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VIII.

Die erste Aussaat der Liebe schon im Kinderherzen geht so geheimnißvoll vor sich, wie sich der Thau auf Blumen senkt. Spielend und scherzend tastet die Unschuld im Gebiete der Nacht. Worte, Empfindungen, Begriffe, die dem Erwachsenen voll gefährlichster Widerhaken scheinen, fäßt das Kind mit sorgloser Sicherheit an und nimmt das geschlechtliche Doppelleben der Menschheit wie ein Urewiges, mit ihm selbstredend auf die Welt Gekommenes, das keiner Erklärung bedarf. Aus dem Schooß der Mutter geboren ist dem Kind die Mutter die sichre Brücke über alle Räthsel des Weibes hin. Das Kind ahmt die Liebe des Vaters zur Mutter nach, spielt Familie, spielt Vater, Mutter, spielt sich selbst als Kind. Aus raschelndem Herbstlaub, aus zerlassenen Strohbündeln werden Hütten und Nester gebaut und halbstundenlang kann ein völlig unschuldiger Knabe neben seiner Gespielin stumm und wie von Liebesahnung magnetisirt daliegen. Die Gefahr steht einem solchen Bilde kindlicher Naivetät freilich nicht fern, sie lauert wohl und sucht sich die Gelegenheit der Verführung. Aber niemals versteht ein Kind ganz die Bedeutung der harten Strafe, die es oft für sein nachgeahmtes Ifflandsches Familienleben trifft. Das Liebesleben der Erwachsenen erst bricht auf die Phantasie des Kindes und sein stilles Grübeln wie mit der Thür ins Haus. Man schont so wenig die Unschuld, man zeigt sich leidenschaftlich, man kos't in Kindernähe. Das Kind stutzt, es grübelt, horcht. Gewisse Hieroglyphen erschrecken es, Erzählungen werden belacht, Erzählungen, die plötzlich über ganz befreundete Menschen ein wunderlich fremdartiges Licht werfen. Der Knabe wird bemerken, daß seine ältere Schwester irgend eine Freude oder ein Leid hat, das er ganz nicht fassen kann. Ein älterer Bruder nimmt geschwellt von Lebensübermuth, Jugendlust, Abenteuerdrang kein Blatt vor den Mund. Früh sah der Knabe um Liebe weinen, früh aber auch wurden Geschichten gehört, wie folgende, die erst bei häufigerer Wiederholung in späteren Jahren sich etwa so gestaltete:

Das Roß des Königs.

Gestern ist ein Duell gewesen, erzählte der Bruder. Auf einem Zimmer der Kaserne war's. In Nro. 39. Blanke Säbel, geschliffen, im Hemd, nur die Pulsadern verbunden und unten die Redouten maskirt. Tolle Geschichte gewesen. Dem Chargirten Hartmann zwei Finger lädirt. Werden steif bleiben. An sich ist's zum Todtlachen. Hartmann will zu Jung-Christianis, er erwartet da das Murmelthier. Es ist neun Uhr Abends, der Civilfrack wird gebürstet, durchs Fenster auf und davon, ohne Urlaub. Bei Jung-Christianis in der Zimmerstraße ist Ball und Louise Waldmann, von ihrer Schläfrigkeit das Murmelthier genannt, ein schönes, im Wachen doppellustiges Wesen, wollte sich einfinden. Es wird eilf. Murmelthier schläft entweder oder sie ist untreu ... kommt zum Apollosaal heißt es. Die Kameraden brechen auf und marschieren von der Zimmerstraße zum Oranienburger Thor, wo Murmelthier hoffentlich in ihrer Wohnung in den Federn liegt. Aber halt! An den Linden! Welche Ueberraschung! Murmelthier am Arm des Chargirten Langheinrich, unsres Don-Juans unter den jungen Freiwilligen der Mörser- und Bombenwelt! Lustwandeln Beide im Mondenschein, unter den Linden, Louise Waldmann und Langheinrich! Einen Stein her! Fünfzig Schritt Distanz Kartätschen! Auf Korn und Visier, ich treffe! ruft Hartmann außer sich. Die Andern halten ihn zurück. Hallunken! bricht Hartmann aus dem Dunkel hervor. Die Scene wird ernst. Langheinrich zündet sich eine Cigarre an, verlangt Satisfaction. Morgen um vier Uhr Nachmittags! In der Kaserne! Ihr sorgt, daß die Gemeinen auswärts sind. Und richtig! Hartmann und Langheinrich schlagen sich. Hartmann wie rasend. Langheinrich mit majestätischer Ruhe. Jener immer nur nach dem Gesicht ausfallend, auf das er neidisch ist. Dieser parirt nur. Blut! rufen endlich die Sekundanten. Hartmanns Arm ist rothgefärbt. Er wirft die Waffe aus der Rechten in die Linke, fällt wieder aus, attakirt mit Wuth, es konnte Mord geben. Langheinrich, kalt und gefaßt, hat bei dem Rufe Blut! den Schläger weggeworfen und tritt ihn mit dem Fuß. Hartmann konnte ihn durchrennen, wenn die Sekundanten ihn nicht mit Gewalt entwaffneten. Pistolen! ächzte Hartmann. Pistolen! Aber schon gestand er zu, es kitzle ihn Etwas kühl an der linken Rippe. Es war das herabrieselnde Blut des verwundeten rechten Unterarms. Leise quoll es hinterm Rücken auf die linke Hüfte herab. Der Schläger war vier Zoll tief bis an die Knochen eingedrungen. Ein Klafterhieb! sagte der Chirurgus, den man herbeiruft. Hieb? Hieb? rufen alle Anwesenden. Hier ist von keinem Hieb die Rede! Was reden Sie, »Gregorio?« Der Chirurgus lachte. Nun denn! Ein Glas, in das man fällt, kann immerhin vier Zoll tief schneiden. Zähneknirschend geht Hartmann ins Lazareth und kommt in die summarische Uebersicht der Commandantur als unvorsichtige Verwundung. Das Murmelthier will ihn im Lazareth trösten. Hartmann sieht sie nicht wieder an.

