Karl Gutzkow
Der Königsleutnant
Karl Gutzkow

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Erster Aufzug.

Ein Zimmer im Hause des Rats Goethe. Rechts ein Fenster, an welches ein Schreibtisch angerückt ist. Links ein Tisch mit Sesseln. Eine Tür in der Mitte und eine zur Seite links. Spiegel, Schränke; alles Mobiliar von Nußbaumholz und im Geschmack der Zeit.

Erster Auftritt.

Wolfgang (sitzt in der Nähe des Fensters am Schreibtisch und wiederholt laut und langsam die Worte, die er zierlich auf ein sauberes Blatt Papier schreibt).

Sur un ruban de soie léger comme le vent
Repandent de l'amour les dieux et du printemps
De feuilles et de fleurs tant d'odeurs et richesses,
Qu'il faut pour les appas des reines, des déesses.
Qu'il porte un zephyr ce ruban –

Ce ruban – und immer ce ruban! Und immer noch hab' ich's nicht einmal! Die wundervollsten Schönheiten dicht' ich französisch auf ein Band, das eben erst von der Gretel auf der Neuen Kräm mit deutscher Gründlichkeit erhandelt werden muß. Der neue Voltaire sagt: Belinde, dies Band ist würdig, von Göttinnen getragen zu werden! und die Gretel wird erst sagen müssen: Herr Gontard, dies Band ist mit zwei Gulden zweiundvierzig Kreuzern unter Brüdern bezahlt! (Steht auf.) Das ist der Gegensatz zwischen Poesie und Prosa. Die Liebe sucht die luftige Brücke zu schlagen, die beide verbindet – aber wie oft bricht man auch auf ihr den Hals oder wird, wenigstens noch in meiner Lage, von strengen Vätern und gewissenhaften Müttern angerufen: Wo willst du hier hin, Schlingel? Ist das der Weg zur Schule? Das die gerade Linie zu deiner künftigen Anstellung? O Belinde! Belinde! Wo ist die Stelle, wo ich Ruhe finde? Am Baume schreib' ich deinen Namen in die Rinde. Am Bache ruf' ich ihn in alle Winde! Im Garten ich ihn gar aus Frühlingsblumen binde! Und bei alledem quält mich die fürchterlichste Eifersucht. Seitdem ich neulich bei ihr das schwarze verdeckte Bild gesehen habe, dessen Gegenstand sie mir nicht zeigen wollte, seitdem der Name Thorane und immer wieder Thorane auf ihren Lippen schwebt – wer ist nur dieser Thorane? Wer ist der Feind, gegen den ich im Stande wäre, mich mit dem Degen zu rüsten –? Aber – man kommt . . . (Er verdeckt seine Schreiberei rasch mit einem Buche.)

Zweiter Auftritt.

Frau Rat Goethe, Mittler treten von außen ein. Anfangs bemerken sie Wolfgang nicht.

Mittler. Wie ich Ihnen sagte, Frau Gevatterin. Es wird bereits zum allgemeinen Stadtgespräch. Die Leut' stecken die Köpf' zusammen. Wo man hinhört, kriegt man's aufgetischt von Ihrem Musje Wolfgang und seinem saubern Benehmen –

Frau Rat (Wolfgang bemerkend, bei Seite). Pst! Da ist er ja!

Mittler (verändert schnell den Ton). Ah, guten Morgen, mein liebster, charmantester Musje Wolfgang.

Wolfgang (bei Seite). Ich glaube, es war von mir die Rede?

Mittler. Schon so fleißig? Hoffentlich Praeparatio in Virgilii Aeneïdem? (Steckt die Nase auf den Tisch.)

Wolfgang. Nein, in Tristia ex Ponto Ovidii – Nasonis! (Bei letzterem, scharf betontem Worte drückt er die Nase des sich bückenden Mittler und verschließt das Gedicht.)

Mittler. Au! Sie heilloser. kleiner, junger Mann spotten über die Kurzsichtigkeit ihres alten Lehrers? (bei Seite.) Frau Gevatterin, ich möchte wetten, darunter lag ein Carmen franco-gallicum! (Nimmt aber, da Wolfgang sich ihm nähert, räuspernd einen andern Ton an.) Ja, in der Tat, liebe Frau Rat, wie ich Ihnen vorhin sagte, muß man gestehen, die Einrichtung Ihres Hauses fesselt bei jedem neuen Besuche desto mehr.

Frau Rat (halblaut, besorgt). Was nur sagen denn die Leut' vom Wolfgang?

Mittler (überlaut). Die Gemäldesammlung des Herrn Gevatters macht seinem Geschmack alle Ehre. So sollten alle Fürsten denken, wie hier ein einfacher Privatmann! Ich sagt' es schon damals, als der Herr Rat nach Italien auf Reisen gingen –

Frau Rat (bei Seite, zu Mittler). In's Ohr setzen lass' ich mir nichts; wenn's was Unrechts ist, muß's heraus und auch bewiesen werden. (Laut.) Belieben Sie ein Gläschen süßen Weins –?

Mittler. Danke! Danke!

Frau Rat (will an einem Klingelzug schellen). Oder die Gretel soll ein Gebackenes bringen –?

Mittler. Danke! Danke! (Leise, listig.) Ha ha! Der Gretel dürften Sie lange schellen.

Frau Rat. Sie ist zur Hand!

Mittler (halblaut). Pst! (Bei Seite, mit einem Blick auf Wolfgang, der sich inzwischen mit einem Buche, aufhorchend, an's Fenster gestellt hat.) Wenn die Frau Gevatterin wüßte –

Wolfgang (bei Seite). Was flüstern sie denn nur ewig?

Frau Rat. Wüßte? Was ist mit der Gretel?

Wolfgang (bei Seite). Sie sprechen von der Gretel?

Mittler (bei Seite). Wären nur der Herr Sohn nicht gegenwärtig. (Räuspert sich, laut.) Also den Herrn Gevatter Seekatz erwarten Sie aus Darmstadt? Hm! Ein stattlicher Künstler! Schade, daß der unglückliche Mann, wenn er Ruhe in seinem Hause haben will, auf allen seinen Bildern seine Frau anbringen muß! Übrigens besitzt der Herr Gevatter die schönsten Bilder, die man von Seekatzens Pinsel kennt.

Wolfgang. Und Sie kennen die Pinsel!

