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IV.

Sommerlich wohnte in Schönhausen jener Prinz, in dessen Diensten nun sogar beide Schulmeisterwaisen aus Pommerland standen, der Maurer und auch der ehemalige Schneider. Letztrer sogar in einer den hohen Herrschaften unmittelbarsten Nähe. Dies kleine hinter Pankow gelegene Schloß Schönhausen war von einem Parke eingefriedigt, der seine Alleen, Boulingreens, Blumenterrassen, Wasserfälle, kleinen Springbrunnen, seine künstlichen Felsen und von Birkenholz gezimmerten Brückchen hatte wie nur im größeren Style ein Park von Kassel, von Stuttgart oder Versailles. Dem Schlosse gegenüber lagen zwei Reihen Wirthschaftshäuser, die zur Hofhaltung gehörten. Ringsum Felder, Wiesen, Dörfer wie eben die märkischen sind, mit Stroh- und Schindeldächern, großen Wassertümpeln in der Mitte für die Gänse und die Dorfjugend, einer freundlichen, gewiß uralten Kirche, aber sonst wenig Rührsamkeit oder Geist oder Geschmack der Bewohner verrathend ... In diese prinzliche Herrlichkeit ging es schon des Morgens in aller Frühe. Von einem Wirthschaftswagen mitgenommen zu werden und unter den Blüthen und Zweigen der Pankower Landstraße so hinfahren, daß die Hand Blüthen und Zweige im raschen Fluge haschen, abstreifen konnte; so schon des Morgens, wenn alle Glocken läuteten, hinaus aus der staubigen Stadt in die Welt der Lerchen und Schmetterlinge – das gab einen unvergeßlichen Tag der Freude! Alles so still, so feierlich, so morgenfrüh und sonntagsgeweiht in der Natur. In Pankow links schnurrte die Orgel in der kleinen Kirche. Man fuhr vorüber nach Schönhausen, dessen Park mit seinen alten Linden- und Buchenbäumen zur Rechten sich öffnete. Der Onkel in der Livree empfing die Ankommenden unter einem Heck von weißem Flieder, das sich an den Wänden der Dienstwohnungen hinzog und die Aussicht nach den Kirschenbäumen von Französisch Buchholz bot. Wie brannte da die Sonne! Wie summten die Käfer! Wie klopfte das Herz, als der Tisch im Freien gedeckt wurde und es, aus blendweißem Prinzen-Porzellan mit den gemalten goldenen Wappen des gebietenden Herrn drüben im Schlosse, Reis in Milch oder gar eine Tafelreliquie zu verzehren gab! Hier waltete ein Arkadien. Hier sollte der Mensch mit dem Menschen gehen. Wie lieblich diese Niederlassung! Ein poetischer Schmerz hatte sie geschaffen, die Entsagung gepflegt. Die Gattin Friedrichs des Großen, ohne Anspruch auf Liebe, suchte Trost hier in der Natur. Das von dem intriguanten Cosander von Göthe einst gebaute Schloß wurde von der schon bei Lebzeiten ihres Gatten wie Wittwe gewordenen Königin von Grund auf verändert, die Umgebung wie neu geschaffen. Sonst gab es hier Orangerieen, Fasanen, sogar Seidenbau. Von dieser Herrlichkeit hatte sich nur, was reine freie Natur, erhalten. Uralte Eichenbäume, Akazien mit wilden Rosen umrankt, muntre Bäche durch Schilf und an Vergißmeinnichtufern sich hinschlängelnd. Vom Seidenbau blieben die Maulbeerbäume. Welche paradiesische Welt! Bienen, Käfer, Blumen! Und daß man halb hierher gehörte, halb hier heimisch war, mehr als geduldet! Die Fürstin Marianne lud alles was jung und frisch, besonders die Dorfkinder von Schönhausen, zu sich ein und ließ sie mit den eignen Söhnen und Töchtern, – unter ihnen jetzt eine Königin – auf einige Stunden Kameradschaft schließen. Die Lakaien putzten natürlich erst den Bauernjungen die Nasen und die Kammerjungfern untersuchten die Mädchen, ob sie ordentlich gewaschen und gekämmt waren. Dann durfte der ganze Troß mit den größeren und kleineren Hoheiten an langgedeckten Tischen frischgestrichene Buttersemmeln schmausen, Milch trinken oder Kirschen und Birnen essen. Arme Täuschung einer gewiß wohlgemeinten Absicht! In dieser Form kann allerdings die künftige vornehme Herablassung angebahnt werden, aber ob auch die wahre Demuth und die Bescheidenheit der Großen? Es wurde gespielt zwischen Arm und Reich, Gering und Vornehm. Aber nur der wilde Necksinn und Haschegeist tobt sich doch wohl allein da bei dem vornehmen Blute aus. Es wird ihm die erste Gelegenheit geboten, seine Kraft, sein Vorrecht zu üben. Die Unbill der jungen Löwen muß schon sehr wild und übermüthig werden, wenn die zuschauende Brille des Hofgelehrten bei einer Gewaltthat den Ausschlag nach der leidenden Seite hin giebt. Die jungen Herrscher im Wüstenreich üben in diesem Spiel mit kleinen Hunden und Katzen doch nur ihre erste Kraft, erhalten ihre erste Ahnung von der Allmacht des künftigen Riesen, nicht von seiner Schwäche und seiner oft so nothwendigen Demuth. Im fünfzehnten Jahre hört doch all diese angebahnte »Popularität«, all dieser Umgang mit Menschenspielzeug auf. Dann bekommen die jungen Göttersöhne »ebenbürtige« Gesellschaft und grade umgekehrt – wäre besser gewesen. Bei erwachender Kraft sogleich Aufforderung zur Selbstbeschränkung, im ersten Vollgefühl gleich der Bruch durch feinere Spielkameradschaft, die sich nicht unbedingt ergiebt, sondern zu wehren weiß, und dem gereiften Jüngling dann immerhin Bauernknaben und die Armuth, nicht aber zum Spiel und Umgang, sondern zum Studium!

