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1811 – 1821.

I.

Zutraulich ergreift ein Kind des Lesers Hand. Komm mit! spricht es; ich will dich führen! ... Wohin? ... In eine Zeit um dreißig, wohl vierzig Jahre zurück, könnte es antworten, aber es sagt: Ich führe dich geradezu an den Rand der Ewigkeit, an den Uranfang aller Tage, den auch Du kennst, wenn Du das Ohr nur an dein innerstes Herzklopfen legen wolltest; ich führe dich zurück in die Zeit der ersten Jugend.

Der Schauplatz dieses Märchens, das wahrer ist, als alle Geschichte, liegt in einer dunkeln einsamen Kammer. Ihr kennt den Ort, wohin der ausgediente Tannenbaum der Jugend verbannt wird! Entkleidet seiner goldnen Herrlichkeit, halb versengt von der Gluth seiner glänzenden Lichter, wandert er in eine winterkalte Polterkammer zur schmutzigen Wäsche, zu leeren Kübeln und zu alten Besen. Ach, es weinte die Dryade des feenhaften Baumes doch auch zu bitter, wenn sie schon am dritten Weihnachtstage in den Ofen müßte. Zuletzt stirbt sie im Schlot, aber man schont das Herz der Jugend und tödtet ihre Seligkeit nicht mit zu grausamer Eile.

Wenn die dunkle Kammer einmal nach Jahren sich erhellte! Wenn die schmutzige Wäsche des Alltaglebens, die alten Kübel der Sorge und die Besen des Schicksals sich einmal niederduckten und der alte Tannenbaum richtete sich empor und schmückte sich wieder und strahlte in seiner goldnen Herrlichkeit! Was Euch Allen in Augenblicken solcher Freude, hervorgerufen leider! meist nur durch tiefinnerste Wehmuth des Alters, einen Berg zaubern würde, an dessen grünem Fuße Ihr geboren wurdet oder ein storchennestgehüthetes Giebeldach im Dorfe oder eine Hütte im Walde oder einen Pallast in rauschenden Städten, dasselbe Wunder führt den Knaben, der Euch heute erzählen will, auf einen der schönsten Plätze Europas und der Welt.

Da, wo in der norddeutschen Hauptstadt jetzt Friedrichs des Großen Standbild mit scharrenden Rossen und demüthig stolzen Reitern auf die Umgebungen der Häuser, Kirchen, Palläste, der neuen Menschen, veränderten Sitten und gegenwärtigen Meinungen in stiller Mitternacht ein seufzendes: Gewesen! niederzuflüstern scheint, am Beginn der freundlichen Boulevards, die, obgleich sie schon lange weit mehr nur von wilden Kastanien geschmückt sind, doch »unter den Linden« heißen, gegenüber der jetzigen Wohnung des Prinzen von Preußen, des Drachentödters der »Revolution«, und einem düsterschweigsamen, erinnerungsreichen Säulenhause, dem Palais der Oranier, liegt ein nicht hohes, aber in seinem Umfange majestätisches Gebäude.

Wer vorübergeht und ein Mann nach der Uhr ist, bleibt eine Weile stehen. Die goldene, sonst so lang getragene Uhrkette wird gezogen und der Weiser der Taschenuhr bedächtig nach jenem großen Zeitmesser gerichtet, der an dem Hauptportal über einem langsam und feierlich bewegten Pendel schwebt. Kaum hörbar schlägt diese akademische Uhr. In alten Zeiten unterhielt nebenan aus der zerbröckelnden gelben und der Mauertiefe zu braunfeuchten Wand eine Sonnenuhr die Controle eines felsenfesten, unumstößlichen Dogmas. Ginge in Berlin die Uhr der Akademie falsch, so wäre »etwas faul im Staate Dänemark«. Der Punkt, den Archimedes suchte, um die Welt aus ihren Angeln zu heben, liegt dem Berliner zwischen seiner akademischen Uhr hüben und dem Barometer Petitpierres drüben. Gieb mir, wo ich stehen soll! predigen für die frommen Geheimräthe die Büchsels und Krummachers in den Matthäus- und Dreifaltigkeitskirchen und nennen den Heiland alles Lebens Eckstein. Müller und Schulze aber haben nur einen Glauben: Den an die Uhr der Berliner Akademie.

Ein wunderbares, ein Riesengebäude das! Ein Pantheon aller Künste und Wissenschaften! Ein Tempel für Minerva ... Preußens Minerva, die auch Schild und Lanze zu führen weiß. Rings die Musen, in der Mitte Mars. Asyl der Künstler und Rennbahn der Cavaleriepferde. Die Trompete der Uhlanen durcheinander wirbelnd mit der Trompete Famas, die in einem Kämmerchen hier der akademische Historiograph des Landes zu blasen hat. Ueber der akademischen Uhr sollte aus der Mauer ein Pegasus springen; denn das Pferd ist es, dessen geflügelter oder auch nur hufbeschlagener Bedeutung dies ganze gewaltige Quadrat gewidmet ist.

Nach der Lindenfront hinaus liegen die von Friedrich dem Großen nach einem Brande wiederhergestellten Sammlungs- und Unterrichtssäle der vom ersten Preußenkönig schon in seiner Kurfürstenzeit hier errichteten Akademie der schönen Künste. Mehr zur Rechten, dem früher Prinz Heinrich'schen Palais, der Universität zu, begannen die Säle und Sammlungen der Akademie der Wissenschaften, zu denen sich in der früheren Stall-, jetzt Universitätsstraße auch die Druckerei der Academie für Gelehrte, wie Bopp und Wilken, mit ihren persischen, arabischen und Sanscritlettern gesellte. Auf der dritten Linie des Quadrats, die zur jetzigen Dorotheen-, früher »letzten« Straße hinausgeht, lag der akademischen Uhr grade gegenüber die von Bode observirte Sternwarte, und nach der vierten, der Charlottenstraße zu, führte eine Treppe zur Anatomie und den Hörsälen des alten, vor der Universitätszeit hier schon blühenden, unter Andern auch von Ludwig Börne besuchten, »medizinischen Collegiums« empor. Alle anderen Längenseiten, Thurmpavillons und Vorsprünge dieses fast encyklopädischen Baues hatten eine Bestimmung, die man unter Umständen an sich keine prosaische nennen kann, wenn sie auch mit dem wissenschaftlichen und artistischen Charakter der übrigen Theile nicht in nächster Berührung stand. Sie wurden zu Pferdeställen verwandt, theils für das Garde-du-Corps- oder Cürassier- oder Uhlanen-Regiment, theils für die Bespannungen der königlichen Prinzen und des Königs selbst.