Aber Langheinrich muß uns noch bekannter werden. Diese jungen lebens- und liebestollen Landsknechte stehen in Spandauer Garnison. Die Zeit ist lang und nirgends länger als in Spandau. Man verliebt sich; aber noch öfter muß man nehmen, was sich ohne Liebe findet. Eine Wittwe, wohlhabend, Besitzerin eines eignen Hauses, verschwenderisch an die, die sie begünstigt, verschwenderisch an Liebesgaben, nicht mehr an Reizen; denn die Wittwe ist reich, war nie schön. Sie begünstigte die Armee, bis es sich ereignet, daß Schauspieler nach Spandau kommen. Man denke sich Spandauer Schauspieler! Liebhaber, die man auf Hoftheatern nur ansehen mag, sind schon selten. Aber ein »Liebhaber« in Spandau! Dennoch wird die Wittwe der Armee untreu und geht zur Fahne Thaliens über. Ohne Zweifel fand sich unter diesen Musenjüngern ein heißblütiger, ein werdender Romeo, ein Anfänger, dem nur die Rollen und die Gage fehlten, um aus ihm einen Künstler ersten Ranges zu machen. Die Wittwe wenigstens erkannte ihres Romeos Zukunft und schenkte ihm ihr soldatenmüdes Herz. Unglückliche Wittwe, diese Fahnenflucht wird dir theuer zu stehen kommen! Wenigstens die Artillerie hat dir geschworen, sich zu rächen. Es ist tiefe, stille Mitternacht. Alles schweigt in Spandau, nur im Zuchthause hört man zuweilen den Anruf der Wachen. Die Wittwe scheint noch nicht zu schlummern. Die Chargirten, Langheinrich an der Spitze, schleichen sich an den Häusern entlang, sie sehen Gardinen schimmern, hinter ihnen zwei ombres chinoises. Romeo ist bei der Wittwe! Nun werden unten die Laufgräben eröffnet werden. Man schleicht an die Hausthür. Sie ist verschlossen; sie soll auch verschlossen bleiben. Man hat die Absicht, die Wittwe einzunageln, Romeo zu einem Fenstersprung zu zwingen, man will ihm den gewöhnlichen bürgerlichen Rückzug abschneiden. Die Artillerie hat sich mit einem Bohrer und einem langen Draht versehen. Oberhalb des Hausthürdrückers setzt Langheinrich den Bohrer an, der Bohrer dringt ohne das mindeste Geräusch in die Thür, bleibt fest, felsenfest, und nun wird der Draht so um den Bohrer und die Thürklinke geschlungen, daß letztere von Innen jeden Dienst versagen muß. Man kann drücken, man kann zerren, rütteln, der Drücker geht nicht nieder und das Haus ist nicht zu öffnen. Kaum hat Langheinrich seine Belagerungsfinte ausgeführt, als Schritte durch die Nacht dröhnen. Die Patrouille! Husch! Ins Dunkel der Häuser .... »Guten Abend, Schwarzkrägen!« ruft der Gefreite der Patrouille. »Warum so spät auf der Straße?« »Bester Rothkragen! wir haben Arbeit auf dem Pulvermagazin und sammeln uns hier! Nehmt künftig eine Laterne mit, daß ihr die Litzen seht!« Der Gefreite erschrickt vor den Litzen, entschuldigt sich. Die Patrouille geht weiter. Endlich, es war zwei Uhr, wandelndes Licht im Hause der Wittwe. Romeo ist nicht in Verona, sondern in Spandau, er springt nicht vom Balkon, sondern geht durch die Thür nach Hause. Schon hört man seine Schritte, schon schließt er die Thür auf. Jetzt klinkt es. Baff! Sie geht nicht auf. Was ist das? ruft es drinnen. Man hört zwei Stimmen, Romeos und Juliens. Beide wetteifernd in Vermuthungen, Ahnungen, Verwünschungen. Es ist noch nicht die Balkonscene, die sie aufführen, sondern erst eine Hausflur-Vorscene bedenklichster Art. Endlich zwingt die Situation, sich mit Gewalt der Poesie Boccazios in die Arme zu werfen. Die schlimmste Intrigue der Eifersucht zwingt den Spandauer Romeo zu einer Parodie der mehrfachen Garten- und Mauersprünge des liebenswürdigsten aller Montagues. Das Fenster öffnet sich. Ein niedriger erster Stock. Oben noch ein Abschied in allen philomelischen Akkorden. »Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche.« Er aber, Romeo: »Es war die Lerche, nicht die Nachtigall.« Und Plumps! Da lag er! Unten! Wohlbehalten an sich, ohne eine Spur von Verletzung, aber über ihm auch schon die rauhe Hand des Schicksals in Gestalt eines Nachtwächters. Ein Nachtwächter von Spandau! Die Instructionen dieser Nachtwächter sind schon seit dem berühmten hier residirenden Minister Schwarzenberg etwas schärfer als in gewöhnlichen Städten; die Romantik wird in Spandau wohl von der Liebe anerkannt, aber nimmermehr von der Polizei. Romeo sträubt sich, protestirt, wird aber als Dieb verhaftet. Er bietet seine »Gage«, er bietet seine eben erhaltenen Liebespfänder, er beruft sich auf seine Künstlerehre, appellirt an das ewige Recht der Liebe und der Poesie, aber was ist in Spandau das Recht der Poesie! Die muß dort Wolle kratzen, wie jedes andre Verbrechen am Philisterthum auch. Der Nachtwächter ruft Hülfe. Langheinrich bekommt Mitleid ... alle Liebenden haben ein solidarisches Gefühl, wenn sie sich gegen die schnöde Welt einander beizustehen haben. Aber was thun? Aus der Seitengasse herausspringen, den unglücklichen Montague mit Mercutioaufopferung entsetzen? Es würde ihnen allen einen Mittel-Arrest von wenigstens drei Tagen gekostet haben. Da hilft sich der kluge Musensohn selbst. Angekommen an dem Marktplatz und seinem nächtlich schlummernden Gerümpel reißt er sich aus Nachtwächtershänden los, stürzt in die dort aufgeschlagene bretterne Budenwelt und ist spurlos verschwunden. Der Häscher ruht nicht. Hülfe! Hülfe! Diebe! Die Wache am Rathhaus ruft: Heraus! Der Wächter pfeift. Am liebsten hätt' er Feuer geblasen. Die Wache schickt ihm drei Mann Succurs. An das Haus der Wittwe! Die Wittwe! Die Wittwe! Der Nachtwächter will den Einbruch, das geöffnete Fenster constatiren. Die Rothkrägen folgen, Menschen sehen in Schlafmützen aus den Fenstern. Licht! Licht! Es wird lebendig in ganz Spandau. Die Schwarzkrägen können sich unter die allgemein erwachende Neugier mischen. Man untersucht das Haus der Wittwe. Alles dort still, alle Läden geschlossen. Aber Halt! Die Thür! Seht! Ein Bohrer, ein Drath in der Thür! Diebe! Diebe! Julia Capulet oben am Fenster im Nachtgewand. »Was ist? Mein Gott!« »Madame! Diebe haben Ihr Haus angebohrt! Einer sprang aus dem Fenster! Er ist entwischt.« »Ist er entwischt? Gott sei Dank!« »Wie? Was? Schließen Sie von Innen auf!« Die Wittwe kommt. Halb Spandau umzingelt das Haus. Laternen eröffneten den Zusammenhang der unfähig gemachten Thür. Räthselvolle Thaten konnten nicht geläugnet werden. Man entbohrte das Haus und bog den Drath ab. Am andern Morgen stand ein Steckbrief auf den Entsprungenen am Thor angeschlagen. Romeo nahm aber rasch ein Engagement zwei Meilen weiter in Nauen an, die Wittwe reiste »ins Bad« nach Berlin und die Chargirten der Artillerie waren großmüthig genug, Langheinrichs Schwank, der allmälig sich von selbst lichtete, nicht noch mit schadenfrohen Zündern und artilleristischen Leuchtkugeln weiter zu erhellen.

Das militärische Dekamerone ist aufgeschlagen. Wir müssen zum »Roß des Königs« kommen.

Beim Prinzen August in der Wilhelmsstraße ist große »Abfütterung« der Offiziere. Die Waffe des Prinzen, der Feuerschlund, wurde auch in ihrer Bedienung von diesem hohen Herrn besonders werthgehalten. Der Prinz befahl heute zur Tafel, was nur ein silbernes Portepée und am Rock des Königs einen schwarzen Kragen trug .... Wohlan! sagte von den Chargirten Einer, als die Batteriepferde zu Mittag geputzt waren, heute dächten wir, sind wir vollkommen sicher. Der Oberst, der Capitain, die Leutenants essen in der Wilhelmsstraße geschmorte Cubik- und Quadratwurzeln und höchstens unser kleiner Fähnrich von Haase studirt im Zimmerman, wie wirs hätten anstellen sollen, mit a 2×b 2 neulich das Geschütz aus dem Graben zu holen, das uns beim Manöver umschlug .... Diese Rede kam wieder von Langheinrich, der endlich den Murmelthieren und Spandauer Wittwen entsagt hatte und von den Banden einer reinen, edlen, tugendhaften Liebe gefesselt war. Die schöne Pauline, Tochter eines Wirthes in der Heide am Plötzensee, war eine bewunderte Liebenswürdigkeit auf der ganzen Nordseite der Hauptstadt. Man glaubte, daß Langheinrich ihr Herz nicht ungetheilt besaß. Wenigstens widmete der Fähnrich von Haase, der ihn wegen seines umgeschlagenen Kanons wieder mit einer Menge von Vorwürfen überhäuft hatte, trotz seiner unreifen Jugendlichkeit dem Plötzensee eine solche Naturliebe, daß man von ihm annehmen mußte, er wäre Langheinrichs Nebenbuhler in der Gunst der schönen Wirthstochter. Einstweilen erregte aber die Erinnerung an den Professor Zimmermann allgemeines Behagen. Wer je »auf Artillerieschule« gewesen, kannte Zimmermann sogleich, der neben dem Rektorat eines Berliner Gymnasiums die jungen avancementfähigen Krieger in seiner speziellen Branche, der Mathematik, unterrichtete. Zimmermann, ein Original in Berlins pädagogischer Welt, hatte noch kürzlich von Langheinrich, der zu seinem Fähnrichsexamen sich rüstete, erfahren müssen, daß dieser unter den Linden an die schwarze Tafel im Auditorium ein Wurzelzeichen malte, des Examinators Bild darunter und die Worte: »Mathematisch war sein ganzer Lebenslauf; drum hing er sich an einem Wurzelzeichen auf.« Ein Prognostikon, das Zimmermann sehr ruhig aufnahm. Er ergriff den Schwamm, las die Verse, löschte sie und sein Bild und sagte nur von dem Wurzelzeichen, das er stehen ließ: »Dieses hier können wir brauchen! Herr Langheinrich, sagen Sie mir ...« und nun rächte sich der Examinator nur durch einige Fragen, in deren Beantwortung der Aspirant des silbernen Portepées stecken blieb. Langheinrich war das erste Mal durchgefallen und hatte seine Hoffnung auf ein Offiziersavancement fast schon aufgegeben ... Sein Unglück waren die Frauen und das Vergnügen. Leichtsinnig raffte er sich auch heute aus seinen Träumereien auf und stimmte in den allgemeinen Wunsch ein, die Freiheit und das herrlichste Wetter zu einem massenhaften Spazierritte zu benutzen. Man nahm dazu »die Pferde des Königs!«