In Prinzessin Marianne wohnte ein wirklich idyllisch-poetischer gemüthvoller Sinn. Diese hohe Dame hätte am liebsten immer im Freien gelebt unter blauem Himmelszelt und wäre auf grünem Wiesenteppich am liebsten durchs Leben gewandelt. Ihre Tafel wurde, wenn irgend möglich, unter einigen Orangebäumen und Blumenterrassen an der Gartenfronte des kleinen, dumpfdüstern und etwas feuchten Schlosses aufgeschlagen. Ihr hoheitsvoller Schritt wandte sich gern mit werkthätiger Theilnahme mitten ins Leben der Armen. Sie suchte da auch für die christliche Wiedergeburt zu wirken, die damals den Pietismus in Preußen zu so hoher Geltung brachte. Daß aber ein freigewordenes Bewußtsein auch hier wieder von den wohlmeinenden Menschen leider abweichen muß! Die Gottseligkeit trat in dieser Sphäre nicht als das dürre Skelett auf, wie sich der Pietismus schon in einigen Kirchen und den Conventikeln zeigte oder mit jenem Cynismus, wie bei unserm apokalyptischen Vetter Wilhelm. Die Bedürfnisse des Luxus verschönerten ja das Prinzip der weltlichen Entsagung und hauchten auch darüber eine Grazie, die ihren eigenen speziellen Reiz hat. Der Erlöser wird hier nicht nur im Herzen getragen, sondern auch auf ihm, und ist dieß in Gestalt einer Mosaik-Broche nach Carlo Dolce, was ist da groß Entsagung? Es schwebt dem gläubigen Blick nicht nur das Kreuz unsichtbar im Gehen und Wandeln vorm Auge, sondern an der Wand vermittelt ein Gemälde von Wach oder Begas, in schwerem goldnen Rahmen, das innere Bedürfniß des Herzens auch mit dem äußern des Auges. Die Großen haben gut ausrufen: »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!« Der Herr schmückt ihnen ihr Haus mit Crucifixen von Silber, Breviarien voll reizender Miniaturen, Bibeln voll Handzeichnungen von Cornelius, mit bunten gebrannten Fensterscheiben nach Werken von Overbeck, mit geschnitzten Betstühlen aus Jacarandenholz. Sammetpolster erleichtern das Knieen. Franzen spielen um die zum Beten gekreuzten Hände. Der vornehme Pietismus kann an Pascal, an Paul Gerhard, an Angelus Silesius ein allgemein-literarisches, ein poetisch-geistreiches Interesse wie an Göthe und Jean Paul nehmen, während Schmolke und Arndts wahres Christenthum für die geistige und leibliche Armuth spezifisch völlig anders wirken, als Pascal, Paul Gerhard, Angelus Silesius für die vornehme Bildung wirken. Ein bekannter Monarch unter seinen Kupferstichmappen, unter seinen Grundrissen zu byzantinischen Bauten, unter seinem Studium des Puseyismus und der anglikanischen Kirche befriedigt mit diesem exclusiven Geschmack in sich ein spezifisch andres Bedürfniß, als sein Volk mit dem Oberkirchenrath, der Gemeindezucht und der Sonntagsfeier oder der Arme mit seinem Porstenschen Gesangbuch befriedigen soll. Die grünen Pfingstmaien, die das Haus des Armen schmücken sollen, werden nicht von jenem Cedernbaum gebrochen, unter dessen heiligen Schatten sich die exclusive Bildung in reizendster Geistigkeit gehoben fühlt. Euch tischt der Pietismus goldne Früchte in silbernen Schalen auf, dem Armen aber auf kahlem Sandboden nur die ewig dürren Tannenzapfen der Entsagung!

Die Heuchelei und der Fanatismus beißen freilich auch auf diese Tannenzapfen an. Was wird nicht in der Nähe der Großen geheuchelt und schaamlos gelogen! Diese edle Fürstin mahnte überall zur Bekehrung. Die Sünder schlugen die lügenden Augen nieder, andre Wiedergeborne hoben sie verzückt empor. Und leider läßt sich eine gute Seite selbst der Heuchelei nicht absprechen. Die äußern Sitten mildern sich; wenigstens scheinbar kehrt man einen Menschen heraus, der seine Leidenschaften bekämpft. Wie lange es währt, wie lange man den innern morschen Schwamm verbirgt, wie lange sich die Großen ihre Umgebung künstlich wie eine grüne stille Vegetation erschaffen, endlich wird doch die Wahrheit an den Tag kommen und die grüne Fläche sind dann Wasserlinsen auf einem Sumpf gewesen. Sie wollen es aber nicht hören, sie suchen keine Aufklärung, sie lassen Alles ununtersucht hingehen, wenn nur nicht die Täuschung sich von selber aufdeckt und die Heuchler, denen Güte und Vertrauen die meisten Wohlthaten zuwandte, sich zuletzt auch zu scheußlich undankbar und grauenvoll unwürdig zeigen. An Beispielen für diese bittere Erfahrung fehlte es nicht in jenem hohen, von einem Kinde beobachteten Kreise.

