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Als Murray sich an jenem Samstag Abend, den wir von der Erzählung der Harder'schen Diener kennen, überzeugt hatte, daß der traurige Zustand der Tochter seines Wohlthäters, des Gefangenwärters in Bielau, nur durch eine geregelte psychische Behandlung in einem Krankenhause geheilt werden konnte, machte er sich die bittersten Vorwürfe, daß er den Seelenzustand des verzweifelten jungen Mädchens zu heftig geweckt, die Ohnmacht ihres Gewissens zu gewaltig aufgerüttelt hatte... Auch die Reue bedarf der milden Übergänge. Kein menschliches Herz ist wie ein eisengegossenes Gefäß, daß es bald eiskaltes, bald siedendheißes Wasser in rascher Abwechslung ertragen kann. Es wird immer springen, wenn man es nicht allmälig erkalten, allmälig erwarmen läßt... Die Kraft des Gebetes hatte Murray schon oft in wunderbarer Macht kennen gelernt. Wie glücklich fühlte er sich, als er hoffen konnte, Auguste in einer fernen Gegend mit einem guten Manne zu einem neuen Leben aufblühen zu sehen! Und wie schmetterte ihn da gleich der Auftritt mit Mangold nieder, zu dem er doch nur schweigen konnte! Er hoffte, der Starrkrampf, der sich damals auf Augusten's Brust gelegt hatte, würde vorübergehen und ihm Raum geben, sie auch über diese vernichtende Erfahrung zu einer stillen Ergebung zu führen. Umsonst! Das Gefäß ihres Geistes war zersprengt. Es lag in Trümmern. Der Wahnsinn hatte alle seine Hoffnungen vernichtet.
Auguste kannte Murray nicht mehr als den Freund ihrer Seele wieder; sie behielt nur die Vorstellung seines Alters, seiner scheinbaren Schwäche, seiner Freigebigkeit. Sie putzte sich unter den Irren mit jedem Lappen, den sie erhaschen konnte. Stolz, Gefallsucht, Tanzlust, Liebe waren die bösen Geister, die auf dem gesprengten Boden ihres Geistes nun doch das Feld behaupteten. Kein Wort des Zuspruches mehr konnte sie auf andere Gedanken, als die der alten Richtung führen. Murray mußte es aufgeben, in dies Dunkel noch irgend einen Lichtstrahl werfen zu wollen. Er dachte zwar an manches Heilmittel. Er war bei dem Maler Reichmeyer, um den Versuch einer Sitzung der Kranken zu machen, da Auguste immer von ihrem Bilde phantasirte. Er traf dort einen jungen Gentleman, dessen Name, als er sich entfernt hatte, ihm Heinrichson genannt wurde; Reichmeyer selbst versprach auch, sich den Vorschlag zu überlegen. Seither geschah aber nichts Weiteres in diesem Versuch, Auguste Ludmer zur Besinnung zu bringen. Murray empfahl sie der Pflege der Ärzte, bezahlte ihren Unterhalt und kehrte zu der eigenthümlichen, sich widersprechenden Lebensweise zurück, die in ihrem innersten Kerne irgend einen bedeutenden Gedanken, eine gefahrvolle und ihm doch unendlich nothwendige Unternehmung zu bergen schien.
Als er an jenem Donnerstage nach Hause gekommen war, schlief schon die Eisold'sche Familie. Am Freitage lehnte er den Ring entschieden ab, den ihm Louise wiedergeben wollte. Am Samstag, als sie wiederkam, wurde er, von innerster Theilnahme um Augusten bewegt, fast zornig über die erneuerte Rückgabe. Am Sonntag, als er schon ganz früh ausgegangen war, um zu sehen, wie Auguste in ihrer neuen Lage die erste Nacht zugebracht hatte, war er weicher gestimmt und bat Louisen seine heftigen Worte ab, die auf nichts Anderes hinaus gingen, als daß er ihr zugerufen hatte: Halten Sie mich denn für einen Betrüger? Ich bin ja reich! Ich habe nur meine Ursachen für arm zu gelten! Er setzte sich zu seiner Nachbarin und fragte sie, warum sie traurig wäre? Sie zeigte auf den Regen, der in Strömen an die Fenster schlug und erzählte ihm die getäuschte Hoffnung auf eine ländliche Erholung. Daraus war manches Wort, hinüber und herüber, entstanden. Man hatte Erfahrungen und Ansichten ausgetauscht. Als Louise unter den Theilnehmerinnen der vereitelten Partie auch Franziska Heunisch nannte, war ihm dieser Name aufgefallen und Louise hatte nichts Arges darin gefunden, daß er sich genauer nach den Verhältnissen dieses Mädchens erkundigte. Sie hing mit Heunisch