Das war ein gewagtes, gefährliches Unterfangen! Ein Spazierritt mit »Staatsgut«, mit den »Rossen des Königs«! Bah! rief der versöhnte Hartmann. In der Wilhelmsstraße wird getafelt! Fähnrich von Haase hat die Stallwache, aber er wird erst gegen Abend kommen! Gesattelt! In die Bügel! Auf! Und müssen wir in der Lindenstraße »Prison besehen«, so haben wir ohnehin Nächte nachzuholen und ruhen uns einmal auf der Pritsche gemüthlich aus ... Gesagt, gethan! Zwei Feuerwerker, fünf Unteroffiziere, drei Bombardiere satteln »die Rosse des Königs« zu ihrem Privatvergnügen.

Wohin nun? hieß es, als man den Fuß schon in den Steigbügeln hielt. Auf den Gesundbrunnen! riefen die Einen. Zur schönen Pauline! die Anderen. Und: In die Jungfernheide! fielen Alle ein, noch ehe Langheinrich widerrathen konnte. Man giebt die Sporen, sprengt zur Pforte des Stallgebäudes hinaus und schwenkt links ab zum Oranienburgerthor, an den Kirchhöfen, Gärten, Landhäuschen, dem Apollosaal vorüber, zum Jägerhaus an der Panke und dann in die sandige Kiefern- und Eichenwaldung zum Plötzensee ... Unterwegs gab es um so lustigere Gespräche, je mehr es im Gewissen rumorte. Die Menschennatur betrügt sich so gern. Die Erinnerung an ein Abenteuer mit dem englischen Gesandten lebte noch in allen diesen wilden Köpfen. Ihrer vierzig Mann stark, waren die Avancirten kürzlich nach Cüstrin marschirt, um dort Rekruten einzuüben. Auf der Frankfurter Chaussee, dicht bei der »neuen Welt«, begegnet der englische Gesandte der Truppe zu Pferde. Die Marschierenden wollen ebensowenig ausweichen, wie Mylord. Mylord hält sein Vollblut an, hebt die Peitsche, giebt die Sporen und reitet mitten in den Kriegerschwarm. Dieser, statt auseinander zu stieben, verengert sich. Mylord schlägt mit der Gerte links und rechts unter die Drängenden. Es war die Zeit, wo Codrington bei Navarin gesiegt hatte und schon der Name Wellingtons allein die alte Welt regierte. Dennoch gab es hier an der »neuen« ein Scharmützel. Mylord wurde an seinen langen großbritannischen Beinen gefaßt, bügellos gemacht, herabgezogen und so übel von den Truppen der heiligen Allianz zugerichtet, daß die Erfahrenen und Aeltesten des Corps, als es hieß: » Goddam! Very well! Ich bin der englische Gesandte!« von dem verletzten Völkerrechte und dem Bruch des politischen Gleichgewichts in Europa eine Ahnung bekamen. Der Gesandte sah den plötzlichen Schrecken, verläugnete aber seinen britischen Humor nicht. Er zog die Börse, reichte mit den Worten: Soldaten, Ihr habt mich sehr gut geschlagen! Guineen rundherum Jedem hin, der etwa zugreifen wollte. Niemand griff zu. Mylord bestieg sein Pferd, klemmte die Lorgnette in's linke Auge, ritt lachend von dannen. Die bestürzte Mannschaft schließt einen Kreis, leistet einen feierlichen Schwur, um alle »Europäischen Verwickelungen« zu vermeiden, den Vorfall hier an der »neuen Welt« innerhalb der alten völlig ersterben zu lassen und wie ernst dieser Schwur genommen wurde, bewies Langheinrich dadurch, daß er Jedem, der beim Ehrenwortgeben im Rauchen fortfuhr, die Cigarre vom Munde wegschlug ... Mit diesen Erinnerungen trabte die Gesellschaft auf den Rossen des Königs in die Tegeler Heide. Jetzt erzählten sich die Staatsfrevler von Kraft- und Kernausdrücken der Kameraden. Wieder muß floriren der alte Feuerwerker Trimm, den alle in Cüstrin kennen gelernt hatten. Trimm! Trimm! Du Stichblatt jeder lustigen Laune! Du unerschöpflicher Vorrath von Unterhaltung! Um einen plötzlichen Schreck zu bezeichnen, sagte der alte Feuerwerker Trimm in Cüstrin regelmäßige »Donner! Mich krepirt im Leibe eine siebenpfündige Granate.« Ein ander Mal, als ein ehemals »Napoleonischer Deutscher«, ein Major in Cüstrin, den Trimm denn doch auch zu oft »Corporal« geheißen hatte, krepirte dem Feuerwerker wieder eine Granate im Leib und er sagte: »Herr Oberst-Wachtmeister, ich diene der Königlich-Preußischen Fahne zwanzig Jahre, aber noch keine Minute als so ein Ding, wie ein Corporal.« Eine Lieblingswendung Trimms war der fast homerische Kernspruch: »Da möchte Einem ja die pure Seele vom Leibe faulen!« Drohte Trimm mit dem Messer oder der Säbelklinge, so sagte er: »Hund, ich mache dir Was zwischen Lunge und Leber.« Um einen Menschen zu bezeichnen, der kaum etwas mehr als ein Kalb war, pflegte Trimm zu sagen: »Wenn ein Ochse gebären könnte, wüßt' ich wer dem seine Mutter wäre.« Auf einen ausrangirten alten, ihm zu eigen gewordenen Säbel hatte Trimm sich die Worte ätzen lassen: »Recht zu thun ist Jedermanns Pflicht! Anders wenigstens will es mein König nicht!« ... Unter solchen und ähnlichen Gesprächen war man endlich bis zur Jungfernheide gekommen und lenkte im Sande zum Plötzensee ein. Pauline empfing die Gäste mit nicht minderer Aufmerksamkeit für sie selbst, als für die »Rosse des Königs.« Die starken kräftigen Thiere wurden in den Stall gelenkt. Es war drückend heiß. Der harzige Duft des Tannenwaldes lockte im Freien zu bleiben, aber das niedrige, still im Grünen gelegene Häuschen bot kühleren Schatten. Man bewirthete die Gäste nach Verlangen, nur Langheinrich schien mehr zu erhalten, als er begehrte. Er war offenbar der Bevorzugte und mußte sich die Neckereien der Kameraden gefallen lassen. Langheinrich forschte nach dem Fähnrich. Lachend gestand Pauline, daß er sie oft heimsuche und schon vorgegeben hätte, er wollte nächstens im Plötzensee angeln. Man lachte, schraubte den jungen Chargirten mit den Fischen, die anbeißen würden, wenn silbernes Portepée der Köder wäre. Da war es wohl an der Zeit, daß Langheinrich einen Beweis der Liebe gab, deren Pauline für ihn fähig war. Es kam die Rede auf das letzte dreitägige Manöver. Langheinrich erzählte, er wäre in der letzten Nacht auf seinem treuen Thiere eingeschlafen. Die Kameraden wußten die Position, auf der man bei einer Reserve-Batterie unter fernem Kanonendonner als Wachtposten einschlafen konnte. Hinter dem Wedding hatte sich der Kampf zwischen den beiden von Tauentzien und dem Herzog Karl von Mecklenburg gegeneinander operirenden Corps eröffnet und war durch einen forcirten Marsch nach Südost plötzlich in die Rollberge hinübergeworfen. Die Reserve des Tauentzienschen Corps folgte langsam und kam nicht ins Feuer. Nichts abmattender als eine solche Wacht in der Sonnenhitze des Tages und unter der Furcht der Allarmirung in der Nacht. Die Bivouacs konnten nicht aufgeschlagen werden, denn von Spandau aus durch die Tegeler Heide hatte die Reserve immer langsam vorwärts zu rücken und dabei eine Umgehung über den Kreuzberg von Süden her zu gewärtigen. Langheinrich schlief ein. Er hatte sich den Zügel zur Vorsicht um den Fuß geschlungen, aber die Windung mußte sich gelöst haben, er war vom Pferd geglitten und schlafend im Walde liegen geblieben. Sein gutes Thier ist plötzlich ohne Reiter. Schon beginnt in der Ferne wieder die Kanonade. Es ist früh um Morgendämmerung. Langheinrich fehlt an der Batterie. Sein Pferd, Rinaldo, irrt hin und her im Walde und im Sande. Der treue Fuchswallach scheint zu ahnen, wie groß die Verantwortlichkeit war, der sich sein leichtsinniger Herr aussetzte; denn nicht wenig Wochen Arrest standen auf eine solche Vernachlässigung des Dienstes. Der irrende Rinaldo mit leeren fliegenden Steigbügeln sucht und sucht und entschließt sich endlich – denn fast mochte man hier Vernunft voraussehen – des schlummernden Reiters Unfall da zu melden, wo er seit Monaten fast täglich zu finden war. Rinaldo, der nicht sagen kann: Langheinrich, steh' auf, man schießt! trabt durch Busch und Baum zur schönen Pauline. Die hört am Fenster in aller Morgenfrühe das Wiehern und Stampfen eines Rosses, öffnet und erblickt den guten Rinaldo, gesattelt, herrenlos, wie auf der Flucht. Sie schreit vor Entsetzen auf. Man öffnet das Thor, läßt den Renner ein, bringt ihn in den Stall und möchte fast das gute Thier fragen, wo sein Herr geblieben. Da kommt das Schießen immer näher. Die Reserve Tauentziens soll vorrücken. Pauline, kriegskundig wie jede Soldatenbraut, ahnt die dienstliche Gefahr des Freundes, selbst wenn ihn kein weiteres persönliches Unglück getroffen hätte und der Gaul ihm nur durch Zufall entflohen wäre. Aufgemacht mit Knechten, Mägden, mit Vater und Mutter, in den Wald und Rinaldos Herrn gesucht! Man findet ihn; er liegt im tiefsten Sande, unter abgefallenen Eicheln und Blättern, die er von einer alten Eichenkrone gestreift haben mußte, als er von seinem Gaule niederglitt. Noch schnarcht Langheinrich in glückseligster Vergessenheit. Man weckt ihn. Er sieht sich um, hört das Schießen. Mein