Der Apokalyptiker hatte auch hierin den rechten Maaßstab. Er machte kein Wesens von der Frömmigkeit der Großen. Wenn die Carossen an der Spittel- oder Georgen- oder Böhmischen Kirche so dicht gedrängt standen, daß die Armen kaum zur Thüre einkonnten, lächelte er über die geputzte Herrlichkeit und kam meistentheils auf die Pharisäer zurück und den Spruch vom Nadelöhr, durch das eher ein Kameel hindurch käme, als daß ein Reicher ins Himmelreich käme. Er erklärte, den Wahn der Großen wohl zu kennen, die sich einbildeten, auch dermaleinst im Himmel, wie in der Spittelkirche, die ersten Plätze, wie der Kanzel so dem Throne Gottes gegenüber, zu erhalten. Sehr verdächtig war ihm die neue Hof- und Dom-Agende mit ihrer katholischen Liturgie. Er witterte auch darin etwas von den geheimen Künsten seiner »Propriande«, die nicht eher ruhen würde, als bis in Berlin ein römischer Bischof säße. Sind die apokalyptischen Zeiten nun nicht da?

Charlottenburg und die Veste Spandau wurden dem Bruder zu Lieb besucht, der alle zwei Jahre dort in Garnison stand. Diese Reisewanderungen mit allem Reiz der buntesten Abwechselung begannen Sonntags in erster geheimster Morgenfrühe. Grau und leichenfahl lag noch Dämmerung auf allen Straßen; sogar der weltberühmte Berliner Staub war noch vom Thau befeuchtet niedergeschlagen. Durch den grünen Kastanienwald der Universität schimmerte ein lichter Streifen purpurgelber Frühröthe. Schlimme Vorbedeutung, wenn auf dem nahen »Hühnerhof« die Hähne krähten und es Regen geben konnte! Unter den Linden, in den Palästen der Vornehmen alles noch im tiefsten Schlummer, selbst diejenigen Läden noch geschlossen, die sich am ersten zu öffnen pflegen, die der Bäcker. Im Thiergarten dann, wie zwitscherte es von allen Zweigen! An der breiten, wohlgepflegten Kunststraße entlang rechts und links ziehen sich niedere Wege, die in frohem Gleichschritt erwartungsvoll glückselig durchmessen wurden. Durch die Säulen des Brandenburger Thores mehrte sich schon die Gluth der erwachenden Sonne. Die Hähne hatten Unrecht. Es giebt das herrlichste Wetter. Der Thiergarten, damals noch so wild, so verworren, so sumpfigüppig. Noch herrschte hier Herr Fintelmann, nicht der Parkologe Lenné. Hinter dem früheren »Venusbassin«, späteren prosaischeren Karpfenteich, linker Hand vom Wege, wucherte es von Schaafgarben, Winden, Farrenkräutern, Schirling und Wolfsmilch. Eidechsen huschen in die hohen Gräser. Rechts der Blick nach dem sogar von Delille besungenen Bellevüe und der vielbewunderten bronzenen Kanone, die Prinz August, ein berühmter Held (in der Prusse galante), eigenhändig von Franzosen erobert haben soll. Nun kam das freundliche Rondeel, das mit einigen finger- und nasenlosen Sandsteinfiguren geziert war und vom Volke ohne besondere Kunstneigung: »Die Puppen«, (hochdeutsch: »Die Pupfen«) genannt wurde, sonst aber, zu Knobelsdorfs Zeiten, auch poetischer, der »große Stern« hieß. Rings geschnittene Hecken. Die Gränze Bellevües mit einem erhöhten chinesischen Pavillon. Weiter schreitend mehrte sich die wilde Sumpfvegetation. Lazerten und Frösche huschen erschreckend vor den Frühwanderern in das bergende Dickicht, wo aus moorigem Boden die fächerpalmenartigen Farrenkräuter sich strecken, die lockenden Blüthen der giftigen Aaronswurzel auf schwarzbraunem Stengel sich wiegen, gelbweiße große Pilze sich von einem inzwischen abgebrochenen grünen Wanderstecken eine rasche Zerstörung gefallen lassen müssen. Endlich war der Schlagbaum der Wegegeldabgabe erreicht, wo ein Wagenlenker des Königs noch kürzlich, an den Säulen anstreifend, den Hals bricht. Der Unfall wird vom Vater in den kleinsten Details erzählt, ganz so, wie die Mutter seine schauerliche Ausführlichkeit und allzulebhafte Phantasie »in den Tod« nicht leiden konnte. Schon blitzten die Sonnenstrahlen inzwischen in voller Kraft und vergoldeten die Fasanerie, das Crelingerberühmte »Knie« und vor dem Blicke liegend nun Charlottenburg, wo es schon lebendig geworden. Rüstete sich hier Sonntags doch alles auf die Gäste der großen Residenz. Da öffneten sich die Jalousieen der Sommerwohnungen, Blumen, besonders die Lieblinge jener Epoche, die Hortensien, wurden erfrischt, die Wege vorm Hause gegen den drohenden Sonntagsstaub im Voraus benetzt. Links belebte sich schon der große Platz, wo der berühmte Kolter seine