Dies abenteuerliche, seltsame, lichte und dunkele, classische und romantische Gebäude, ein Pegasusstall nach Hufbeschlag und Flügelschwung, mußte einem Kinde, das ohnehin in einem Spahn geschnitzter Baumrinde Silberflotten, in einem blitzenden Kiesel Dresdener grüne Gewölbe sieht, so gut wie das halbe Universum erscheinen. Ihr Armen, die ihr hier nur diese Uhr, diese Kunstausstellungen, diese akademischen Leibnitz-Sitzungen, diese Bopp'schen Sanscritlettern, diese funkelnde Kometen-Warte, den Rudolphischen Cursus über Splanchnologie nebst den demonstrativen Spiritus-Eingeweide-Gläsern, diese Königlich Preußischen Wagenremisen und die Hauptwache der Uhlanen seht, wie viel ist Euch von der noch übrigen wahren Poesie dieses Pantheons entgangen! Die innern Höfe, die Pluvien dieses Tempels, die lauschigen Mysterien innerhalb dieser vier Straßen, unzugänglich allen Neugierigen, von den Kastellanen mit Rohrstöcken, den königlichen Leibkutschern mit Peitschen, den Wachtmeistern mit dem Sarras streng gehütet ... da gab es zu schauen, zu lauschen, zu schleichen, zu naschen, zu wühlen und zu spielen! Wirres Gemäuer, durcheinander gewürfelt. Düstre grasbewachsene Gänge, schauerliche Thürme, viereckig oder rund. Dies Chaos war ohne Zweifel dem in diesem Hause am 17. März 1811 geborenen Kinde wichtiger als die akademischen Säle, wo Schleiermacher über Plato, Wilken über die Kreuzzüge las, oder Gottfried Schadow neuangekommene vespasianische Badewannen mit seiner kostbaren, allerweltbekannten Hausverstandslogik auch balneologisch vom Standpunkte antiker Unbequemlichkeit musterte. Hier zeichneten wohl die künftigen Düsseldorfer, Hübner, Hopfgarten, später Bendemann, Sohn, Hildebrandt als kleine Studienklassiker nach Gypsabgüssen, dort wurden eben von Italien Gemäldekisten zur Kunstausstellung ausgepackt und das Campagna-Romana-Stroh wie gemeines pommersches oder Uckermärker<!– im Original: Ukkermärker –> Stroh behandelt; hier ordnete man die Bücher der Akademiker oder zog von der Presse ein neues Werk von W. von Humboldt über die Kawisprache, in deren vom gelehrtesten Setzer leise vor sich hin buchstabirte Gurgellaute sich das Roßwiehern einer Reitschulbahn für die Garde-Cavalerie mischte; dort krächzten um die Himmelskugel der Bode'schen Sternwarte Schaaren von Raben, die der vergoldete blitzhelle Glanz des großen Globus ebenso, wie der Leichengeruch von der grauenvollen Anatomie her anlockte ... und zwischen allen diesen Offenbarungen einer geistigen Welt das rücksichtsloseste Schmettern der Trompeten, die Signale und Ablösungen von einer der Mittelstraße gegenüber gelegenen Wache, das Wiehern und Kollern und Kettenrasseln von Hunderten von Pferden, die durch Trommelschlag und Pistolenschüsse an kriegerischen Lärm gewöhnt wurden ... Sollte man glauben, daß hier, wo es manchmal war, wie auf dem offnen Markt oder der wogenden See, dennoch von einem Kinde still geträumt werden konnte, daß hier auf kleinen Gartenplätzen, auf grünen Rasenbänken, in Lauben von wildem Wein, durchmischt mit türkischer Bohnenblüthe, hinter Fenstern mit Terrassen von Goldlack, Levkoien, Astern, hinter großen Kästen, mit rother Kresse, die ihre zinnoberrothen, beizendduftenden Blüthen an Bindfäden bis hoch über die Fensterrahmen rankten, eine stille nur aus sich selbst lauschende Kinderseligkeit durchlebt werden konnte? Dies war ein Tempel der Musen, ein Stall, und doch das grüne Feld und der einsame, stillfriedliche Wald. Da stand ein einziger, aber riesengroßer Nußbaum, der dem ersten Rosselenker des Königs selbst gehörte und vor den lüsternen Blicken des Knaben, der schon glücklich war, nur ein einziges duftendes Blatt von ihm zu erhaschen, das er in seinem zarten Geäder mit sanftem Fingerstrich von dem Blattgrün befreite und als übriggebliebenes zierliches Geripp in seinen davon durchdufteten »brandenburgischen Kinderfreund« legte, mit allen zu Gebote stehenden, oft drastischen Mitteln gehüthet wurde. Es war hier alles, alles Idyll. Die reizendste Lockung der Natur in diesem stillen Seitenhof. Die Wohnung des so bevorzugten Selbstherrschers vom allerhöchsten Wagenbock lag mit jenem schattigen, früchteschweren Nußbaum, unter dem eine grüngestrichene Bank die allerhöchst Geduldeten zur Ruhe einlud, so lauschig, so versteckt, so malerisch, so dicht gelehnt an einen großen pittoresken Thurm, von dessen kleinen eisengegitterten Fenstern oft mit Sehnsucht hinuntergeblickt wurde, wie ein Claude Lorrain oder, wenn die königlichen Wägen begossen wurden und das Wasser durch die Landschaft rieselte, wie ein krystallheller, najadenbegeisterter Ruisdael.