Pferd! Mein Pferd! Mein Pferd! Es ist geborgen, heißt es, im Stall am Plötzensee. Wie athmete der Schläfer auf! In einer Viertelstunde hatte er seinen braven Gaul wieder. In einer halben rief das Signal zur Sammlung aller Mannschaften und zum Rückzug. Hätte Langheinrich gefehlt oder er wäre unberitten am Posten erschienen, es würde ihm mehrere Wochen Gelegenheit zu einsamen Monologen in der Linienstraße gegeben haben .... Bravo! riefen die Kameraden nach dieser Erzählung. Paulinen wurde ein Hoch gebracht, die Gläser wurden ausgetrunken und allmälig der Heimritt angetreten. Wie streichelte Pauline den braven Rinaldo, der damals die Fürsorge und Obhut der Geliebten wach gerufen hatte! Noch brach sie Haselnußzweige und steckte sie da und dort unter das Riemzeug und die Sattelgurte des guten Braunen, um ihm die stechenden Fliegen abzuhalten .... Rinaldo schlägt den Schweif wie dankend und scharrt mit dem Vorderfuß. Man steigt auf, giebt die Sporen und scheidet .... Ein halbgelungenes Wagniß giebt für die zweite Hälfte des Frevels doppelten Muth. Den Herren Geschützführern war ihr dienstwidriger Spazierausritt mit den »Rossen des Königs« zur Hälfte gelungen, der Heimritt stimmte sie übermüthig. Batterietrab! hieß es. So fliegen sie erst durch die engeren Wege hin. Sie biegen in die Kunststraße ein in zwei Zügen und nun auf Commando: Batteriegallop! Es kitzelt der linke Fuß die Weichen und die Thiere sprengen rechts an zu einem Ritt, der den Staub der Straße aufwirbelt. Aber hilf Himmel! Bei einem Ausbiegenmüssen an schweren belasteten Wägen vorüber stürzen drei Reiter, unter ihnen Langheinrich. Der junge Don Juan im Doppeltuch ist für sich glücklich und bleibt unversehrt, aber sein treues Roß! Rinaldo, das Pferd des Königs, prallt mit dem Kopf an einen Chausséestein und bleibt augenblicklich für todt liegen. Alles hält erschrocken an, springt ab. Ein Roß, das sich von einem Sturz nicht gleich erhebt, muß todt oder zum Tod verwundet sein. Da tröpfelt Blut! zeigt man. Rinaldo ist todt! Leichenblaß und rathlos stehen die übermüthigen jungen Krieger, an den Zügeln die dampfenden Pferde haltend. Langheinrich will noch einen Scherz über Geographie, Längenmaße, numerirte Chausséesteine mit so und so viel Quadratfüßen wagen, aber das Wort stockt schon im Munde. Sein Rinaldo regt sich nicht. Er fäßt des Rosses Puls, ruft: es ist nicht todt! aber auch eben so rasch antworteten die Andern: Seht nur das Auge! Das Auge! Langheinrich starrt. Der Anblick, der sich ihm darbot, war entsetzlich. Dem guten, treuen, lieben Rinaldo war sein schönes, schwarzes, glänzendes Augenoval aus der Höhle gedrängt; furchtbar anzuschauen blutete es. Langheinrich fühlt ein Zucken, als sollt' er zusammensinken oder wie »Corporal« Trimm gesagt haben würde, als »crepirte ihm in der innersten Leber eine siebenpfündige Granate.« Er beherrscht seinen Todesschreck, greift nach der Kandare, nimmt sie sanft vom Haupt des Thieres, lüftet zart den Sattelgurt. Man fleht und wartet, man zittert um Rinaldo, das »Roß des Königs«, und um die allgemeine Schuld. Da springt das Thier auf, aber das Auge bleibt an der Höhle hängen, blutet. Jede Hülfe scheint unmöglich. Man muß das unendlich rührende Schweigen eines duldenden Pferdes kennen, um zu begreifen, wie dem so bitter Bestraften dieser Anblick die Seele zerriß. Langheinrich ist der erste, der sich sammelt. Er streichelt sein Thier, spricht kosende, liebevolle Worte. »Rinaldo! Mein alter Hanns, was machst du mir?« Menschen umstanden schon die Scene. Alles Aufsehen war zu vermeiden. Zurück, zurück zu Paulinen! Die Andern wandten die Rosse, Langheinrich führte Rinaldo am Zügel. Langsam und halb lahm ging es in den Wald zurück. Die Freunde dort sehen von ferne den Trauerzug, stürzen den Rückkehrenden schon entgegen; Pauline findet ihr mit Reisern geschmücktes, geliebtes Roß so mit gesenktem Haupte im Sande schleichend wieder. Was ist geschehen? Rinaldo –! Ruhig! Ruhig! Langheinrich weist jede Berührung des Thieres zurück, verlangt Leinen, Essig, Wasser, schüssel- und eimerweiser. Man bringt das Verlangte. Langheinrich ersucht die Kameraden des Thieres Kopf zu halten. Andre heben den Vorderfuß. Er nimmt das befeuchtete Leinen, reinigt das Thier rings um das entquollene Auge vom Blut und beginnt nun sanft und milde und gelassen das Auge in die Höhle zurückzudrängen. Rinaldo hält aus mit der himmlischen Geduld, die dem Thiere eigen ist, wenn es leidet. Alles steht starr und schweigsam. Laßt los! ruft Langheinrich jetzt mit Entschlossenheit. Die Kameraden springen zurück, Rinaldo schüttelt sich. Die Operation war gelungen. Das Bluten hörte auf, aber ... fügte Langheinrich, dessen Veterinärkenntnisse bewundert wurden, hinzu: Mein armer Rinaldo, für immer wirst du blind werden? Pauline weinte. Die Zeit zur Klage war gemessen. Das Diner in der Wilhelmsstraße konnte zu Ende sein. Man ritt zurück; nicht im Batterietrab, nicht im Batteriegalopp; man ritt, wie Entdeckung fürchtende Sünder scheinbar ruhig am Hochgericht reiten mögen. Im Stall angelangt, trifft man schon den jungen Fähnrich von Haase, den Angler vom Plötzensee. Die kleine Cadetten-Autorität mit der Fistelstimme tobt und rast, schreit Hochverrath am »Königsgut!« überschreit sich und droht mit allen Schrecken der Linienstraße. Man mußte vorerst ruhig seinen Grimm hinnehmen und auf zwei Dinge sinnen, einmal, ihm den Zustand Rinaldos zu verbergen und zweitens ihn auf irgend eine Art zum Mitschuldigen zu machen. Daß er schon beim Ausritt trotz der Stallwache gefehlt hatte, war ein Umstand, der sein sichres Auftreten milderte. Dem armen Rinaldo ward der Gurt aufgeschnallt, der Sattel abgenommen, die Halfter aufgelegt. Man giebt sich ein leichtes, gewissenruhiges Ansehen, trällert, spricht vom Diner in der Wilhelmsstraße, von gekochten Cubikwurzeln mit Fischkottelets, von den Ikleien, Steckerlingen und Stinten im Plötzensee. Fähnrich von Haase stutzt. Er mußte in die reizende schlanke Pauline mit dem ganzen Feuer verliebt gewesen sein, das bisher in den Mauern des Cadettenhauses in der Klosterstraße sich hatte nur in Phantasieen auslodern können. Es galt nun einen Thierarzt zu rufen; denn Rinaldo stand still und traurig vor der Krippe, fraß nichts, senkte den Kopf und legte ihn zuweilen nur leise, wie ermüdet, wie von Hitze gequält an die Wand, als suchte er Kühlung für die tief unterm Auge geheim brennende Wunde. Nun mußte sich Langheinrich, ohnehin für sein ganzes Leben erschüttert, sammeln und zu einem Opfer entschließen. Er trat zum Fähnrich von Haase, der eben einen Roman aus der Tasche gezogen hatte und sich auf der Stallpritsche zu strecken und zu langweilen begann. Herr von Haase, sagte Langheinrich, wenn Sie wollen, will ich die Stallwache für Sie übernehmen und die Nacht statt Ihrer hierbleiben. Der Fähnrich fixirte ihn; schlug sein Buch zu, besann sich, ob hier eine Falle, sah über die kleinen hohen Fenster hinaus die schöne goldne Abendsonne draußen so lockend blitzen, dachte an die schlanke Pauline, an einen Besuch bei der Angebeteten ... Langheinrich wußte, welch' ein Opfer er »dem Rosse des Königs« brachte. Und richtig, Fähnrich von Haase verwünschte das verdammte Odem der Ställe, dankte für die Bereitwilligkeit Langheinrichs und schlüpfte mit seinem seidnen Taschentuche, dem Roman, der Anzeige des Stallfrevels und seinem liebetollen jungen Herzen davon. Er wird sich die Leimruthe holen! lachten die Kameraden hinter ihm her und schienen in der Freude, ihren heutigen Chef nun zum Mitschuldigen zu haben, nicht übel Lust zu bezeugen, Langheinrich damit zu schrauben, daß am Plötzensee heute im Trüben würde gefischt werden. Langheinrich aber verließ sich auf die Liebe seines Mädchens und lebte nur für seinen Rinaldo. Der Thierarzt wird gerufen, kommt, besieht den Schaden, schüttelt sehr den Kopf, spricht sehr von Anmeldung, verdorbenem Gut des Königs, Unheilbarkeit ... Man bittet, fleht, man schmeichelt ... Der Thierarzt holt Balsam zu Einreibungen und schreibt ein Attest: Der Fuchs des Geschützführers Langheinrich müßte auf einige Zeit vom Dienste dispensirt werden, er litte an »verschlagener Druse.« ... Nach einigen Wochen war Rinaldo blind. Langheinrich verlor für immer den Leichtsinn seiner ersten Jugend. Pauline wurde sein Weib. Er gab die Carriere auf, nahm den Abschied, legte sich auf dem Lande eine Oekonomie zu und kaufte, als eines Tages mehre schadhafte »ausrangirte« Pferde der Artillerie verkauft wurden, sich seinen treuen Rinaldo, den er erblindet bis in sein hohes Alter pflegte.


