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Wir haben in Fritz Hackert einen Menschen des Instinktes kennen gelernt. Unbekannter Herkunft stehen uns seine Schicksale vor Augen seit der Aufnahme in das Haus des Justizrathes Schlurck und seinen jugendlichen Verirrungen mit Melanie bis zu dem Augenblick, wo wir ihn am Schlusse des Fortunaballes in einem erneuerten Anfall seiner Krankheit verließen. In dem ersten Momente, wo uns Hackert persönlich bekannt wurde, in Tempelheide, wo er im Kornfelde lag und den Becher Weins mit Siegbert theilte, erkannten wir in ihm eine nicht ungewöhnliche Natur, die aber damals völlig zerfahren, mit sich selbst zerfallen war, innerlich und äußerlich verdüstert und heruntergekommen. Später fielen uns lichtere Momente auf sein widerspruchsvolles Wesen und wir werden uns wol gesagt haben, daß dies Individuum durch Krankheit, geringe äußere und meist durch sich selbst gewonnene Erziehung, endlich durch sein angeborenes Naturell dem Urstoff des Menschen näher stand als die meisten andern Menschen, die man eher vermittelte Naturen nennen möchte. In Hackert lag noch unmittelbar das ganze Chaos des Guten und Bösen, wie es aus der Hand des Schöpfers in uns so geheimnißvoll gepflanzt scheint. Wohin seine Entwickelung ihn führen wird, ob zum Schlimmen oder zum Guten, wird uns schwer werden, schon vorauszusagen. Wir sahen ihn in den Beziehungen zu Melanie von einem Sensualismus, der nur durch den üppigen Ton des Schlurck'schen Hauses und die epikuräische Weltauffassung des Justizraths entschuldigt werden kann. Melanie war ihm wol so ziemlich gleichartig, nur daß sie die Vorzüge einer gefälligeren Bildung vor dem früh verwahrlosten und durch die Farbe seines Haares entstellten Spielgenossen voraus hatte. Einen Beweis für ihre wirkliche aus dem Herzen fließende Güte ist uns Melanie noch schuldig geblieben. Was sie uns an freundlichen Gesinnungen und wohlwollenden Gedanken offenbarte, floß aus ihrer Leidenschaft, aber auch diese kam nicht rein aus dem Herzen, sondern aus der Eitelkeit und dem Drange nach Auszeichnung... In Hackert schlummerte der Ehrgeiz. Zu seinem Glücke unbewußt. Hätte ihn der Gedanke des Ruhms, der Auszeichnung erfaßt, er hätte nur auf schlimme Bahnen gerathen können, auf solche Bahnen, an deren Beginn wir ihn eben jetzt erblicken.
Muth und Zaghaftigkeit waren in diesem Naturmenschen auf eigene Art gemischt. Wenn wir sagen, daß etwas Weibliches in ihm lag, eine große Empfänglichkeit und das Bedürfniß einer Liebe, wie sie ihm nach seinem bessern Sinne selten zu Theil wurde, so wird man sich der Lösung des psychologischen Räthsels, das er darbietet, schon eher nähern. Ein Mannweib, wenn es denkbar wäre, brächte wol ähnliche Mischungen, die an Thierisches erinnern, an den Muth und die Furcht des Löwen zugleich, zum Vorschein. Hackert hatte oft großartige Regungen und verfiel sogleich wieder, bei der geringsten Verletzung, in die niedrigsten. Wir haben gesehen, wie er der Rache fähig war! Man hatte ihn furchtbar entwürdigt, hatte ihn durch jene Züchtigung wie ein Thier mit Füßen getreten, aber statt offen seinem Gegner gegenüber zu treten, tödtete er ihm durch die raffinirteste Grausamkeit sein Eigenthum. Ihn zu verdammen steht Jedem frei. Wer wird ihn beschönigen wollen? Aber wer wird auch so weichlich gestimmt sein, nur Die Menschen menschlich zu finden, die nach den Regeln des Katechismus entweder gut oder böse sind, für den Himmel oder die Hölle passen, nur Liebe oder Abscheu erregen? Wir Menschen sind nicht so kurz zu nehmen, wie wir in einem polizeilichen Signalement oder in lebensunwahrer Dichtkunst angegeben werden. Die Mehrzahl der Lebenden sind Hackerte, Individuen, schwierig unterzuordnen unsrer Liebe und doch auch nicht hassenswerth. Die reine geläuterte Vortrefflichkeit gibt es ebensowenig, wie es eine abstrakte Schlechtigkeit nicht so nackt gibt, wie man ihr in den Kriminalgefängnissen zu begegnen glaubt. Wir sprechen immer von Menschen, die wir lieben und achten, und immer von Menschen, die wir hassen. Aber zwischen Beiden gibt es Millionen, die sich aus unsrer Liebe und unsrem Hasse sehr wenig machen, die so sein wollen wie sie sind, und die man gelten lassen muß, weil ihnen die Welt so gut gehört wie uns. Unsre Maßstäbe von Verstand, Herz, Gemüth passen in den seltensten Fällen auf die Menschen. Dieser Hackert konnte demüthig werden bis zum Kleinmüthigen, ja bis zum Überschlag in eine weiche und klagende Hingebung, und der geringste Erfolg, wie wir an dem Abend gesehen haben, als er Melanie in ihrem Wagen überfiel, schnellte ihn zum Ausbruch des Trotzes und zur widerlichsten Prahlerei empor. In jener Nacht, als er den Brüdern Wildungen ihre üblichen moralischen Voraussetzungen über den Haufen stieß, strafte ihn freilich das Geschick. Eben noch jubelnd von Lust, drohte ihm zum zweiten male ein Überfall, eine noch schimpflichere Mishandlung. Damals gerettet durch die sorgsame Liebe des jungen Mädchens, dem sein zerrissenes Gemüth, seine Bizarrerie imponirte, flüchtete er sich in einen Versteck und verfiel vor Zorn und Jammer über sein Loos in Krämpfe, Zuckungen und ein stilles Schluchzen, das erst aufhörte, als er, vom genossenen Weine übermannt, halb und halb entschlief. Und in diesem Halbschlafe trieb ihn sein unruhiger kranker Geist empor und führte ihn als Schlafwandler in den Tanzsaal zum allgemeinen Entsetzen. Damals kam ihm die Ideenverbindung der regen Phantasie von selbst auf Louise Eisold, die neben ihm war und ihn stützte. Er sah die Kinder im Geist. Er lehnte sich über ihre Lagerstätten, um ihnen: Gute Nacht! zu sagen. Er sah den Alten, griff nach ihm und fühlte ihn kalt. Er sah, daß er starb. Die Uhr schlug in dem Augenblicke vier. Er erwachte und sank in die Arme jenes seltsamen Mädchens, das in ihm gerade den kranken Genius liebte.
