zu unterlassen. Die nicht kleinen Summen, die es dabei zu bieten gab, um ein Schweigen nach allen Seiten hin zu erwirken, legte er selbst aus. Er hatte gerade sein Reisegeld und einiges Capital bei sich, das ihm noch aus alten Differenzen seines Vaters mit den witoborner Gerichten zukam.

Wie unrein erschienen ihm seine Hände, als er sich aus diesem Hause entfernte! Man hatte sie geküßt. Diese Huldigung mehrte nur das brennende Gefühl, sich in unwürdiger Berührung befunden zu haben.

64 Durch diese Verrichtung des Mitleids kam Bonaventura um die Gelegenheit, den Düsternbrook und die beiden Eremiten zu besuchen. Er hörte nur, daß sie vom Zustrom der Umgegend heimgesucht und Gegenstand der lebhaftesten Verhandlungen zwischen ihrem Kloster, seinem Stiefvater und den Behörden waren.

Auf Westerhof erschien er aber dann doch noch persönlich zur ernsten Abschiedsfeier. Als Priester – als schwankes Rohr, als »Begriff, den zwei Jahrtausende mit bunten Kleidern behängt hatten«.

Und vor allem, was er dann doch vielleicht blindlings wie aus einer Todesurne hätte ziehen können, bewahrte ihn Paula selbst. Sie war, erzählte er in der Dechanei dem Onkel wieder, sie war gerade entschlummert. Der Oberst ließ seine Hand auf ihr ruhen und sprach mit ihr wie mit dem willenlosen Werkzeug seiner Kraft. Verwandtschaftlicher Rechte sich bedienend, fragte sie der Oberst mit Vertraulichkeit: »Siehst du den, der eben ins Zimmer tritt?« . . . »Sie sieht ihn!« lautete die Antwort . . . »Willst du mit ihm sprechen?« . . . »Sie stört ihn!« . . . »Warum stört sie ihn?« . . . »Er opfert.« . . . »Siehst du einen Priester?« . . . »Einen Bischof!« . . . »Ist er allein?« . . . »Kinder stehen um ihn!« . . . »Sie tragen leinene Streifen am Arm?« . . . »Ja! Du sagst es!« . . . »So firmelt dein Freund die Knaben und die Mädchen. Redet er? Sprich ihm nach, was er redet!« . . . »Ich glaube an Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden, an die Liebe, die Erhalterin der Welt, gelehrt durch Jesus Christus, an den Geist der Wahrheit, der uns zur ewigen Hoffnung führt!« . . . Wieder traten die zahlreich Umstehenden befangen zurück – Wieder war es eine jener »incorrecten« Visionen, wie sie von Frau von Sicking zu unser aller Nachtheil sind bezeichnet worden.

Paula sprach, nach des Onkels Ansicht, einen Glauben aus, 65 den sie in Bonaventura's und des Obersten Innerstem zu lesen glaubte.

Eines erzählte Bonaventura nicht, daß er sich damals, noch ehe Paula erwachte, mit Thränen im Auge losriß und abreiste, begleitet von den Dank- und Segenswünschen aller derer, die ihm nahe gekommen waren, von denen seiner Mutter an, die ihn in Witoborn noch an der Post überraschte, bis auf den Händedruck Müllenhoff's, der ihm flüsternd – »in monatlichen Raten« zurückzuzahlen versprach, was seine Güte unter dem Dach der »Verschwörer« für den neuen Concordatsstifter und exemplarischen Bußheiligen verauslagt hatte.

Paula hatte Bonaventura als Bischof gesehen und in der That verlangte der Onkel, daß Bonaventura in seinen Wirkungskreis nicht ohne eine höhere Würde zurückkehrte. Begib dich, wenn sie dir nicht zu Willen sind, solange in ein Kloster! Ein Mensch wie du darf nur fallen, um desto größer wieder aufzustehen! Und die Gemüthsleiden seines Neffen wol überblickend, sprach er: Armer Thor, was senkst du das Haupt und kannst dich in dein priesterlich Erbtheil nicht finden! Zwei weibliche Schatten umkreisen dich! Ein dunkler und ein lichter! Jenen fliehst du und diesen wagst du nicht festzuhalten! Ich bin dir kein Muster, aber ich könnte dir bessere Naturen, als die meinige nennen, die eines Tages gleichfalls zwischen dem Gott in der Natur und dem Deus in pyxide wählten und sich für den ersteren entschieden!