Solche und ähnliche, zahllos vorgekommene und umständlich berichtete Geschichten wurden ihrer Abenteuerlichkeit wegen mit gierigem Ohr belauscht. Der rothe, durch sie sich hinziehende Faden von Liebe und vom Reiz schöner Frauen entschlüpfte der Kindeshand und doch fehlte eine gewisse geheimnißvolle Wirkung nicht.

Herr Cleanth ging von der Ansicht aus, ein Knabe müßte früh den ganzen Reiz der Weiblichkeit empfinden. Und hatte der Weise nicht Recht? Worin liegen die Gefahren der späteren Irrung mehr, als in diesem bisher noch nicht gekannten Zauber weiblicher Natur? Ein früh an anmuthige Geselligkeit, an schöne Lebensformen, ja selbst an rauschende seidne Kleider und malerische Trachten gewöhnter Knabe stumpft den Reiz ab, den ihm das Anstreifen an Frauenwesen verursacht, wenn er solches erst in späteren Jahren erfährt. Ein wilder, blindlings den Frauen nachrasender Freund gestand dem Erzähler einst mit tiefer Wehmuth: »O mein Freund, ich bejammere, was ich von Phantasie, Glauben, Lebensmuth und Lebenskraft an die Frauen verlor! Ich hatte nie in der Nähe zarter, schöner, froher Mädchen gestanden, ich hatte nie diese zauberische Berührung von Atlas, Sammet und Seide empfunden, nie mich gestreift an einem schönen Arm oder an einem Handschuh, der zierliche Finger. umschloß. Endlich erwachte im Jüngling diese glühende zurückgehaltene Sehnsucht zum Weibe. Ich hatte das Wissen in seinem schweren und nur halbbelohnenden Erwerbe hinter mir, nun wollt' ich ein höheres Licht, das wahre Leben, wollte die Schönheit und das Herz ... wohin führte mich der Taumel dieser Sehnsucht? Es mag unglaublich klingen, aber es ist wahr, ich suchte überall, wo nur ein Weib mir begegnete, mein tiefstes Bedürfen nach weicher, schmiegsamer Hingebung, mein tiefstes Hangen und Bangen nach dem Geheimniß der glücklichen Liebe zu befriedigen. Ich liebte edle Mädchen, aber der Roman des Hoffens und Werbens entnervte, tödtete mich. Ich wollte besitzen. Nicht besitzen um des flüchtigen Genusses willen, nein, ich wollte den Edelstein des Frauenzaubers selbst im Schutte suchen, vor dem mich schauderte. Putz, selbst da, wo keine Schönheit war, reizte ein Auge, das in schönen Formen nie Kunde und Uebung hatte. Ich fühlte das Bedürfen, irgendwie dem Weibe nahe zu sein, irgendwie in diese Existenz einer andern Welt einzublicken, irgendwie an diesem so glücklichen, neutralen Prinzipe in allen Alternativen des Denkens und des Lebens mich anzusiedeln. Wie ruht es sich so still an einem Haupte aus, das allein nur an dich denkt, in diesem Augenblicke wenigstens auch ihr Vergessen in dir nur findet! Im Doppelleben der Menschheit als Mann und als Weib liegt eines der Zauberworte, das uns die Thür des Jenseits entriegelt. Dies wollt' ich hören, belauschen, selbst aus wilden und rohen Klängen abhorchen. Wen liebt' ich nicht! Himmel, und doch schlug selbst aus der Asche bemitleidenswerther Frauen noch manchmal eine reine Flamme auf, rührte mich und konnte mich und sie auf Augenblicke heben. Ein an Liebe reiches Herz bedarf der Liebe. Nein! Hätt' ich als Knabe den schönen Frauen und ihrem Sinne, der sich zu schmücken liebt, näher gestanden, ich wäre vor den trübsten Erfahrungen bewahrter geblieben.«

