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Fünftes Buch.

Der Herbst, einem regnerischen Vorwinter folgend, brachte noch einmal wieder die Täuschung des Sommers. Lessings Wunsch, die langweilige grüne Natur auf einmal roth zu sehen, verwirklichte sich; denn immer gelber, rother und brauner färbte sich das nur noch mit mattem Stiele am Stamme haftende Laub. Giebt es im Herbst doch Büsche, welche auf der einen Seite ihrer Blätter zinnoberroth aufgetragen sind, so daß man sich wohl eine Fabel ersinnen möchte, wie auf den höhern Bäumen, welche dies wunderliche Strauchwerk beschatten, vielleicht ein Paradiesvogel einst gesessen, der vom Pfeile getroffen, sich schmerzlich hat verbluten müssen und so die untern Bäume bemalte. Thörichte Vorstellung! Aber der Schmerz, den sie ausdrückt, bezeichnet die Hingebung des Menschen an die scheidende Naturgewalt, wie er die letzten Abendblicke der bald zum Schlummer sich wendenden Elementarkraft noch zu haschen sucht. Mit stillem Schmerze wandl' ich durch den Herbst und zähle bedächtig von Tag zu Tag, wieviel die Nacht schon wieder hinwegraffte, bis es mit einem Sturme, mit einem Regenschauer, mit einem Nachtfroste um Alles geschehen ist und dein Blick am Morgen erschrickt, nur kahle, winterliche Zacken noch zu finden. Es ist ein Todesfrösteln, das dich dann befällt, der Schauer einer Einsamkeit, wo wir die Uhr zu hören vermeinen, welche durch alles Lebendige ihre Minuten und Stunden pocht und eine Welle nach der andern aus der zukünftigen Ewigkeit in die vergangene schleudert!

Einige Meilen vom Schauplatze des vorigen Abschnittes entfernt, besaß Herr von Magnus ein Landhaus, das er diesmal statt zum Sommer-, zum Winteraufenthalte machen wollte. Es widerstand ihm, noch länger an einem Orte zu bleiben, wo er eine so plötzliche und auffallende Zurücksetzung hatte erfahren müssen. Er wollte in der Einsamkeit seine Unzufriedenheit begraben. »Bist Du so erfroren,« sagte ihm zwar Julie, »daß Du nur im Schnee Dich glaubst wieder erwärmen zu können?« »Wir werden einheizen lassen,« hatte Herr von Magnus entgegnet, und damit kurz erklärt, daß auch seine Gattin von seinem Tomi werde Theil nehmen. Sie hatte ihn darauf scharf angeblickt; aber er gab nur noch die kurze Erklärung, daß sie in vier und zwanzig Stunden schon fahren würden.

Jetzt war er auf seinem Gute, das sie nach einer Reparatur des herrschaftlichen Wohnhauses Magnusruh getauft hatten. »Ja, Magnusruh!« seufzte der Gefangene von Ham, wie man ihn als einen Exminister nennen könnte. »Hier werd' ich noch die letzten Herbstfäden einfangen,« erklärte er seinem Verwalter, »ich werde mich noch etwas um die Baumschule und die gute Verwahrung der Treibhäuser bekümmern, werde noch einige Nußbäume schütteln, einen sogar, der mein Sarg werden soll, fällen lassen« … Hier schwieg er gerührt eine kleine Weile. Der Verwalter trocknete sich das Auge. »Und dann« – fuhr er mit leichter Stimme fort, »verriegl' ich mich im Schlosse. Ich habe meine Bibliothek herausgebracht, ich werde viel lesen, vielleicht auch etwas schreiben, aber anonym, ohne Ehrgeiz: ich werde über Ministerverantwortlichkeit schreiben. Ja, ja, mein Lieber, so steht man so fällt man: Es ist Alles kugelrund in der Welt: wir auch! Man wird geworfen, wirft einige Kegel um, und wird wieder zurückgeworfen, ja, ja mein Lieber!«

Herr von Magnus erwartete kurz nach seiner Ankunft auf dem Gute mit großer Sehnsucht einen Brief. Er sollte von Seraphinen kommen und eine Einladung beantworten, welche an sie ergangen war, ihren frühern Beschützern zu folgen. »Sie kommt nicht,« sagte der Pensionair, als er den Brief eröffnete, »und sie kam auch wirklich nicht. Sie schrieb, daß sie dafür gesorgt hätte, Antonien dem Range ihres Vaters angemessen unter die Erde zu bringen, fügte aber hinzu, daß ihr das Zusammenleben mit einer Mutter, die vor dem Kranken- und Todtenbette ihres Kindes fliehen könne, zuviel Grauenhaftes hätte! »Ich bin nicht fest gegen Gespenster,« schrieb sie mit Bitterkeit; »das wissen Sie selbst, Excellenz, als Sie in jener entsetzlichen Nacht in mein Zimmer traten! Lassen Sie mich nur auf den Wogen weiter treiben! Mein Leben rettet sich schon; wo nicht, so drückt mir gewiß Jemand die Augen zu, der Mitleid hat. Bei Ihrer Gattin möcht' ich nicht leben; denn sie würde mich hassen, da ich sehr oft an einem steifen Halse leide.«