halsbrechenden Seiltänzerkünste zeigte. Und die Bäckerläden sind offen! Vorräthe für Spandau werden frisch vom heißen Brett gekauft! Wie knistert das warme gelbe Brod! Wie wird die Waare von Charlottenburg gerühmt, mit der Berliner verglichen, wie wird die großstädtische Bäckerinnung als die selbstsüchtigste, hochmüthigste und »bredalste« (brutalste) aller Berliner Gilden attakirt! Das stolze Schloß zur Rechten mit seinem grünen Kupferdach und der goldnen Krone unterbricht diese Vergleiche. Jetzt würde sich der Blick an dem Wetteifer laben, der in diesem stattlichen Gebäude zwischen seinen beiden sich so feindlichen Erbauern, Schlüter und Cosander von Göthe, erkennbar ist; damals lag die ganze Herrlichkeit dieses Schlosses nur in einer großen Gartenglocke, die im Parkteiche uralte bemooste Karpfenhäupter auf den obern Wasserspiegel lockt. Das Ohr lauschte dem Wiehern und Kettenrasseln an den linksliegenden Ställen der helmbebuschten Eisenreiter. Diese gewaltigen Reisige ruft eben die Trompete zum Füttern der Pferde. Wie solche Morgenreveilletöne, ob nun in Kirchenvigilien oder im zweiten Akt von Mehuls Joseph in Egypten oder wie hier bei Kriegern, so liebevoll beredsam zum Leben aufrufen! Die Reveillecadenz der Berliner Signalhörner, aufsteigend erst, dann sich senkend, dann so lang hingezogen und in den Sonnenaufgang hinein melancholisch verhallend, ist des Knaben süßeste erste musikalische Erinnerung. Hier bei den Reitern hatte die schmetternde Trompete nicht den schönen Tonfall wie das Signalhorn von der Königswache in Berlin herüber durch den Kastanienwald, aber mit frohem Muthe ging es doch hinter den Magazinen der Gardes du Corps jetzt der steigenden Sandebene zu, die damals ein müheseliger Weg nach Spandau durchschnitt. Jetzt braust hier die Locomotive; damals war noch nicht einmal jene Kunststraße gebaut, von der man erzählte, daß sie ein gewaltthätiger bürgerlicher Gutsbesitzer, der im Jähzorn einen Knecht erschlagen, zur Ablösung der Todesstrafe hatte erbauen müssen. Diese mühselige Wanderung über die sandige Steppe, die dünngesäeten Kornfelder und die allein nur hier ganz gedeihenden, blühenden Kartoffeln! Dennoch sang die Lerche hier so gut, wie sie nur auf der goldnen Aue singen mag, sie hob sich, sie schwebte, sie wirbelte nieder und machte Muth, tapfer auszuharren. Kam doch hinter einer großen einsamen Windmühle bald eine Waldstrecke, die gegen den nun schon immer heißeren Sonnenstrahl Schatten bot. Es waren nur Tannen, nur Birken, aber sie standen dichtgeschaart. Ueber ihre knorrigen aus der Erde starrenden Wurzeln hinweg schritt sich's wohlig und heiter und oft betrachteten wir die Stelle, wo in dieser verrufenen, bis nach Potsdam sich hinziehenden Waldwildniß bei nächtlicher Rückkehr von Berlin der Bruder von »Räubern« angefallen war und mit seinem Säbel sich erst hatte Weg bahnen müssen. Endlich öffneten sich die Niederungen, die zur rechtsherum mit gefälligster Waldumkränzung sich ziehenden Spree führten. Der Weg ging abwärts und bot in den sich niedersenkenden Baumgruppen, durch die die Sonnenlichter, die grünen Wiesen, die Wogen des Flusses und schon die Thürme Spandau's mit ihren goldnen Zifferblättern blitzten, während links der Wald an Dichtigkeit zunehmend, emporstieg zu der »Gebirgskette« der Pichelsberge, einen malerischen Anblick. Nun quer um Heck und Zaun herum über die Wiesen. An einem langen Erdwall wurde still gehalten. Hier unter hunderttausenden weißer Sternblümchen lagen die gefallenen jungen Freiwilligen, die 1813 Spandau von den Franzosen zurückerobern wollten. Es läuteten schon die Glocken der nahen Stadt herüber zur Kirche. Rechts lag schon die wasserumgürtete uralte, von Italienern unter Leitung des Florentinischen Grafen von Lynar erbaute Festung mit der schwarzweißen Fahne. Der von der Jungfernheide malerisch umkränzte Fluß belebte sich oder »Schifferkähne« hielten Sonntagsrast an seinen Ufern. Eine schwarzweiß bemalte Zugbrücke führte endlich in die Stadt, deren Thor ein gewaltiger Thurm schützte, den sich die Knaben-Phantasie nur als über und über mit Pulver angefüllt dachte. Der Vater öffnete den Deckel seiner Pfeife, schüttete die Asche in den Zusammenfluß der Spree mit der Havel, steckte den noch heißen Pfeifenkopf in die Tasche, wünschte dem Brückenmeister einen guten Morgen! Man war in Spandau.