Dies der Schauplatz. Aber die Menschen! Von den großen Künstlern und Gelehrten erfuhr der Knabe erst allmälig. Verständlich waren ihm in seinen ersten Lauf- und Sprechübungen nur jene rüstigen, kurzen, strammen Leute, die in ledernen Buchsen, gelben Stulpen an den Stiefeln, blauen Rücken, rothen Westen und kleinen silberdrathüberzogenen und mit langen Silberschwänzen in der Mitte gezierten englischen Jokeymützen vor dem viereckten Nord-Ost-Thurme, an der Ecke der »Letzten« und der Stall- oder Universitätsstraße walteten und schafften. Diese Männer hüteten und pflegten einige dreißig stattlicher Rosse, die dem Bruder der regierenden Majestät gehörten, dem Prinzen Friedrich Wilhelm Karl von Preußen Königliche Hoheit. Links bis zur Astronomie wieherten dieses Purpurgeborenen Fahr- und Reitrosse, rechts bis zur Sanskritdruckerei standen seine Wägen. In dem viereckten Thurme selbst gab es Dienst- und Ablösungsstuben, Wohnungen bestehend aus Küche und Kammer für einige bevorzugte Wagen- oder Roßlenker, Verschläge für Sättel und Riemzeug, Riegel für Candaren, Ketten, Schabracken, Pistolenhalfter und bis hoch hinauf über dunkle breite Treppen ging es zu Dachkammern und geheimnißvollen Luken, durch die oft der Wind melancholische Weisen pfiff und in der Vogelperspective, von einem zwischen den Dachziegeln freigewachsenen zierlichen Kopfe sogenannten Hauslaufes aus, eine Rundschau über die ganze bedeutungsvolle Gegend erlaubt war. Das war eine Aussicht! Da unten lagen die Kunsträume mit ihren Gypsabgüssen und verhangenen hohen Fenstern, da zur Seite die Wissenschaftssäle mit ihren Büchern und Protokollen, dort glitzerten die Himmelsgloben der Astronomie, dort tanzten auf anatomischen Theatern, wenigstens in schauerlichen Spukgeschichten, mit grauenhaften Klagetönen, die man des Nachts von jenen Sälen herunter hören wollte, zerschnittene Arme, enthäutete Beine und um ein Begräbniß betrogene Leiber. Drüben erhob sich der gewaltige Koloß des Prinz Heinrichschen Palais, dessen Besitzer so geheimnißvoll und katholisch mythenreich seit Jahren in Rom verschollen war, während einige alte Pferde von ihm in jenem Winkel drüben das Gnadenbrot fraßen und das übrige Palais den Musen überlassen hatten, die hier 1810 die so rasch aufblühende Tugendbunds-Universität begründeten. Zwischen den schattigen Alleen des damals rings geschlossenen Universitätsparkes, Kastanienwald genannt, lag ein großer Holz- und Zimmerplatz, wo Tausende frisch geschälter, sogar in der Rinde den tollsten Kinderappetit reizender Bäume aufgeschichtet lagen und die gewaltigen Sägen, die Aexte, die Hämmer von Morgens bis Abends wiederhallten und dröhnten an derselben Stelle, die jetzt ein freundlicher kleiner botanischer Garten zum Universitäts-Taschenhandgebrauch einnimmt. Weiter abwärts die Ufer der Spree, noch nicht überbrückt, noch nicht halb verschüttet. Nirgends Durchgänge, alles Winkel, Sackgasse, grüner Rasenplatz, da und dort dunkle breitästige Bäume, wo jetzt überall nur Gaslaternen. Schrägüber wohnte Hufeland, der Arzt des Königs, der im runden Quäkerhut dem Knaben erinnerlich ist, wie einer seiner liebsten Bleisoldaten. Zur Seite die Lehranstalt der jungen Militärärzte. Dann Kasernen (Berlinisch: Kasarmen), Exercierplätze, große Magazine, alles verworren, regellos durch einander auf denselben Plätzen, die nach wenigen Schritten sich zum Ueberblick der Linden, der Bibliothek, des Opernhauses, des Schlosses, einer der schönsten Perspektiven Europas, öffnen. Es mag wenig Städte geben, wo berühmte und vielbedeutende Gebäude so dicht in großer Anzahl beisammen liegen und zwischen den gewaltigen Quadersteinen und stolzen Säulen doch so viel stille bescheidenste Lebensexistenz gestatten, wenigstens wie sie sich damals hier einnisten durfte. Von allen diesen großen Beziehungen war oft die Seele des Knaben wie von räthselhaften Fittichen hoch emporgehoben. Aus dieser majestätischen Anschauungswelt zitterte, drängte, schauerte etwas in ihn hinein, wofür er keinen andern Ausdruck fühlte, als eine unendliche, oft namenlos wehmüthige Sehnsucht nach Klarheit, Licht oder irgend einer braven Bewährung in diesem großen Ganzen. Das hinlänglich übelberufene Wesen des in andern Stadttheilen üppig wuchernden Berlinerthums kannte er nicht.