Wie Hackert damals von Sandrart, Louisen und Fränzchen nach Hause geführt wurde, in der Frühe noch zu Bett ging, dann aufstand, sich auf Alles besann und tief, tief über sich schauderte, da hatte er gedacht: Du mußt dich in ein festes Lebensjoch schmieden! Du mußt irgend etwas beginnen, was diese bösen Geister deines Innern, diesen ewigen Aufruhr deines Dämons zur Ruhe bringt! Mit Gewalt zwang er sich, den Vorschlägen des Oberkommissairs Pax Gehör zu geben. Und ohne zu prüfen, was doch wol Alles dieser neue Beruf ihm auferlegen konnte, ohne irgend zu überdenken, welches die Bedeutung seiner neuen Thätigkeit werden müßte, schleuderte er sich mit Gewalt in diesen Beruf, nur um von dem gefahrvollen wilden Vegetiren freizukommen. Er hatte Melanie versprochen, wenn sie bei Lasally die Einstellung seiner Klage gegen ihn durchsetzen würde, sie und Alle in Ruhe zu lassen. Zu Louise Eisold zog ihn nur Wehmuth, nur Schmerz, nur Reue. Er wurde feig, unmännlich, wenn er sich die Möglichkeit dachte, ein so edles, tugendhaftes Mädchen zu lieben, er floh sie wie die Tugend. Und weil er auch schon längst das grobe Laster verabscheute, so warf er sich nun zum ersten male wieder in die Arbeit. Er kannte keine andre Arbeit als die mit der Feder. Bei Schlurck war er außerordentlich geschäftskundig geworden, hatte eine Schlauheit, Pfiffigkeit, eine Gewandtheit im Auffassen, einen Reichthum von Detailkenntnissen sich erworben, die der Oberkommissair Pax sehr zu schätzen wußte und gern darauf einging, für gröbere Arbeiten eher den Schreiber Schmelzing zu beschäftigen. So hatte Hackert seither hingebrütet in Büreauthätigkeit. Er hatte die Genugthuung, daß ihm diese Lebensweise für die Beruhigung seiner Nerven besser gedieh als das planlose Umherdämmern in Busch und Feld, auf Kreuzweg und hinter Hecken und das Verfolgen seiner leidenschaftlichen Eingebungen. Bald dachte er früher: Du mußt sparen! Es kommt eine Zeit, wo Schlurck dir nichts mehr gibt oder du nichts mehr von ihm nimmst! Es kommt eine Zeit, wo du verhungern kannst! Da wurde er geizig, schmuzig geizig. Dann warf er wieder das Geld fort, das er ohnehin in baarem Metall nicht leiden mochte, weil er, wie er sagte, physische Schmerzen davon hätte. Da geschah es ihm wol, daß er so frech war, einen Fünfthalerschein als Fidibus zu einer Cigarre zu verbrennen. In solchen Krisen war er krank und stand in der Nacht auf, unruhig, gequält und erschreckte die Menschen durch sein Nervenleiden, das ihn zum Nachtwandler machte. Seitdem er bei Pax arbeitete, in der einzigen Thätigkeit, die ihm zuletzt doch nur allein möglich machte, sich einen Beruf zu bilden, war sein Wesen ruhiger geworden. Er schlenderte so hin und schlief ruhig. Er dämpfte seine Überreizung ab und sah nicht mehr rechts, nicht mehr links und war auf dem Wege, ein consequenter Menschenhasser zu werden, ein Peiniger, ein Tyrann aller Lebendigen.
Heute zum ersten male kam ihm nun eine Zumuthung, wie sie ihm der Oberkommissair noch nicht gestellt hatte. Anfangs zog ihn die Art, wie er in diese Situation gerieth, an. Das kam so eigenthümlich, so geheimnißvoll. Die Erinnerungen an die Kinderzeit thaten ihm wohl. Der Spott über Schmelzing, der Scherz über den Spuk, das Alles stimmte ihn anfangs launig. Wie er nun aber hier auf dem Estrich hingestreckt so allein kauerte, wie da drei gespenstische Kreuze, flimmernd und flackernd, so auf dem Boden wie Irrlichter ihn umtanzten, wie er sich sagte: Was sollst du hier? Horchen? Lauschen? Da überfiel ihn die Überlegung und sie stimmte eigentlich nicht mit Dem, was ihm genehm war. So Manches war schon vorgekommen, was ihm der Oberkommissair übertragen hatte und was ihm bedenklich schien. Er hatte sich Dem unterzogen, ohne lange zu prüfen. Diese Horcherrolle aber machte ihm Kopfschütteln; dennoch hatte sich sein Menschenhaß schon so entwickelt, daß ihm etwa eine Verhinderung der Pax'schen Absichten nicht im geringsten einfiel.
So lag Hackert eine Weile und horchte, ob nicht Schmelzing zurückkäme. Er hatte das Aufschließen der Thür und das Zuschließen gehört, aber Schmelzing kam nicht wieder. Wie? fuhr er auf, hat man dich eingeschlossen und dir das Geschäft des Lauschers allein übertragen? Noch eine Weile geduldete er sich. In dem Augenblicke glaubte er etwas knistern zu hören. Er lag ganz im Dunkeln und hätte kaum den Rückweg finden können. Zornig sprang er auf. Wie seine Natur war, hatte er sogleich die schlimmste Vorstellung. Er sah sich gefangen, betrogen, irgendwie verrathen. Die verzerrtesten Möglichkeiten tanzten vor seiner im Nu entzündeten Phantasie. Er wollte Lärm machen, durch die Kreuze hindurch um Hülfe rufen. Jetzt zaghaft und sogleich kleinmüthig, gab er nicht nur sich, sondern sogleich auch Die, die ihm vertraut hatten, auf. Da hörte er etwas in der Ferne knarren. Es mußte die Thür sein, die aufgeschlossen wurde. Die Erzählung von dem grauen Manne kam zur Mehrung seiner Aufregung noch hinzu. Er horchte. Er glaubte Tritte zu vernehmen. Ein Lichtschimmer fiel durch irgend eine Scheibe in der Vorhalle. Er hielt den Athem an und rüstete sich auf jede Gefahr. Da kamen die Fußtritte näher, der Lichtstrahl beleuchtete die Wände. Hackert stand auf dem Sprunge, dem verdächtigen Ankömmling jedenfalls sogleich die Laterne zu entreißen... Es war aber Schmelzing, der in der einen Hand mit der Laterne, in der andern mit einem großen Papiere, in das etwas eingewickelt schien, näher schlich. Seine Phantasie hatte ihn von der Möglichkeit, daß der harthörige College wiederkam, ganz entfernt gehabt. Schmelzing kam und nickte Hackerten zu, ihm das Papier abzunehmen. Es war Brot und Fleisch. Schmelzing war noch auf die Straße gegangen und hatte Vorräthe eingekauft, wofür ihn Hackert loben mußte. Behaglich kauerten sie sich nun zur Erde nieder an dem mittleren Gasflammenkreuz, zogen Messer hervor und zerschnitten sich den reichlichen Proviant. Leider hatte Schmelzing vergessen, für ein Glas zu sorgen. Da zog er ein hölzernes Pennal aus der Tasche, nahm die Federn und Bleistifte heraus und verwandelte dies Pennal in zwei Trinkbecher, einen großen und einen kleinen. Den kleinen nahm Schmelzing, der nicht viel vertragen konnte, den größeren Hackert. Mit der Fingersprache sagte Hackert, so hätten die Humpen der alten Ritter ausgesehen, nur wären sie größer gewesen. Die beiden Schreiber stießen mit ihren Trinkpennalen an und unterhielten sich, obgleich stumm, auf die heiterste Art. Endlich hörten sie Geräusch. Die Thür der Trinkstube unter ihnen ging auf. Männer traten ein, ein lautes Gespräch begann, jedes Wort schallte in der Wölbung so wieder, wie es unten gesprochen wurde. Die beiden lauschenden Schreiber spitzten die Ohren...