Mittler. Wie so?

Wolfgang. Haben Sie nicht den Vater beredet, einen Rembrandt zu kaufen, den eines schönen Morgens, als uns unser guter Frankfurter Apelles Trautmann besuchte, dieser für eine von ihm gefertigte Kopie eines Rembrandt erkannte?

Mittler. Junger Mann! Unter Kennern sind dergleichen Irrtümer nicht Seltenes! (Bei Seite.) Jetzt bring' ich den Naseweis fort! (Laut.) Rembrandt, mein lieber Wolfgangus, was wissen denn Sie schon von Rembrandt? Rembrandt wurde geboren im Jahre – nun zeigen Sie doch' mal, was Sie von dem Rembrandt wissen –!

Wolfgang. Rembrandt wurde geboren den 15. Juni 1606 in der Mühle seines Vaters, der ein Müller war.

Frau Rat (die sich gesetzt hat). Sehen Sie, Herr Gevatter. daß der Wolfgang es wußte!

Mittler. Falsch! Falsch! Wenigstens nicht in der Jahreszahl richtig! Ja – gehen Sie nur in die Bibliothek Ihres Herrn Vaters – Sie kleiner Spötter, schlagen Sie nur einmal im Dictionnaire des Bayle nach –

Wolfgang. Den 15. Juni 1606, sag' ich!

Mittler. Falsch, Musje Wolfgang! Schlagen Sie im Dictionnaire des Bayle nach, wenn Sie denn doch schon über Rembrandt mitsprechen wollen –!

Wolfgang. Sie wollen es besser wissen? Das wollen wir doch einmal sehen! (Springt ab durch die Mitte.)

Mittler Ha ha, ha ha! Fort ist er!

Frau Rat. Sie sehen, es ist noch ganz ein Kind!

Mittler. Ein schönes Kind! Liebste Frau Rat, vergeben Sie mir, wenn – (will ihre Hand küssen).

Frau Rat. Lassen Sie nur jetzt all' die Sachen und bleiben Sie auf der Hauptstraß'! Ja, was verlästern Sie mir meinen Buben?

Mittler. Nun denn, allerdings! Greuliches, Unerhörtes vernimmt man von dem Wolfgang Goethe! Sagen Sie, Frau Gevatterin, was hat er mit der französischen Komödie?

Frau Rat. Frei Entree hat er mit ihr! Der Großvater hat ihm sein Senatorsbillet abgetreten – da soll er Französisch lernen.

Mittler. Französisch, von wem? Von denen Actricen in deren Ankleidezimmern?

Frau Rat. Das ist noch kein Unglück, wenn er da 'mal die Nas' hineinsteckt! Auf die Kanzel soll er nicht.

Mittler. So? Sie wissen also nicht, daß er mit der jungen theatralischen Circe, dieser Demoiselle Belinde, eine förmliche – Liaison hat?

Frau Rat. Auch das weiß ich schon. Aber er besucht nur ihren Bruder, den Schauspieler Alcidor. Mit diesem charmanten, feingebildeten, jungen Mann übt er sich in der Konversation, lernt auch wie man Gedichte schreibt und dergleichen unschuldige Bagatellen mehr. Sie, die Schwester ist ebenso ein gebildetes, artiges Frauenzimmer, das mit ihrem Bruder zu eingezogen lebt, als daß ihr ein Mensch etwas Schlimmes nachsagen könnte. Wird ein so achtbares Frauenzimmer sich mit einem Kind in ein unpassendes Verhältnis einlassen! Nein, nein, nein, nein, da müssen Sie doch noch ganz andere Sächelchen anbringen, wenn Sie mich in Harnisch jagen wollen.

Mittler. Gut. Der Theaterauslaufer, der bei der Mamsell Belinde die Bedienung hat, hat mir's selbst erzählt, wie das junge Blut, der Goethes Wolfgang, stundenlang vor dieser Kreatur auf den Knieen liegt und in exaltierten, hochgeschraubten Redensarten, sesquipedalibus verbis, mündlich und schriftlich sie adorieret. Neulich, als er auf ihrer Toilette ein schwarzes Kästlein erblickte, so das Portrait eines jungen schönen Mannes in einer Kapsel verborgen enthielt, ist der Wolfgang ja, ich weiß es mit diplomatischer Gewißheit, vor Eifersucht fast rasend geworden und hat seinen Degen gezogen, um sich geradeswegs vor ihren Augen sozusagen zu erstechen. Alcidor kam noch zum Glück hinzu und hat ihn nur kajolieren müssen, um das Äußerste zu verhüten. – Er müsse sich ja auch in das Unabänderliche fügen, soll ebenso Musje Alcidor in höchst dunkler, beinahe mystischer Weise gesagt haben, und nun hätten sie alle drei aus allen möglichen Trauerspielen von Racine, Corneille und Voltaire so viel gotteslästerliche Schwüre und unchristliche Redensarten durcheinander ausgestoßen, daß sie alle drei ganz erbärmlich angefangen hätten zu weinen. Denken Sie sich, Frau Rat, diesen Wolfgangus! Wie alt mag er sein? Alle drei haben sie um die Wette geweint und sich wieder geküßt – und dann wieder geweint und dann wieder geküßt – kurz die Nachbarn haben die Fenster aufgerissen, so ein Lärm ist das in der Bibergasse gewesen.

Frau Rat (zieht ihr Taschentuch). Wissen Sie wohl, daß Sie mir rechten Kummer machen? Das arme Kind! So zu weinen! Wer macht mir denn nur das Kind so unglücklich!

Mittler. Nun bitt' ich Sie – nun fangen Sie auch an –?

Frau Rat. Gehen Sie! Sie haben kein Mitgefühl.

Mittler. Aber (zieht sein Taschentuch) teure Freundin, wenn Sie weinen, so muß ich ja bei meiner schwachen Nervenkonstitution und meiner aufrichtigen Liebe zu diesem so hoffnungsvollen Knaben gleichfalls – (er schluchzt).

Frau Rat (steht jetzt auf). Nun will ich nichts mehr wissen. Ich habe mir vorgenommen, meine Kinder anders zu erziehen, als ihr's alle hier gewohnt seid nach euerm verbrauchten abgeschmackten alten Herkommen. Cornelia ist in Offenbach bei denen Andrés um sich in der Musik zu vervollkommnen, und Wolfgang muß und soll diese Franzosen sehen und mit ihnen umgehen, es geschieht mit meiner Bewilligung. Ich wußte alles. was Sie mir von der Belinde erzählt haben. Alte Geschichten! Neue Grundsätze! Adieu, Herr Gevatter! (Will ab nach rechts.)