Doch zurück zu Roß und Reisigen am nordöstlichen Thurm! Der Vater des Kindes nahm unter ihnen die glänzende »soziale Position« eines ersten Bereiters Sr. Hoheit des Prinzen Wilhelm von Preußen ein. Bettelstolz, bekanntlich viel empfindlicher als die andern Gattungen des Hochmuthes, müßte den Erzähler, wenn er ihn besäße, bestimmen, den ersten Leibbereiter eines königlichen Prinzen etwas in's Stallmeisterhafte hinüberzutuschen, aus einem zwar nicht vorreitenden, aber doch immer nachreitenden Knappen halb und halb einen Ritter zu machen. Doch begnügt er sich, nur gegen den Stallknecht oder den Jokey schlechthin Einspruch zu thun. Und dem Roß zu dienen, hebt es nicht denselben Menschen, der den Menschen dienend sich viel tiefer erniedrigt? Welch' ein freies, auf Gegenseitigkeit begründetes Verhältniß! Der Hirt beherrscht seine Heerde, der Reiter kann sein Roß nur allmälig gewinnen, nur gewöhnen, nur wie ein freies und doch wieder nicht wildes Wesen bändigen. Sein Dienst ist ein Triumph der männlichen Kraft. Die Zähmung bringt wohl einen Schein von Ergebung, Schwäche, selbst gemüthlicher Anhänglichkeit in die Bewegungen des Pferdes; es ist aber zu oft nur ein Schein. Die wahre Natur der Freiheit und des Stolzes sind dem Thiere des schönen Ebenmaßes trotz aller rührenden Schlachtfeld-Anekdoten doch nicht ganz auszutreiben. Jeder langverhängte Zügel giebt ihm die volle Kraft der eignen Laune wieder und launisch ist das Pferd, so launisch, wie nur Könige launisch sein können. Das Pferd hängt von der Reizbarkeit seiner angeborenen Natur so ab, daß es sich, selbst wenn es gezähmten Willen hätte, nicht einmal mit bestem Willen in der Gewalt haben könnte. Mit einem plötzlichen Schreck, mit einem ungeahnten Scheuwerden stürzen alle seine guten Vorsätze, wenn man seine Zähmung so nennen dürfte, zusammen. Das Roß vergißt dem Menschen nie, daß die Peitsche und der Sporn die strengen Begleiter seiner Liebe sind. Und oft ist es, als verstünde das edle Raçenpferd nicht einmal die Sprache des Abendlandes, als lernte es nie, daß es andre Laute geben könnte, als die des Sohnes der fernen morgenländischen Wüste. Der abendländische Reiter hat ein arabischen Ahnen entsprossenes Thier liebgewonnen, er streichelt es, es spielt mit den Ohren, es schwingt den Schweif, es stößt die kurzen grammelnden Laute des Wohlbehagens aus, man glaubt Wunder wie innig der Bund zwischen dem Thier und dem Menschen geschlossen ist ... und plötzlich bringt man den vom Rosseshuf getroffenen Herrn, bringt ihn todtenblaß, das Blut quillt aus des Sterbenden Munde, er röchelt, ächzt ... verscheidet. Wie oft drang nicht dies Schreckenswort an des Knaben Ohr, daß dieser oder jener junge lustige Reiter im »Klinikum«, an dieser grauenvollen Pforte des Lebens, wo der Tod statt der Sense eine chirurgische Säge schwingt, rettungslos darniederläge, daß sein guter Hektor, sein treuer Ajax ihm die Brust zerschlagen hätte!

Treten wir näher! Da stehen die Rossebändiger, putzen Riemzeug oder bemalen die ledernen Hosen mit geriebenem Ocker. Vor dreißig, fast vierzig Jahren waren ihre Mienen gebräunt, wild, bei Manchem übermüthig und trotzig. Die Reisige und Troßknechte legten damals erst vor Kurzem den Dreimaster, die orange-schwarz-weiße Schärpe und den geschliffenen Säbel ab. Sie kamen aus dem heiligen Kriege der Befreiung. Weit in der Welt herumgeworfen, waren sie in Tilsit, Königsberg, in Breslau, bei Leipzig, sahen Paris, Belle-Alliance, Ligny, Namur; sahen zum zweiten Mal Paris und selbst Orleans. Der zweite Pariser Friede scheint ihnen nicht zu behagen. Diese Ruhe jetzt, diese Spazierritte nach Charlottenburg, diese Jagdausflüge nach dem Grunewald, dies winterliche Haltenmüssen vor den Schlössern, Theatern, bei den Bällen und den Diners der Wilhelmsstraße scheint ihnen lange nicht so zu munden, wie das rauschende, poetische Leben im Felde. Da hatte es Entbehrungen, Strapazen, Gefahren gegeben, aber welche Entschädigungen im Quartier, welche Abenteuer, welche Freude an fremder Sitte, welche schnelle Gewöhnung selbst an die Art des verhaßten Feindes! Der geringe Mann findet sich auch unter den Gegnern sobald zurecht mit Seinesgleichen. Die Großen führen noch immer die Kriege, die Kleinen haben sich längst ausgesöhnt. Da wurde die Beute, die auf dem Schlachtfelde gewonnene, der wohlfeile Einkauf, der vom »dummen« Kosaken erstandene, nicht einmal aufbewahrt bis zur Rückkehr in die Heimath, sie wurde schon wieder getheilt mit dem Feinde selbst, verschenkt an den guten Wirth, zurückgelassen als Andenken an eine zärtliche Mutter, an die Kinder, die an den rothen Bärten der Fremdlinge zupften und sich mit deutschen Liebkosungen trösten ließen, daß ihnen ein Bruder Pierre oder Matthieu oder Napoleon bei diesen Fremden daheim im Felde geblieben war. Sie kamen nun aus diesem gezähmten Frankreich zurück ... Die Weiber gingen ihnen entgegen schon bis zum halben Wege von Potsdam. Sie umarmten die Längstentbehrten, endlich im Staub Erkennbaren, hinter Steglitz. Beim Landgute des Großkanzlers von Beyme steigen die Wohlbehaltenen vom Pferde, küssen Weib und Kind und sind, aber wie! verändert. Die wilden Bärte reiben beim Kusse fast wund. Und die Worte, was die so neu sind, die Fragen, was die so zerstreut, so fremdartig und so vergeßlich klingen! Das Pferd da, Sophie, das hab' ich erbeutet, heißt es; aber ich verkauf' es – Die Juden in Magdeburg boten schon sechszig Thaler. Der Stallmeister giebt siebzig ... Da! Drei Uhren! Eine für den Bruder, eine für den Vetter, eine für den Aeltesten zur Einsegnung ... lauter ächte Breguets! Hier Tücher, Lyoner seidne Tücher, nicht viel, aber nur um die Mode zu zeigen, und ein Ring – wer weiß von wessen Hand! Später sag' ich's – aber da ist er. Ich habe viel, viel zu erzählen. Im Mantelsack liegen ein paar Thaler. – Das ist die ganze Bescheerung? Wie? Wie? Das ist Alles? fragt die ihr Eherecht schon wieder Fühlende auf dem Wege halb nach Schöneberg. Da sind doch Andre, die auch zurückkehrten ... was haben die mitgebracht! Wahrhaftig mehr, als da die Tabakspfeife mit silbernem Beschlag, mehr als da die englischen Rasierzeuge und die Pariser Schaumseife, mehr als da die Spieldose mit der Modearie des Tages: »Ich war Jüngling noch an Jahren ...« lauter unnütze und verschwenderische Dinge das! Und nun zeigt sich wohl, daß die Haupterrungenschaft der Krieger, ihre wahre gemachte Campagne-Beute Mißmuth, Zorn, überspannte Phantasie, tolle Lebenslust und ein überraschender Reichthum von ganz neuen, bisher unerhört gewesenen sakramentischen Bougre-Flüchen und Kreuzhimmelherrgotts-Verwünschungen über die Wucherer im Felde, die Räuber, die Stubenhocker, die Schleicher, die den armen Fremdlingen »das Fell über die Ohren« zogen und die Habgier der Weiber sind.