Diese mühselige dreistündige Wanderung mit Weib und Kind, mit Verwandten und liebendem Anhang! Und Abends zu Fuß zurück mit gleichem Muthe! Die Belohnung, den Bruder mit dem stolzen schwankenden Federbusch auf dem Appell zu sehen, seine kommandirende Stimme bei der Kirchenparade zu hören, sein Quartier hinterm Kinkel-berühmten Zuchthause zu besuchen, Nachmittags in die innere Festung zu wandern, den Juliusthurm, die Baukünste der Italiener und jenes poetischen, abenteuerlichen Lynar, der am Tassohofe von Ferrara erzogen, die Mark mit Italien vermittelte, zu bestaunen, sich dort wiegen und im uralten Wagebuch notiren zu lassen, dann auf dem Schützenhause die Philister kegeln zu sehen, welche Reisebelohnung! Zu fragen und zu träumen, zu gaffen und zu hören gab es da Unermeßliches. Nicht nur die großartigen Thatsachen vom Glaçis, von den Laufgräben, von Pallisaden, Schanzkörben, den Ueberschwemmungsschleusen, den Kasematten, den Mörsern, den Bomben – die Festung hat mit ihrem Wasser, ihren Bauholzplätzen, pappelgeschmückten Eingangsthoren etwas Holländisches und würde sich mit Winterstaffage ganz wie ein Vandervelde ausnehmen – nicht nur die Chronik des Zuchthauses, die von den galgenwürdigsten Verbrechern, die Chronik der Festung, die von Studenten mit langen Haaren und Bärten erzählte, sondern auch die kleine Bürgerwelt nahm den gaffenden, horchenden, lauernden Kindersinn gefangen und wär' es nur eine Spandauer Tischler- oder Schusterwerkstatt gewesen, durch deren sonntägliche Ruhe man hindurchschreiten mußte, um in's Quartier des Bruders zu kommen, oder ein Kamerad, der von seiner schlesischen Heimath erzählte, oder die Frau des Feldwebels, die die Großartige spielen wollte und die fremden Gäste lukullisch zu bewirthen sich tummelte. Wie wurde inzwischen wieder das Brod von Spandau gerühmt! Wie wurden diese schlichten kleinstädtischen Bäcker wieder den Berlinern zum Muster empfohlen! Wie wurden Fleisch, Mehl, Hülsenfrüchte in ihren laufenden Preisen und ihrer unverfälschten, quellenreinen Güte mit der Theurung in der sündenverlornen, lug- und trugergebenen Hauptstadt verglichen! Die halbe Welt der Kleinen dreht sich ja um nichts, als um die nächste Existenz und die Chronik des Marktes. Man reichte sich wonnevoll das Weißbrod im Kreise, pries die Krume, wie locker, wie ausgebacken sie war. Man bewunderte den Reichthum an kleinen, weißen, rothflossigen Fischen, den die zur Havel gewordene Spree wohlfeil abwarf. Konnte man einen so glücklichen Ort verlassen, ohne sich noch einen Sack voll gedörrten Obstes mitzunehmen? Wie glücklich wurde der gepriesen, der hier im Bunde mit vier oder fünf Nachbarn ein Schwein sich mästen, für sich allein drei Gänse im Koben »nudeln« konnte! Welch ein unerschöpfliches Thema dieser Kampf der geringen Mittel mit dem großen Bedürfniß des Lebens! Und wie weiß es Einer immer besser, als der Andre! Wie reich sind diese Erfahrungen, wie mannichfach diese Methoden zum Leben! Sparen, zu Etwas kommen, sich einrichten, das sind die gemeinsamen Ziele des gemeinsamen Wettlaufes, wo es aber die kleine runde Frau des Einen so, die magere lange des Andern ganz anders anfängt. O die Männer müssen denken und sollen auch denken, sie hätten Hennen mit goldnen Eiern geheirathet. Die Männer schweigen zu all den Frauenprahlereien, blicken nur ernst, hören den Zungenherrlichkeiten mit holländischer Geduld zu, rauchen gläubig oder lächelnd ungläubig aus den kurzen thönernen Staatspfeifen, trinken ihr leckeres Spandauer Bier und erfahren jetzt erst, was ihnen eigentlich in ihren Ehehälften für eine wunderbare Bescheerung wurde. Manche schäkern wohl auch mit den fremden Weibsen, verlassen die Parthie ihrer Frau, schmunzeln mit der redseligen Spandauer Frau Meisterin, die ein so windschnelles Mundwerk hat. Das setzt dann hintennach tragische Heimgangsdialoge, schmollende, ohnehin prickelnde Ermüdungsvorwürfe, zankende Gardinenpredigten ... und die sonnenhellsten Tage endeten dann wohl gar, wie die Hähne prophezeit hatten, wirklich mit Blitz und Donner ... und »kein Mensch mehr brächte Einen dahinüber nach Spandau ...« und um das Unglück voll zu machen, kochen sich hintennach die mitgebrachten gebackenen Dürrfrüchte ganz erbärmlich, sind steinhart und reichen nicht im Entferntesten an die Waare, die man von dem großstädtischen Vorkosthändler an der Friedrichs- und Dorotheenstraßenecke geliefert bekommt. Durchzieht diese Staffage mit einigen wunderlichen Lebensverwickelungen, so habt Ihr die ganze Welt des norddeutschen kleinen Bürgers und seines Lebens einzige bescheidene Romantik!