Herr Cleanth schien ähnlich zu denken. Sein Malertalent mochte zweifelhaft sein; Lebenskünstler war er gewiß. Er verlangte gefällige Tracht, gewandtes Benehmen, conventionelles Entgegenkommen, Artigkeit gegen alle Frauen. Er selbst gab das Beispiel der erlaubten Galanterie. Er hielt seine Zöglinge an, die Worte zu wählen, den Körper in Schick zu richten, Damen die Hände zu küssen, gewandte Formeln der Höflichkeit zu sprechen. Es wurden Gesellschaften gegeben, wo die Mädchen mit den Knaben zum Spiele sich vereinigten. Er beförderte die Besuche grade bei solchen Familien, wo junge ausgelassene Mädchen den Ton angaben. Ganz gegen die neue Lehre der Erziehung war Herr Cleanth für die Kinderbälle. Ihm schien bei diesen jungen Stutzern und kleinen Koketten hinlänglich gesorgt, daß noch Niemand die Gefahr eines Ueberreizes lief. Zur Liebe waren ihm die beiden Geschlechter der Menschheit einmal bestimmt, die Eitelkeit und die Galanterie waren ihm Erbschaften unsrer Natur, wozu sich den Vortheil entgehen lassen, daß ein Knabe bei Zeiten sich an den Reiz der Weiblichkeit gewöhnt? Cleanth ließ seinen Sohn tanzen, französisch sprechen, Damen die Hände küssen, die Kinderbälle besuchen und hat einen vortrefflichen, tugendhaften Jüngling, einen sittenreinen, noch jetzt jugendlichen Mann aus ihm erzogen.

Der Gespiele, der nur dann und wann sein Lebensparadies betreten durfte, sah in so viel Herrlichkeit meist doch mit entsagendem Blicke ein. Wie konnt' er sich ganz aus seiner häuslichen Erde entwurzeln! Das Tanzen war ohnehin den Eltern ein eben so arger Teufels-Gräuel, wie die Komödie. Der Gespiele sah den Freund über die geglättete Diele schweben und sich anmuthig im Kreise drehen. Sein Auge füllte sich darüber oft mit Thränen. Wie gewandt entschlüpfte dem Freunde die französische Phrase: A vot' santé, chère tante! Er sollte sie nachsprechen, sollte auch die Reihe herum gehen beim Dessert und jedem Erwachsenen die Hand küssen, wie es Herrn Cleanths Erziehungsmethode verlangte. Er versuchte es. Eine alte Tante schalt, eine andre lachte, der Knabe wurde eines Mittags verwirrt, erzürnte sich, trotzte, brüskirte die Gesellschaft, stürzte in ein Nebenzimmer und schlug unter Thränen die Thür zu, um sich zu entfernen. Es war Gelegenheit wieder zu einer Ohrfeige, wie sie Herr Cleanth dem Knaben schon einmal gegeben. Herr Cleanth verlegte sich aber diesmal auf ein vernünftiges Zureden. Er schien etwas von der wahren Ursache der Verzweiflung des rebellischen Jungen zu ahnen. Es war nicht allein das aristokratische Lachen über sein Mißgeschick, das den Knaben reizte, es war dessen angeborne plebejische, schon deutschthümelnde Abneigung gegen das damals sogenannte »Franzenthum«. Die beiden Tanten waren vornehme Polinnen, die sich in der ganzen bekannten Förmlichkeit russisch-polnischer Etikette gaben.

An der zunehmenden Blickschärfung für menschliches Thun und Treiben konnte es nicht fehlen. Die Charaktere wurden durch die Contraste erkannt und manche belauschte Kritik der Einen erleichterte die Auffassung der Andern. Das sah der Knabe wohl schon früh, wie sich alles dem Mächtigen zudrängte, dem Glänzenden unterordnete, die tiefste Ergebenheit nach der Sonne der Gunst sich neigte. Der Vortheil stand da als Regler aller Lebensverhältnisse. Mancher Stachel der Zurücksetzung oder des erlittenen Unrechtes blieb lange in der verwundeten Kindesseele haften. Beklemmend war das Durcheinander der Interessen, das Laufen und Rennen der Menschen scheinbar um Nichts und dabei eine Geschwätzigkeit, die für jene Kreise durch etwas speziell Lokales noch eine besondere Färbung erhielt. Die Berliner hofräthliche Emsigkeit, die innere Leere des windigsten charakterisirten Nichts, die Abhängigkeit von einigen aufgerafften und auch gar zu sicher vorgetragenen Phrasen, eine blindlings angenommene Tradition, eine süße Unterwürfigkeit gegen Obere, ein ekelhaftes Zum-Mund-Reden von einer Gesellschaftsstufe zur andern, Sucht nach Auszeichnungen und leeren Titeln, jene Ordensverleihungen, die im Januar wie Schulprüfungen und Zeugnißertheilungen erwartet wurden ... alles das gestaltete sich schon früh dem Knaben wie das Wüsteste und Leerste und erfüllte ihn mit einer umso größeren Angst vor der Welt, als seine ursprüngliche Lebensheimath zwar die Armuth, aber eine frische, gesinnungsvolle, lebendige Ehrlichkeit gewesen war. Der biblische Vetter Wilhelm schwebte so hoch über dieser Lüge und Narrheit, er wußte so treffend die Endlichkeit dieses glänzenden Jammers zu belächeln, er wußte so die wahre Wahrheit und das wahre Leben nur an die ewige Quelle des Lichtes und der Erlösung zurückzuleiten, daß der Knabe in die vornehme Welt zwar mit mächtigstem Reiz, aber doch wie gegen Lug und Trug von unsichtbaren Händen gefeit eintrat und bei allem Durcheinander der glatten Schmeichelei und leeren Vergnügungslust sein Inneres wie in einer harten Schaale gegen den gewaltigen Druck der Außenwelt barg. Eine Abenderzählung des Vaters vom Wintersturm auf der pommerschen Heide, von dem Prallschuß bei Leipzig, von einem Bivouac im Ardennerwalde erkräftigte den Knaben, daß er nicht zagte und bangte in dem Getändel von Formen, die ihm ungeschickt gelangen oder die man ihm als Fallen legte, um sich über seinen Sturz zu belustigen. Ja auch der mit Liebe und kindlicher Inbrunst erfaßte Gottesgedanke half ihm oft hinweg über solche Unbill und gab ihm beim einsamen stillen Nachhausegehen von so vielen nur halbverstandenen rauschenden Gesellschaftsleerheiten einen Trost und eine innere Erhebung, so voll, so mächtig, daß nach dem betrübtesten Weinen immer wieder die Kraft zurückkam und der Muth des frohen Selbstvertrauens sich stählte.