Ringsum ertönte nun das wilde Toben der Rückkehrenden. Was klapperten da die Säbel! Was stoben Funken auf dem Straßenpflaster! Was wurde da gesungen, getrunken, gewettert! Auf den Straßen schrie man aus: »Bonaparte's neueste erbärmliche Stoßseufzer aus St. Helena« ... man kennt die Spottliteratur, die nach Napoleons Sturz auf allen Märkten und Gassen so wenig Großmuth und so viel Siegesübermuth verrieth. Ja, sagten die Heimkehrenden, wenn er nur bald wieder käme. Sie mochten diesen schaalen Frieden, diese Heimath, diese Habgier, diese Polissonerien und »Schuriegeleien« des wiederhergestellten Dienstzwanges nicht. Es blieb noch Alles gerüstet, trotz der Durchmärsche, die von heimkehrenden Russen kein Ende nahmen. Die Russen galten im Ganzen für die gemüthlichste Nation von der Welt. Die Großen mochten sich in Eifersucht und Misstimmung aneinander reiben und Fritz des Franz, Franz des Iwan längst überdrüssig sein, die Kleinen hatten schon wieder treueste Freundschaft geschlossen, nahmen sich schon wieder längst gegenseitig von der allgemeinen brüderlichen Menschenseite. Es hieß wohl, der Russe nimmt ein ganzes Talglicht und zieht es sich, selbst wenn er's vom Leuchter, nicht vom Lichtzieher hat, zum Frühstück durch die Zähne; aber die Kinder bekamen doch russische Taufnamen: Paul, Alexis, Feodor, Kathinka, Alexandrine, Maschinka. Auch Türken gab es viele und nicht unkenntliche unter den Russen ... Iwan, ein Türke vom schwarzen Meere, nahm den Knaben oft auf den Schooß und schenkte ihm, nicht orientalische Zuckerfrüchte oder Harem-Eingemachtes, was er nicht hatte, wohl aber Thorner Pfefferkuchen und große Rostocker oder Stettiner Aepfel. Ein unerlaubtes Einstürmen von trunkenen Russen in ein ihnen nicht gehörendes Quartier und, die mit Macht von der entschlossenen Mutter vertheidigte Thür ist dem Knaben gegenwärtig wie eine Scene aus dem Homer.

Die Geschichte des Ringes aus Paris wurde erzählt, vom vierjährigen Kinde noch nicht verstanden; öfter und wie öfter! wiederholt und später erst begriffen. Sie soll folgen. Hört eine Geschichte, die sich unter des Knaben eigenen Augen begab!

Zwei stattliche Reiter des Prinzen hatten im Felde sich die treueste Freundschaft geschworen. Der Eine, mit krausem, schwarzem Haar, lebensfroh, mit Feueraugen, der erste Vorreiter des Prinzen. Der Andere, blond, ernster, milder, blauäugig, der erwähnte erste Nachreiter. Es konnte keinen fröhlicheren Gesellen geben, als den schönen, schwarzen, krausköpfigen Dorich. Wenn Dorich auftrat in den frischgetünchten gelbledernen Buchsen, den hohen geglänzten Steifstiefeln, der kurzen blauen Jacke mit weißen Metallknöpfen und rothen silberbesetzten Krägen und Aufschlägen, die runde Jokeykappe und die silberdrathüberflochtene Reitgerte tänzelte in seiner Hand, die Sporen klirrten hinter den Absätzen, so war Dorich der Stolz des Marstalles. Dorich schäkerte mit den Mädchen, lachte mit den Frauen, Allen mußte seine frohe, lebensprühende Art gefallen. Dorich war verheirathet. Er hatte die schönsten Kinder. Aus dem Kriege heimkehrend waren die verbundenen Freunde, Dorich und des Knaben Vater, halbe Franzosen geworden. Wenigstens die Sacres der Pariser konnten sie ohne den Meidinger. Sie hielten eine geschlossene Kameradschaft, die um so enger sie verbinden mußte, als sie in einem und demselben Hause wohnten, in dem nordöstlichen Marstall-Pavillon des Prinzen Wilhelm.