Unsre Freunde aber, Dankmar, Siegbert und Leidenfrost hatten, als sie von dem Feste der Weinlese bei der Fürstin Wäsämskoi kamen, am Thore sich von den Arbeitern getrennt, die an der Stadtmauer entlang in die Willing'sche Fabrik zurückkehren wollten.
Sie schritten, die kleinen Einzelheiten des Nachmittags wiederholend und Manches, was ihnen, den stillbewegten Siegbert ausgenommen, spaßhaft erschienen war, belachend, dem alterthümlichen Viertel der Stadt zu. Am Rathskeller wollte sie Louis Armand erwarten. Daß auch Major Werdeck kommen würde, war der Inhalt des von Sandrart überbrachten Billets gewesen. Der Major hatte hinzugefügt, daß er zur Erörterung der längstersehnten Wünsche ganz für den Rathskeller wäre, dessen kleine abgeschlossenen vielgesuchten Zellen der gemüthlichen Unterhaltung sehr entgegen kämen: er hätte schon die beste, in der selbst General Voland von der Hahnenfeder, der Alterthümler, nicht verschmähe, sich zuweilen einen Trunk Lacrimä Christi zu gönnen, für sie mit Beschlag belegt.
Die Freunde hatten diesen Abend bestimmt, um sich über die große Aufgabe der Zeit, die sie Alle beschäftigte, in ihrem Sinne gründlich auszusprechen und diejenige Rolle zu bezeichnen, die sie entschlossen sein wollten, in dem allgemeinen Kampfe der Interessen und Ideen zu übernehmen.
Werdeck war durch Leidenfrost mit Siegbert und Dankmar bekannt geworden. Schon öfters waren sie hie und da zusammengetroffen und hatten wechselseitiges Vertrauen gewonnen. Zwar lag in Werdeck's scharfhervortretenden Zügen Manches, was beim ersten Begegnen einschüchtern konnte, doch überwanden die sich Annähernden die erste Scheu; hatte doch auch Dankmar lange damit zu thun gehabt, sich mit Leidenfrost zu befreunden, der von der Malerei immer mehr abkam und in neuester Zeit sogar angefangen hatte, sich auf Strategie zu legen. Es war in der That kein Scherz, wenn Siegbert erzählte, daß Leidenfrost auf einer bescheidenen Erkerstube, die er bewohnte, eine Menge strategischer Werke, die ihm Werdeck geliehen, aufgeschlagen vor sich liegen hatte und auf einem Tische mit kleingeschnittenen Schwefelhölzchen den großen und kleinen Krieg studirte. Er fand ihn oft in die Stellungen seiner Schwefelhölzer so versunken und machte mit ihm die berühmtesten Schlachten Alexander's des Großen, Cäsar's, Eugen's von Savoyen und Friedrich's des Großen so tapfer durch, daß man die Entzündung der Hölzer befürchten konnte. Die Schwefelhölzer waren je nach ihrer Nationalität und ihrer Truppengattung bunt bezeichnet. Leidenfrost konnte sich in seinen taktischen Studien so verlieren, daß er unter seinen Tausenden von Schwefelhölzern wie ein Schachspieler saß und irgend einen neuen unbekannten Sprung erfinden zu wollen schien. Er hatte Siegbert ersucht, ihn nicht wegen dieses Unsinns dem Major zu verrathen. Der Zunftgeist, sagte er, ist überall derselbe und wie wir Niemanden einräumen wollen, daß man Maler sein könne ohne Hände, so begreift auch ein Taktiker nicht, wie man ohne Epaulettes sich über Kriegführung orientiren kann, was doch nachgerade eine unerläßliche Bedingung eines jedes gebildeten Mannes unsrer Zeit werden und bald so nothwendig für die Erziehung sein wird wie das Turnen.
Etwas besorgt waren die Freunde über den Eindruck, den Werdeck und Louis Armand gegenseitig auf sich machen würden. An dem Stande dieses in der ganzen Residenz schon bekannten und durch seine Beziehung zum Prinzen Egon wohlgewürdigten französischen Kunsttischlers nahm der Major keinen Anstoß. Er hatte, einmal vom Wirbelwinde der Zeit gefaßt, sich die ungeheure Abweichung von seiner vorgeschriebenen Lebensweise zu Schulden kommen lassen, seinen Kriegerstand zu vergessen und erst durch die Ideen sich mit den Menschen zu vermitteln. So lag ihm auch nun nichts mehr an einer solchen Begegnung mit einem wirklichen Manne aus dem Volke. Bedenklicher hätte es ihm freilich scheinen können, daß der neue Genosse der schon mehrfach angeknüpften Unterhaltungen ein Franzose war. Werdeck besaß aber nicht die Nationalvorurtheile, die uns von unsern Erziehern mitgegeben werden und in unser Blut übergegangen sind. Seine Frau hatte ihn früh über diese Voraussetzungen hinweggebracht. Eine starke, leidenschaftliche, vom Hasse getragene Seele, wie sie war, lebte sie nicht in der Welt, die ihres Gatten nächste Lebensbedingung war. Religiöse und nationale Elemente führten sie in jene eigenthümliche Schwärmerei hinüber, die sich aus der Schule Adam Mickiewicz's in Paris mit Flügeln emporschwang, die ihr die Märtyrerschaft als das schönste Ziel der Tugend zu erstreben lehrte. In der Minorität zu leben, mit dieser zu dulden, mit dieser zu hoffen, war dieser Frau eine Geistes-Seligkeit, und wenn auch Werdeck auf's entschiedenste die nationale Berechtigung der Polen verwarf, seiner Frau ihre katholischen Träumereien ließ, ohne aufzuhören, sie sogar deshalb zu belächeln, den Hauch der neuen Zeit hatte er in jeder andern Beziehung in seinem Gemüthe alles Starre und Eisige aufthauen lassen und sah mit Ruhe einer ihm drohenden Katastrophe entgegen. Louis Armand sagte dagegen, die Militairs würden doch nie die wahre Freiheit der Völker befördern. Sie wollten nur steigen, nur herrschen, glänzen. Louis behauptete von Werdeck gehört zu haben, daß er hypochondrisch, verstimmt, längst mit seinen Standesgenossen zerfallen wäre und sich nur darin gefiele, den Hof durch liberale Gesinnungen zu ärgern. Dennoch fügte er hinzu, hätte er von Heinrich Sandrart, dem Sergeanten, der dann und wann noch zu den alten Märtens käme, erfahren, die dritte Compagnie wenigstens ließe ihr Leben für den Major und daraus ließe sich die Macht einer bedeutenden und gemüthvollen Persönlichkeit doch schon theilweise erkennen. Wenn ich ihm kein Anstoß bin, hatte Louis erklärt, so komm' ich gern und bin gewiß, von einem so ausgezeichneten Manne viel lernen zu können.