Wohin horcht nicht alles ein Kinderohr und schleicht sich leise in die Menschenzustände ein! Es ahnt so früh, so früh schon auch die zerreißende Dissonanz des Lebens. Das Kind schreit auf, wenn der Druck des rauhen Daseins und der Unbildung auf die zarte Seele auch zu hart, zu plump gewaltthätig wird. Es möchte so gern in Liebe alles verbinden, jeden Zwiespalt versöhnen, überall nur Glück und Freude sehen. Die Vögel können aber im Sturm nicht ängstlicher flattern, wie ein Kinderherz zittert, wenn nur schon die Wolken heraufziehen, die Leidenschaften so im Voraus erst plänkeln, erst schußfertig sind, noch gar nicht pelotonweise losstürmen. Aber kommen dann die Salven, kommen dann die rechten Kreuzfeuer, Ladung auf Ladung, wie fliegen die jammernden Friedensstifter hin und her und beschwören die Partheien bei allen Himmeln, allen Paradiesen, abzulassen von der schnöden, wilden Menschennatur! Und immer schwerer wird das Weh in der Kinderbrust. Es ballt sich beim Anblick so vieler Wildheit die Wolke zusammen, die nun gleich regnen muß. Sie kann sich nicht mehr halten in der freien Luftschwebe, sie muß hernieder, muß weinen. Armer Narr! Gewöhne dich nur an den Einblick in die bewußte Thatkraft des mündigen Lebens, an dies Unglück, an jenes Verbrechen, an tausend Rechnungen, die nicht mehr so aufgehen, wie deine ersten Exempel auf der schwarzen Schiefertafel! Da kommt ein Haufe Menschen. Ein Reiter stürzte, wird getragen, das Pferd zerschlug ihm mit dem Huf die Brust; er sieht noch etwas wie irr im Kreise um sich, das Auge bricht, er ist todt. Ein lieber Gespiele legt sich aufs Krankenlager, sie fahren ihn im Sarge hinaus auf den Friedhof. Die Erfüllung eines Wunsches, die ein Großer den Eltern verspricht, schlägt fehl. Der Vater kommt händeringend, er hat einen Brief mit Geld verloren, der nicht ihm gehörte. Bei einem Verwandten wird gestohlen, eingebrochen, der Armuth noch ihre Dürftigkeit geraubt. Der Druck schlechter Zeiten, das Zurückgehen der Geschäfte sind Dämonen, die sich mit kummervoller Miene, das Haupt aufstützend in einem Winkel der Stube wie der jüdische Dalles hocken, keine Antwort geben, wenn man sie anredet, starr zur Erde niederblicken und im Kinde die ersten Zweifel an Gottes liebendem Vaterherzen wecken. O wie verdunkelt sich immer mehr der blaue Wolkengrund, in dem sich das Kind leibhaftig thronend auf goldnen Sonnenstreifen den Herrn der Erde, den Vater im Himmel dachte! So leibhaftig, so wie gemalt im Bilde schwebt im Abendsonnenlicht der ernste Patriarch mit ehrwürdigem Bart, der die Welt geschaffen hat, vor dem vertrauenden Auge des Kindes. Aber Satans Macht wächst, wächst immer höher, immer weiter rückt das Gute hinweg und das Böse siegt zu oft. Die Sorge klopft an die Thür. Sie kommt auch ohne unser Herein! Sie wird Gast im Hause, täglicher, sie bläst alle Kartenhäuser des Kindes um, wirft alles Spielzeug in die Ecke, rauft alle Blumen aus, beirrt den Wuchs, den freiaufstrebenden Wuchs des jungen Lebensmuthes, legt Bleigewicht an jede zu weit ausholende Pendelschwingung, verkümmert, verringert, beängstigt alle Athemzüge. Die Sorge kann sogar den Trieb der Freiheit für immer auslöschen wie ein Licht.