Mittler. Neue Grundsätze? Nun, dann behalt' ich also das von dem seidenen Band und von der Gretel für mich.

Frau Rat (kommt zurück). Von der Gretel?

Mittler. Bei Gontards auf der Neuen Kräm war ich, steh' hinterm Kontortisch und plaudere und plaudere über die gegenwärtigen betrübenden politischen Constellationes, über diesen Fritz von Preußen, unsere erhabene Maria Theresia, die Franzosen und den, Gott sei's geklagt, nicht endenden schrecklichen, verwüstenden Krieg –

Frau Rat (ungeduldig). Machen Sie ihm ein Ende –!

Mittler. Dem Krieg, liebe Frau? Könnt' es Eins! Wenn das Kabinett von Versailles –

Frau Rat (drängend). Dem Ding mit den Gontards und der Gretel!

Mittler. Richtig. Kommt die da in den Laden und fragt – die Gretel – ob das Band fertig wäre?

Frau Rat. Welches Band?

Mittler. So der junge Herr Wolfgangus Goethe bestellet hab' –

Frau Rat. Ein Band bestellt?

Mittler. Die Gretel sagte. sie wollte das Band nur gleich mitnehmen, und was es kosten tät, und es kostete einen Brabanter Taler und es war fertig und sie wickelte es ein und steckte es zu sich und sie ging und sie nahm's und sie hat's und sie bringt's.

Frau Rat. Nun – was ist dabei?

Mittler. Da dabei –? Als ich fragte, was das für ein Band wäre, lautete die Antwort: Es ist ein bunt und schön gemalt seiden Band mit einem prächtigen Namenszug an der Schleife: Buchstabe B. So stand's im Buch bestellt. Weich B, Frau Gevatterin, nicht P. B–e–Be–l–i–n–lin–d–e–de–Belinde! (Wolfgang tritt leise herein, einen Folianten in der Hand.)

Frau Rat. Hm, hm, hm! Wenn freilich die neuen Grundsätze unnötiger- und heimlicherweise Geld kosten –

Mittler. Was meinen Sie, Frau Rat! Wie viel Brabanter Taler wird Ihnen dieses hoffnungsvolle Kind noch an die Schauspielkunst und dergleichen verbändeln?

Dritter Auftritt.

Wolfgang. Später Gretel. Die Vorigen.

Wolfgang (schlägt den Folianten auf Mittlers Schulter und wirft das Buch auf den Tisch links von ihm). Den 15. Juni 1606, in der Mühle seines Vaters und unter dessen Eseln – ganz wie ich gesagt habe.

Mittler (sieht in das Buch). In der Tat! (Reibt sich.) Schlagend richtig! Ich sagte von jeher, unser Musje Wolfgang ist in allen Dingen sattelfest und verspricht eine glänzende Zukunft . . . .

Wolfgang. Ohne darum für die Gegenwart blind zu sein! (Setzt sich zum Arbeiten.) Fahren Sie jetzt nur im Verleumden fort.

Mittler. Im Verleumden? Ich sprach von Seekatzens Bildern! Wenn ihm seine Frau erlauben wollte, Modelle von solcher Liebenswürdigkeit zu wählen, wie diejenige Ihrer Frau Mutter hier – (will der Frau Rat die Hand küssen).

Frau Rat. Genug! Da ist die Gretel!

Gretel (kommt mit einem großen Marktkorbe, schon unter der Tür rufend). Da sind Sie ja. Frau Rat! Wissen Sie das Neueste? – Die Leut' laufen all' an's Tor – Franzosen kommen wieder!

Mittler. Die hat's auch mit den Franzosen!

Frau Rat. Komm' doch einmal näher.

Wolfgang (zugleich, bei Seite). Die Gretel!

Gretel. Die Regimenter kommen all' von Höchst. Der Türmer von der Katharinenkirch' hat's heruntergeworfen. Alles läuft schon auf die Dächer und will sehen, was 's für Regimenter sind.

Frau Rat. Das wird Sie wenig kümmern – Sie gehört zu meinem Regiment. Wo steckt Sie denn nur? Wo ist Sie so lange gewesen?

Gretel. Erlauben Sie, Frau Rat. Ich hab' Kommissionen auszurichten gehabt für den Herrn Rat. Und der Herr Großvater, der Herr Schöff, der hängen einem auch immer noch ein Ämtchen auf, wenn man einmal auf der Friedberger Gasse was zu bestellen hat.

Frau Rat. So? Und aus der Neuen Kräm?

Wolfgang und Gretel (bei Seite). Neue Kräm!

Frau Rat. Zeig' mal den Korb her! Was für ein Ämtchen war denn das auf der neuen Kräm? Was trägst Du denn da so verdeckt? He?

Mittler (sieht mit hinein) Ach, die schönen Gemüser und die prächtigen Kirschen! (Nimmt einen Teller davon heraus und präsentiert ihn der Frau Rat, die ihn auf den Tisch stellt.) Ist's gefällig? – und die neuesten Zeitungen – und etwas von der fliegenden Literatur des Tages – und –

Wolfgang (bei Seite). Himmel!

Frau Rat. Ein Band! Was soll das Band? Wo ist das Band her? (Entrollt es.)

Mittler. Ach, wie schön! Wie flackert das! Wie duftet das ordentlich! Ein Band der Liebe neben ein paar – zart abgerupften Turteltäubchen! (Zieht diese auch hervor.)

Frau Rat. Herr Professor! Ich wünsch' Ihnen einen angenehmen guten Morgen.

Mittler. Sie sind so betroffen, meine Liebwerteste! Was haben Sie denn?

Frau Rat. Lassen Sie's jetzt nur gut sein – Guten Morgen!

Mittler. Aber wenn ich hätte ahnen können, daß Sie sich würden von sotanen traurigen Gegenständen dermaßen alterieren lassen –

Frau Rat. Durchaus nicht. – Schon gut. Aber Adieu! Adieu!

Mittler. Nun denn! Mein ergebenstes Kompliment an den Herrn Rat – und wenn der Herr Gevatter Seekatz kommen, vorläufig meinen schönsten Gruß, und wenn ich werde erfahren haben, was es für französische Regimenter sind . . .