Der Empfänger dieses Briefes drückte ihn zusammen und machte eine Miene, als wollt' er auf ewig eine Erinnerung von seiner Stirn wegwischen. Sie war aber nur flüchtig und machte andern Gedanken Raum, die sich beeiferten, in seiner Betrachtung die Oberhand zu gewinnen. Es war seit einiger Zeit an ihr sichtbar, daß er außerordentliche Aufmerksamkeit auf seine Gattin verwendete, wo er nur konnte, ihr in den Weg zu treten, und sich ihr zu einem solchen Bedürfniß zu machen, wie sie in dieser Einsamkeit es vielleicht für ihn war. Sie wich ihm aber aus. Das erhitzte ihn. Sie hing sich wie immer an Arthur, der dem ehemaligen Minister auf einige Zeit folgen mußte, um mehre Geschäfte der alten Verwaltung mit der neuen zu vermitteln und Vieles, was sich unter Herrn von Magnus als erledigt ausgegeben hatte, schnell nachzuholen. Diese letzte Verbindung schürte vollends seinen Unmuth. Die Eifersucht, die ihn zu beherrschen anfing, war um so leidenschaftlicher, da sie aus dem Gefühl der Rache hervorging. Er wollte jenen nächtlichen Gang zu Seraphinen, dessen er sich schämte, an seiner Gattin rächen, und sie zwingen, dieselben Schranken anzuerkennen, die ihm eine ungebundene Neigung versperrt hatten. Er hatte gehört, daß auch Edmund noch einen Besuch auf dem Gute abstatten würde. Er entschloß sich, jetzt einmal die rauhe Seite seines Wesen herauszukehren.

Allein wie immer verfolgte ihn auch hier der Fluch des Lächerlichen. Er ließ seinen Groll an jeder zufälligen Begegnung aus, die ihm in den Weg kam. Er trug seit einiger Zeit einen langen Stock, den er nie ablegte, sondern ihn als eine Art von Waffe, gleichsam um sich einzuüben trug. Er strich in den Gebüschen des Parkes stundenlang umher, wenn er wußte, daß Julie und Arthur spazieren gingen. Begegnete er ihnen, so hieb er auf die Büsche ein, und schlug die Blätter derselben ab. Eines Tages waren Beide in eine entfernter gelegene Bergparthie gefahren, ohne daß er vorher davon wußte. Der Gedanke später, nicht sie allein, sondern sie beisammen zu wissen, ein Gedanke nicht der Eifersucht, sondern der Mißgunst spornte ihn so sehr, daß er in den Stall lief und sich ein Pferd satteln ließ. Der Reitknecht wurde blaß vor Schrecken, da seit Menschengedenken nie die Rede davon war, daß man Herrn von Magnus je auf einem Pferde gesehen hatte. Er ließ sich aber Sporen anschnallen und trieb mit erstaunlicher Hast, daß der Mensch ein Ende machen sollte. Endlich versuchte er aufzusteigen und zwar auf gänzlich verkehrte Weise. Indem er nämlich an des Thieres rechter Seite den linken Fuß in den Steigbügel setzte, hätte er unfehlbar mit dem Rechten schwenken müssen und wäre auf diese Art mit dem Rücken an die Mähne und mit dem Antlitz an den Schweif des Thieres zu sitzen gekommen. Doch glücklicherweise besann er sich und stieg wieder herunter, um es richtiger zu machen. Der Reitknecht sahe nicht einmal darauf; denn dieser hatte schon lange seine Augen auf den Riemen des Steigbügels gerichtet gehabt, weil ihm die Länge desselben mit den Füßen des Herrn von Magnus schwerlich zu passen schien. Endlich hatte er aber doch eine Proportion zurecht schnallen können. Es ging, wenn man auch bedenkt, daß die Füße des Reiters beinahe das Knie des Pferdes streiften. Endlich setzte sich Herr und Diener in Bewegung. Der Erstere flog jedoch von dem Trabe bald so in die Höhe, daß ihm die Steigbügel entglitten. Sich fester an das Pferd anklammernd, hielt er diese auch für unnöthig. Den Zügel gab er ebenfalls bald preis und zog es vor, die Mähne des Pferdes an dessen Stelle zu gebrauchen, wie fatal ihm auch das fortwährende Ueberfallen seines Körpers auf den Hals des Thieres war. Ging das letztere etwas zu stark, so rief Herr von Magnus sogleich Brr! rückte sich dann zurecht, suchte auch wieder einen Steigbügel aufzuangeln und versuchte den sauern Ritt auf's Neue. Herunter fiel er nicht, denn er hätte eher dem Pferde die Mähne ausgerissen, als sein Gleichgewicht verloren. So kam er denn endlich auf einer Anhöhe an, wo er die beiden pittoresken Reisenden vermuthete. Zu seinem Schrecken aber sahe er in der Ferne schon, daß sich ihre Anzahl auf drei vermehrt hatte und daß Niemand anders als Edmund der neue Ankömmling war. Ein lautes Gelächter und Bewillkommen empfing ihn, als er den Berg hinauf ritt. Ein solches Bild hatten sich alle Drei nicht träumen lassen. Julie fand diese Kühnheit an Herrn von Magnus so liebenswürdig, daß sie von der Ruhebank unter einem schon halb entblätterten Eichbaume aufsprang und Herrn von Magnus selbst von seinem Gaule herunterhalf.