dem Förster, mit dem Jägerhause im Walde von Hohenberg, mit Ursula Marzahn zusammen, und schon einige male hatte er Louisen gefragt, ob sie niemals von diesem gewiß artigen Kinde einen Besuch empfinge. Louise sagte ihm darauf: Wir Menschen, die wir arm sind und arbeiten müssen, können mit unseren Freunden wenig Anderes thun, als sie recht von Herzen lieb haben und nur nicht vergessen. Die Zeit und Gelegenheit, eine Freundschaft zu hegen und zu pflegen, findet sich selten. Da muß man wissen, Der oder Die denkt an dich, wenn sie arbeiten und plötzlich sieht man sich dann einmal und gibt sich die Hand, gleich als hätte man sich gestern gesehen, oder man umarmt und küßt sich so herzhaft, daß es gleich für ein halbes Jahr wieder genug ist. Und so fleißig las das seltsame Mädchen in dem seit einiger Zeit sich ganz besonders prächtig entfaltenden Journale: »Das Jahrhundert,« das von ihrem Linchen und ihrem Wilhelm colportirt wurde, daß sie von ihrem Lieblingsschriftsteller Guido Stromer sogleich folgende Stelle zu citiren wußte:
O wer kennt die geheimen Wege der wunderbaren Natur, die den kleinen See auf dem Sankt Gotthard doch mit dem großen Weltmeere verbinden! Wer ahnt den Zusammenhang der Geister, die sich niemals sahen und niemals kannten und die doch an dem gemeinsamen Ziele der Menschenerlösung mitarbeiten!
Murray mußte lächeln über die Anwendung dieser Worte auf Louise Eisold und ihre kleinen Verhältnisse. Er erfuhr, wie die Literatur, die Zeit und ihre gährende Richtung in diese bescheidene Wohnung drang und hatte zunächst das innigste Mitleid mit den Kindern, die im strömenden Regen sich gern bis auf die Haut durchnässen ließen, wenn nur ihre Zeitungen trocken blieben!
Einmal schon war er im Begriff gewesen, sich nun selbst bei Fränzchen Heunisch einzuführen. Er suchte ihre Wohnung auf. Da fiel ihm sein abschreckendes Äußere, seine zweideutige Lage ein. Er fürchtete, das junge Mädchen zu entsetzen und noch mehr sich durch eine zur Schau gestellte Neugier in seinem Zusammenhange mit Dingen zu verrathen, die er tief verschleiern zu wollen schien. Schon stand er an dem Hause, Wallstraße Nr. 14, schon wollte er die Hausflur betreten, als an ihm ein Mann vorüberhuschte, den er sich entsann schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Er konnte sich auf diese langgeschenkelte Kreuzspinne nicht besinnen. Es war allerdings jener philanthropische Besucher des Gefängnisses, in dem er acht Tage lang hatte ausharren müssen, und doch war er es wieder nicht. Er erkundigte sich bei einer Magd, die eben aus dem Hause trat und ihm sagte, dieser Herr wäre ein italienischer Sprachlehrer, Namens Barberini, wenig zu Hause und auch im Begriff, binnen einigen Tagen auszuziehen. Um so gespannter war Murray, als er zu Hause ein Billet fand, worin ihm Sylvester Rafflard – so hieß jener Philanthrop, der ihn schon einmal hatte besuchen wollen – schrieb, er nähme an ihm so viel Interesse, daß er ihn auffordere, ihn morgen, am achten October, in der Wohnung der Gräfin d'Azimont, im Hotel garni, am großen Markte, gegen zwölf Uhr zu besuchen. Aus Neugier, oder richtiger gesagt, aus einem gewissen Fatalismus, der ihn bestimmte, keinem vom Schicksal ihm zugeworfenen Winke aus dem Wege zu gehen, entschloß sich Murray wirklich, das ihm bezeichnete Hotel garni aufzusuchen.
In seiner ruhigen bedächtigen Weise, unter dem Schutze der schwarzen Binde, die ihm erlaubte, von unten herauf scharf zu spähen, folgte er dem Bedienten, der ihn durch den großen Salon rechts in ein geschmackvoll möblirtes gelbes Zimmer führte. Ein gewisses Vorgefühl, eine scharfe Menschenkenntniß sagte ihm, daß auf dem Antlitze jenes Philanthropen Etwas gelegen hatte, was ihm eine große Behutsamkeit zur Bedingung machen mußte. Jedenfalls, sagte er sich, hält dich dieser Menschenfreund für einen Verbrecher. Deine Lage, das Mistrauen der Polizei, dein Äußeres führte ihn darauf. Will er dich beten lehren, bessern, will er deiner Zukunft den guten Weg der Tugend bahnen? Ich bin begierig!