Ein andermal sprach er: Sagst du denn für Franz von Sales gut –? Ich theile alle Heiligen in drei Klassen. Solche, die bereits die verbotene Frucht brachen und denen es dann, als sie satt waren, leicht wurde, in die Wüste zu gehen – in diesem Sinne haben wir noch jetzt Millionen Heilige und seit zwanzig Jahren bin ich unter ihnen der Allerheiligste –! Dann in solche, 66 die entweder geborne Narren waren oder es wurden, weil sie gerade auf den Naturtrieb hin, um diesen und nur diesen zu unterdrücken, das Tollste erfanden – das sind die Casanovas der Frömmigkeit! Ihre innerste Sinnenqual versetzte sich ihnen, wie bei einer jungen, eben entbundenen Mutter die Milch in den Kopf steigen kann, so in religiöse Narrheit. Die dritte Gattung endlich sind jene geschlechtslosen Constitutionen, bei denen die Tugend – ein Fehler ihrer Körperorganisation ist. Meistens unter äußerlich imponirenden Gestalten findest du diese Halblinge. Darauf hin konnte mein Leo Perl in Paris ruhigen Bluts zusehen, wenn wir andern uns im Palais-Royal vergnügten. Die Heiligen, die nicht auf die Klasse I und II paßten, gehörten zur Klasse III! Wasserpflanzen waren es, wo gleichfalls die ganze Kraft – wie drüben da auf meinem Weiher! – in den schönen, breiten, trägen Blättern liegt!

Solche Gespräche gab es häufig. Man führte sie auch noch in Gegenwart Benno's, beim Wandeln durch den Park, unter den sich eben erst ganz mit dem jungen Laube schließenden Alleedächern, beim Zwitschern der Vögel, beim Duft der Kastanienblütenpyramiden, der Maiglöckchen und Narcissen auf den Buchsbaumbeeten, beim Schimmern gelber Dotterblumen von den Wiesen herüber. Bonaventura, an einem Strauch von Weißdorn still stehend, sagte: Onkel, ich bin so weit gekommen, daß ich stundenlang an einem solchen einzigen Blatt, wie du es hier siehst, stehen und beobachten könnte! Sieh, es hat sich eben aus seiner Knospe entrollt! Wie zart sein Grün! Wie sanft aufgekräuselt die Windungen des kleinen Sprosses! Die kleinen Härchen, die auf dem jungen Keime sitzen, möchte man zählen! Es gibt nichts, was zumal uns Priester gegen alles das, was du schildertest, retten kann, als die Betrachtung des Kleinsten! Ich heuchle dir keine Frömmigkeit, sogar keine Begeisterung mehr für 67 meinen Beruf, den ich schmerzlich erkannt habe – ich finde ein Vergessen des Allgemeinen und meiner selbst nur noch in einem kleinen stillen Glück wie dieses hier – vor einem solchen Frühlingsblatt!

Das sind bei mir die Radirungen und Kupferstiche! sagte der Onkel, der für seine vorjährigen Warnungen gegen Rom hier eine frühzeitige Genugthuung erhielt.

Benno mußte zeitig nach der Residenz des Kirchenfürsten zurück. Er reiste mit dem Gefühl, als säßen jetzt an seiner Seele Adlerschwingen. Zunächst hoffte er sich von einem Staatsleben freimachen zu können, das, wie es damals in Deutschland und der engern Heimat war, für den Menschen in seiner angebornen Freiheit jeder Zusicherung entbehrte. Es war im damaligen Italien und Oesterreich nicht anders. Dennoch wollte er über Wien nach dem Süden und in jeder Hinsicht dem Zuge der Natur folgen. Der Onkel sagte ihm, im Beisein Bonaventura's, ohne daß dieser es hörte: Vielleicht kannst du die Angelegenheiten Paula's zu einem guten Ende führen! Vielleicht deiner verwilderten Schwester die Nachfolgerin geben, die dem Hause Salem-Camphausen unerläßlich ist! Schon hör' ich, daß die Gräfin Erdmuthe nach Schloß Westerhof reisen und versuchen wird, alle Bedenklichkeiten persönlich zu beseitigen.

Bonaventura sah inzwischen zu den Bäumen auf, unter denen sie dahinwandelten, und sprach, als beide näher kamen: Wie doch seit Jahren der Fink immer nur wieder zwischen denselben Aesten sich ansiedelt, die Nachtigall sich denselben dunklen Busch sucht, die Schwalbe zu demselben Gesims an deinem Portale haust! Ein solches Heimatsgefühl –!