Edmund besaß zuviel natürliche Bescheidenheit, als daß ihm der Pensionär einen unfreundlichen Willkommen hätte geben sollen. Man verwunderte sich über die zufällige Begegnung mit dem jungen Idealisten, der unten auf der Landstraße gezogen und in seiner Verhüllung im Reisewagen von Arthur und Julien sogleich erkannt worden war. Einer Einladung konnte Herr von Magnus nicht ausweichen. Sie wurde gemacht und angenommen.

Von jetzt entspann sich zwischen diesen vier Personen ein gar wunderliches Verhältniß. Die jungen Männer betrachteten sich wechselseitig mit Mißgunst. Herr von Magnus hatte Ursache Beiden zu zürnen, bediente sich aber des Einen gegen den Andern. Man würde sich irren, diese Taktik seinem Feldherrngenie zuzuschreiben. Es war nur Gutmüthigkeit, daß er gegen den agiren zu müssen glaubte, welcher grade um seine Frau war, und daß er sich dessen als Vertrauten bediente, der mit ihm Bundesgenosse zu sein ein eben so eigennütziges und ihm feindseliges Interesse hatte. Julie endlich war seit dem Sturze ihres Mannes weicher und schwächer geworden. Sie begann, als Weib zu fühlen, bedurfte Zuspruch und Theilnahme, und tauschte für beides, das sie von ihren jungen Freunden erhielt, wohl mehr an Empfindung aus, als sich mit ihrer frühern spröden Koketterie zu vertragen schien. Sie haßte ihren Gemahl um so mehr, als sie sich gestehen mußte, daß sie der Liebe bedurfte.

Herr von Magnus irrte unter diesen Umständen wie ein Träumender umher. Er stürmte auf Edmunds Zimmer und sagte: »Mein Freund, was soll ich von dem Benehmen Arthurs denken? Er ist die Seele meiner Frau. Was der fühlt und denkt, denkt und fühlt sie mit ihm! Sie fahren, sie reiten, sie gehen zusammen. Ihr ist nicht wohl, wenn sie ihn nicht wenigstens sprechen hört. Ich bin bei lebendigem Leibe schon verschollen. Ich werde mir das Leben nehmen müssen.«

»Beruhigen Sie sich, Herr von Magnus,« sagte dann Edmund, dem die Begünstigung Arthurs das Blut in's Gesicht trieb; »es kann so schlimm noch nicht stehen. Sie zieht Arthur nur auf, sie spielt mit seinen Schwächen, sie« –

Ein Bediente unterbricht die stockende Rede des Eifersüchtigen, der den Eifersüchtigen trösten wollte. Julie wünsche mit Edmund zu singen, heißt es. Edmund eilt davon und Herr von Magnus muß sich die Hand vor die Stirn schlagen. Er läuft in den Garten und trifft Arthur, wie er mit den Gärtnern spricht, als wären es seine Untergebenen.

»Mein Freund,« sagte Herr von Magnus zu ihm; »was soll ich von dem Benehmen Edmunds denken? Er ist die Seele meiner Frau. Was sie denkt und fühlt, fühlt und denkt sie mit ihm! Sie musiziren, sie zeichnen, sie lesen zusammen. Ihr ist nicht wohl, wenn sie ihn nicht mit Augen sieht. Sagen Sie mir, ob ich mir nicht das Leben nehmen muß, um diese Menschen glücklich zu machen?«

»Beruhigen Sie sich, Herr von Magnus,« sagte Arthur, den seinerseits wieder der Gedanke an Edmund in Harnisch brachte. »Sie zieht Edmund nur auf, sie« –

Er sprach dies gleichfalls nicht aus, sondern ließ den Unglücklichen stehen, um sich Juliens zu vergewissern. Herr von Magnus blieb einen Augenblick betroffen stehen, sah ihm nach und rief dann, vom Vorgefühl des Todes durchschauert, einige seiner Leute herbei. Er ging mit gräßlichen Vorstellungen um. Noch unklar darüber, wollte er wenigstens seinen Sarg bei Zeiten zimmern lassen und befahl, wie ein Ekstatischer so aufgeregt, einen Nußbaum im Parke zu diesem Zwecke zu fällen. Die Leute sahen sich an, folgten ihm aber mit Beilen und Sägen in den kalten, von Herbstblättern raschelnden Park. Mit mächtigen Schritten eilte er voran.

Inzwischen trat Arthur in die Zimmer Juliens, wo Edmund mit ihr à quatre mains musizirte. Sie ließen sich beide nicht stören, sondern gaben Arthur Gelegenheit, ihnen Beifall zu klatschen, da sie vortrefflich spielten. Arthur hatte aber weder Sinn für die Musik noch für die Gerechtigkeit. Er lehnte sich an das Fenster und ertrug eine Vertraulichkeit, die er ohne Aufsehen zu machen nicht stören konnte.