Wie erstaunte Murray nun, als Sylvester Rafflard eintrat und in der That völlig dem Professor Barberini glich, der so windschnell an ihm vorübergeschlüpft war. Weit entfernt, diese Vermuthung, daß beide Personen eine und dieselbe wären, laut auszusprechen, nahm er jetzt nur umsomehr die Miene der größten Harmlosigkeit an und beschloß sogar, einen gewissen Kretinismus zu zeigen, dem gegenüber die Menschen, die sich etwas dünken oder die etwas mit uns vorhaben, immer am offensten ihr wahres Gesicht zeigen.
Er verbeugte sich höflich und schüchtern und that fast, als wüßte er nicht, in welcher Hand er seinen Hut halten sollte.
Rafflard, durch diese Zaghaftigkeit sogleich ermuntert, bedeutete ihn Platz zu nehmen.
Murray sah sich ängstlich nach einem Stuhle um und zögerte.
Ei, so setzt Euch doch! sagte Rafflard mit ziemlich geläufigem Deutsch und rückte ihm mit dem langgestreckten Fuße einen Sessel hin, während er selbst ihm gegenüber Platz nahm.
Murray nahm den Sessel, putzte ihn sorgfältig ab, zog sein karirtes Taschentuch, schwenkte es aus und breitete es auf das gelbseidene Polster, das er sich Mühe gab ja nicht verunzieren zu wollen.
Ihr kennt mich? fragte Rafflard.
O Herr, sagte Murray... von da!
Er machte eine Miene, als wenn seine Arme übereinandergeschlossen wären und deutete das Gefängniß an.
Ihr kennt mich also. Ihr habt mich seitdem nicht wieder gesehen?
Murray schüttelte getrost den Kopf.
Ich war schon einmal bei Euch, Murray...
Danke, Herr. War nicht zu Hause. Ich weiß es.
Ihr wohnt in einem elenden Käfig. Ich habe Euch eine halbe Stunde suchen müssen.
Danke, Herr!
Ich wollt' Euch Glück wünschen, daß Ihr so rasch losgekommen seid...
Danke, Herr!
Das weiß man schon, ein Engländer seit Ihr nicht...
Nein, Herr! Haha!
Ihr seid ein ehrlicher Deutscher und reis't zu Eurem Vergnügen als Gentleman?
Murray lachte fast stumpfsinnig.
Habt Euch gewiß von Euren Geschäften zurückgezogen und wollt Eure Tage in Ruhe beschließen?
Murray lachte mit gleichem Ausdruck.
Wie kann man, wenn man Incognito leben will, auf Bälle gehen und am Putze seines Frauenzimmers verrathen, daß man viel Gold zu versilbern hat?
Murray that verschämt, als wollte er sagen: Was macht nicht aus dem Menschen die Liebe!
Rafflard hatte so rasch gesprochen, daß er in's Husten gerieth und sich erst ruhen mußte.
Recht schlimmer Husten Das! sagte Murray fast mitleidig.
Katarrhalisch! Die Sumpfluft meines Berufes, die mephitischen Ausdünstungen unsrer lieblosen altmodischen Burgverließe...
Murray hustete, als läg' es auch ihm auf der Brust.
Auch davon schon viel eingeathmet? fragte Rafflard schlau lauernd.
Murray, sich unschuldig stellend, stöhnte:
Das englische Klima!
O das ist gut für das Asthma – feuchte Luft ist gut! Freilich solche Kerker wie hier! Unterirdisch, unter dem Niveau einer Kloake, die man einen Fluß nennt –
Murray horchte hoch auf. Wenn sein bedecktes Auge ihn nicht geschützt hätte, würde Rafflard gesehen haben, daß er plötzlich erschrocken war.
Es ist unverantwortlich, sagte Rafflard und nahm eine Prise, was er selten that und hier als Beweis seines behaglichen Vertrauens einschaltete, es ist unverantwortlich, daß man die unglücklichen Opfer schlechter Erziehung, die unsre Gefängnisse bevölkern müssen, weil sie der allgemeinen Sicherheit und Ordnung schädlich sind, nach ihrer Entlassung niemals frägt: Was beginnst du nun? Was thust du nun, um dich mit der Gesellschaft, die dich fürchtet, auszusöhnen? Man stellt die entlassenen Sträflinge unter polizeiliche Aufsicht und lauert nur gleichsam auf den Augenblick, sich so rasch wie möglich wieder ihrer bemächtigen zu können.