Und lag auch darin nicht eine Erhebung, daß der Knabe mitten in dem prächtigen Gewebe vom Cirkel-Laufen, Blind-Rennen, devotesten Grüßen, Schmeicheln, Speichellecken so vielerlei schwarzen Schicksalseinschlag bemerkte? Es ist ein schaudervoll grausames Wort, das den über die geraubte Tochter jammernden und über die von der Tochter vergeudeten Reichthümer schier verzweifelnden Shylock tröstet, wenn er zu Tubal von des Antonio untergegangenen Schiffen sagen kann: »Ha, andre Leute haben auch Unglück!« Aber es giebt Lebenscompensationen, die man sich nicht gesteht, die aber das Schicksal spendet. Man fühlt diese Ausgleichungen der ewigen Nemesis, ohne sie herzlos anzurufen oder rachelechzend zu bejubeln, wie Shylock. Andre Leute haben auch Unglück! Andre Leute entbehren auch, auch die Reichen haben kummervolle Nächte, auch sie müssen sich wieder Größeren unterwerfen, noch Mächtigeren dienen, auch sie werden gezerrt von den zitternden Armen ärmerer Verwandtschaft, die sich an sie klettet und Hülfe für ihren Ruin verlangt. Da waren ehrenvollgenannte Namen. Jedes Geschäft wurde ihnen zugewiesen, jede Vermittelung ihnen anvertraut. Plötzlich ein Flüstern, wenn man sie nannte. Es waren Kaufleute, die eben fallirt hatten. Sie entflohen oder wanderten in Gefängnisse. Das Wort: Bankrott! weckte dem Knaben erschütternde Vorstellungen wie vom namenlosesten Menschenweh. Andre Namen wurden plötzlich ganz verschwiegen. Bald klärte sich's auf, daß ihr Stand, ihr Ehrgefühl, ja ihre Liebenswürdigkeit sogar nicht gehindert hatte, daß sie Verbrecher wurden. Von unglücklichen Ehen wurde gesprochen, von Scheidungen, von mißrathenen Kindern. O diese Welt war immer im Fluß, immer in schwatzhafter Bewegung, immer charmant und liebenswürdig, aber plötzlich stockte sie. Es war etwas geschehen, was alle erschütterte, eine That oder ein Schicksal war dazwischen gefahren und schmerzlich genug fühlt schon ein Kind, daß jener Schlag, der die Pause am längsten andauern ließ, nicht einmal der Tod war. Ach, der Tod! Man sah Thränen, hörte Klagen. Aber für die rothen Gewänder rauschten schwarze auf. Die Geschwätzigkeit des Glücks wurde abgelöst von der Geschwätzigkeit des Unglücks. Man hörte prahlende Reden wie man ertragen, wie man heilen, dulden, sich einrichten wollte. Und das Kind sah, welch' ein Behagen aus dem neuen Zustand floß. Die Erbschaften wurden besprochen. Oft entwickelte sich aus dem Tode eine noch größere Pracht, eine noch größere Freude. »Lachende Erben« waren dem Kinde ein Wort, so häßlich wie das Lachen der Lachtauben, das er nie hören mochte. Lachende Erben! Er hatte ein Bild an allen Buchbinderläden gesehen, wie ein berüchtigtes reiches sogenanntes »Hundefräulein« einen geliebten verstorbenen Favorit-Mops begraben läßt und den eingeladenen, mitleidbezeugenden Pöbel mit Kuchen und Wein traktirt. So kamen ihm alle lachenden Erben vor. Ein Hund auf einem Katafalk mit Lichtern und ringsum lachende Heuchler, die zu weinen vorgaben und Kuchen aßen und Wein tranken. Ein Todter war in der vornehmen Welt oft längst vergessen und nur das Kind, das ihm völlig fern stand, trauerte noch um den alten Herrn, der immer dort am Fenster bei den Hyazinthen gesessen, so lustig den Hut gehalten, so lächelnd gescherzt, so präcis nach der Uhr gesehen hatte, an deren Kette man spielen durfte, dann so gegangen war und einst ging, um nicht wiederzukommen.

Je stärker die Angriffe werden, die das Leben auf die Kinderseele richtet, desto besorgter wird sie um sich blicken nach Schutz und Beistand. Das Gefühl, daß diese Welt von Haß und Feindschaft wimmelt, weckt das Bedürfniß der Liebe. Die noch schwache Haltlosigkeit des ersten bewußt und klarwerdenden Gemüthslebens sieht sich überall um nach treuen Armen, an die es sich lehnen, sich schmiegen, mit denen es sich verschlingen möchte. Wer gedächte nicht dieses sehnsüchtigen ersten Liebegefühls! Der Jüngling stößt das Nächste zurück und will die Welt umfassen, das Kind umfäßt das Nächste wie die Welt. Sein erstes Spielzeug ist sein Freund und Gefährte. Der todte hölzerne Hund, das bärtige Kätzchen von papier maché gewinnen des kaum lallenden Kindes erste Zärtlichkeit. Bald zertrümmert die wilde Menschennatur, wie auch in spätern Jahren oft grausam genug, ihr erstes Spiel der Liebe. Die süßen Himmel werden gestürzt, die stumme Gegenliebe wird zerrissen, immer Neues will sich der flatternde Sinn gewinnen, um es, ausgekostet und genossen, für wieder Neues auszutauschen. So wird der Arm um einen Gespielen, so um eine Nachbarin geschlungen und wie bald sind sie vergessen... Der Knabe empfand sogar zwei Neigungen zu gleicher Zeit; ein Fall, der seinem Doppelleben entsprach. Die Liebe in der Armuth galt einer Tochter Dorichs, des Selbstmörders in der Sattelkammer; die Liebe im Reichthum war ein lebhaftes, witziges, ausgelassenes Mädchen, eines Rathes Tochter. Beide Phantasieen ähnelten sich zum Verwechseln. Sie wurden mit demselben Herzen, mit demselben Munde verehrt, die Eine auf den dunklen Schleichwegen des akademischen Thurmes und im Wiesengras der Alltagswelt, die Andre sonntäglich auf dem Teppich ihres väterlichen Salons. Beide hatten dasselbe krause, schwarze, weiche Haar, beide kurz geschnittene Schwedenköpfe, beide hatten feurige braune Augen, beide dieselben weißen Zähne, dieselben kleinen Stumpfnäschen, beide waren behend wie Gazellen, älter als der Knabe, der in beiden Körpern auch nur die eine Seele liebte. Oder er liebte in ihnen nur sich selbst, wie ja jede Liebe damit beginnt, daß man ein Wesen findet, in dem wir die Hoffnung haben, mit unserm Ich unterzugehen, aber auch mit dem ganzen Ich, gestiefelt und gespornt! Liebe ist der verklärte Egoismus. Wenigstens ließ sich jene Doppelliebe kaum anders deuten. Von beiden Wesen fand sich der Knabe bevorzugt ... zum Necken, zum Gehänseltwerden; denn was ist wiederum Liebe anders, als das treuste Dienen und Apportiren? Diese beiden Mädchen, reifer, älter, als ihr Freund, schenkten im Spiele nur diesem ihre Gunst oder wußten, wenn sie grausam genug Andre wählten, vollkommen, wie sie ihn verletzten. Und auch der Haß, wenigstens Zorn und Schmollen, ist eine liebende Form bei so junger Neigung. Wenn Eines auf den Andern in wilde Wuth geräth, wird man seine Püffe da, wo man liebt, viel kräftiger einsetzen, als sie zwischen Wesen fallen, die sich gleichgültig sind. Mit der Tochter des Erhenkten schwärmte der Knabe unter den Sternen und mit der Tochter des Rathes unter duftenden Blumen. Beiden Freundinnen gehörte ein Herz mit demselben Pulsschlag und, wenn auch fast unmöglich, doch mit derselben Treue.

Wo Liebe ist, ist Leid. Und das Leid der Liebe kommt nicht allein. Wo die einen Blüthen welken, sinken ungeahnt ihnen die andern nach. Das erste große schmerzliche Weh sollte jetzt den Knaben treffen, der Verlust seines Paradieses. Nicht durch eigne Schuld traf ihn dieser Schicksalsschlag. Das Wetter fuhr aus den Wolken nieder, nachdem schon lange selbst im lichten Sonnenschein ferne Donner das Nahen eines Sturmes verkündet hatten. Ach diese Zeichen kamen weither, vom fernen Lande des Ostens. Im Reich des Czaaren lebte Herrn Cleanth ein Bruder, ein Kriegsoberster des Kaisers Alexander. Schon lange hatte es geheißen, der spekulative Maler sollte ganz mit der deutschen Romantik brechen, sollte die Freimaurerei, die reine Humanität, Alles aufgeben und nach Rußland ziehen, dort das neue Wunder der Zeit, die Lithographie, lehren, Karten des Czaaren-Reiches zeichnen, der Regierung in ihren militärisch organisirten Culturspekulationen zur Hand sein. Noch sträubte sich das deutsche Gemüth gegen die polnischen Wälder, auf die es zunächst abgesehen war. Aber der Kriegsoberste des Czaaren schickte seine Gattin, seine Schwägerin; es kamen Neffen der Brüder, die schon in Warschau erzogen waren und polnische Sitte, polnischen Ehrgeiz mitbrachten.... Cleanths Hausstand erweiterte und vergrößerte sich durch diesen Zuwachs wunderbar. Polinnen, adlige, stolze, anspruchsvolle Wesen brachten Wägen, Rosse, Bediente und jene den Sarmaten eigne luxuriöse Umständlichkeit mit, die daheim alles das, was man nicht gerade in der Fremde kauft, viel besser hat. Das bauschte sich, das rauschte, das mäkelte, das flanirte durch die »Boutiken«, die Gold- und Silberläden, die Modemagazine. O, hieß es, in Deutschland kann man nicht heizen, in Deutschland kann man nicht kochen, in Deutschland kann man nicht waschen, ja auch nicht singen, nicht tanzen, nicht gehen und stehen. In Warschau und Petersburg war allein nur noch die Cultur zu finden. Wer hätte nicht von den vielen beurlaubt reisenden Titular- und Collegienräthen auch noch jetzt selbst in Italien die Ueberzeugung gewonnen, daß nur in Petersburg die Goldorangen glühen! ... Man hatte dies russische Selbstgefühl in den Damen, das polnische in den Kindern und Bedienten. Bei beiden Partheien gab es sich in solcher Lebendigkeit, daß das ohnehin damals zurückgehende Deutschland wie in Nichts verschwand. Willusch, ein Spielgenosse, Neffe Cleanths, ergriff einst bei Tische eine Gabel und rief, als von den Polen und ihrem »verschuldeten« Geschick die Rede war, mit Verzweiflung: »O ich mir möchte stechen diese Gabel in die Brust, wenn Ihr beschimpft mein Vaterland!« Die Andern lachten und wehrten dem Knaben, der später bei Ostrolenka kämpfte. Herr Cleanth bestrafte sogar den jungen Polen. Dem deutschen Gespielen aber blieb Willuschs Drohung unvergeßlich. Sich erstechen um sein Vaterland! Untergehen um eine Idee! Heilighalten etwas Verspottetes!.. Dies Wort eröffnete ihm einen Blick auf Gebiete, die von Herrn Cleanths Hause so entfernt lagen, wie die Turnerei der Haasenheide von dem Salon eines Ministers. Schauer der glühendsten Ideen-Ahnungen überrieselten das Herz. Diese heroische Hingebung eines Kindes an das Schicksal Polens schloß einen geheimen Bund mit der wachsenden eignen Erregung für öffentliche Dinge.