Es waren Sonaten des alten Haydn, auf welche Edmund gern zurückkam, und die er, da sie von neurer Hand überarbeitet waren, auch Julien empfehlen zu können glaubte. Sie behauptete nun aber, nachdem sie einige Concerte beendigt hatten, daß noch viel Puder auf diesen Compositionen läge und daß, jemehr Takt in diesen Stücken wäre, Einem destomehr davon auf die Schultern falle.

Edmund fühlte sich durch diese Anmerkung gekränkt, und antwortete nicht. Julie war aber seither so milden Herzens geworden, daß sie ihren Widerspruch nicht fortsetzte, sondern Edmund sogar die Wangen streichelte und ihm sagte: »Es ist eine Musik für Blondköpfe.«

»Auch das ist nicht wahr,« entgegnete Edmund, ohne auf die heftigen Schritte Arthurs zu hören. »Eher eine Musik für Krausköpfe; so etwas Schalkiges, Graziöses und wieder Gutmüthiges liegt in diesen herrlichen Klängen, die die Meisterschaft eines Mozart schon ahnen lassen.«

Keines von beiden schien Arthurs Gegenwart bemerken zu wollen. Sie begannen eine neue Piece und hatten einige Sätze durchgespielt, als sich in den Nebenzimmern ein Geräusch näherte. Die Thür wurde aufgerissen und leichenblaß trat der Haushofmeister herein, eine schreckliche Nachricht mit ungewissen Lippen stammelnd. »O Gott, kommen Sie,« rief er den Erschrockenen zu; »es ist ein Unglück geschehen! Der Herr ist von einem Nußbaum erschlagen, den wir im Park haben fällen wollen. Wir warnten ihn fortwährend, aus der Nähe des Baumes zu gehen, weil er leicht in dessen Fallrichte kommen könne. Er hörte aber nicht, bückte sich immer dahin, wo der Stamm eben überschlagen mußte, sagte sogar, der Baum solle sein Sarg werden, der Baum schlägt über und mein Jesus! zerschmettert ihm den Kopf.«

Arthur wollte hinausstürzen, um zu sehen, ob noch Rettung wäre. Aber Julie in dem Augenblicke der Gefahr die Anwesenheit des Nebenbuhlers nicht mehr ignorirend, sprang sogleich zu ihm heran, als bedürfte sie seines Schutzes, hielt ihn zurück und beschwor ihn bei Allem, was ihm heilig wäre, sie nicht zu verlassen. Da er zögerte, so klammerte sie sich an seinen Körper und zog ihn zurück, bei ihr, der alles Grause und Entsetzliche Fürchtenden, dazubleiben, als bedürfte sie eines Beschützers, nicht eines Trösters.

Edmund, von seinem weicheren Herzen getrieben, übersah diese Richtung, welche Juliens Angst nahm und überhörte, daß sie ihm, als er forteilte, um das Schreckliche zu sehen, nachrief: »Kommen Sie nicht wieder!« Er eilte in den Park, an die unglückselige Stelle, wo man den Entseelten eben auf eine Tragbahre legte, um ihn in's Schloß zu bringen. Der herbstlich entblätterte Baum, hie und da noch eine Frucht tragend, lag weithin ausgestreckt, er trug eine Inschrift, die in das Holz geschnitten war, welche besagte, daß Karl von Magnus vor vierzig Jahren diesen Baum gepflanzt hatte. Edmund war so bewegt, daß er den Trägern nur mit Mühe folgte. Ein Diener des Hauses suchte, als man den Unglücklichen unter Dach und Fach gebracht hatte, einige wundärztliche Kenntnisse an ihm zu erproben; allein weder die Ader gab Blut, noch schien der gänzlich zerschmetterte Hirnschädel irgend eine Möglichkeit von Trepanation zuzulassen. Man mußte die Hoffnung aufgeben und trug den Verschiedenen in die der Gruft nahgelegene herrschaftliche Todtenkammer.

Edmund wollte zu Julien zurückkehren und ihr den Stand der Sachen berichten; allein sie ließ ihn nicht vor. Er fand dies ganz in der Ordnung, da er ihre Furcht vor aller Aufregung kannte und wollte sich zufrieden geben, als es ihm einfiel, nach Arthur zu fragen. Dieser war noch immer bei Julien, hörte er. »Welche Schändlichkeit« knirschte er. Edmund konnt' es glauben, was er hier glauben mußte. Er hatte längst sich mit dem Gedanken vertraut zu machen gesucht, von Arthur verdrängt zu werden; aber er wollte wenigstens nicht freiwillig nachgeben, sondern sich für den schmerzlichen Verlust männlich rächen. Er wußte nicht, wie wunderbar seine Stellung zu Arthur war, daß sie ein stiller, unsichtbarer Genius, Seraphine, verband.