Mit einem aufwallenden Gefühl der Übereinstimmung und der innerlichsten Überzeugung sagte Murray:
O Das ist wahr!
Rafflard erschrak fast vor dem eigenthümlichen edlen Ausdruck, mit dem Murray diese Worte, aus tiefster Seele, sprach. Murray bemerkte Dies und überhörte fast die Frage, die nun Rafflard an ihn richtete:
Man hat Euch, Murray, unter Aufsicht gestellt?
Rafflard mußte diese Frage wiederholen.
Murray zog die Achseln, machte eine komisch verlegene Miene und deutete mit den Händen gleichsam an: Was weiß ich? Das sagt man Einem nicht!
Ich weiß es, Murray, sagte Rafflard, der nun fast gewiß war, einen geheimen, sehr schlauen Verbrecher vor sich zu haben; ich erfuhr es beim Oberkommissär Pax. Ein gewisser Hackert, der bei ihm arbeitet, sagte mir's, als ich nach Euch fragte, daß man Euch für gefährlich hält.
Murray zuckte wieder die Achseln mit gleicher Miene, gleicher Zweideutigkeit...
Es nahte sich jetzt der schwierige Augenblick, wo Rafflard in der Nothwendigkeit war, durch eine geschickte Wendung den Übergang zu gewinnen, um über Das, was er mit Murray vorhatte, die Maske zu lüften.
Ihr werdet wohl schon gemerkt haben, Meister Murray, sagte er, daß mich reine Menschenliebe, nicht Frömmelei oder sonst ein pedantischer Beweggrund in die Gefängnisse führt. Ich suche dort Menschen, die mir nicht einfällt, in Engel verwandeln zu wollen. Ich kenne unsre Natur. Ich weiß, wieviel dazu gehört, um ein praktischer Mensch zu sein, reell, zuverlässig, gehorsam, verschwiegen. Die Tugenden, die den Engel ausmachen, mag vollends einst der Himmel in uns bilden. Für diese Erde ist schon viel gewonnen, wenn wir z. B. in den gebesserten Verbrechern thätige Menschen wiederbekommen, unschädliche, nützliche Glieder der Gesellschaft, wie sie einmal ist. Seid Ihr nicht meiner Meinung, Murray?
Murray lachte und meinte:
Herr, wenn Einer herauskommt und gleich etwas zu arbeiten, zu verdienen findet, nimmt er sich wohl in Acht, daß sie ihn sobald wieder bekommen.
Diese Ausdrucksweise ermuthigte Rafflard.
Das ist's, was ich meine, sagte er. Etwas verdienen! Arbeit! Arbeit! Irgend eine Beschäftigung finden, die ihren Mann nährt! Und da will ich Euch etwas sagen, Murray! Glaubt Ihr, daß ich Euch zum Bußepredigen hergerufen habe?
Die Kirchen sind ja Sonntags offen, antwortete Murray trocken.
Sehr wahr! Und nun, Murray, wenn Ihr mir vertrauen wollt, will ich Euch Gelegenheit geben, etwas zu verdienen.
Danke, Herr! Danke!
Ich bin, begann Rafflard mit schlauer Miene, forschend nach dem Eindruck, den er auf sein Gegenüber hervorbringen würde, ich bin in ein sehr schwieriges, sehr wichtiges Familienverhältniß verwickelt. Eine glückliche Lösung desselben wird durch einen abscheulichen, schlimmen Menschen verhindert, der auf jede nur erdenkliche Weise diese Lösung zu unterbrechen sucht. Diesen Menschen aus der Nähe der edlen Wesen, die er nur quält, nur belästigt, zu entfernen, ist mir eine heilige Pflicht. Mit Gewalt ist nichts auszurichten. Aufsehen darf es keins geben und so bin ich von der Nothwendigkeit durchdrungen, die Entfernung dieses schlimmen Menschen auf eine stille, besonnene und doch zum Ziele führende Art zu bewerkstelligen.
Murray mit unverstellter Spannung horchte hoch auf.
Dieser Mensch, fuhr Rafflard fort –
Wie heißt er, Herr? sagte Murray rasch mit dem Ausdruck der bereitwilligsten Ergebenheit.
Der Name thut vorläufig nichts zur Sache –
Vielleicht kennt ihn Unsereins –
Nein, nein, er ist sehr gefährlich, aber es ist nicht nothwendig, da auf ihn nicht gewirkt werden kann, daß sein Name genannt wird. Dieser gefährliche Mensch, sag' ich, hat ein Mädchen, das er liebt... nicht eigentlich eine Braut oder Verlobte... wohl aber ein Wesen, für dessen Wohl und Wehe er sich in einem Grade interessirt, den man seinem bösen Charakter kaum zutrauen möchte. Ich bin der festen Überzeugung, wenn man bewirken könnte...