Herr Cleanth widerstand den Reizungen des Czaaren nicht. Der Czaar übertrug ihm vorläufig die Direction einer neuzustechenden Karte Polens und gab ihm außerdem die bestimmte Zusicherung weiterer Unterstützung, wenn er im Fache der praktischen Kunstanwendungen in Warschau Etablissements errichten wollte. Der Drang nach Bewährung seiner Umsicht und Regsamkeit lebte zu mächtig in dem seltnen Manne. Berlin bot, seine Kenntnisse geltend zu machen, keine Gelegenheit ohne das Risiko, das er fürchtete. So siegte denn der Entschluß, den verwandten russischen Damen und dem kleinen polnischen Willusch zu folgen. Das schöne große Palais am Leipziger Achteck wurde der Regierung verkauft, noch ein märchenhaft schöner Winter wurde genossen mit seinen Zeichnenstunden, seinen geselligen Spielen, seinen Weihnachtsfreuden, seinen strengen, aber unverstandenen Anleitungen zu einer »immer nur praktischen« Lebensphilosophie, seinen Mißverständnissen zwischen strengem mathematischen Conservatismus und sich schon meldender ungebundener Romantik, seinen Neckereien durch die ausgelassensten Mädchen und der geduldig hingegebenen Schwärmerei für seine Doppelliebe ... dann nahte der Frühling, im nahen Thiergarten sproßte und keimte es über dem vermoderten Laub, auf der Louisen-Insel lagen Schneeglöckchen und Krokus wie von Künstlerhand unter düstere Blut-Tannen und Trauerweiden ausgestreut ... die Stunde des Abschieds rückte heran.

Der furchtbarste Schmerz zerriß des Knaben Brust. Er sah nicht etwa nur die Herbigkeit des Verlustes allein, wenn sich ihm die Thür seines Paradieses plötzlich zuschlug und die Wonnen dieses Umgangs nicht mehr waren, er sah weit mehr nur die Trennung von seinem geliebtesten Freunde und Gespielen selbst. Von diesem zu lassen, von seinem halben Bruder, von diesem fröhlichen Gesellen, der nie den Kopf hängen ließ, immer lachte, immer strebte, immer mit blitzendem Auge ins Leben sah, von diesem Namensbruder mit den frischen Wangen, dem braunen Auge, dem dunklen Haar, seinem eignen Widerspiel in allen Dingen ... scheiden .... Der Verlust war herzzerreißend. Noch hielt die Kraft an, als Briefe versprochen wurden, baldige Rückkehr, Besuch; als aber der Reisewagen wirklich hochbepackt vor der Thür stand, als das Horn des Postillons aus der Leipziger Straße sich meldete, die Rosse einlenkten zum frühlingsgrünen Achteck und nun vom gemüthlich pfeifenden Postillon sie eingespannt wurden, als es dann zum Abschied ging, zur letzten Umarmung ... da brachen alle Schleusen der zurückgedämmten Wehmuth und so unaufhaltsam flossen die Thränen der innigsten Liebe, daß Herr Cleanth über die Heftigkeit dieses Schmerzes selbst erschüttert wurde und seine üblichen Seneca-Regeln vom Beherrschen der Leidenschaften und alle stoischen Phrasen aus der Loge Royal-York diesmal voll Güte unterließ und in wirklicher Bewegung von seinem Halbsohne Abschied nahm .... Der Wagen rollte von dannen, der Postillon blies, Tücher wehten .... Der Knabe sah um sich ... er war allein mit seiner weinenden Schwester .... Da lagen wohl Geschenke genug von Dingen, die man nicht hatte mitnehmen können, Spiegel, sogar Bilder, goldne Rahmen für die Eltern, auch Bücher, sogar die prächtige Beckersche Weltgeschichte, die der loyale, auf die russischen Voraussetzungen schnell eingehende Herr Cleanth als ein vom Czaaren verbotenes Buch zurückgelassen hatte ... Konnte ihn davon etwas trösten? Er hatte, zehn Jahre alt, den ersten wahren Schmerz empfunden.

Daheim erwartete ihn sein altes, angebornes Loos. Die Eltern führten keine Scene auf, aber sie fühlten das, was die Bildung durch eine Scene ausdrückt. Die Bildung würde die trauernden Kinder an ihr Herz gezogen und geliebkost haben. Diese Eltern aus dem Volke zogen ihre Kinder nicht an ihr Herz, liebkosten sie auch nicht mit Worten; aber das Weh fühlten sie doch und ihr Mitleiden sprach sich in Thaten ohne Worte aus. Sie wagten den Umzug aus einer engen unerträglich gewordenen Wohnung in eine neue und größere, die sie bezahlen mußten. Sie wagten das Unglaubliche, sie gaben den Knaben sogar in eine lateinische Schule.

Eine neue Welt öffnete sich. Ein neues Leben begann.

In der Osterwoche wurde der düstre Thurm in der Akademie verlassen und dicht an den alten Schadow'schen Ziethen gezogen. Nach Ostern führte der Vater seinen Sohn zu jenem Zimmermann, dem mit dem Wurzelzeichen. Er war Rector eines blühenden Gymnasiums am Friedrichs-Werder. Nach dem Abschied von seinem geliebten Freunde war der Knabe noch in allen Nerven so erschüttert, so im Innersten wie erweicht, daß er die Ermahnungen des kleinen, runden, wohlgenährten, seltsamen, komischberufenen, aber warm empfindenden Mannes, des eigenthümlichsten Pedanten mit der großen Nase und dem verwickelten Periodenbau gleich beim ersten seiner sanften Worte mit ausbrechendem Weinen aufnahm. Die gute Sitte, die ihm die polnisch-russische Salonherrschaft zwangsweise beigebracht hatte, wirkte noch so in ihm nach, daß er auf Zimmermanns Worte »Und nun, mein Sohn, gieb mir auf dies Versprechen hiermit feierlichst deine Hand!« nicht die Hand bot, sondern die zarte, weiche, wohlgepflegte des liebevollen Schulmonarchen ergriff und sie voll Inbrunst an seine Lippen drückte. Zimmermann lächelte über diese seltsame Ausnahme von der Regel. Aber der bald genug wieder verwildernde und in neuen Eindrücken sich zu besserer geistiger Gesundheit sammelnde Knabe hatte sich für immer seine Liebe gewonnen. Er konnte einen zweiten Abschnitt seines Lebens voll labyrinthischer Irrgänge auf jenen Handkuß hin getrost beginnen.



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