Jeder findet sein rechtes Nest! sprach nach einigen weitern Schritten ruhigen Wanderns der Dechant. Auch – Paula wird wissen, fuhr er fort, daß die Liebe zu einem römischen Priester nicht zu den Möglichkeiten dieser Erde gehört und – wird nach Wien gehen müssen.

68 Ich selbst will sie trauen –! fiel Bonaventura leise und mit einem Schmerzensausdruck ein. Es war ein Wort von solcher Schwere, daß der Dechant und Benno erschüttert schweigen mußten. Letzterer gedachte dabei des immer mehr ihm und andern verklingenden Namens: Armgart!

Als dann Benno abgereist war, von mächtigen Entschließungen gehoben, kam ein neuer Brief von Monika in der Dechanei an. Es war ein Erguß der frischesten und gesundesten Lebensanschauungen. Monika berichtete dem Dechanten von einer notwendigen Reise des Obersten nach England – von einem damit vielleicht verbundenen Abholen und Begleiten der Gräfin Erdmuthe – von Armgart's Begleitung des Vaters nach England – von Paula's bedenklich schon eingerissener Gewöhnung an die magnetische Behandlung durch ihren Gatten – von Angst und Sorge, die man nun über Paula's Zustand haben müsse, wenn ihr Mann fehle. Sie erwähnte im Lauf ihrer Auslassungen über Paula's Zustand, den sie, trotz ihrer sonstigen Vernunftgläubigkeit »wunderbar« und erstaunenerregend fand, die gegen Bonaventura gerichteten Anklagen, deren Kunde schon bis Witoborn gedrungen war. Monika bekannte sich damals als entschiedenste Beförderin einer Verbindung Paula's mit dem Grafen Hugo. Letzterer wäre eine Natur, schrieb sie, mit Eigenschaften, die nur entwickelt zu werden brauchten, um mehr als Achtung vor ihm, sogar Neigung für ihn zu empfinden. Bequemen Temperaments, wolle er beherrscht sein und jeder müsse ihm eine würdigere Leitung wünschen, als er sie bisjetzt gefunden. Selbst über Terschka war Monika's Urtheil milde. Was an Terschka noch allenfalls Gutes wäre, schrieb sie, verdanke er dem Grafen. Der jesuitische Intriguant hätte die Macht einer guten und harmlosen Natur so auf sich einwirken fühlen, daß er an seinen Aufträgen irre geworden wäre. Wenn Paula in ein Kloster ginge, würde sie nach 69 wenig Jahren eine Beute des Todes sein. Sie müsse durchaus und unter allen Umständen die Gräfin von Salem-Camphausen werden. Und der Domcapitular von Asselyn, der, wie sie wohl wisse, für Paula Neigung hätte, wie diese für ihn, müsse die Kraft über sich gewinnen, selbst die Hand zu bieten zu dieser nach allen Richtungen hin bedeutungsvollen gemischten Ehe. Monika schilderte darauf die Zukunft einer solchen, anfangs erzwungenen, Standesehe. In dem lieblichen Salem, in dem, wie sie gehört hätte, noch glückseligern Thale von Castellungo würde die junge Gräfin, als Mutter blühender Kinder, als Theilnehmerin an den vielen gemeinnützigen Unternehmungen ihrer Schwiegermutter, Lebenslust und Lebenskraft gewinnen. Alle, alle, ihre Schwester Benigna, Onkel Levinus, die Bewohner von Neuhof theilten die gleiche Meinung. Die einzige Armgart, die immer noch widerspräche, hätte man auch eben deshalb mit dem Vater nach England geschickt, wo sie überhaupt bei Lady Elliot eine Zeit lang bleiben und neue, gesunde, praktische Anschauungen gewinnen sollte. Uebrigens hätte sich Armgart bei einigen Conflicten mit der »witoborner Dummheit« mit großem Muth benommen und wäre überhaupt, wie alle sagten, seit den drei Tagen Correctionsgefängniß im Mühlenthurm mehrfach anders geworden, als sie sonst gewesen. Die Begegnung mit Terschka fürchte sie nicht mehr – London wäre ja wie ein Ameisenhaufen; Armgart hätte Kraft und Charakter aus Instinct schon immer gehabt – jetzt finge sie auch an, klar zu wissen, was sie wolle.