Rafflard stockte.
Nun, Herr? ermunterte ihn Murray mit scheinbarer Ungeduld.
Ich bin der Überzeugung, daß dieser Störenfried die angedeuteten edlen Menschen nicht ferner beunruhigen, bis aufs Blut quälen wird, wenn man jenes Mädchen, an dem er leidenschaftlich hängt, plötzlich von hier in aller Stille entfernen könnte... Versteht Ihr, Murray –
Wohl! Wohl!
Ich bin überzeugt, daß jener schlimme Gesell, auf den nichts wirkt, den keine Drohung von hier fortzubringen im Stande ist, augenblicklich bis an's Ende der Welt reisen würde, wenn es plötzlich hieße: Jenes Mädchen ist nach Hamburg verschwunden oder man hat seine Spur am Rhein verloren oder man glaubt, daß sie ein gewisser Murray oder ein gewisser Sylvester, wählt jeden beliebigen Namen, nach London entführte! Man glaubt, daß sie dieser Wagehals mit sich zu Schiffe nach Amerika nimmt! Genug, ein solcher Glaube, begründet auf ein Unternehmen, das in dieser Weise nicht einmal braucht ausgeführt zu werden, nur vier Wochen unterhalten, dies Gerücht nur etwa vier Wochen geschürt, würde die einzige Art sein, die edle Familie von dem lästigen Störer gerade beim Abschluß einer wichtigen Verhandlung fernzuhalten. Ein solcher Dienst, mit einer gefüllten Börse belohnt – was sagt Ihr dazu, Murray?
In Murray kochte der Zorn. Alle zurückgehaltene Glut drang ihm in die Brust. Er war nahe daran, aufzuspringen, den Heuchler an der Brust zu packen und ihn zu schütteln mit den Worten: Elender, wofür hältst du mich?... In seiner ihm fast die Rede erstickenden Aufregung konnte er nichts hervorbringen, als die Frage:
Wer ist das Mädchen?
Eine unbedeutende, arme Nähterin, sagte Rafflard. Ein Mädchen, ohne allen Anhalt, ohne alle Verwandte. Ich kann Euch den Namen sagen und muß es, da Ihr Euch nach ihren Verhältnissen doch erkundigen werdet. Sie heißt Franziska Heunisch.
Franziska Heunisch?
Kennt Ihr sie?
Nein! Nein!
Aber Murray mußte sich bei diesen Worten bekämpfen. Gerade dies Mädchen war ihm für gewisse geheime Pläne, die er verfolgte, schon längst von Wichtigkeit geworden. Ihr galt die Berechnung eines, wie er schon durchschaute, abscheulichen Planes. Er sollte sie mit Gewalt überfallen, entführen! Und nun galt es die letzte Kraft seiner Verstellung zusammenzuraffen und mit dem Scheine der größten Ruhe und dienstfertigsten Ergebenheit zu sagen:
Herr! Das ist ein Stück Arbeit! Ich will's wagen; aber – wie greif' ich's an?
Das, Murray, müßte eben Eure Sorge sein!
Hm! Hm! simulirte Murray und schlug sich an die Stirn. Meine Fäuste, Herr, sind nicht mehr die stärksten. Wenn es gelten sollte, Einen zu knebeln und mit verbundenem Munde Abends an den Thoren in einen Wagen zu schleppen...
Ihr müßtet Unterstützung haben.
Das wäre nicht gut, Herr.
Bedenkt, ein schwaches Mädchen!
Ein schwaches Mädchen! Franziska Heunisch... Wo wohnt sie?
In der Wallstraße Nr. 14 im Hinterhofe.
Darf ich mir's aufschreiben?
Ich rathe Euch Das. Merkt Euch jeden Umstand. Sie wohnt bei einem Tischler, hat Verwandte im kleinen Fürstenthum Hohenberg, einen Förster des Prinzen von Hohenberg... sie näht, bald hier, bald dort, bald zu Hause, bald auswärts... verschwände sie plötzlich, so ließe sich, wenn Ihr Euch auch verborgen hieltet, Murray, die Vermuthung, daß sie nach Hamburg, von da nach England entführt wäre, wohl jenem Menschen mittheilen, der sie augenblicklich verfolgen würde. Man kennt Euren Geschmack, Alter. Auf dem Fortunaball habt Ihr Euch verrathen! Der Kummer, den Ihr empfinden würdet, die Unannehmlichkeit, diese schöne Stadt zu meiden, würde sich leicht verschmerzen lassen und eine große Schuld ladet Ihr nicht auf Euch. In drei Tagen könnt Ihr das Mädchen wieder freigeben, wenn sie nur bewacht, an der Rückkehr, am Schreiben verhindert wird.