Frau Rat. Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf –

Mittler. Ich will ja nur in Frankfurt das häusliche Glück und den allgemeinen Familienfrieden befördern! Meinen schönsten guten Morgen! (Ab nach außen.)

Gretel. Frau Rat, aber das Band – das bitt' ich denn doch –

Frau Rat. Trag' Sie die Sachen nur in die Küch' und die Zeitungen zum Herrn – hört Sie's?

Gretel. Nein, aber das Band, Frau Rat, darf ich bitten – es gehört – es ist – das Band ist –

Frau Rat. Was quält Sie sich denn so, eine Lüge zu erfinden? Verlang' ich sie denn? In die Küche mit Ihr!

Gretel (bei Seite, weinerlich zu Wolfgang hin) Wer ihr nur das gesagt hat von dem Band! (Ab nach außen.)

Wolfgang (bei Seite). Jetzt wird sich etwas entwickeln! Eine sonderbar feierliche Stimmung tritt ein! Mein Freund Alcidor nennt es in der ästhetischen Kunstsprache die große Pause.

Frau Rat (die das Band nimmt). Wolfgang!

Wolfgang. Liebe Mutter!

Frau Rat. Setz' dich daher!

Wolfgang (erstaunt, nimmt einen Stuhl, bei Seite). So fangen auf der Bühne die Familiengemälde an!

Frau Rat. Willst du nicht ein paar Kirschen essen? (Reicht ihm den Teller hin).

Wolfgang (nimmt eine). Dank, liebe Mutter! (bei Seite.) Die Szene wird nicht zu tragisch enden.

Frau Rat. Wolfgang, du besuchst das Theater –

Wolfgang. Das französische, liebe Mutter. Es bildet in verschiedener Hinsicht. Erstens –

Frau Rat. Zweitens und Drittens – es tut mir leid, daß du dies Vergnügen von jetzt an seltener genießen wirst –

Wolfgang. Das wäre ein bedeutender Nachteil für den Geist, liebe Mutter!

Frau Rat. Aber ein Gewinn für dein Herz. Der Großvater wünscht sein Freibillet zurück.

Wolfgang. Der Großvater? Will Großpapa noch in seinen alten Tagen moderne Richtungen einschlagen und das Theater besuchen?

Frau Rat. Er will der armen verschuldeten Truppe die Kosten ersparen und verzichtet deshalb auf sein Freibillet. Nicht war, es sind recht gute Kirschen?

Wolfgang (betroffen). Ein bißchen sauer, liebe Mutter!

Frau Rat. Apropos, wie alt bist du doch jetzt, Wolfgang?

Wolfgang. Jetzt eben, chère mère? Ich meinte – jetzt eben wär' ich noch nicht sieben Jahr.

Frau Rat. Du bist ein Jahr älter, als meine Pate Bertha d'Orville in Offenbach. Weißt du, daß morgen ihr Geburtstag ist?

Wolfgang. Morgen? In der Tat? Ich soll ihr vielleicht – den Rest – dieser Kirschen schicken?

Frau Rat. Das Band sollst du ihr schicken. Ist es nicht reizend?

Wolfgang (bei Seite). Mein Band? (Laut.) O – sehr – Aber –

Frau Rat. Sieh' nur, wie schön! Und schon ein B darauf gemalt.

Wolfgang. Ja und ein B darauf gemalt!

Frau Rat. Bertha d'Orville!

Wolfgang. Bertha d'Orville – wirklich Bertha – d'Orville in Offenbach?

Frau Rat. Sage, war das nicht ein guter Gedanke von mir?

Wolfgang. Allerliebst – aber – (Bei Seite.) Dafür 2 Gulden 42 Kreuzer aus meiner Tasche!

Frau Rat (steht jetzt auf). Siehst du, wie ich an alles denke. Setz' dich nun daher, schreib' einen hübschen kurzen Glückwunsch, ich werde das Band schön einwickeln; deine Schwester Cornelia, die sich in Offenbach so gut gefällt, daß sie noch länger dorten verweilen wird, soll das Ganze dann der Bertha – d'Orville unter einen Kuchen legen, und so zeigst du, daß du ein gutes Kind bist, ein aufmerksamer Verwandter und auf Freundschaft hältst. Nicht wahr?

Wolfgang. Unter einen Kuchen! Darf man wohl fragen, ob das schöne Band unter einem Kuchen nicht empfindlich leiden wird? (Will es anfassen.)

Frau Rat. Halt! Noch mehr unter deinen Kirschenfingern! Ei, geh'! Es kostet einen Brabanter Taler.

Wolfgang. Nichts abgegangen?

Frau Rat. Gontards haben feste Preise und die Gretel hat das Geld ausgelegt. Ich will's ihr aber – (mit lächelnder Ironie) wiedergeben.

Wolfgang. Gütige Mutter.

Frau Rat. Jetzt, Wolfgang, will ich die neuen französischen Truppen sehen. Wärst du ein galanter Sohn, so würdest du mir den Arm reichen und mich zu dem schönen Schauspiel begleiten.

Wolfgang. Liebe Mutter, ich habe an – französischen Schauspielen für den Augenblick zwar – einen Kronentaler gewonnen – aber für einige Zeit den Geschmack verloren.

Frau Rat. Das wäre nicht gut, mein liebes Kind! So weit deine Ausbildung an der französischen Komödie interessiert ist, wird der Vater das Freibillet gewiß gern ersetzen – und wenn sonst etwas von Frankreich her in deinen Kopf kommt, was die Unterstützung und den Rat eines guten Freundes erfordert, so wendet man sich – in solchen Fällen an das zärtliche Herz einer Mutter – nicht an die Mägde im Hause, die unsere zartesten Geheimnisse in den Gemüskörben auf den Markt tragen und beim Salat, den sie erhandeln, die Angelegenheiten ihrer Herrschaften verdingen. Verstanden. mein poetischer Herr Sohn? Das Band wird nach Offenbach besorgt! Bertha d'Orville! Und eine zarte Gratulation, mein braves, gutes Kind. N'est-ce pas, mon fils? – Nun will ich sehen, was heut' für neue Truppen einziehen. (Ab nach außen.)

Vierter Auftritt.

Wolfgang. Dann Gretel.