Das war eine Sprache, als sähe man die kleine junge Frau ihre grauen Locken schütteln und mit ihrem blitzenden Auge, ihrer frischen Wange, ihren weißen Zähnen aller Bedenklichkeiten geringschätzig lächeln, die nach ihrem Sinne nur die krankhafte Empfindsamkeit geltend machen konnte. Freilich ging da auch manche – Gefühlsblüte verloren.

70 Aber der Dechant war ganz gleicher Ansicht. In dem kleinen grünen Studirzimmer, wo die Worte nicht so ungehindert gewechselt werden konnten, wie unten im Garten und im Park, den zu besuchen nicht jedem Bewohner der Stadt erlaubt war, las er mit Bonaventura diesen Brief. Von dem Rollen der Thüren und dem Horchen und steten Bangen Petronellens gestört, erhob sich letzterer, nachdem er noch einmal den Brief in mächtiger Erregung überflogen, riß sich von der Hand des Greises, der ihn halten wollte, los und eilte anfangs in den Park, den er eine halbe Stunde lang wie ein Geistesabwesender durchschritt, dann auf sein Zimmer, um an Levinus von Hülleshoven einen Brief des Inhalts zu schreiben: Er hätte mit Bedauern gehört, daß sich die Leidenszustände Paula's vermehrten, daß ihr Leben ganz schon abhängig zu werden drohte von einer Einwirkung, die beiden Theilen zuletzt die drückendsten Verpflichtungen auferlegte. Auch von den fortgesetzten Bildern, von dem seltsamen Sinn der Träume des edeln Mädchens hätte er gehört und beklage schmerzlich, daß sie so übel gedeutet würden. »Ja«, schrieb er, »schließe man ganz den Vorhang, der sie stets in ein Land blicken läßt, für dessen Beurtheilung der Welt alle Bedingungen fehlen! Ja! Sie soll dem Zuge der Demuth folgen, der stets in ihrer reinen Seele der vorwaltende gewesen! Nimmermehr aber soll sie ihre Wünsche auf ein Kloster richten! Ich gestehe offen, meine Einblicke in die Klosterwelt sind die enttäuschendsten. Wie im Kloster Himmelpfort ist es überall, nur da vielleicht ausgenommen, wo man Kranke heilt. Dazu eignet sich Paula nicht! Sie ist selbst des Arztes bedürftig. So muß sie denn hinaus auf die hohe Flut des Lebens! Sie muß Gott vertrauen und wie eine treue Magd sich dem Dienste widmen, der dem Weibe schon im Paradiese angewiesen wurde, ohne daß Adam zu Eva von Liebe sprach! ›Sie soll eine Gehülfin sein dem Manne!‹ Wenn sie den 71 Grafen Hugo in sanfterer Weise, als durch die Intrigue der Gesellschaft Jesu, in den Schoos einer Kirche führt, die ein Zusammensein im Schoose der Seligen auch vom gleichen Bekenntniß auf Erden abhängig macht, so löst sie, wenn sie das will oder kann, eine sie vielleicht erhebende Aufgabe. Ist doch ein Mann jedem Weibe, das von ihm zur Ehe genommen wird, ein unbeschriebenes Blatt! Selbst ein längeres Ergründen und Kennen des Verlobten schließt immer noch ein Räthselhaftes nicht aus, das sich ganz erst in der Ehe selbst lüften und bezeichnen kann. Wie aber auch der Erfolg dieser Ehe sich ergibt und ob sich die Glaubensbekenntnisse auch nicht vereinigen – Paula soll dem fremden Manne vertrauensvoll die Hand nicht weigern!«

Bonaventura schloß den mit einer Hand, die ihr Zittern umsonst zu beherrschen suchte, geschriebenen Brief mit der hochherzigen Erklärung: »Will Gräfin Paula meinen Priesterberuf, den Beruf der Entsagung auf eigenes Glück, der Fürsorge nur für fremdes, zu einer ganz besondern Weihe erheben, so möge sie mir die Ehre und die in Gott empfundene Seligkeit gönnen, daß Ich es bin, der – entweder zu St.-Libori oder in Wien, wohin zu reisen ich deshalb zu jeder Stunde bereit sein werde – ihre Hand in die des Grafen Hugo legt!«

Als Bonaventura diese letzte Stelle unterstrichen, den Brief geschlossen und zur Post gegeben hatte, umarmte er den Onkel mit den Worten: Laß mich so sein –! Jeder Mensch schafft sich seine eigene Religion! Jeder Mensch ist sich sein eigener Priester!


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