Murray hatte das Portefeuille auf seinen Knien und schrieb mit einer Hand, die vor Erregung zitterte.
Als er mit seinen Notizen scheinbar fertig war, fragte Rafflard:
Also Ihr übernehmt es, Murray?
Ich brauche drei Tage, sagte dieser, um mir doch zu überlegen, wie so einem Fange beizukommen ist. Mädchen sind Forellen.
Rafflard fand dies Bild charmant und so gut gewählt, daß er von der größern Bildung, die sich bei dem ihm Anfangs stumpfsinnig erschienenen Murray zu erkennen gab, jetzt nur noch mehr befriedigt wurde. Es lag ihm daran, lieber einen Helfershelfer von Verstand zu finden.
Das ist mir recht, sagte Rafflard, ich brauche ebensoviel Zeit, um die Vorkehrungen zu treffen, daß der Verfolger erst nach Hamburg und von da nach England dirigirt wird.
Teufel, Herr! Wie stellt Ihr das Alles an?
Durch Freunde, die sich gern geneigt zeigen, eine edle Unternehmung zu unterstützen, sagte Rafflard.
Und wo find' ich Sie wieder, Herr? fragte Murray fast kopfschüttelnd.
Am liebsten sprech' ich Euch hier!
Hier? Fürchtet Ihr für die silbernen Leuchter da nichts, Herr?
Ich denke, Ihr behandelt uns als Gentleman! Besonders wenn wir uns einstweilen gleichfalls als solchen zeigen...
Damit überreichte Rafflard Murray ein schon vorbereitetes Papier, in welchem Goldstücke in reicher Anzahl hin- und herrutschten.
Murray nahm sie ohne Bedenken mit künstlicher Gier und versprach schon morgen um diese Zeit, an dieser Stelle Bericht zu erstatten.
Rafflard schlug ihm auf die Schulter und begleitete ihn durch den Salon, wartete aber wohlweislich, bis Murray die Thürklinke ergriffen hatte und hinaus war. Dann harrte er noch einige Sekunden, um zu lauschen, ob der halbe Bandit auch wirklich ging und die Drohung mit den silbernen Leuchtern nicht wahr machte. Dann aber wandte er sich, um zur Gräfin zu gehen; denn der Bediente begegnete ihm und sagte, er hätte eben Herrn Heinrichson angemeldet. Heinrichson mußte also im Vorzimmer sein. Unangenehm berührt von diesem Namen, aber unendlich befriedigt von dem glücklichen Erfolg des Kaufes, den er an dem Entführer eines jungen Mädchens gemacht zu haben glaubte, trat Rafflard wieder zur Gräfin ein...
Murray aber, noch verwirrt von dem Erlebten, stand eine Weile in dem Vorzimmer. Sollte er doch die Maske fallen lassen und mit hohnlachendem Ingrimm über Sylvester Raffland, den Philanthropen, in ein Strafgericht ausbrechen?
Wie er noch stand, ging ein Herr vorüber, um in den Salon zu treten. Er streifte seine Kleider. Murray blickte auf und erkannte Heinrichson, den er bei dem Maler Reichmeyer angetroffen hatte, als er diesen besuchte, um den Versuch zu machen, ob man nicht durch eine Malersitzung die wahnsinnige Auguste heilen könnte, da Auguste unaufhörlich von ihrem Bilde phantasirte...
Ha! Ha! rief er mit einem wilden Anfalle bitterster Ironie: Sie hier? Gibt es hier auch Modelle, Herr?
Heinrichson wandte sich und sah zu dem Sprecher verächtlich zurück.
Murray hatte bei Reichmeyer nur seinen Namen erfahren und Heinrichson war gegangen, als er merkte, daß dieser wunderliche alte Mann mit seinem Kunstgenossen allein zu sprechen wünschte. Schön und gefällig wie Heinrichson war, hatte er Murray's Interesse erregt und damals die Frage nach ihm veranlaßt.
Sie kennen mich nicht! sagte Murray. Ich habe die Ehre, Herrn Heinrichson – eine junge Verwandte wollte ich von Ihnen malen lassen. Sie wollte aber nicht sitzen, als ich Ihren Namen nannte – Auguste Ludmer, Herr Heinrichson!
Heinrichson erschrak über diese Zudringlichkeit und wollte zur Gräfin.