Wolfgang (allein). Da steh' ich – wieder ein Schulknabe! Eben ein Gott und jetzt hinuntergeschleudert auf die Sekundanerbank! Und ich begreife bei alledem – sie ist nur beleidigt, weil ich sie nicht zur Vertrauten gemacht habe! Sie würde mir gern das Studium der Seelenlehre gestatten, wenn ich ihr eigenes Herz dabei als Handbuch aufschlüge! O, mein himmlisches, blumenreiches Band (er küßt es), das um Belindens schlanken Leib gewunden werden sollte und nun, nun nach Offenbach – in die Verwandtschaft kommt. Ach, das sind nun keine Rosen mehr, keine Nelken! Gemalte Offenbacher Gänseblümchen sind's, wie sie bei Oberrad auf der Wiese blühen, und das zierliche B könnte bei der mir so höchst gleichgültigen Cousine bedeuten: Dieses B ruft Berthen zu: Wir spielten einstmals: Blindekuh!

Gretel Die Mutter ist fort, Herr Wolfgang! Da! Nun lesen Sie! (Wirft ein Billet in's Zimmer.) Ich muß an's Tor und die Franzosen sehen!

Wolfgang (hält sie fest). Dageblieben! Gebeichtet!

Gretel. Hernach, hernach! Lesen Sie nur! Ich muß die Franzosen –

Wolfgang. Das Papier kann ich nachher lesen! Es ist die quittierte Rechnung? Sie hat geplaudert! Beichte Sünderin!

Gretel. Ich geplaudert? Gretel, sagte der französische Sergeant, der nach der Schlacht bei Roßbach bei meiner damaligen Herrschaft in Aschaffenburg verwundet im Quartier lag und von mir mit Geduld, Liebe und allem Zubehör gepflegt wurde, Gretel, du hast zuweilen recht nachteilige Eigenschaften, aber deine Ehrlichkeit und deine Gewissenhaftigkeit und deine – wie gesagt, der Sergeant hätte mich geheiratet, wenn er nicht hätte unter die Fahne zurückkehren müssen, der er früher geschworen hatte als mir, sagte er beim Abschiede, und bloß darum verließ er mich.

Wolfgang. Verließ er mich! Siehst du! Es ist kein Verlaß auf dich! Da liegt nun mein Band, weißt du, was inzwischen darüber ein unsichtbares, rätselhaftes Fatum beschlossen hat? Ich muß es nach Offenbach an die Bertha d'Orville schicken.

Gretel. An Ihre Zukünftige?

Wolfgang. Zukünftige! Ich dächte an meine Plusquam Perfecta! Nenne mir den Verräter der Poesie an die Prosa!

Gretel. Hören Sie. Wolfgang, wie ich das Band holte, schielte hinterm Ladentisch bei Gontards so etwas Verdächtiges hervor, was sich gleich versteckte, als ich in den Laden kam – sehen konnt' ich's nicht, es war zu dunkel, aber so ein paar graue Augen blitzten manchmal hervor – wenn's am Ende der Professor Mittler war?

Wolfgang. Ein Verräter im Rembrandt'schen Helldunkel?

Gretel. So hängt's gewiß zusammen. Der duckte sich, belauschte mein' Sach' und hat's hier wieder angebracht. Aber nun muß ich an's Tor. Jemine, lesen Sie doch den Brief!

Wolfgang (hebt das Papier auf). Ein Brief? Von wem?

Gretel. Ei, sagt' ich's denn noch nicht? Der französische junge schöne Herr ist mir begegnet – der Herr Alcidor – der die feurigen Rollen in der französischen Komödie spielt –

Wolfgang. Belindens Bruder – Alcidor –?

Gretel (sich umsehend). Er hat mir das Billetchen für Sie gegeben –

Wolfgang (öffnet den Brief). Von – (er liest) Mon jeune ami!

Gretel. O das heißt: Mein schöner Freund! Das weiß ich noch von meinem Sergeanten her. Er war im 27. Regiment, hieß Mack und war eigentlich ein Elsässer und sprach ganz ordentlich deutsch und bloß geradebrecht französisch. Aber ami mit hinten was dran, sagte er mir, das heißt Freundin, und ami ohne hinten was dran, das heißt Freund. (Ganz in der Ferne hört man Trommeln, die fortdauern, bis der Rat eingetreten ist und einiges gesprochen hat.) Ha! Sie sind's! Sie kommen schon! Ach, wenn's doch die Siebenundzwanziger wären! (Läuft ab.)

Wolfgang (liest mit zunehmender Spannung seinen Brief).

Fünfter Auftritt.

Rat. Wolfgang.

Rat (kommt von innen mit Hut und Stock, will schnell ausgehen, sieht, schon an der Tür, Wolfgang träumerisch den Brief lesen und wendet sich nach ihm zurück)

Wolfgang. Versteh' ich recht –! Die Truppe verläßt uns?

Rat. Nun? Wie stehst du denn?

Wolfgang (versteckt den Brief). Ach, Vater –

Rat. Hast du nichts gehört? Es kommen neue Truppen. Woran denkst du denn? Träumst noch immer, scheint es, indem ich mit dir spreche?

Wolfgang. Sprachst ja mit der Gretel, Vater –

Rat. Ich? Mit der Gretel? Wolfgang! Wolfgang! Lebst du denn ewig in den Tag hinein? Das ist es, was ich an dir tadeln muß, was mich oft mit Schrecken vor deiner Zukunft erfüllt. – Was stecktest du da eben zu dir?

Wolfgang. Lieber Vater, ich präparierte mich auf die Tristien des Ovid. Siehst du, da liegt er.

Rat. Eine unglückliche Gewohnheit, in's Blaue zu starren, gedankenlos über nichts und wieder nichts zu brüten. Das bekümmert mich, mein Sohn! Wenn dich die Außenwelt nicht berührt, wenn Krieg oder Frieden an deinem teilnahmlosen Innern vorüberziehen, so will ich mich damit trösten daß du die Leiden noch nicht fühlst, die ein Patriot empfindet, wenn er an sein zerrissenes Vaterland denkt, an diesen Krieg der Preußen mit dem Reiche, an diese Einmischung der Franzosen, an alles, was unter unseren Augen sich täglich bejammernswürdig genug begibt. Dann aber ergreife wenigstens etwas, was dich vor völlig zweckloser Träumerei bewahrt! Nutze die Augenblicke deines jungen Lebens! Kind, sie sind sparsamer gezählt, als du denkst . . . Wie ist es mit der mathematischen Aufgabe, die ich dir neulich zu lösen gab?