Ja, Edmund mußte sich sogar gestehen, daß der Verlust nicht einmal mehr ein schmerzlicher war. Er zog sich auf sein Zimmer zurück und hing seinen Gedanken nach. Weiblichen Gemüthern liegt ein gewisser Egoismus, der dieselben Aeußerungen mit dem Egoismus des Dichters hat, immer nahe. Diesen ergriff er und klagte sich selbst an, einem Wesen, wie Julien sein Herz zu opfern, dem Widerspruche seiner selbst, wie er sagte, meine Harmonie! Ihr Gleichmuth gegen das Unglück ihres Mannes, ihre Angst, sich aus der Sphäre des Todes entfernt zu halten, schrecklich genug schon bei dem Hingang ihres Kindes bewiesen, machte sie ihm grauenhaft. Er hätte vor dem Wunsche, vom Tode ihres Mannes Nutzen zu ziehen, jetzt erröthen können. Allein er sagte sich, daß er ihn nicht einmal ziehen könnte.

Nur Arthurs Bevorzugung riß ihn wieder aus dieser Entsagung auf. Sich zurückgesetzt zu sehen, ertrug er, wenn nicht seiner Liebe zu Julien, doch seiner Liebe zu sich selbst wegen nicht. Jemehr er die Natur und äußere Erscheinung Arthurs prüfte, desto stärker regte er sich auf. Er ging sogar soweit, Arthur einen Adel vorzuhalten, den dieser zwar im Wesen und im Geiste, aber nicht im Namen hatte. Er war entschlossen, sich wenigstens die Genugthuung zu verschaffen, die ihm, dem Cavalier gebührte. Man verstehe aber wohl! Edmund war ein so guter Junge, daß er die Adelsideen nur deshalb in sich beschwor, weil sie ihm in dem Augenblicke den Satisfaktionsheißhunger gaben, den er sonst, seinem Herzen und seinem Verstande folgend, nicht würde gehabt haben.

Am folgenden Tage war freilich all' seine Kraft schon hin. Ein weichmüthiges Verzeihen und Versöhnen kam in sein Herz. Er hätte sich selbst an den Haaren herbeischleppen müssen, um sich in die Situation seiner Entschlüsse vom gestrigen Abend zu versetzen. Was war es aber? Er verzieh Julien ihre gestrige Entfernung von ihm: er rechnete sicher darauf, daß sich heute das Gleichgewicht wieder herstellen würde. Allein er mußte erfahren, daß er sich täuschte. Er wurde auf's Neue nicht zugelassen. Er schäumte vor Wuth über diese infame Zurücksetzung, wie er sagte. Er schrieb sie nur dem Uebergewichte Arthurs zu und hatte ganz Recht darin: denn dieser behauptete seinen Vorzug und war immer in Juliens Nähe. Zwar schrieb sie an Edmund: »Ich kann Sie nicht sehen, Edmund, weil Sie keine Kraft haben, weil Sie blaß aussehen würden über das traurige Ereigniß, weil Sie endlich mich gar nicht schonen würden.« Auch leuchteten diese Züge mit einiger heimlichen Wärme in sein Herz und richteten ihn eine Weile auf; allein er war doch zuletzt aufrichtig genug, sie nicht anders als wie für eine Ablehnung seiner Nähe auf lange Zeit zu verstehen. Sogar Arthur schien ihm unschuldig; es quälte ihn, daß er sich auf eine dem Ehrenpunkte angemessene Weise aus dieser Lage retten mußte. Er schrieb noch den nämlichen Abend eine Ausforderung an Arthur.

Dieser hatte die Notwendigkeit einer solchen Lösung ihrer beiderseitigen Rivalität längst vorausgesehen und sich schon im Stillen auf Waffen vorbereitet. Er nahm die Herausforderung ohne Groll oder Blutdurst an; er war selbst ergriffen genug von dem Drange der Umstände, die hier eine mathematische Nothwendigkeit schufen. Es war am frühsten Morgen, als Arthur und Edmund, beide ohne Zeugen, in einen nahe gelegenen Wald ritten. Ein dichter Herbstnebel lag auf der Gegend und entzog Einen dem Blicke des Andern, ob sie gleich, der Kälte wegen in Mäntel gehüllt, ganz nahe zusammenritten: keine dreißig Schritte auseinander. Aus dem Wald bellte ihnen ein Hund entgegen. Eine Stimme rief und pfiff ihn zurück. Edmund erkannte ihn. Es war derselbe Hund, den ihm einst Philipp abgelockt hatte. Das Thier erkannte auch Edmund und umwedelte den Reiter, indem es an das Gebiß des Pferdes bellend hinaufsprang. Es pfiff Jemand darauf stark und rief ihn zurück. Weiterhin lichtete sich der Wald und die beiden Reiter wurden, da sie sich schon längst gehört hatten, ihrer ansichtig. Ein gut gelegener wie absichtlich von Bäumen umschlossener Platz bot sich dar. Sie hielten an, stiegen ab, banden die Pferde an zwei Bäume fest und maßen stillschweigend die Entfernung. Eigentlich hatte Edmund die Waffen anzubieten. Es war schon wunderlich genug, daß sie Arthur unterm Mantel hervorzog und seinem Gegner, der die Augen kaum aufschlug, die Wahl ließ.