Louis harrte schon in der Nähe des Rathskellers. Die Freunde schüttelten ihm die Hand. Alle Drei hatten ihn nur noch inniger in ihr Herz eingeschlossen, als bisher. Louis war nach all' den Ansprüchen, die Egon's Freundschaft auf ihn gemacht hatte, jetzt mit erneutem Eifer an seine Arbeit gegangen und hatte Talente entwickelt, die jedem Einsichtsvollen Achtung abgewannen. Mit Genugthuung sah man, wie unausgesetzt theilnehmend er dem öffentlichen Leben seines neuen Aufenthaltsortes folgte, wie gespannt er die Entwickelung Egon's überwachte und jeden Einfluß, den ihm dieser nur gestattete, darauf verwandte, ihn seinen früheren Gesinnungen treu zu erhalten. Freilich hatte er den Freunden eingestehen müssen, daß seit einiger Zeit mit Egon eine Veränderung vor sich gegangen war. Er hatte ihnen genau den Tag, die Stunde bezeichnet, seitdem ihm vorkäme, als hätte Egon ein neues, fremdes Element in sich aufgenommen. Es war dies jener Abend, an welchem die Freunde einer Aufforderung Egon's gefolgt waren, ihm in einer gewagten, aber von seiner wildesten Erregung für nothwendig erklärten Unternehmung beizustehen. Rudhard hatte dem jungen Fürsten die Verwechselung mit dem Thomas a Kempis eingestanden, er hatte von Pax, von Schlurck selbst in der Hauptsache erfahren, was mit dem Bilde vor sich gegangen war. Daß Pauline von Harder die Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda besaß, stand ihnen Allen fest. Wozu sich neuen Unterschlagungen, einer völligen Vernichtung derselben aussetzen? Nein, hatte Egon gerufen, die Nacht birgt uns in ihr schützendes Dunkel! Wohlan, ich gehe zu jener Elenden, ich verlasse nicht ihr Haus, nicht ihr geheimstes Zimmer, bis diese Umtriebe entlarvt, die entwandten Schätze zurückerobert sind. Louis und die Brüder Wildungen sollten Egon sein kühnes Werk auszuführen unterstützen. Rudhard widerrieth, aber die jungen Leute fühlten sich von dem Abenteuer zu sehr gereizt. Sie folgten Egon und standen schon in Begriff, gewaltsam in das einsame Haus zu dringen und der gefährlichen Frau das geraubte Gut zu entwinden, als sich der uns bekannte mildere Ausweg gefunden hatte. Aber Egon's seither mannichfach geändertes Wesen konnte nicht geleugnet werden. Man hatte vermuthet, daß die aristokratische Gesinnung der Gräfin d'Azimont sicher versuchen würde, Einfluß auf den Prinzen zu gewinnen. Dies hatte Louis in Abrede gestellt. Eher gestand er zu, daß Rudhard's politische Ansichten, die den ihrigen völlig entgegengesetzt waren, wohl einmal einen bedenklichen Einfluß auf Egon gewinnen könnten. In der Hauptsache aber gestand er dabei, daß seit dem September-Sonntage eine auffallende Veränderung mit dem Fürsten vorgegangen wäre. Er hätte ihn damals an diesem regnerischen Sonntage, selbst verstimmt, besucht, um sich aufzuheitern, hätte Egon aber in eine Trauer, eine Abwesenheit versunken gesehen, die ihn wahrhaft erschreckt hätte. Auf genauere Fragen hätt' er nicht Rede gestanden und nur zuletzt eingeräumt, daß ihn die endlich von Pauline von Harder abgerungenen Mittheilungen seiner Mutter mit tiefster Trauer über die Vergangenheit erfüllten. Wie man aber, fügte Louis Armand hinzu, wie man aus Trauer leichtsinnig, aus Schmerz verschwenderisch werden kann, begreif' ich nicht. Die Freunde hatten Louis um Aufklärung dieses Widerspruchs gebeten und Louis hatte ihnen gesagt: Alle guten Vorsätze, die Egon für sein Hauswesen gefaßt, sind plötzlich verschwunden. Jede Mahnung an die Ersparnisse, die er sich auferlegte, wies er ab. Menschen, die ihm verhaßt waren, die er nicht mehr um sich leiden mochte, behielt er. Als ich ihn nach der Ursache dieses Widerspruchs fragte, sagte er scheinbar scherzend, aber doch voll Ernst: Bester Freund, die Rücksicht auf Ahnen ist kein leerer Wahn! Mein Vater hat Das so geordnet. Ich will es so lassen. Und nun statt irgend etwas von Dem, was er sich vorgenommen, wahrzumachen, erlebt' ich, daß er den Bankier von Reichmeyer zu sich kommen ließ, sich erst mit ihm über dessen Ansprüche verständigte und sogleich ein neues bedeutendes Anlehen schloß...
Darüber waren die Freunde erstaunt genug und begriffen nun, wie Egon plötzlich einige neue glänzende Equipagen zeigte, seinen Stall von Lasally und dem pferdekundigen Levi neu ergänzen ließ, die Zahl seiner Bedienten vermehrte und ihnen allen eine Livree vorschrieb, die er selbst zeichnete. Alles Das in einem Zeitraum von vierzehn Tagen, mitten in der raschen, ihm von Justus, dem Volksmanne, erwirkten Nachwahl, mitten in den Vorbereitungen des Zusammentrittes der Stände.