Wolfgang. Lieber Vater, ich kam – auf einen Bruch. Die Rechnung ging nicht auf . . .

Rat. Und gleich ließest du sie liegen. Du sollst aber nichts halb tun und beschäftigen sollst du dich immer. Wolfgang, oft ergreift mich eine Kümmernis um dich. Ich sehe dich nicht mehr auf dem geraden Wege, auf dem ich dich zu deinem Lebensberuf führen wollte. Deine Neigung für die edle Mathematik, für die Meßkunst, für ein fleißiges und sauberes Kopieren guter Bilder stockt. Sieh' an mir, wenn ich jetzt nicht die Freude hätte, die trübe Stimmung des Gemüts wenigstens durch die Kunst aufzuheitern! Unser trefflicher Seekatz aus Darmstadt wird uns besuchen und unsere obern Zimmer beziehen. Schließ dich ihm an, nutze sein Urteil. Uebrigens kann ich nicht umhin, dir meine Freude auszudrücken, daß glücklicherweise die französische Komödie Frankfurt verlassen wird.

Wolfgang. Also wirklich? (Bei Seite.) Ganz wie mir Belinde da –!

Rat. Wie du betroffen bist! Ich höre, daß du dich, auf die Autorität deines Großvaters hin, hinter die Kulissen zu begeben pflegtest, dort mit den leichtsinnigen jungen Leuten gelacht und gescherzt hast. Seitdem du französisch lernst, hast du dein Italienisch vernachlässigt. Ich hoffe, daß du zu meinem alten Erziehungsplan zurückkehrst und die Gefahren einer hin- und hertastenden Selbstausbildung endlich einsehen lernst. Adieu, mein Sohn! Willst du nicht die Truppen marschieren sehen?

Wolfgang. Wie? Die Truppe reist – schon ab?

Rat. Wolfgang!

Wolfgang. Die französischen – Schauspieler?

Rat. Wer spricht von ihnen? Von diesen Vagabunden? Ihre Pässe sind noch nicht in Ordnung und ihre Verbindlichkeiten nicht gelöst. Schulden sind die häßlichen Insekten auf den Buketts, die ihre falsche Kunst dem verweichlichten Geschmack bietet –

Wolfgang. Der Gedanke an Schulden macht dich ordentlich poetisch, Vater!

Rat. Marschall Broglie ist es, der durchmarschiert, um dem Korps des Herzogs Ferdinand von Braunschweig eine Schlacht zu liefern.

Wolfgang. Man erzählte davon –

Rat. Und doch, wohl dem, der tiefer verworrener Politik keine Aufmerksamkeit zu schenken braucht! Bleibt dem Biedermann in diesen Tagen etwas anderes übrig, als sein Urteil zu verschließen und vor den unbehaglichen Verhältnissen des Vaterlandes, vor den Schrecken des Kriegs sich in den Frieden der Familie zu flüchten? Da ein traulicher Herd, da eine stille, kunstgeschmückte Wohnung, wie die unserige hier, ein gutes Weib und hoffnungsvolle, für bessere Zeiten aufbewahrt bleibende Kinder, das ist eine Abschlagszahlung für die Zukunft. bei welcher man wenigstens die Freude am Leben und die Hoffnung nicht ganz verlieren kann. Was an dir ist, Wolfgang, hoff' ich, du wirst dein Teil dazu beitragen, dies gemessene Glück deinem Vater zu begründen und zu vermehren. (Ab nach außen.)

Wolfgang. Nein, nein! Hier ist mein Schicksal! Hier die Bahn eines mit dem Schönen und Großen fühlenden Herzens! Ist es denn möglich –! (Liest außer sich das Billet.). Mein junger Freund! Belinde sagt Ihnen ein herzliches Lebewohl! Unsere Gesellschaft geht nach der Schweiz. In Soleure – (Soleure Ach so! Solothurn . . .) werden wir Klytämnestras Reuetränen weinen und an Phädras gebrochenem Herzen sterben. Wir wollten anfangs nach Mainz, aber bei den Franzosen dort steht ein Mann, den wir gezwungen sind zu vermeiden. Sie kennen das Medaillon. das wir drei schon mit unsern Tränen benetzten. Mein junger Freund, Sie wissen nicht, welche innere Qual mich zwingt, vor dem Grafen Edmund René de Thorane zu fliehen . . .« (Draußen in der Ferne Trommeln, die fortdauern bis zum ersten Kanonenschuß.) Zu fliehen? Fliehen vor Thorane, den sie ja liebt? Thorane ist in jeder Hinsicht also – nächst Professor Mittler – mein einziger Feind auf dieser Erde! Der war es, der neulich die tragische Szene anrichtete! Alcidors Mienen, seine niedergeschlagenen Augen bestätigen mir's, daß dies doch der Name des Mannes war, den Belinde liebt? Und dieser (liest aus dem Brief). Edmund René de Thorane wäre in der Nähe? Ein Offizier? Ein Franzose? Nun fühl' ich etwas von dem Hasse meines Vaters gegen Frankreich! Ja, auch ich will mich aufraffen, will – – (ein Kanonenschuß) Was ist das?

Sechster Auftritt.

Gretel stürzt herein. Wolfgang.

Gretel. Ha! Ich sterbe –

Wolfgang. Von dem Kanonenschuß?

Gretel. Nein, die Siebenundzwanziger sind da! Und er auch – der Mack –! Ich hab' ihn in der Nähe gesehen – von weitem gesprochen –! Lassen Sie mich – ich falle jetzt in Ohnmacht – (sinkt in einen Stuhl).

Wolfgang. Was bedeutete der Schuß?

Gretel. Daß weiß ich nicht! Nur das weiß ich, daß der Mack an mir vorübermarschiert ist, gerade am Weidenbusch vorüber auf dem großen Steinweg. Gretel! schrie ich ihm zu, Mack! antwortete er mir und schwenkte den Hut. Hirschgraben Litera F. Nr. 74, rief ich. Merci rief er, das heißt Danke, das weiß ich noch von Aschaffenburg, und vorüber war er. (Ein Kanonenschuß.)

