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V.

Als der siebenjährige Knabe zum ersten Male in die Schule sollte, erhob er das kläglichste Geschrei. Die Schwester sollte ihn zu einem Meister Schubert führen, der an der Dorotheenstädtischen Kirche eine achtbare »Klippschule« unterhielt. Weiter aber, als hundert Schritte vom Hause, brachte den Schulrefractär die Schwester nicht. Dicht hinter der Eingangspforte zur Astronomie, fast schon an den düstern Fenstern der Anatomie, da, wo einst Maupertuis oder Voltaire die Sternwarte besteigen wollte und mit einer Leiche carambolirte, so daß ein für allemal die Akademiker einen eignen Eingang zum Sternenhimmel und die Anatomen einen eignen Eingang zu ihren Obductionen von Friedrich dem Großen angewiesen erhielten; an derselben Stelle warf sich ein widerspenstiger junger Rekrut des Lernens auf die Erde, schrie, schlug mit Händen und Füßen um sich und schien unter keinerlei Umständen etwas vom Wissen wissen zu wollen. Der Junge schien als Ignorantiner überhaupt eine Ahnung der Gefahr alles Wissens zu haben. Seine eigentliche Marotte war die, zu Jedem, der ihn um seinen künftigen Beruf fragte, zu sagen: »Ich werde ein Bildhauer.« Was brauchte ein Bildhauer in die Schule zu gehen? Auf die Frage der Vorübergehenden, die zahlreich still standen, was der Junge da so gezerrt würde, hieß es: Er will nicht in die Schule. Da gab es Verwünschungen und Spottreden genug. Keiner hörte aber auf den wahren Grund der Weigerung. Es war dies kein andrer, als das ihn noch heute in furchtbarer Todesangst sehr oft anwehende Wort: »Er wisse Nichts!« Die Schwester wagte kaum den Leuten diesen dummen Grund mitzutheilen. »Ich weiß nichts!« sagte der Bruder, jammerte, erhob sich nur auf sanftes allmäliges Zureden, faßte die Hände der Schwester und folgte weinend. Du ehrgeiziger Jugendtropf! Du wußtest noch nichts! Dies Leergefühl, diese Nichtswissens-Wehmuth war hoffentlich nur eine von den Durchgangsstationen jener räthselhaften Seelenstimmungen, die Kinder dem Geheimniß des Lebens eben so nahe stellen, wie den alternden Greis. Wie dieser den Ballast des Wissens aus seinem morschen Lebenskahn mit unbewußter Vergeßlichkeit nach und nach hinauswirft, nimmt ihn das Kind auch nur mit Zagen ein... Der Knabe folgte zuletzt. Kameraden mit Pennal und Schiefertafel näherten sich voll Zutrauen. Meister Schubert, ein stattlicher Herr, bei dem sich Mildes oft mit dem Strengsten paarte, redete dem Kinde sanft zu. Es setzt sich. Aber bald zeigt sich's, es hatte nur zu wahr gefühlt, daß es noch nichts wisse. Die A-B-C-Schützen buchstabiren aus einem Buche mit großgedruckten Lettern. Einer nach dem Andern kommt an die Reihe. Je näher die Fortfahrenden dem Neuling rücken, desto unruhiger wird dieser. Man merkt noch nichts. Aber immer näher, immer näher rückt das Buchstabiren, wieder der Folgende, immer der Folgende und jetzt nur noch zwei oder drei Zwischenmänner; da schreit der seine Bildhauerlaufbahn Verfehlende auf, heult, jammert und erklärt auf erstauntes Befragen: Es käme ihm ja da immer näher und er wisse Nichts! Auf sanftes Zureden begriff der Narr, daß er noch als ein völlig unbeschriebenes Blatt hier säße und in der Schule erst zu lernen hätte.