Der große sichtbare Gottvater in farbestrahlenden Wolken verschwindet auch dem rationellen Glauben des Kindes allmälig. Die innere Offenbarung regt sich. Es fangen Stimmen mit uns zu reden an, die nur von Geistern kommen können. Gott ist ein Geist und Unsichtbares auch umweht den jungen Keim, der sich vielmehr als Durchgang des Erdengeheimnisses noch fühlt, als der erstarkte künftige Stamm. Die räthselhafte unerklärliche Wehmuth des Kinderherzens überschleicht den Einsamen. Das Ziel des Lebens ist so hoch, die Welt so weit und du bist allein und hülflos! Wer wird deine Hand ergreifen, wer dich führen durch dies dunkle Labyrinth! Diese Kinderwehmuth ... ist sie ein unerklärtes Heimweh zurück zum räthselhaften Lande des Nichts oder eine Vorahnung zukünftigen Lebens? Debetur puero reverentia! Wir schulden heilige Scheu dem Kinde! Darin liegt mehr, als nur die Aufforderung, dem Kinde sich nicht zu zeigen, wie Noah sich seinen Töchtern zeigte, mehr als die Aufforderung zu moralischer Schicklichkeit. Ein sinniges Kind nimmt jeden Schmerz wie mit seinem ganzen offnen Nervengeflecht der Empfindung hin. Es geht ihm tief ins Leben, wenn es leidet. Eine Kinderkränkung wirkt nicht etwa blos äußerlich auf den Stolz und duckt etwa nur ein Stehaufmännchen in seine Schachtel nieder; nein, sie erzeugt eine so tiefe Verlassenheit des Gemüthes, eine solche Wehmuth aller Stimmungen, daß es mehr als Rohheit ist, wenn man glaubt, durch Spott oder lachende Zurede den innern Brand des doch großgeglaubten Unglücks zu kühlen. Die Armuth, die bürgerliche Armuth eines Strebsamen weckt Klagetöne der Seele, die sich in Worten nicht aussprechen lassen. Die Schwere des allgemeinen, so endlichen, so halben Menschenlooses fällt schon beim Kinde so gewaltsam oft ins Herz nieder, daß der Erzieher nicht sanft und mitleidsvoll genug die zagende Seele zu sich emporrichten kann.

Wie ist ein Kind so rührend, wenn es krank wird! Der leise Ton der Stimme dann, die lächelnde Ergebung und dieser zehrende, liebesuchende Blick! Sonst der wilde frohe Uebermuth und nun diese Bändigung! In Krankheiten entwickelt sich das Gemüth der Kinder. Sie erstehen reifer, innerlicher vom Lager, als sie sich legten. Die Entwickelung des Körpers steht fast still und läßt dem Wachsen der Seele Zeit. Wie dem Knaben schon das Klingen im Ohr eine wunderbare Wirkung war! Dies von Erkältung plötzlich eintretende Singen und Summen war ihm wie das Rauschen eines unsichtbaren Meeres, das halb dem Leben, halb der Geisterwelt angehört. Es weckte Melodie und Farbe, Sehnsucht ins Unendliche, etwas so Ideales, etwa wie bei späteren klareren Vorstellungen ein Anblick der Laokoongruppe in der Akademie als der berauschendste Vorzauber Italiens empfunden wurde. Die grünen, blauen, rothen Flecken vor einem Auge, das zu lange in die Sonne geblickt hatte, verzauberten die ganze Welt und schon früh reizte es den Träumer, sich absichtlich die Augen zuzudrücken und an jenen wunderbaren kaleidoskopischen Bildungen sich zu weiden, die die Sehnerven sich im Dunkeln selber schufen. Das war eine Pracht von bunten Formen und Lichtern, wie gestickte Teppiche oder gemalte Fensterscheiben, in den reichsten symmetrischen Mustern, viel schöner als die zum Sticken bestimmten, die am Wittich'schen Laden in der Jägerstraße hingen. Bei Erkältungsfiebern begann sogleich jenes »Phantasieren«, das bis in die Jünglingszeit eine ängstliche Plage der Eltern blieb. Dann schien dem Erkrankten Abends das Bett umzingelt wie von lauter kleinen dicken Männern mit langen gräulichen Nasen, wo einer den andern wegdrängte, oder es begann jenes Gefühl des Schwebens, Aufsteigens in die Luft, das jammernde Hülferufen um Rettung vor dem Niederstürzen. Dies Schweben in den Lüften und Niederfallen aus allen Wolken widerholte sich regelmäßig bei jedem Unwohlsein. Der Knabe wußte dabei mit offnem Auge, daß ihn Vater und Mutter in den Armen hielten und doch jammerte er, daß er stürzen, stürzen müsse ins Unendliche und sich nicht halten könne hoch in allen Lüften. Ein pommersches Gegenmittel: Ein Kübel Wasser über den Kopf! wurde von der Mutter zurückgewiesen. Sie tröstete und sprach so lange dem fiebernden Knaben zu, bis dieser sich sammelte und erschöpft einschlief ... Alles höhere, geistige, innerlichste Wachsen des Menschen ist halbe Krankheit.