Wolfgang. Was bedeutet nur das ewige Schießen? Sonst gingen ja die Franzosen ganz ruhig durch die Stadt – (Flintenschüsse durcheinander).

Gretel. Ha!

Wolfgang. Das ist ein Kampf! (Will seinen Hut nehmen.) Da muß ich dabei sein –

Siebenter Auftritt.

Mittler. Die Vorigen.

Mittler. Halt! Um's Himmels willen, bleiben Sie hier! Verrat! Überfall! Meuterei!

Gretel. Hier ist der Verräter!

Mittler. Was will Sie. Gretel! Laß Sie jetzt alle Privatfehden. – Auf der Zeil begiebt sich etwas Furchtbares! Eine Schlacht. – Die Schlacht von Frankfurt wird eben geliefert! Wieder was Neues zum Auswendiglernen in der Schule.

Wolfgang. Vielleicht die Schlacht auf der Neukräm? Professor, Mensch, was war das mit meinem Band?

Mittler. Wolfgang, denken Sie jetzt an die gemeinschaftliche Sache des Vaterlandes – alle Parteien müssen jetzt zusammenhalten – lieber Junge – (neues Pelotonfeuer).

Wolfgang. Also du gestehst –

Gretel (zugleich). Sie waren es, der hinterm Tisch lauerte –

Mittler. Aufschub aller Privatangelegenheiten – das Vaterland hängt an einem seidenen Faden!

Wolfgang (nimmt das Band). Und die Verräter sollen an einem seidenen Bande hängen!

Mittler. Halt! Sie werden doch nicht – Ich glaube gar, Sie wären bei einem solchen Blutbade im Stande –

Wolfgang. Eine Galgenfrist sei dir gegönnt, Gemäldekenner, schleichender Professor emeritus! Aber wenn's zum Ausbruch kommt und wir Rechnung halten mit allen, die uns in diesem Leben gequält und gemartert haben und die Leiden eines gefühlvollen, seiner Zukunft überschwänglich entgegenschlagenden Herzens nicht verstehen wollten, dann wehe Ihnen und Ihresgleichen . . . Nun muß ich doch eins sehen, was es auf der Zeil gibt (ab durch die Mitte).

Mittler (auf einen Stuhl). Ich bin mehr tot wie lebendig! Gretel, ist Sie auch durchaus unversöhnlich – (Läuten der Sturmglocken.)

Gretel (am Fenster). Sie stürmen! Wie die Leut' rennen – alle sind totenblaß – sie schießen schon wieder – was ist das nur – (will fort).

Mittler (wirft sich ihr in den Weg). Sie bleibt da! Nicht von der Stelle! Soll mich denn alles verlassen?

Achter Auftritt.

Frau Rat (voller Bestürzung). Die Vorigen.

Mittler. Ach allerliebste, beste Frau Rat! Sind Sie's denn und, Gott sei Dank, noch am Leben? Was sagen Sie – dazu? Innerhalb Iliums Mauern!

Frau Rat (erschöpft im andern Sessel, ihm gegenüber). Wo ist mein Mann? Wo ist Wolfgang?

Gretel (am Fenster). Das Schießen hört auf –

Frau Rat. Verstehen Sie das alles – begreifen Sie es?

Mittler. Obgleich ich Professor bin, bin ich in dem gleichen Fall totaler Ignoranz –

Frau Rat. Am Bockenheimer Tor seh' ich die Soldaten marschieren, folge, als die Zeltwagen kommen, ruhig dem Zuge, und kaum bin ich an der Weißadlergasse, hör' ich auf einmal schießen. Die Leut' rennen und schreien: Was ist? Was gibt's? Kein Mensch hat eine Antwort! Die einen meinen: die Preußen sind in der Stadt, die andern: die Österreicher – (Das Läuten hört auf.)

Neunter Auftritt.

Rat. Die Vorigen.

Rat. Schändlich! Schändlich! Unerhört!

Alle. Was ist?

Rat. Die Franzosen haben die Stadt genommen.

Mittler. Die Stadt genommen?

Frau Rat. Wie das? Dürfen sie's denn?

Rat. Dürfen? Was sind Traktate! Was geschriebene, geschworene Verträge! Seit vier Jahren, daß dieser unselige Krieg wieder begonnen hat, zogen Tausende von Truppen durch Frankfurt als neutrales Gebiet, und alle betraten das eine Tor und gingen ehrlich durch das andere wieder von dannen. Diese Zeit ist vorüber. Die Stadt hat ihre Freiheit verloren.

Alle. Himmel –!

Mittler (zugleich). Und durch die Alliierten des Kaisers? Das ist ja eine reine politische Unmöglichkeit!

Rat. Die Gewalt der Waffen entscheidet alles und der Besitz allein gibt das Recht. Wie die Kolonne auf die Zeil rückt, tritt unsere Stadtmiliz an der Konstablerwache unter Gewehr, wie es zur Ehrenbezeigung seit Jahren geschah; man durfte annehmen, die Franzosen würden die Allerheiligengasse hinaufmarschieren, auf Bornheim oder auf Bergen zu. Statt dessen machen sie plötzlich am Türkenschuß halt, zwei Kanonen werden abgeprotzt, man feuert, glücklicherweise blind geladen und mehr zum Schrecken als aus Mordlust. Mit gefälltem Bajonett rückt die Infanterie auf die Konstablerwache, unsere Mannschaft, völlig unvorbereitet und erschreckt, löst sich auf und nach einigen Flintenschüssen ist die Stadt in der Hand des verräterischen Feindes. Man sagt, der Herzog von Broglie hat den Überfall in eigener Person geleitet.

Mittler. Und was wird die Folge sein. Herr Gevatter?

Rat. Drangsal! Brandschatzung, Kriegssteuer. Verkürzung aller unserer Gerechtsame –

Zehnter Auftritt.

Wolfgang reißt die Tür auf. Die Vorigen.

Wolfgang (ruft). Einquartierung!

Frau Rat. Himmel!

Mittler (zugleich). Großer Gott!

Rat (zugleich). Dacht' ich's doch.

Gretel. Ich erlebe was – mit dem Mack –

Wolfgang. Ha ha ha! Das war lustig anzusehen, zu lustig, wie unsere tapfern Soldaten von der Fahrgasse dahergelaufen kamen! Ein trojanischer Krieg, der zehn Sekunden gedauert hat.