Auch die Beziehung zu Pauline von Harder, zu Guido Stromer, zu der Zeitung »Das Jahrhundert« war zur Sprache gekommen. Niemand begriff, wie nun sich Egon jener Frau so eng anschließen konnte. Alle Welt wußte bereits, was sie der Mutter des Fürsten und ihm selbst schon angethan hatte, und dennoch dieses enge Band! Über Guido Stromer hatte Dankmar selbst schon vor einigen Tagen zu Egon gesagt: Lieber Freund – diese traulichen Bezeichnungen dauerten natürlich noch fort – Lieber Freund, du duldest da einen sehr zweideutigen Mann in deiner Nähe! Dieser Stromer ist Pfarrer, Vater, Gatte und schleudert sich hier mit Gewalt in eine Laufbahn, bei der er Würde und Alles daran gibt! Ich streite ihm die bedeutendsten Gaben nicht ab. Er hat unfehlbar einen reichen, cultivirten Geist und viel Beruf, Dinge, die in der Menschenbrust schlummern, auszusprechen. Allein wenn mir jemals die verkehrte Anwendung des Genies in einem recht grellen Beispiele vorgekommen ist, so ist es bei diesem Guido Stromer. Ein Gelehrter, ein Stubenmensch, ohne Weltton, ohne Lebensauffassung, wird plötzlich, wie soll ich's nennen, wild! Es fällt ihm ein, daß er schwärmen könne, und wie schwärmt er? Die Seinigen läßt er daheim, seine Pfarre verwaltet ein gewisser Oleander und hier taumelt er im Irrgarten der Ideen von einer Lüge zur andern. Das sind die gefährlichsten Repräsentanten des Geistes, die, alles Charakters baar, nur nach ihren persönlichen Stimmungen sich bald für Dies, bald für Jenes erklären. Weiß er nicht jeder Auffassung eine gefällige Form zu geben? Erfüllt er nicht die innere Leere seines Charakters dadurch, daß er mit Haut und Haar in jede fremde Natur hineinspringt und aus ihr, sie lobpreisend, hervorkokettirt? Gib diesem Menschen irgend eine positive Frage zu vermitteln, irgend eine reelle Aufgabe des Lebens durchzuführen, er wird sie verfahren und wenn er sie nicht ehrlos mit Füßen tritt, sich dabei wenigstens wie ein Schulknabe entwürdigen! Unfähig, irgend eine geschlossene Production hervorzubringen, raisonnirt er nur und läßt die Wahrheit in der Sonne ihre Lichter brechen, wie die Facetten eines Diamanten. Dabei ist er der plumpsten Schmeichelei zugänglich. Wer seinen Styl lobt, dem gibt er alle seine Ideen preis. Wer vollends sagt, daß seine stumpfe Nase griechisch, seine geschlitzten Augen kaukasisch, seine Hände ebenso zart und weiß, wie sie roth sind, wären, dem stellt er alle seine Eingebungen, das ganze Arsenal seines Verstandes zur Verfügung. Er wird roth, wenn man seine Manschetten lobt. Kurz er ist ein Mann, der aus der Concentration eines gediegenen und achtbaren Stubendenkers heraus ist und in seiner jetzigen Zerfahrenheit noch viel Unheil in der Welt anrichten wird. Anstößig ist schon die geringe Achtung, in die er sich versetzt durch sein leicht entzündliches Herz und die Narrheit, mit der er sich in jede Frau, die einmal seine jeanpaulisirende Schreibweise lobte, verliebt stellt.
Egon hatte damals über diese Schilderung gelacht und von Melanie Schlurck gesprochen, die sich Stromer's zudringlicher Huldigung nicht erwehren könne, während er doch glaube, daß dieser wildgewordene Pedant selbst den Fräuleins Wandstabler nachliefe, wenn diese ihn zufällig einmal in einem Beugungswinkel, wenn auch nur von 175 Graden, ansähen.
Egon erzählte dann auch, daß er die liebenswürdige Tochter des Justizraths Schlurck zuweilen bei Paulinen träfe und verlangte von Dankmar eine genauere Angabe der eigenthümlichen Beziehungen, in denen er zu diesem bildschönen Wesen gestanden hätte. Dankmar wich mit seiner Antwort entschieden aus und berief sich auf Das, was Egon von der Hohenberger Reise schon wußte. Auf die Frage, die er dafür an Egon richtete, ob er ihm nicht eine Parallele zwischen Melanie und Helene ziehen könne, wollte seinerseits wieder der Prinz nicht antworten. Man scherzte, man lachte, man war über die Maaßen vertraut gegen einander und doch hatte sich zwischen Egon und die Freunde etwas gedrängt, wofür sie keinen Namen anzugeben hatten...
Die vier Gefährten stiegen nun die Stufen hinunter, die in den Rathskeller führten. Wie die in einem Gewichte gehende Thür hinter ihnen zufiel, sahen sie am Ende des Ganges zwei elegante Damen in eine Thür huschen.
Kommen auch Damen in den Rathskeller? fragte Dankmar erstaunt und wandte sich zu dem Küfer, der sie schon erwartet hatte und in das vom Major bestellte Kabinet führte.
Es sind wol Fremde! sagte der Angeredete lachend. Ein Herr mit zwei Damen will dort Champagner trinken.
Wohl bekomm's Ihnen! sagte Leidenfrost. Worüber werden wir uns denn einigen?
Sie waren in der grünen, gaserleuchteten Trinkzelle und stellten die kräftigen neu gebeizten Eichenstühle um einen runden Tisch. Der Major war noch nicht da. Der Kellner aber sagte, daß er des Majors Geschmack kenne – Rüdesheimer.
Bringen Sie Rüdesheimer! antwortete Dankmar, und so viel Beefsteaks, wie Sie fertig haben.
Das ist vernünftig, sagte Leidenfrost, denn ich esse deren mindestens zwei. Die Leckereien bei der guten Moskowiterin haben mir so den Magen verdorben, daß ich mich nur mit Beefsteaks wieder herstellen kann.
Sie sind ja so einsylbig, Louis? fragte Siegbert. Was haben Sie?
Ich war bis jetzt in der Kammer, antwortete Louis Armand.
In der Abendsitzung? Nun, wie war es? rief man einstimmig.
Die Regierung verlangt eine Abänderung der Geschäftsordnung. Das Ministerium will zu jeder Zeit die Erlaubniß haben, vor, während und nach der Debatte seine Meinungen zu äußern...
Empörend! unterbrach Dankmar. Als wenn das Ministerium die Kammer bei sich zu Gaste hätte und nicht die Kammer das Ministerium! Aber der Antrag geht nicht durch.
Das Ministerium machte die äußersten Anstrengungen.
Das glaub' ich wohl, ergänzte Leidenfrost und trommelte auf den Tisch, der ihm so glatt, so eben schien, daß er vielleicht an seine Schwefelhölzer dachte; eine Debatte kann da im besten Abschluß sein, die Halben, die Furchtsamen sogar sind vielleicht für die populaire Auffassung gewonnen, man will abstimmen und plötzlich erheben sich die Herren Minister und bringen wieder neue Materialien an, sollten sie auch nur in einer Drohung gegen Die bestehen, die von ihnen abhängig sind und gegen sie stimmen wollten.
Die Minister haben ja aus diesem Gegenstand eine Kabinetsfrage gemacht, ergänzte Dankmar.
Das läßt sich leicht erklären, sagte Leidenfrost. Sie wissen, daß sie unhaltbar sind und ergreifen die erste Gelegenheit, sich aus allen Schwierigkeiten mit guter Manier herauszuziehen.
Es hieß nun: Sprach Egon nichts?
Louis erzählte, daß Justus, der eine Partei in der Kammer zu vertreten scheine, Egon veranlassen wollte, diese Debatte kurz durch einige treffende Worte zu beenden. Er hatte Das deutlich von der Galerie herab an Justus' Benehmen, seiner Unterhaltung und Gestikulation erkannt. Befremdet aber hätte es ihn, wie Justus selbst, daß Egon ihm Auseinandersetzungen machte, die nicht mit der Majorität übereinzustimmen schienen.