Aber ach, diese Freundschaft wurde auf harte Proben gestellt!

Die aus dem Frankenland heimkehrenden jungen Reiter fanden ihre Frauen wieder, aber beide gegenseitig in Zorn und Haß entbrannt. War es die alte Eifersucht, die seit Chriemhilden und Brunhilden wetteifernde Kriegsgesellen gegen einander stachelt, oder hatte reizbares Frauennaturell keine Veranlassung gefunden, für den Würfel und das Kartenspiel, das die Männer verband, eben so bindende Surrogate, den Kaffee, die Neugier, die Zuträgerei, die Klatschsucht, eintreten zu lassen; genug, die beiden Frauen der Freunde haßten sich. Das war aber nicht etwa wie bei uns eine kalte oberflächliche Gleichgültigkeit der Einen gegen die Andre, ein Hinterrücksangreifen, ein Mangel nur an sympathischer Stimmung, wie wir uns hassen, nein, das war ein Haß, ein Zorn, eine Leidenschaft, wie aus der Heldensage. Die Kinder der einen Frau den Kindern der andern sich nähernd, wurden mit Gewalt fortgerissen. Das Weib Dorich's, eine hohe, schlanke Gestalt, mager, von brennend stechenden Augen, wie ihr Gatte, bei dem aber diese Kohlenaugen nur vor Lust und Freude funkelten, und die Mutter des Erzählers, kleiner, rundlicher, von blauen Augen, schwarzem Haare und schwarzen Augenwimpern und einer so gewaltigen Charakterregung fähig, daß sie auf ihrer Stimmung festhielt, ob dabei auch mehr als ein Schüreisen biegen oder brechen sollte.... das Pathos dieser Leidenschaften reichte bis an die Tragödie. Beide Frauen waren ja so angewiesen allein auf Liebe, so allein auf Schonung und Duldung! Denn – verhängnißvolle Wendung! – jede hatte zwar ihre eigene Stube (ohne Kammer!) mit drei Kinderbetten oder wenigstens Plätzen oder Stühlen, aus denen man Abends Betten formen konnte, hatten als Dienstwohnungen diese Löcher zu behaupten, aber beide benutzten dabei nur eine, eine und dieselbe Küche! Brunhild und Chriemhild in einer einzigen Küche! Zwei Feuerflammen vor einem Heerde! Beide auf einem und demselben steinernen Estrich ihr Gemüse putzend, ihre Kartoffeln schälend, ihre Erbsen verlesend! Und Gemüse, Kartoffeln und Erbsen auch auf einem und demselben Penatenaltar siedend! Es ist wahr, eine kleine Scheidewand von Backsteinen trennte den Topf Brunhildens vom Topfe Chriemhilds. Links knisterte an seltenen Tagen der Speck der Einen, rechts brotzelte die gebackene Leber der Andern. Die Kartoffeln, die Bohnen und die Erbsen dampften sich dicht neben einander täglich in dieselbe Esse aus, in dieselben schwarzglühenden Wände, auf deren rußige Krystalle immer gleich kalte, gleich starre Mienen des Hasses fielen. Durch die kleine Küche war eine Demarkationslinie der Neutralität gezogen, die nur beim Eintreten durch die Thür von beiden Partheien überschritten werden durfte; sonst standen Eimer und Scheuerfaß, Schrank und Holzklotz, Hackebrett und Marktkorb in mathematischer Genauigkeit so gestellt, daß Eins nicht um die Linie in das Gebiet des Andern rückte, es sei denn, daß der kochende Groll eine Veranlassung zum Ausbruch suchte. Suchte! Wie dieser Haß entstanden, ist dem Erzähler unbekannt, aber das ist erwiesen, geringe Leute hassen sich nicht, wie wir Andern uns hassen – in unserer Bildung! Wir Gesellschaftsfähiggewordenen gehen süß, gehen lächelnd an einander vorüber, meiden uns wohl einmal in einem und demselben Salon, würden aber sogar in einer Küche mit einander fertig werden Jahre lang, wenn uns die Neigung würde, uns unsere Beefsteaks selber zu dämpfen. Aber Naturmenschen? Was wäre ihnen Mäßigung und ein Zügeln der Leidenschaft? Feigheit! Ein Scheitholz, das der Einen im Wege liegt, wird mit dem Fuß zur Andern hinweggeschleudert, als wär' es eine giftige Otter. Ein kostbar Gericht, das die eine Mutter zum Sonntag ihren Kindern bescheeren will, wird bei der Enthüllung aus dem sonnabendlichen Marktkorbe von der Andern mit einer lauten Lache begrüßt. Da wird kein Epigramm in das innere Herz zurückgedrängt. Keine Diplomatie tritt an die Stelle des wilden Naturzustandes, der Alles sagt, was er denkt, alles austobt, was er fühlt, ja jede Gelegenheit ergreift, sich in jenen nervenanspannenden Zorn zu versetzen, der eine rechte, innere Nahrung mancher Seele zu sein scheint und auf sie wie ein berauschendes Opium wirkt. Dieser schlimme Krieg der Küche, dessen Schlachtfelder zuweilen die große mit Steinen gepflasterte Hausflur bildete, dauerte während des ganzen großen heiligen Befreiungskampfes und wurde, als Napoleon schon längst in St. Helena von Sir Hudson Lowe, vom Magenkrebs und der bittersten Reue über seine verkehrte Menschen- und Welt-Auffassung promethëisirt wurde und die großmüthigen Sieger von Belle-Alliance noch immer in den Straßen die erbärmlichsten Pamphlete auf den am St. Helena-Kaukasus langsam Entleberten auszurufen duldeten, noch lustig fortgesetzt zum Jammer der beiden Freunde, die so engverbunden von Paris heimkehrten und durch ihre auf wilde Sitten, Unlust am Frieden, Kartenspiel und geringe Werthschätzung des Geldes begründete gutbrüderliche Einigkeit das Hauskreuz dieses Zwiespaltes nur noch ärger machten.