Mittler. Aber Einquartierung? A la bonne heure! Ich nehme niemanden in mein Haus. (Draußen Trommelwirbel.)

Wolfgang (am Fenster). Man wird Sie wohl erst fragen! Da seht, wie rasch das geht. Immer Trupps von 12 Mann – trapp, trapp, trapp! Wie sie sich umschauen nach den Hausnummern. Bon jour, Monsieur! Da? Nein dort! So? Richtig! Und die Herren von unserer gesinnungslosen Polizei, die zeigen ihnen gleich, wo's am schönsten ist! Herr Mittler, jetzt geht's auf Ihr Haus zu –

Mittler. Ich bitte Sie um Gottes willen –

Wolfgang. Jetzt, jetzt – nein! sie gingen vorüber. Es sah ihnen zu schmal in Ihrer Küche aus. Bei Leerses aber klingeln sie – (neuer Trommelwirbel).

Rat (zu Wolfgang). Sieh' nach! Ich glaube, es kommen immer mehr.

Gretel (bei Seite). Ich weiß nicht – mir wird so ängstlich zu Mute – wenn sich bei uns was ereignete – Mack oder ein – schöner Offizier – (Draußen, aber mehr nach unten der Ruf: Halt!)

Alle (durcheinander). Halt? Sie kommen auch – zu uns – es klingelt – (es klingelt unten sehr stark.)

Mittler. Halt? Das ist ja deutsch? Bester Freund, Sie irren sich. Es sind Preußen –

Rat (sehr aufgeregt). Die Preußen? Sie haben, glaub' ich, den Verstand verloren. – (Er geht, sie alle zur Ruhe bedeutend, an die Mitteltür. Man hört draußen Tritte. Dann geht die Tür auf.)

Elfter Auftritt.

Mack tritt ein und salutiert. Zwei Grenadiere bleiben draußen. Die Vorigen.

Mack. Salut aux Messieurs et Mesdames!

Alle. Franzosen!

Gretel. Jesus, das ist ja der Mack!

Mack. C'est ici chez Monsieur Goethe, Conseiller de Sa Majesté impériale de l'Autriche? (Alle schweigen.)

Gretel. Ei, Mack, so mach er doch kein so dummes Zeug und sprech er, wie ihm der Schnabel gewachsen ist!

Mack. Gretel, ich freue mich, dich wiederzusehen, aber beim Vorpostengefecht – silence!

Frau Rat (nimmt die Gretel). Sie kennt den Barbaren?

Gretel. Das ist ja der Sergeant Mack vom 27. leichten Infanterieregiment, das ich vor drei Jahren in Aschaffenburg in Garnison gehabt habe.

Alle (außer Wolfgang). Diese Person!

Mack. Meine Herren und Damen! Sie will sagen, sie hat mich gepflegt und gut konserviert. Und da sie dieses mit mehr als christlicher Nächstenliebe getan hat und auch die Aufmerksamkeit besaß, mir gleich beim Einmarsch am Weidenbusch Ihre werte Adresse zuzurufen, so war es ein Gefühl der Dankbarkeit für mich, die fürnehmste Einquartierung unserer ganzen Armee in dieses Haus: Hirschgraben Lit. F. Nr. 74 zu verlegen.

Rat. Was? Das verdanken wir dir?

Frau Rat (zugleich). Sie muß aus dem Hause.

Mittler (zugleich). Ei, ei, ei, ei?

Gretel. Nun komm' ich schön an.

Mack. C'est de la part du Lieutenant du Roi, que j'ai l'honneur de vous faire mes compliments respectueux.

Mittler (zum Rat schadenfroh). Lieutenant du Roi? Bester Freund, wenn ich recht verstehe, so wird gewissermaßen in Ihrem Hause das Hauptquartier aufgeschlagen.

Rat (zu Mack in steigendem Zorn). Mein Freund, sagen Sie gefälligst Sr. Exzellenz, daß ich ihn bäte, die Ehre seiner Bewirtung –

Mack. Pardonnez, Mr. le Conseiller de Sa Majesté impériale de l'Autriche! Mon maître vient de venir – kommt soeben – bereits – schon – avec tout l'état major –

Mittler. Mit? Wie?

Rat (zugleich). Ach du mein Gott –

Frau Rat. Was hat er gesagt? L'état major?

Wolfgang. Liebe Mutter, das heißt, das ganze Offizierkorps wäre bereits mit dem Leutnant, d. h. Stellvertreter des Königs, unterwegs, um sich auf dem Hirschgraben im Goetheschen Hause häuslich niederzulassen.

Rat (will zornig auf Mack zu). Sag' Er –

Alle (halten ihn zurück). Vater – Herr Rat –

Mack (zugleich, in Positur). Monsieur!

Wolfgang (zugleich). Vater, laß, laß. Ich werde zeigen, was ich in der französischen Komödie gelernt habe. (Zu Mack theatralisch). Mon brave! (Mack legt die Finger an den Hut.) Quoique ce serait pour nous un grand honneur de reçevoir la lieutenance du Roi et – et – vous comprenez, Monsieur?

Mack. Vollkommnement! Mais

Wolfgang (nimmt seinen Hut). Je vous accompagnerai, mon brave, et nous espérons, que, que –

Mack. Nichts que que –

Wolfgang. Nun denn, so geh' ich allein – Ayez la bonté de me dire le nom de votre maître –

Mack. Mon maître, Monsieur? C'est le Lieutenant du Roi, Monseigneur le Comte de Thorane.

Wolfgang (läßt den Hut fallen). Wer?

Alle. Was ist ihm?

Mack. Monseigneur le Comte Edmond René de Thorane!

Wolfgang. Edmond René de –

Alle. Thorane!

Wolfgang (zugleich). Ha! (Sinkt in Ohnmacht.)

Frau Rat. Siehst du, Vater! Er wollte sich ermannen, er wollte uns retten vor der Intrigue dieses verabscheuungswürdigen Mädchens, das seiner Herrschaft freiwillige Einquartierung aufbürdete, aber er kann nicht mehr, seine Kräfte schwinden . . . Wolfgang!

Mittler (im Tone der Verstellung). Herrliches Kind! Es ist der Schmerz um's deutsche Vaterland!

(Während die Gruppe um Wolfgang beschäftigt ist und ihn an den Sessel nach vorn führt, wendet sich Mack militärisch, die Soldaten folgen.)

(Der Vorhang fällt.)


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