Man behauptete erstaunt, daß sich Louis wol geirrt hätte und war der festen Meinung, Egon hätte nur nicht sprechen wollen, würde aber mit der Majorität stimmen. Louis konnte nichts erwidern, denn er erzählte, in Mitte der heftigsten Debatte wäre er gegangen, da er um halb acht Uhr bei dem Rendezvous nicht fehlen wollte. Die Sitzung könnte sich so, wie sie angefangen, bis in die Nacht hinziehen...
Indem trat der Major von Werdeck ein. Er kam in seiner Uniform, die ein Mantel verhüllte, grüßte sehr freundlich, bot Louis Armand, der ihm vorgestellt wurde, leutselig die Hand und fragte, ob er es mit der Wahl dieses kleinen Closetts recht getroffen hätte?
Man fand dies kleine grüne, blendendhelle Kabinet allerliebst und kündigte dem Major an, daß man schon in seinem Sinne gehandelt zu haben glaubte, als man Rüdesheimer bestellte.
Wohl, sagte er, die Traube vom Thurm des alten Brömsers gehört in diese Kellerhöhle. Er soll uns die Zunge lösen und die Flammen der Mittheilung schüren. Wissen Sie schon, daß das Ministerium diese Nacht nicht überlebt?
Wir hörten eben, daß es aus einer Frage der Geschäftsordnung eine Kabinetsfrage gemacht hat, sagte Dankmar.
Es ist ein Coup der Verzweiflung, meinte Werdeck. Die Herren nehmen den ersten besten Strick von unten und warten nicht erst, bis die seidene Schnur von oben kommt. Hanf oder Seide, es thut hier denselben Dienst.
Der Kellner brachte die Beefsteaks. Man setzte sich um den runden Tisch. Louis, voll Spannung und schüchtern, doch bald von Werdeck's feinem weltmännischen Tone ermuntert. Der Major wandte sich vorzugsweise an ihn, bewunderte seine Fertigkeit, sich deutsch auszudrücken, pries die politische Haltung seines Freundes, des Prinzen Egon, der unstreitig der Volkssache große Dienste leisten würde, und dafür sei das Vaterland eigentlich ihm verbunden. Denn man wisse Alles, was Egon und Louis zusammen erlebt hätten.
Louis wagte so viel Zugeständnisse kaum anzunehmen. Er erwiderte, und wenn diese Zeit in ihrer Verwirrung nichts zu Stande gebracht hätte, als daß die Stände einmal ein wenig durcheinander gerüttelt worden, so wäre Das schon ein Resultat.
Siegbert thaute ein wenig auf. Bewegt von dem Vorfalle mit Olga, vorwurfsvoll über sich selbst und ernst gestimmt, hatte er zuweilen empor geblickt und seine Gedanken, wie manche mathematische Denker pflegen, an der Decke gesammelt. Da fiel ihm auf, daß hinter dem Blechschirm, der die Gasflamme umgab, die Wölbung dieses Raumes in dem ihm und dem Bruder so wichtigen Kreuze zusammenlief. Mit einem Winke machte er den Bruder auf das Kreuz aufmerksam...
Wohl! sagte Dankmar, Das weißt du nicht, daß wir hier auf eignem Grund und Boden sind? Dies kleine Luftloch führt durch die dicke Zwischenmauer in das Rathhausarchiv, in die Aktensammlungen unserer wohllöblichen Gegnerin, der ehrsamen und tugendbelobten Stadt. Wir wollen, wenn wir auf dies Kreuz blicken, denken: in hoc signo vincemus!
In diesem Kreuze werden wir siegen! wiederholte der unterrichtete Werdeck. Wie ist es denn mit Ihrem Proceß?
Man zündete sich Cigarren an, stellte die Gläser, Leidenfrost füllte sie.
Wir erwarten in diesen Tagen die Entscheidung erster Instanz, sagte Dankmar. Daß wir durchfallen weiß ich schon. Nur die Entscheidungsgründe sind mir noch unbekannt.
Ich will sie Ihnen sagen, Wildungen, fiel Leidenfrost ein. Man wird Ihnen erwidern:
Schickt denn das Beinhaus und die Gruft
Uns die Begrabenen zurück? Sonst, wenn Ein Mann gestorben, war es aus mit ihm: Jetzt steigen sie mit zwanzig Todeswunden An ihrem Kopfe wieder aus dem Grab Und treiben uns von uns'ren Stühlen. |
Das hört' ich einmal im Theater, sagte Werdeck. Ist Das eine Reminiscenz Ihres Schauspielerlebens, Leidenfrost?
Heute hätten Sie den Propst Gelbsattel so hören können, sagte Leidenfrost ausweichend, ehe Sie kamen, Dankmar. Er saß da, wie Macbeth, als er Banquo's Geist an seiner Tafel erblickt und ein andermal wurd' er wehmüthig. Es war mir, als hört' ich:
Du Geist des alten Ritters Wildungen!
Du kommst in so fragwürdiger Gestalt! Laß mich in Kummer nicht vergehen! Nein, sag: Warum dein fromm Gebein, verwahrt im Tode, Die Leinen hat zersprengt? Warum die Gruft, Worin wir ruhig eingemau'rt dich sahen, Geöffnet ihre schweren Marmorkiefern, Dich wieder auszuwerfen? Was bedeutet's, Daß, todter Leichnam, du, in vollem Stahl Auf's neu des Mondes Dämmerschein besuchst, Die Nacht entstellend; daß wir Narren der Natur So furchtbarlich uns schütteln mit Gedanken, Die uns're Seele nicht erreichen kann? |
Bravo! rief man allgemein. Zum größten Erstaunen Louis Armand's, der diese Art deutschen Humors beim grünen Römerglase noch nicht kannte, hatte Leidenfrost wirklich so gesprochen und fast gespielt, als wenn er einen Geist im Mondenlichte vor sich herschreiten gesehen hätte.
Dankmar erzählte nun zuvörderst vielerlei von den Schwierigkeiten, von den unglaublichen Chikanen, die seinem Processe in den Weg gelegt wurden. Schlurck führte die Sache des Magistrats mit dem ganzen Aufwande seines berühmten Scharfsinnes. Die Regierung hatte einen nicht minder gewandten Rechtsgelehrten für ihre Ansprüche beauftragt. Dankmar sagte, er hätte Analogieen in dem bekannten Wallenstein'schen Processe gefunden, der von Menschenalter zu Menschenalter verschleppt wurde und jetzt in Böhmen in vollem Gange und endlicher Entscheidung wäre und die Rückgabe der den Erben Wallenstein's ungerechterweise entzogenen Güter zur Folge haben würde.
Soll ich Ihnen aufrichtig sagen, mein verehrter Freund, begann Werdeck, was mir an Ihrem schon so berühmt gewordenen Processe nicht in den Sinn will?
Sagen Sie es offen, Herr Major! antwortete Dankmar.