Die Vermittelung mit dem Arzte ist bei manchen Lebenslagen dann ohnehin die einzige, die eine ganze Schicht der Gesellschaft überhaupt einmal in unmittelbare Bildungsnähe bringen kann. Es kann so arme Existenzen geben, daß der Arzt der Einzige ist, der jemals aus der Welt des Fracks und der Handschuhe mit ihnen in Berührung kommt, der Einzige, der in gewählter Sprache nach ihrem Wohl und Wehe frägt. So sehr Paria war der Knabe nicht; aber in dem Vorfahren und dem Eintreten jenes kleinen, strengen, kurzangebundenen, scharfblickenden, raschbefehlenden Hofrath K. lag etwas so unendlich Vornehmes und Erschreckendes, daß darin allein schon jeder Krankheit ein momentanes Halt! geboten wurde. Hofrath K. wurde bei jedem Uebel angegangen, aber die Eltern gehörten, wie alle Menschen aus dem Volke. weniger der lateinischen Heilkunde, als der traditionellen Hausmittellehre an. Sie hörten am liebsten von alten Frauen, die Drüsen heilten und Kindern den Zapfen hoben, von alten Schäfern, die die Rose besprachen, und, wie jener Schäfer in der Kaserne, schlimme Entzündungen mit Salben sanft auflösen konnten. Die liebsten Formen des Heilmittels sind dem Volke der Kräutertrank und die Salbe. Zu Salben besonders liegt ihm ein Auszug aller feinen Kräfte der Natur. Einfache Kräutermischungen und gewisse Fetttheile des Thieres, Biebergeil, zerriebene Gallensteine oder ähnliche Mischungen scheinen ihm allein bestimmt, den Heil-Segen Gottes zu tragen. Und das Allerheilsamste bleibt dem Volk das Wunder. Die Sympathie entfernt die Rose, die Warzen, die Ausschläge und greift in den Organismus der Schöpfung selbst ein. Die medizinische Polizei ist beständig auf der Jagd gegen die Volksärzte, aber sie entstehen doch immer wieder in den Winkeln und Hinterhöfen und einsamen Vorwerken vor den Thoren. Man tritt bei solchen unzünftigen Aerzten ein. Sie sitzen bei ihrer sonst üblichen Gewerbesarbeit und fahren uns rauh und hart an, wenn wir von ihnen Bewährung ihrer Heilkraft erbitten. Theils ist dies die Furcht vor Verrath, theils aber auch der alte schon in Delphi bekanntgewesene Drang der sträubenden Ablehnung jeder übernatürlichen Zumuthung von Seiten solcher Uebernatürlichbegabten. Allmälig beschwichtigt man die Polternden und sie rücken mit ihren Künsten hervor. So lernte der Knabe einst eine Art von Hexe kennen und sogar eine, die dicht im Schatten des Domes und des Königlichen Schlosses wohnte.

Die altergraue, von Bäumen beschattete Hofapotheke liegt in dem mittelalterlichen Flügelreste des Schlosses. Neben dieser Werkstatt Aeskulaps, wo mit scheuer Ehrerbietung die ausgestopften Vögel des Vorgemachs bewundert wurden, bis die Arzeneien durch das Fenster des Provisors abgeliefert waren, lag die bescheidene Hütte einer Heilkundigen, die sich geradezu als eine Zauberin dem Kinde darbot. An derselben Stelle, wo jetzt die Grundmauern des Campo Santo sich erheben und die kleine »Laufbrücke« nach der Burgstraße noch nicht geschlagen war, stand im Schutze des neugebauten Domes ein Durcheinander kleiner Hütten und Baracken und dicht hier am Schlosse, dicht an einer zünftigen Werkstatt Aeskulaps, dicht an der Hof- und Domkirche vertrieb eine alte, lange, hagre Frau, der man sich nur nach vielem Bitten und Betteln um Hülfe nähern durfte, den Kindern die Drüsen, drehte ihnen die steifen Hälse um, »hob die Zapfen«, wahrsagte aus Karten oder Kaffeesatz, lehrte Sympathie mit rohem Fleisch, das in die Erde unter eine tröpfelnde Dachrinne begraben werden mußte und trieb ähnliche wunderbare Abacadabras der Volksheilkunde. An derselben Stelle, wo Cornelius die Heilwunder Christi malen wird, nahm diese finstre, unfreundliche Alte vier Groschen für einen »eingerenkten« steifen Kinder-Hals. Auf dem lichthellen Lustgarten, jenseits der so morsch und mürbe gewordenen, jetzt entfernten Pappeln, über den alten, nun auch dislocirten Dessauer Zopf hinweg lag dieser stille mystische Winkel ohnehin wie ein schauerliches Geheimniß, welches sich dem damals vielleicht sechsjährigen Knaben so eingeprägt hat, daß er nicht nur den Besuch im kleinen düstren Zimmer der Hexe selbst bis in's kleinste Detail der wachstuchumhüllten Vogelbauer, des Bettes im Zimmer, der Schränke, des Stuhls, auf den er sich setzen mußte, beschreiben könnte, sondern auch noch deutlich jene braunglänzenden aufgeplatzten Kastanien vor sich sieht, die er auf dem Heimwege an der Universität in die Taschen steckte, da sein steifer Hals, gedreht, bestrichen, gedrückt von der schnarrenden griesgrämlichen Wunderthäterin sich in der That wieder bücken konnte. Denn was auch in der Erinnerung aus der Kinderzeit im Gedächtniß Alles parallel läuft, (Kastanien und ein steifer Hals) das könnte allenfalls nur von der Logik eines Straußenmagens verdaut werden.

Dem innern Drängen des Geistes, der endlich über die dämonische Macht des Körpers einige nachhaltigere Kraft gewinnt, kommt die Schule, die Kirche und die Bücherwelt mit kräftig helfenden Armen entgegen. Das sind denn so gewaltige Liebkosungen, so lang sich ausstreckende Hülfeleistungen der bereits bestehenden Welt, daß sie bald das ganze Jugendleben allein gefangen nehmen.



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