Da geschah ein Wunder, das tief in die Herzen dieser Menschen und in die Seele des Knaben griff.

Die Kinder beider Partheien liebten sich so innigst, so zärtlich wie die Väter. Und nun nahte sich auch den Müttern ein Engel des Friedens, in weißem Gewande, mit der Palme in der Hand, der Engel ... des Todes. Des schönen Dorich jüngstes Kind, ein holder, kraushaariger Schelm von wenig Jahren, ein Mädchen erkrankte ... starb. Die kleine lockige Marianne – des Prinzen Gemahlin hieß Marianne – hatte noch vor einigen Tagen so heiter mit dem Knaben gespielt. Dann hieß es: Mariannchen liegt zu Bett: Und dann: Mariannchen ist todt ... Dorich, der Vater, weinte. Die Mutter, die kalte Brunhild, trug ihren Schmerz mit düstrem Ernst. Das Unglück bei Armen ist noch etwas ganz Anderes, als das Unglück bei den Reichen. Das Unglück des Armen entmuthigt meist seine sittliche Kraft, während den Gebildeten das Unglück sittlich heben und anfeuern kann. Die Armen haben noch nicht unsre Vorstellung von einer allgemeinen gleichen Vertheilung von Leid und Freud. Sie nehmen jede Begegnung des Geschickes persönlich hin, wie etwas auf sie von bösen Mächten absichtlich Gemünztes, sie fliehen, verstecken sich wie vor der wirklich aus den Wolken langenden Hand des persönlichsten Gottes, sie bitten und flehen um gnädige Lebensloose an Gottes Thron, wie an den Stufen eines großen allmächtigen Weltenkönigs, und hoffen nur darum das Gute, das Freundliche, das Gnädige, weil ihnen Gott ein ernster, strenger, aber meist doch gütiger Vater ist. Der Jammer aber dann doch um ein Mißgeschick wirft den Armen nicht um den Verlust so sehr, wie uns zaghafte verhätschelte Ichmenschen, denen mit dem Verlornen gleich das ganze Dasein weggezogen scheint, nieder; sie wirft der Schrecken, das Entsetzen nieder, das Entsetzen, sich so räthselhaft schlimmen, unheilvollen Mächten verfallen zu sehen und den Finger Gottes so bedenklich grade auf sie ausgestreckt zu erblicken. Nun ahnen sie die Fülle des Elends, die über sie kommen wird. Sie sind starr, innerlich vernichtet. Und auch Das ... die strenge, kalte Dorich, eine vortreffliche Mutter, verbarg ihre Thränen, um ihren Schmerz – vor der Feindin nicht sehen zu lassen!

Der Engel im weißen Gewande und der Friedenspalme hatte es eigen beschlossen. Er suchte der eben entschlummerten kleinen Marianne zunächst eine vorläufige Ruhestätte doch noch vor dem Grabe. Sie mußte doch irgendwie außerhalb des Zimmers liegen, wo die stilljammernde Mutter, der zerknirschte Vater, die weinenden Geschwister schliefen. Wo anders war das holde kaltgewordene Kind unterzubringen, als in der Küche? Diese zweien Herren gehörende Küche, sonst das Schlachtfeld des Hasses, wurde nun ein Versöhnungsplatz der Liebe. Die Simultanküche wurde Simultankirche, wo zwei Confessionen des Herzens zu demselben Gott der Liebe beteten und ein Glockengeläute jetzt für beide Partheien zum Frieden rief. Der Raum, so enge, so arm, so gedrückt, konnte zum Katafalk der kleinen Leiche – zwei Stühle und ein Strohsack – nur dann ausreichen, wenn von beiden Frauen eine jede etwas von ihrem Gebiete hergab und die gelbe Demarkationslinie des Hasses und der Eifersucht mit dem grünen Zweige der Liebe ausgeweht wurde. Und es geschah so. Die kleine Frau mit den blauen Augen unter schwarzen Wimpern hatte Mariannchen wie ihr eignes Kind geliebt. Sie rückte trotz des Hasses gegen die Mutter immer schon fort, was dies liebe Kind zum Leben gebraucht hatte, sollte sie nun seinem Tode nicht Platz gönnen? So lag das Kind mit dem blonden Lockenhaupte halb im Gebiet seiner Mutter, halb im Gebiet der Nachbarin, hier das Haupt, dort die Füße und der Heerd wurde zum wirklichen Altar und die Küche ein Asyl der Versöhnung. Ueber dem weißgeschmückten, rosen- und myrtenumkränzten kleinen Kinde reichten die Mütter sich weinend die Hände. Sie blieben ihr Lebenlang verbunden, verbunden in einer Liebe. Ja sie holten das Verlorne gleichsam nach. Denn viel stärker, viel emsiger zum Dienen und gegenseitigen Helfen wurde nun ihr Herz, gleichsam um zu zeigen, als hätte schon von Anbeginn dessen beßre Regung bestanden.