Sie hatten schon Positur gefaßt, als neben ihnen im Gebüsch sich etwas regte. Sie merkten jetzt erst, daß sie ganz nahe an der Landstraße standen, die sich durch den Wald zog. Ein zweirädriger Karren fuhr vorüber mit einem grauen Verdeck. Der Hund saß oben auf dem Verdeck und bellte herüber. Aus dem Korbe aber sah man eine Peitsche hängen, die ein unansehnliches, schwaches Pferdchen zur Eile antrieb. In dem Augenblicke sah aber ein weiblicher Kopf aus dem Takelwerk des Wagens hervor, es war Seraphine. Wie Arthur und Edmund ihrer ansichtig wurden, ließen sie die Waffen sinken und blickten sich fragend an. Seraphine, die die Scene wohl verstand, griff in den Zügel und wehrte eine Hand ab, die sie zurückhalten wollte. Im Nu war sie dem Käfig entsprungen und eilte zu Arthur und Edmund, die sich zurückziehen wollten. Sie wußte, soviel Worte ihr auch auf dem Munde lagen, doch keines davon auszusprechen und blieb wie erstarrt auf dem Boden angewurzelt, da sie jetzt erst die beiden sich bedrohenden Gestalten erkannte. Edmund tritt näher heran und ruft: »Seraphine!« Sie lehnt sich aber, da auch Arthur heranschreitet, an einen Baum und bricht in heiße Thränen aus. Diese peinliche Situation währte einige Sekunden, bis sich Arthur an Edmund mit der Frage wandte: »Kennen Sie die Dame?« Seraphine blickte auf und richtete ihr Auge so fest auf Arthur, daß er die Frage kaum beenden konnte. »Ob wir uns kennen, Seraphine!« ruft Edmund mit dem Schmelze seines edlen Gemüthes aus. Seraphine wußte nur zu antworten, indem sie seine Hand drückte und auch die des kalten, spröden Arthurs zu erfassen suchte. Dieser Moment währte einen Augenblick: die Pistolen entglitten den Händen der beiden Männer. »O liebt Euch!« sagte Seraphine mit krampfhaft erstickter Stimme; »liebt Euch! Ihr seid Eins, Eins in mir, haßt Euch nicht!« Ach, es war eine Welt von Erinnerung, die auf diesen drei Seelen lastete. Sie blickten sich stumm an, ohne daß Eines recht die Rührung des Andern verstand. In dem Augenblick fing Philipp an, lebhaft mit der Peitsche zu klatschen. Er rief seinen Hund, der sich unter die Scene gemischt hatte, schien aber mit seinem Pfeifen weit mehr Seraphinen zu meinen. Sie verstand auch seinen Ton, drückte noch einmal den beiden Männern die Hand und wandte sich mit lautem Schluchzen dem Wagen zu. Philipp, der sich selbst nicht sehen ließ, hob sie herein, der Hund sprang auf das Verdeck, das er über Kisten und Koffer, die hinten aufgepackt waren, leicht erreichen konnte, und die kleine Karavane zog von dannen. Man hörte noch Seraphinen's Weinen bis tief in den stillen Forst. Kein Vogel sang. Keine Blume duftete am Wege. Ein starker Windhauch hob die Herbstblätter von der Erde auf, und trug ihrer eine raschelnde Wolke den Davonziehenden nach.

Die beiden jungen Männer aber, von denen nur Arthur die Lage der Dinge recht übersah, lächelten sich schmerzlich an, bestiegen ihre Klepper und ritten aus dem Walde nach dem Schlosse zurück. Als sie es in der Ferne liegen sahen, kam Arthur zu Edmund heran und sagte: »Es ist Alles eitel in der Welt, lieber Freund: wollen wir noch einmal auf Magnusruhe einkehren?« »Wie Sie wollen, Herr von Oppen, ich habe da eigentlich nichts zu suchen!«

Edmund, lächelnd, um seine Beschämung zu verdecken, entgegnete: »Ich hole mir wenigstens mein Gepäck und meinen Wagen.«

»Gut,« sagte Arthur, »wir theilen den letztern und fahren zusammen nach der Residenz zurück.«

Allein es lag im Schooße der Götter nicht, daß sie so leichten Kaufes hätten sollen davon kommen. Es war ihnen noch eine Katastrophe aufgespart, die sie in ihren Vorsätzen gründlich bestärken mußte, ein Erlebniß, das grauenhaft vor ihre Augen treten sollte, Niemanden aber mehr vernichtete als den Stolz, den Leichtsinn und die Gefühllosigkeit des Weibes, um dessen Gunst sie gewetteifert hatten.

Sie waren nämlich kaum bei dem Schlosse angekommen, als sie im Wohnhause, im Hofe, wo sie ihre Pferde abgaben, eine wunderliche Aufregung der Dienerschaft wahrnahmen. Nach der Ursache derselben fragend, antworteten ihnen die Einen, daß der selige Herr spuke, die Andern, daß er von den Todten auferstanden sei. Der Haushofmeister kam ihnen entgegen und erklärte ihnen: »Sie wissen, meine Herren, wie viel Noth wir hatten, das Blut am Kopfe des Seligen zu stillen. Indem wir ihn vorgestern in die Gruft trugen, zog sich aus dem eilig besorgten schlechten Sarge, welcher aus dem unglückseligen Baume gezimmert wurde, eine Spur davon durch das Haus entlang, die ich gern getilgt hätte. Wir fangen damit heute an und sind schon dicht am Gewölbe, als sich ein plötzliches Stöhnen vernehmen läßt, das sicher aus der Gruft kommen mußte. Ich fasse mir ein Herz, stoße die eiserne Thür zurück, ach,« unterbrach sich aber der Erzähler, »dort kommt die Frau Baronin selbst.«