Ich verkenne nicht das Gewicht Ihrer Ansprüche. Ich fühle, wie außerordentlich günstig Ihnen der Umstand sein wird, daß die fürstliche Gewalt gleich in den ersten fünfzig Jahren gegen die Besitzergreifung der Johannitergüter durch die Communen protestirte und diesen Proceß nie ganz hat einschlummern lassen, ja selbst Vergleiche und gütliches Abfinden ausschlug. Freilich, sagte mir kürzlich ein Rechtsgelehrter, es früge sich, ob ein Dritter von einer die Verjährung hintertreibenden Protestation eines Zweiten Vortheil ziehen könne...
Das ist allerdings die Hauptfrage! sagte Dankmar. Allein auch hier werd' ich meinen Mann stehen...
Meinen Mann stehen! Den Ausdruck hab' ich nur hören wollen! sagte Werdeck.
Wieso diesen Ausdruck? sagte Dankmar, und die Andern hörten voll Theilnahme.
Sehen Sie, mein Theuerster, sagte Werdeck, es liegt etwas Kühnes, etwas Tapferes in Ihrem Proceß und doch findet er nicht bei Jedem die Sympathie, die Sie wol voraussetzen möchten. Man läßt Ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren; aber... kein Mensch wünscht eigentlich, daß Sie Ihren Proceß gewinnen.
Siegberten war es, als wenn ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er hatte längst dasselbe Gefühl gehabt.
Ja, sagte er und reichte Dankmarn bewegt die Hand, ja Bruder, Das ist das Gefühl, was auch mir vom ersten Tage an, wo du in der Freude deiner Entdeckung mir dein Unternehmen ankündigtest, die Lust an ihm benahm. Es schnürte mir die Brust zu, mit dir darüber zu sprechen und ich sollte doch deine Freude theilen. Ich konnte nicht! Ich sollte deine Hoffnungen unterstützen. Der eigene Muth des Herzens reichte nicht aus dafür. Wir wollen, rief eine Stimme in mir, diese Reichthümer für uns, wir wollen sie zu persönlichem Zwecke. Wir wühlen in Akten und alten Erinnerungen und entziehen allgemeinen Zwecken, sie mögen auch Misbräuche befördert haben, Mittel, die, wenn sie z. B. der Staat gewinnt oder wenn die Stadt sich in der Lage sieht, diese Fonds besser zu verwenden, doch gegebenen und umfassenden Schöpfungen zu Gute kommen. Man wünscht uns in die Augen Glück zu Aussichten, von denen hinter unserem Rücken Niemand will, daß sie sich verwirklichen.
Ihr Herr Bruder sagt' es, bemerkte Werdeck. Und ich versichere Ihnen, es ist fast die allgemeine Stimme.
Dankmar schrak fast zusammen. Es liegt etwas Furchtbares in diesem Drucke, der auf unser Gemüth lastet, wenn man so plötzlich über unser innerstes Wollen und eigenstes Schaffen ein Urtheil hört, das sich für das allgemeine der Welt ausgibt. Man hat in der Stille sein Werk gezeitigt, man hat es den nächsten Freunden und Theilnehmenden enthüllt, es gehört nun dem Allgemeinen an. Die Urtheile fließen anfangs spärlich. Sie sind wohlwollend, sie scheinen befriedigt. Da geht es plötzlich wie ein Vorhang auf. Das Werk, das vergessen, unbeachtet geblieben schien, hat Alle im Stillen interessirt und nun bricht ein Lärm, ein Durcheinander von Meinungen, Ansichten, Widerlegungen auf uns ein, daß man erschrocken fast die Besinnung verliert und sich vorkommt wie überfallen von einer heimlichen Verschwörung.
In dieser peinlichen Lage war Dankmar, als ihm Max Leidenfrost beisprang, den grünen Römer auf den Tisch schlug, das lange Haar zurückstrich und ausrief:
Das unterschreib' ich nicht! Wer wird sich denn erstens an die Menschen kehren, was die sagen und die meinen! Können Unbilden durch die Jahrhunderte jemals gerecht werden? Wenn wir zugeben, daß Jahre die moralischen Fragen zudecken, beseitigen, entfernen, dann ist ja unser ganzer Kampf um die großen Ideen des Weltalls nichts, und an die elektrische Strömung der Offenbarung, die wie durch den Raum auch durch die Zeit gehen soll, kann dann schon kein Mensch mehr glauben. Das Erbrecht ist eine der wunderbarsten Strömungen der Zeiten. Wollen wir's, weil es mit Unrecht verbunden wäre, abschaffen, so gebt etwas Neues dafür! Aber etwas Vernünftiges, Cohärirendes! Cohäsion muß sein. Zusammenhang ist Leben! Bis jetzt bin ich noch der Meinung, daß man mit der Aufhebung des Erbrechtes die ganze Menschheit aus ihren sittlichen Fugen bringt. Das sag' ich trotz meiner Schwefelhölzer, mit denen ich Taktik studire, um unseren Aristokraten eine Schlacht aus freier Hand zu liefern, mit einer Armee, die sich finden muß.
Man lachte, weil man Leidenfrost's strategischen Selbstunterricht kannte. Louis Armand aber meinte, das Erbrecht wäre doch der eigentliche Grund aller Leiden der Menschheit. Ihm verdanke man die Aufhäufungen der Kapitalien, ihm die ungerechte Vertheilung der Lebensgüter, ihm den Fluch, der auf ganzen Generationen läge. Das Erbrecht wäre ein fortlaufender Protest gegen das Glück der Menschheit.
Wohlan! rief Dankmar, sich sammelnd. Da wären wir ja gerade bei unserm Gegenstand. Heute wollten wir uns über den Feldzugsplan jedes aufgeklärten und ehrlichen Mannes in dieser Zeit unterrichten, sogar Verabredungen für irgend eine gemeinschaftliche Unternehmung treffen und nun ist meine eigene und meines Bruders persönliche Angelegenheit förmlich ein Symbol der Frage unseres Jahrhunderts, wie sie einmal ungelöst dasteht. Es ist unwiderleglich; um das Recht der Person, um die nachwirkende Kraft der Vergangenheit handelt sich Alles. Ist der Staat etwas Allgemeines, das aus dem Wohle jedes Einzelnen und dem Wohle von Familien, Geschlechtern, Gruppen und Sippen oder nur aus lauter sich selbst bestimmenden Individuen zusammengesetzt ist, die nur lose zusammenhängen und sich nicht gegenseitig bedingen? Wenn mein Proceß unpopulair ist, wie Sie sagen, Herr Major, und wie ich es selber fühle, seitdem Siegbert's Takt mich irre macht, so sollte Vieles unpopulair sein, was sich von der Vergangenheit als reines Personeninteresse forterbt...
Die Monarchie und der Adel vor Allem, brach Leidenfrost hervor. Ob der alte Ritter Wildungen seine Erbschaft antrat oder nicht, bleibt sich doch wol gleich, sogut wie Einer zufällig seine Krone verliert und darum ihr Recht nicht aufzugeben braucht. Beweist man Jemanden, daß ein Recht schädlich ist und der Verlust seiner Krone ein Glück für die Völker, gut, so ist sein Personenrecht todtgeschlagen; aber wer beweist Ihnen, daß Ihre Million, die Sie beanspruchen dürfen, ein Nachtheil für den Gegner ist? Ich will gerade, daß dies Ihr lebendiges Beispiel den Aristokraten und Monarchen zeige, was sie an sich selber nicht glauben wollen, daß das fortwirkende Recht der Vererbung allerdings seine Grenzen haben sollte.