Und wie bedurften sich diese beiden Frauen! Die Armen ahnen nicht mit Unrecht in einem Unglück den Anfang einer ganzen Unglückskette. Dunkelste Wetter ihres zornigen Gottes zogen über diese Frauen her. Der schalkhafte, muntre, im Trunke wilde und gefährliche Dorich verlor vom Tode seiner kleinen Marianne an, ja auch von der Rührung über die Versöhnung der Frauen, die alte vom Pariser Venusberg mitgebrachte Heiterkeit. Es ist diesen Menschen oft, als müßten sie ordentlich manche spitze und stachelnde Dinge im Leben haben, die ihnen Kraft und Elastizität geben. Lassen diese Widerhaken nach, wird Alles weich und gut um sie her, so siechen sie hin. Dorich ist nicht der Einzige, den der Erzähler unter zuviel der Milde und der Güte, unter zuviel der Aufforderung zur Tugend und Mäßigung so zusammenbrechen sah. Wie dem schönen Dorich ging's auch seinem Freunde, dem Vater. Die Gelegenheiten zu gewaltsamen Scenen nahmen ab. Der wilde Nachklang des Krieges verhallte in der Ordnung der Sitte und im bessern Gemüthe. Der Säbel, der oft noch gezogen wurde, wenn die charakterfeste Mutter auf ihrem Rechte oder ihrer Auffassung vom Rechte bestand, verrostete, wurde vergessen, verschenkt; er ging schon lange nicht mehr aus der Scheide und die Kinder gewannen an Kraft, dem entfesselten Zorn in die Arme zu fallen. Da sank der stolze Bart, das wilde Haar, die gute »Kameradschaft« wurde kleiner, der Sinn trüber, düstrer, ernster ... So trüb und düster wie beim Dorich freilich umwölkte sich der Sinn des Vaters nicht ... Den Dorich suchte man eines Tages lange und vergebens. Es war Mittagszeit. Schon gegen ein Uhr. Das Essen wartete. Wo ist Dorich? Die Frau, die Mutter der todten kleinen Versöhnerin, suchte ihn, schickte die Kinder nach allen Orten, wo Dorich sonst wohl verkehrte. In allen Höhlen, wo Spiel, Trunk, Taback die Kumpane zu vereinigen pflegte, in allen Ställen des Königs, der Prinzen wurde Nachfrage gehalten. Dorich war verschwunden. Die Frau jammerte, sie ahnte ein neues Entsetzliches, einen neuen Schlag von Oben. Es war auch so. Man fand den schönen Dorich gegen Abend in der dunkeln unheimlichen Sattelkammer. Dort an einem Riemzeugpfosten hatte er sich erhängt.

Die Wirkung dieses Selbstmordes auf die ganze alte Genossenschaft des Krieges war gewaltig. Alle hatten den Unglücklichen geliebt, Alle ihn im Herzen gehegt, und doch – und doch? Es fehlte in diesem Kreise, erschreckend schon für das Kindesgefühl, gänzlich eine milde Vorstellung, die dem Gebildeten von so traurigem Ausscheiden aus dem Bereich der Lebenden geläufig ist. Der schöne Dorich hatte sich erhängt. Es war fast wie ein böser Verdruß, den er Allen damit gethan. Man fand es ganz natürlich, daß der Friedhof, der das kleine mit Blumen geschmückte Mariannchen aufgenommen, den erhängten Vater nicht auch aufnahm, man fand es natürlich, daß er nächtlicherweile von den Boten jenes schauerlichen Ortes abgeholt wurde, des »Thürmchens« jenes später zu erwähnenden Selbstmörderkirchhofs, der in so naher Verbindung mit der anatomischen Flanke des Quadrats stand. Hier wurde nicht im Mindesten polemisirt gegen alte Sitte und übliche Gewohnheit. Der schöne Dorich, allgeliebt, allumscheichelt, war dem Gesetz der Selbstmörder verfallen. Er hatte durch den Schnallengurt in der Sattelkammer, an dem er sich erhängte, von der vorgezeichneten, altmoralisch bedingten Welt sich selber ausgestoßen, aus einer Welt, in der diese Menschen einmal gläubig lebten. Und geradezu hieß es: Es war eine Blendung der Hölle gewesen, der Dorich nicht widerstehen konnte. Man sah den Bösen selbst, der solche Opfer umlauert, beschmeichelt, allmälig verwirrt, lockt: Komm, komm in die Sattelkammer! Hier ist's still, kühl, dunkel! Komm! Da, der Riegel, er ist stark genug! Nimm den Schnallenriemen! Um den Hals damit! Du kommst in mein schönes lustiges Reich, in ein ewiges Paris, in den ewigen Venusberg! Und diese Menschen sahen alle den Teufel, der mit eigner Hand dem Dorich die Schlinge zuzog, die doch nur sein Lebensüberdruß und ein Verzweiflungstaumel geknüpft hatte. Man erzählte, daß Unmuth über eine erfahrene Zurücksetzung, Schmerz um ein strafendes Wort des über die nicht aufhörende campagnemäßige Aufführung seiner Leute erzürnten Prinzen, die Bevorzugung mehrer neu angenommener glatter, geschorener, schmeichelnder Diener diese Katastrophe herbeigeführt hatte. Aber reif konnte sie diesen Menschen allmälig doch nur durch den innern ergrimmten Dämon werden, der in dieser Welt keine behagliche Stätte mehr für seine Satanslust fand ... Ja, und der Freund des schönen Dorich? Der Vater? Ihm ging das Begegniß des Kameraden nahe bis zum eignen Tod. Er wurde krank, sprach verwirrt, ja eine Weile konnte man für die Rückkehr seiner Besinnung fürchten. Dann erhob er sich vom Lager, feierlich, ernst bewegt. Er war ein in seinem Sinne neuer Mensch geworden. Ein Wort der Prinzessin Marianne hatte ihn schon längst auf Jesus Christus, den Heiland, das A und das O des Lebens, hingewiesen. Die Wehmuth über Dorichs Ende führte ihn auf seine Jugend, auf sein vielbewegtes, von Gott beschützt gewesenes Leben, und wenn nun auch wohl jene Zeit anbrach, wo die Aemter mit der erwachten »innern Wiedergeburt« vergeben wurden, so war doch nicht des Vaters Ausscheiden von seinem alten Verhältniß zu den Pferden eines Prinzen und sein Uebertritt zu einem kleinen Beamtenposten in des General von Boyen Ministerium allein die Folge jener fürstlichen Aufforderung, sich dem Heiland zuzuwenden; es war wirklich die tiefste Erschütterung seines Innern durch des geliebten Dorichs jammervolles Ende und der Rückblick auf das wunderbar »behütet« gewesene Leben seiner eignen Jugend.



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