Julie wurde nämlich von mehren Dienern eine Stiege hinunter geführt. Halb ohnmächtig schritt sie dem Gewölbe zu, ohne ihre beiden Freunde zu sehen, die sich anfangs zurückzogen und dann langsam nachfolgten. Als Julie zögerte, rief ihr ein Geistlicher zu: »Sie müssen! Er verlangt nach Ihnen. Er will mit Ihnen allein sprechen und nur im Gewölbe; alle guten Geister loben Gott den Herrn.«

Es war im Gewölbe finster und schwül. Fackeln erhellten den grauenhaften Raum und ließen rings die aufgestellten Särge der Ahnen des Hauses sehen. Julie wankte an den jüngsten dieser Aschenbehälter. Ihre Blicke fallen auf den Todtgeglaubten, auf eine Verbindung, mit der sie niemals Gemeinschaft gehabt hatte und die jetzt ein so Grausen erregendes Recht auf sie ausüben wollte. Es ist Herr von Magnus, der in einem langen Sarge, mit gräßlicher Entstellung seiner Gesichtszüge daliegt. Der Auferstandene hängt kaum mit einem Faden am Leben; aber der Faden wirbelt sich immer dichter zusammen, das Bewußtsein leuchtet immer glänzender aus den starren Augen. Er erblickt jetzt Julien und winkt sie mit matter Hand.

»Ich stand schon an den Pforten der Ewigkeit,« sprach er ganz leise zu ihr. »Diese Sinne, welche jetzt allmählig in meine auflebenden Nerven zurückfließen, tasteten schon in dem unendlichen Raume der Unsterblichkeit, wie ein neugeboren Kind sich an die Welt gewöhnt. Ich lag wie ein Säugling an einer überirdischen Mutterbrust und sog mich am Himmel zum Himmel auf. Muß nun aber zurückkehren in diese elende Welt! Der Ast, an dem ich mich anklammerte, um einige Zoll hoch über die Erde zu kommen, brach. Ich werde mit der Minute kranker, d. h. menschlich geredet, gesunder, kräftiger: ich fühle, daß ich sterben, ich meine menschlich geredet, daß ich leben kann. Ich will leben. Du seufzest? Nun, Julie, ich will also nur leben, wenn Du willst. Darum rief ich Dich. Willst Du mein Siechthum nicht verachten? Willst Du Dich durch den Anblick meiner Leiden rühren, und Neigungen entsagen, die zwischen mir und Dir die Scheidewand gewesen? Sprich, ich verlange Nichts, das Du geben müßtest. Rück' ich in diesem Kasten nur ein wenig höher hinauf und presse mein offenes Hirn an die Kopfwand, so bin ich hin! So ist jetzt Leben und Tod in Deiner Hand; sprich!«

Arthur, der dies hörte, bekam so großes Mitleiden mit der gefolterten Frau, daß er hinzutreten und sich einlegen wollte. Edmund aber und der Pfarrer hielten ihn zurück. Der Letztere trat selbst vor und vermittelte. Aber der zwischen Tod und Leben Schwankende rief: »Keine Fürsprache will ich! Nur die Stimme des Herzens und der Pflicht soll entscheiden. Habe ich kein Recht mehr, dann fahre wohl, Welt, was soll ich hier?«

Als aber Juliens Thränen flossen, so laut, daß der Scheintodte sie hörte, hielt er selbst inne sie zu quälen. Er wünschte hinauf getragen und von einem geschickten Arzte, der jeden Moment erwartet wurde, behandelt zu werden.

Indem man hiezu Anstalten machte, zogen Arthur und Edmund sich zurück. Ihr Wagen war inzwischen gepackt worden. Sie fuhren zusammen nach der Residenz zurück, im Anfang, ernst genug gestimmt, bald aber heitrer und zuletzt über den Contrast der komischen Art des Herrn von Magnus mit der fürchterlichen Alternative in dem Nußbaumholzsarge sogar zum Lachen gestimmt.

Zwei aber gab es hinfort, die nicht mehr lachten: Seraphine und Julie. Diese hielt treulich den harten Winter auf Magnusruhe aus, und pflegte die Genesung ihres Mannes, die sich langsam aber mit guter Hoffnung anließ. Herr von Magnus mußte fortan eine feine silberne Hirnschädelplatte tragen. Er ging gebückt und war jeder kleinsten Veränderung der Temperatur auf das Empfindlichste ausgesetzt. Julie trug ihr Schicksal mit bewunderungswürdiger Entsagung. Sie hatte zum ersten Male in ihrem Leben dem Schrecken in's rollende Auge geblickt, jetzt ertrug sie sein Drohen, sie zitterte nicht mehr vor dem, was sie früher nicht hätte tragen können. Mit der Aufopferung einer Antigone führte sie einen Mann, der alt genug war, um ihr Oedipus zu seyn, durch den kurzen Lebensrest, den er noch zu verwenden hatte. Oft konnte man beide an öffentlichen Orten, auf Promenaden sehen, wo sie aus dem Wagen stiegen, und die gebückte Gestalt des unglücklichen, jetzt aber der Welt, ihren Tendenzen und Systemen gänzlich abgewendeten Mannes sich in den Arm seiner fröhlich blickenden und in die Fügung still ergebenen Gattin hing.