Ah, sagte Louis, da geben Sie doch schon von dem Erbrechte etwas heraus! Sie wollen nur eine Consequenz ziehen, nur eine Lektion geben.
Nur vernünftig, nur poetisch beschränke man das Erbrecht! fuhr Leidenfrost fort. Es muß durch Ideen, nicht durch willkürliche Taxen oder Klugheitsregeln beschränkt werden. Wer eine Million erbt, muß dem Staat nachweisen, daß er diesen oder jenen allgemeinen Gebrauch von seinem Vermögen anstellt. Er behält dabei nach dem Willen des Erblassers den Genuß. Ruhm aber ist auch Genuß; Dankbarkeit, Ehre, Achtung ist auch Genuß. Nur nicht das Erbrecht völlig aufheben! Das hieße jedes Band der Liebe, Zärtlichkeit, der Hoffnung aus dem Leben nehmen, zu geschweigen, daß uns kein Schneider mehr einen Rock borgen würde, wenn er immer beim Maßnehmen auf unser Gesicht sähe, ob wir nicht etwa den hippokratischen Zug haben und einen Tag nach dem ersten Sonntag, wo wir den neuen Rock tragen, seine Rechnung durch den Tod quittiren.
Man sieht aus den Widersprüchen, in denen Ihre Gedanken noch mit sich selbst befangen scheinen, lieber Leidenfrost, sagte Dankmar, wie schwierig diese Fragen sind, und wenn wir geschellt haben, die Trümmer unsrer Beefsteaks beseitigt sehen und eine Ergänzung des Rüdesheimers vor uns steht, so wollen wir uns an unsre heutige Aufgabe machen, umsomehr, als der Willing'sche Maschinenbauer- und der Handwerkerverein, die tüchtigsten und maßgebendsten Mustervereine im ganzen Staate, uns drängen, ihnen eine Parole zu geben.
Louis hatte die Schelle gezogen. Der Kellner kam, räumte ab, ergänzte was fehlte und entfernte sich.
Mein Proceß, begann jetzt Dankmar, der Werdeck's und der Freunde Interesse an diesen Erörterungen nicht zu schüren brauchte, da sie ihm Alle in dem eifrigsten Streben, sich klar zu werden, entgegen kamen, mein Proceß ist denn nun also ein Bild unsrer Zeit geworden. In Ihrem Sinne, Leidenfrost, zieh' ich gleichsam die humoristische Consequenz aller Thorheiten unsrer Epoche. Ich sage gleichsam den überlieferten Halb- und Scheinrechten: Da ist ja nun auch ein Recht, das dreihundert Jahre alt ist, wie Eure Gewalt. Ich will es haben und fort mit Denen, die von meinem Rechte Vortheil genossen! Steht auf! Ich setze mich mit meinem Bruder dahin, wo Ihr sitzt! Wir wollen für uns allein, was durch den Lauf der Zeiten allgemeiner wurde! Der Major Werdeck sagt, daß diese Sprache unpopulair ist und ich stelle mich auf seine Seite. Ich weiß, nicht nur die Schlurck's und Gelbsattel's sind gegen mich ergrimmt, sondern viel achtbare Menschen und wenn sie einen Titel in den alten Papieren, hier über uns in dem Archive vielleicht, finden könnten, die alle unsre Hoffnungen zu Schanden machten, sie thäten es nicht mehr wie gern. Deshalb hab' ich mich entschlossen, auch nicht persönlich zu erben.
Was heißt Das? fragte man. Nicht persönlich?
Mein Bruder ist schon davon unterrichtet, er kann es erklären! sagte Dankmar und füllte rundum die Gläser.
Dankmar hat einen kühnen und großen Gedanken, ergänzte Siegbert, dessen Ausführung welthistorisch sein könnte, wenn es noch möglich wäre, daß ein Einzelner etwas Welthistorisches durch seinen einfachen Willen hervorriefe.
Einfacher Wille? berichtete der Bruder. Vergiß nicht, daß ich von mir und dir eine Million in Händen habe. Geld ersetzt den Glorienschein der alten Propheten.
Sie machen uns neugierig, sagte Werdeck. Was projektiren Sie denn?
Dankmar weiß, daß ich mich in den Gedanken des Reichthums nicht finden kann. Für unsre gute Mutter ist leidlich gesorgt. Der Bruder und ich, wir Beide werden uns schon im Leben zu behaupten wissen. Aber...
Ihr wollt den Proceß aufgeben? fragte Leidenfrost.
Das nicht, antwortete Siegbert. Nur eine andre Wendung soll er erhalten. Warum sprichst du dich nicht selber darüber aus, Dankmar? Deine abenteuerliche Chimäre, die Erbschaft nicht für uns, sondern für den Templer- und Johanniterorden, der in alter Weise nicht mehr existirt, zu verwenden, mußt du mit eigenen Worten wahrscheinlich machen. Du verstehst zu überreden.
Natürlich erregte die Erwähnung eines Ordens große Spannung.
Eh' ich spreche, sagte Dankmar, thu' mir jetzt Jeder von Euch den Gefallen und sage mir erst, was er für die Pflicht des ehrlichen Mannes in diesen schwierigen Tagen hält! Da werdet Ihr sehen, daß guter Rath theuer ist und meine Vorschläge vielleicht noch das Billigste sind. Indessen lass' ich Euch die Vorhand. Wißt Ihr Besseres, wohlan, so folg' ich Eurem Plane. Soll zugeschlagen werden? Soll nur zugeschaut werden? Soll die Flamme der Empörung lodern? Soll das Blut...
Bruder! rief Siegbert. Was sprichst du? Sind wir hier sicher?
Diese Wände sind elephantendick, sagte Leidenfrost. Nur der Akustik dieses Kreuzes da oben trau' ich nicht...
Man blickte hinauf zur Gasflamme.
Wie ruhig da die Flamme emporzüngelt! sagte Dankmar. Oben könnte uns höchstens eine Ratte belauschen und käme sie der Öffnung zu nahe, würde sie sich die Nase verbrennen. Wir haben hier kein andres Ohr als unser eignes. Siegbert, sage du, was dir jetzt die Pflicht eines ehrlichen Mannes scheint, aber drücke dich so aus, daß wir den Arbeitern, dem Handwerker, dem Bauer wie dem Dichter und Denker davon eine Anweisung zum Handeln, zum Glauben und Hoffen geben können.
Es entspann sich zwischen diesen fünf Männern jetzt eine Erörterung von den eigenthümlichsten Folgen und einem Ernste, der uns zur Pflicht macht, jede ihrer Äußerungen auf das Gewissenhafteste zu berichten.