Murray hielt ihn fest und sagte ihm mit einem Tone, der sich durch scheinbaren Scherz selber mäßigte:
Sie sollten sie malen, Herr, wie ich ein Stück in London gesehen habe, als ich im Theater war. Ein tolles Mädchen trat auf, der Einer den Kranz zerrissen hatte, Stroh und Blumen trug sie auf dem Kopf, sang Lieder und war toll... Malen Sie Das, mein Herr! Auguste Ludmer kann Ihnen dazu im Narrenthurm sitzen. Die Mutter Ihres todten Kindes sitzt im Narrenthurm.
Wovon sprechen Sie denn? Was wollen Sie? stotterte Heinrichson, der zu den Männern gehörte, deren Muth nur bei solchen Gelegenheiten sich bewährt, wo ein witziger Einfall die Stelle einer Handlung vertritt. Wo die ernsten Thatsachen des Lebens sprachen, verlor er jedesmal die Gegenwart seines sonst immer schlagfertigen Geistes.
Wer ist der Mann da? fragte er ungeduldig fortdrängend den Bedienten und riß sich los...
Ich bin Murray, sagte der Alte und hielt ihn nun zum Schrecken des feigen Bedienten gewaltsam fest, Murray, ein Engländer! Von Auguste Ludmer sprech' ich, die in allen Ihren Bildern die Menschen entzückt hat und jetzt im Tollhause sitzt. Herr, wie hieß die Prinzessin, die ich in London sah? Sagen Sie mir, wie das Mädchen mit einem Strohkranze um den Kopf, mit Maasliebchen im Haare, geheißen hat?
Ophelia wahrscheinlich! sagte Heinrichson zitternd und riß sich mit letzter Gewalt von dem unheimlichen Manne los, der ihn am Rocke zerrte.
Murray stand und grinzte ihm zornfunkelnd nach.
Der Bediente schien, als Heinrichson zur Gräfin eingetreten war, nicht zu wissen, ob er mit diesem kecken Alten höflich sprechen oder ihn wegen seiner Unverschämtheit zur Thür hinauswerfen sollte. Nur der Gedanke, daß doch Herr Professor Rafflard sich mit ihm so lange unterhalten hatte, mäßigte seine schlimmen Voraussetzungen...
Bester Freund, sagte Murray mit einem eigenen Ausdruck von verwirrter Ironie, der den innern Zorn verbergen sollte; bester Freund, ja, ja, das Stück hättet Ihr in London sehen sollen. Ein Mädchen kam darin vor, das sich vernünftig stellte und toll war und ein junger Mensch, schwarz von Kopf bis zur Zehe, der sich toll stellte, der aber ganz vernünftig sprach. Freund, der Mann spielte seine Rolle so natürlich, daß man hätte schwören mögen, er käme geraden Weges vom Irrenhaus. Aber ein Spitzbube war's! Ein echter Spitzbube!
Der Bediente warf ärgerlich die Thür hinter dem vorlauten, unheimlichen, wie irr redenden Alten zu.
Murray, Athem schöpfend, seine Brust an der Luft erweiternd, stieg bedächtig die mit Decken belegte, von Gypsstatuen gezierte Treppe hinunter und überlegte sich, ob er da wiederkommen würde oder nicht; ob es besser wäre, zu einem bösen Anschlage sein falsches Angesicht zu zeigen oder sein wahres... Als er auf der Straße war und das Gewühl der Menschen sah, die aneinander vorüberrannten, Jeder geschäftig im Bewußtsein seiner eigensten Interessen, da überkam ihn fast die Lust, es mit Sylvester Rafflard auf dem Wege, den dieser eingeschlagen hatte, nun weiter zu versuchen, das ihm gegebene Geld einstweilen zu behalten und Franziska in der That, wenn auch nur scheinbar, zu entführen...
Übereinstimmung ist der Köder, sagte er sich, mit dem man die Füchse hervorlockt aus ihren Gruben, wenn man sie fangen will! Diese Welt ist nicht für die Ehrlichkeit. Jedes Geheimniß hat seinen eigenen Schlüssel. Die Weisheit soll die Klugheit zu ihrer Dienerin haben. Jene thront, diese regiert. Nur Die sind übel daran, die in ewiger Klugheit immer die Sprache der Menschen reden müssen und darüber die Sprache des Himmels vergessen. Das Flammenschwert der Wahrheit, das auf einmal alle Truggespinnste durchschneidet, darf man nie aus der Hand geben. Aber man soll es auch nicht ewig schwingen, man soll es auch nicht brauchen gegen Jeden. Mit diesem Elenden willst du gehen, bis du ihn entlarvt hast!