Weniger trostreich gestaltete sich Seraphinen's Loos. Philipp war in der Haft verwildert und besaß nichts mehr von der feinen Zurückhaltung, die er sonst weit über seinen Stand hinaus gegen eine ihm gewisse Braut beobachtete. Von Nahrungssorgen gedrängt mißhandelte er sie und vernachlässigte seine Umgebungen. Seraphine verkümmerte in der Prosa ihres jetzigen Daseyns. Muß man auch zugestehen, daß sie sich oft ihrer Verhältnisse überhob und Philipp den ganzen Adel ihrer Seele selbst mit unangemessenem Stolze empfinden ließ, so fügte sie sich doch in Freunde und Verwandte, in Kundschaft und Gönnerschaft. Aber was vermochte sie! Ihre bestimmten Aeußerungen kränkten die Nachbarn mehr, als sie diese gewannen. Bald hieß es von ihr, sie trüge große Ideen im Kopf, bald entdeckte man als Folge derselben ökonomische Nachlässigkeiten, Unordnung des Costümes, niedergetretene Schuhe, offenherzige Strümpfe, allzu spät gemachtes Haar, hundert Handhaben für Verläumdungen, die zuletzt systematisch wurden. Wusch sie, so wurde das Weißzeug gemustert, ging sie auf den Markt, so kaufte sie das Schlechteste, und bezahlte es am theuersten. In dem kleinen Kramhandel, welchen Philipp etablirt hatte, beobachtete sie kein Maaß und Gewicht, sprach heute mit den Kunden nicht, und hielt sich morgen wieder so lange mit ihnen auf, daß sie das Innre des Hauses vernachlässigte. So schwankte sie von Extrem zu Extrem und verlor allmählig das Gleichgewicht ihrer selbst. Sie genas eines Kindes, das bald ausathmete. Wenige Wochen darauf folgte sie ihm selbst nach. Die Mißhandlungen ihres Mannes und ein Schmerz, den sie sich nicht erklären konnte, der aber fortwährend an ihrem Herzen nagte, hatten sie getödtet. Niemand, ihre von ihr weit entfernt gewesenen Geschwister ausgenommen, weinte über ihren Tod.

Und ich selbst? Du meine arme Seraphine! Was drängte mich, das Bild Deines Lebens vor allem Volke aufzurollen und Dein gebrochenes Herz, als ein Kunstwerk! von Händen anatomiren zu lassen, die nichts daran schonen werden, weil sie es für Dichtung halten, da es doch eitel Schmerz und Wahrheit ist, Wahrheit die Du erlebtest und Schmerz den ich selber – soll ich nun Edmund oder Arthur seyn – mitgeduldet und mitgeschaffen habe! Ach, wenn Dichtung nicht blos Traum und Phantasie, wenn Dichtung auch der Seele wirksamster und wahrster Athemzug ist, dann hatt' ich ein Recht, meinen Schmerz und meine Vergehungen an Deinem Herzen auszuhauchen in diese bunte Abwechselung von Zuständen, die sich poetisch vor mir abrundeten und der Hand des Künstlers nicht bedurft hätten! Nun schlummerst Du schon länger als ein halb Jahrzehend, bist Staub und Asche – was bin ich! Nicht einen Faden hab' ich noch, der mein Leben an Deine Jugend und jetzt Deinen Tod knüpfte, keine Erbschaft der Liebe, kein Testament eines letzten Blickes, keine Blume mehr, die Du vor mir, der Alles zerriß, retten konntest, nicht eine Zeile Deiner Hand! O unendlich, furchtbar weit ist Dein Tod und mein irrendes Leben geschieden. Du starbst ohne Ahnung dessen, was ich noch erstreben würde, starbst mit einem heitern Bild von mir vor Deinen das Himmlische suchenden Augen: und sahst keine der Klippen, über welche ich noch klettern, keinen der Abgründe, aus denen ich mit Mühe zum Lichte klimmen sollte – ach, dies Andersseyn, diese Umgestaltung drückte so mächtig auf mein Herz, daß ich ihm Luft machen mußte und einen Augenblick Alles, was ich bin und habe, preisgeben, um mir Etwas zu verwirklichen, was jetzt ein Grab ist, ein kahles vielleicht, ein einsames, und was einst so blühendes und hoffnungsvolles Leben war! Wirklichkeit war es, wie das nächtliche Rauschen meiner Feder jetzt auf dem weißen Papiere, Wirklichkeit wie die Uhr, die da eben draußen eine Stunde nach Mitternacht schlägt! Es mußte abgethan werden. Jetzt, wo es geschehen ist, fällt die Thür der Vergangenheit wohl auf ewig in's Schloß. Sagt mir nicht, wo sie begraben ist! Sie ist hin! Der kommende Morgen wird kalt und gleichgültig mit neuen Pflichten an mein Fenster pochen.


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