Der Jesuit aber verließ bald darauf freudestrahlend die Gräfin, um den Propst Gelbsattel zu besuchen. Sylvester Rafflard war in einer ewigen Bewegung, wie damals, als er auf dem Fortunaball Fränzchen Heunisch umschwirrte, die ihm gefiel und für seine Huldigungen unbefangen genug schien. Sein ganzes Wühlen und Schleichen liegt nun am Tage. Er hatte Franziska später in ihrer bescheidenen Existenz aufgesucht, sich die Mühe gegeben, scheinbar ihre Sprachstudien zu leiten, aber bald dem Plane entsagt, sie für seine niedrige Sinnlichkeit erobern zu wollen. Dennoch behielt er das schöne Mädchen im Auge, als er bemerkte, wie werth sie jenem Louis Armand geworden war, der über den Prinzen Egon eine Herrschaft übte, die er brechen mußte, um eine Verbindung zwischen Egon und Helenen zu Stande zu bringen. Sein Späheramt, das er auf Louis Armand unter dem Namen eines Italieners, Signor Barberini, ausüben wollte, wurde gestört, da er als Besitzer eines Quartiers, das er nie bewohnte, bald verdächtig werden mußte. Er hatte Louis Armand der Polizei als Communisten angezeigt, doch davon noch keinen Erfolg bemerken können. Die alte Gräfin d'Azimont schrieb Brief auf Brief und hoffte von ihm die baldigste Bestätigung, daß Helene auf eine Scheidung von ihrem Sohne dringe, den sie selbst beerben wollte. So entschloß sich Rafflard zu Gewaltschritten. Dankmar, Siegbert Wildungen schienen ihm schon so gut wie von Egon entfernt. Rudhard, der für die Kinder seiner Pflegebefohlenen, der Fürstin Wäsämskoi, auf Helenen's künftiges Vermögen rechnete, hatte zwar auch das lebhafteste Interesse, diese Scheidung und die neue Heirath mit dem mittellosen Fürsten von Hohenberg zu hindern; aber auch für Rudhard sann der Jesuit auf eine Gelegenheit, ihn unschädlich zu machen. Am liebsten wär' er in den Kreis der Fürstin Adele selbst eingetreten. Doch nahm man ihn dort nicht an. Er stand der inneren Verwickelung dieser Familie fern und konnte nur durch den Propst Gelbsattel und besonders dessen Töchter erfahren, was sich in jenen Kreisen begab; denn Gelbsattel hatte die alte Schulfreundschaft mit Rudhard, wenn nicht wegen Rudhard, doch wegen einer Fürstin, bei der Rudhard so einflußreich war, wieder angeknüpft.
Rafflard hatte nun den Trost, daß Egon plötzlich allein stehen würde; denn Louis Armand durch einen gefährlichen Anschlag auf Franziska Heunisch mindestens bis London zu jagen, schien ihm nun ein Leichtes.
Er wandte sich der alten Propstei zu, um seinen dortigen Beschützern noch einmal an's Herz zu legen, daß man über Alles, was heute Nachmittag auf einer von der Fürstin Wäsämskoi in ihrem Garten veranstalteten Weinlese sich ereignen würde, ihm den genauesten Bericht erstatten sollte. Auch hatte der Propst dem Jesuiten schon lange versprochen, ihn mit einigen bedeutenden, tonangebenden, außerhalb der Partei stehenden Männern der Residenz näher bekannt zu machen, mit Franz Schlurck, mit Drommeldey, mit Guido Stromer, ja, wenn es irgend ginge, bei zufälliger Begegnung sogar mit dem General Voland von der Hahnenfeder, der schwer zugänglich und stets vom Hofe in Anspruch genommen war. Der Propst hatte ihm gesagt, es müßte Dies an irgend einem dritten Orte geschehen, damit es den Schein der Zufälligkeit gewänne. Die Welt wäre mistrauisch und das Unschuldigste verfiele der Beurtheilung; die Harmlosigkeit der alten Tage wäre vorüber und selbst die Loge, dies sonst so friedliche Asyl der reinsten Bruderliebe und der duldsamsten Neutralität, böte nicht mehr den alten Schutz, wo denkende Menschen sich unbefangen aussprechen und eine gewisse Universalität der Standpunkte voraussetzen könnten.
So sehen wir einen Menschen mehr aus angeborener Lust am Bösen, als um eigener Vortheile willen die harmlos dahinlebenden, uns liebgewordenen Wesen umwühlen, und außer den Gruben, die sich jede lebhafte Empfindung und starke Willenskraft schon durch ihre eigene Leidenschaft gräbt, ihnen noch neue Gefahren bereiten, unvorhergesehene, unverschuldete, verderbenschwangere.