Ein guter Lehrer wird wohl nicht fehlgreifen, wenn er ein Kind zunächst von diesem Gefühl des gänzlichen Verlassenseins und einer totalen geistigen Hülflosigkeit anfäßt. Die Vorstellung von einer schüchternen und bebend haltlosen Kinderseele wird ihm zuvörderst schon im Ton die rechte Liebe geben. Das rauhe Wort, das mit Recht dem unbändigen Massengeiste gilt, muß dem Einzelnen gegenüber sich mildern. Bleibt der Lehrer immer bei der Vorstellung von einer wilden, zuchtlosen Heerde, tobt und droht er immer im Ganzen und im Einzelnen, so kann sich auf eine solche Schule kein Segen niedersenken; Meister Schubert war im Allgemeinen streng, sogar etwas vornehm kalt, aber beim Einzelnen stieg er zu milder Freundlichkeit herab und ließ sich's viel Mühe kosten, ein Kind auch über die Schule hinweg wieder mit seinen Angehörigen zurück zu vermitteln. Wollte ein Zögling den Geburtstag seiner Eltern feiern, so zeichnete, malte und schrieb der brave Mann mit dem Gratulanten voll emsigster Geduld. Er scherzte auch zuweilen mit den Kindern, aber es war immer etwas Königliches in seinem Scherz. Er scherzte nie mit der Masse. Die Masse nahm er diktatorisch, den Einzelnen liebevoll. Von dem Thron, auf dem er Federn schnitt und sie nummerweise in's Federbrett steckte, erfolgte zum Allgemeinen nur dann eine Herablassung, wenn er milde rührende Geschichten vorlas, den Robinson und Gumal und Lina. Seine biblische Geschichte war weniger auf Glaubensstärkung als auf das Herz gerichtet. Alles weinte, wenn Meister Schubert von Joseph und seinen Brüdern sprach. Er strich die Geige zu den Chorälen, die gesungen wurden, er betete andachtsvoll, aber ohne Muckerei. Die Stimme war dafür schon viel zu voll und bestimmt .... ein schönes volles Männerorgan kann gar nicht muckerisch winseln; dazu gehören Fistelstimmen, hektische Stoßseufzer, schartige Kratzorgane. Meister Schubert hatte ein scharfes Auge, einen raschen Ueberblick der Klasse, besonders mußten ihm die Hände aller Jungen klar und offen darliegen. Es gab oft seltsame Untersuchungen, wo die Mehrzahl der Kinder selbst nicht wußte, um Was es sich eigentlich handelte, wo aber regelmäßig einige als räudige Schaafe erkannt und unter spezielle Aufsicht gestellt wurden. Am liebevollsten erschien Schubert in schwüler Sommerzeit. Dann wurde ein Eimer Wasser von zwei Auserwählten heraufgetragen und aus einem blechernen Becher bankweise die ganze Kinderheerde getränkt. Zu Weihnachten, wo der Beginn des Weihnachtsspruchlernens eine unendliche, namenlose Vorseligkeit in alle Gemüther ergoß und kurz vor dem Feste, wenn die gedruckten, mit bunten blanken Umschlägen, auf denen ein grober Holzschnitt eine Scene der Bibel vergegenwärtigte, versehenen »Wünsche« ausgetheilt wurden, war Schubert ganz Liebe, ganz Väterlichkeit. Er fühlte die Wonne seiner Kinder nach, wenn ein solches: Lasset die Kindlein zu mir kommen! oder ein »Christus als Kind im Tempel lehrend« im Bilde ausgetheilt, bescheiden entgegengenommen, mit fast katholischer Andacht verehrt wurde. Die Kinder nahmen diese Weihnachtsbilder, wie Katholiken ihre Heiligen hin, oder wie der Knabe sah, daß Muttergottesbilder aus bemaltem Gyps verehrt wurden, bei katholischen Jugendgespielen, unter Gläsern und Tassen aus der »Kommode«, den Rücken an den Spiegel gelehnt, überragt von einer großen schwankenden Pfauenfeder ... Meister Schubert konnte wohl mit seinem Rohre oder der viereckten »Kantel« auf der ausgestreckten Hand bitterbös strafen, aber eben so väterlich gab er wieder an der Hausthür jedem Zögling die Hand, wenn die Klasse zu Ende war und der Ordnung wegen Alles an ihm vorüberdefiliren mußte. Es war ein Lehrer wie er sein soll.

Was lernt man in solchen »Klippschulen«? Damals nach alter Methode lesen, in liegenderem antisächsischen Ductus nach Heinrigs schreiben, nach dem Schwiegersohn des Meisters, dem vielberühmten »Ferbitz« rechnen, sogar zeichnen, sogar von einem alten Franzosen, Monsieur Horré, französisch, lateinisch sogar von einem alten cynischen und höchst schmutzigen Sonderling. Fand bei diesen Lehrgängen wohl ein System statt? Ein Kind weiß davon nichts. Es lernt geistig schwimmen und sieht die Leine nicht. Was da über ein Kind conferenzelt und theoretisirt wird, das ist ihm wie die geheime Kramerei des Christkindes. Der Knabe lebt nur in den Wirkungen und weiß von den Ursachen nichts. Nur die Festtage, die Ferien, das Kommen von neuen, das Gehen von alten Lehrern, das sind so einzelne Einschnitte des ersten Schullebens, wo man zur Noth schon sich selbst an Anderen allmälig vergleichen lernt. Dieses hingegebene, das ganze Herz anbietende Begrüßen eines neuen Lehrers! Dieser oft eine ganze Klasse in Weinen versetzende Abschied von einem alten! Es sind das schon die ersten Ringe, die ein wachsendes Bäumchen ansetzt. Wie herzzerreißend weh thun dem Kinde diese ersten Abschiede! Ein milder, ein wenig frömmelnder Lehrer, er hieß Gädike, erklärte eines Tages, er wäre Missionär geworden, würde den Kindern bald Lebewohl sagen, würde hinüber zu den blinden Heiden über's weite Meer gehen. Ach, und er ging! In der Klasse mußte beim Abschied, als er Jedem wirklich die Hand gab und dabei betete und schon heidenpredigte, Ordnung walten; als sie aber geschlossen war, als unten auf der Straße sich Alles noch einmal an »Herrn Gädike« andrängen konnte ... welche Thränen, welche Küsse, welche Aufforderungen, für ihn zu beten, und welche Versicherungen, es auch zu thun! Gädike, Du zogst in die Welt von Gumal und Lina! Finde so edle, so gütige Mohren, wie Gumal fand! Gädike, und sollte Robinsons guter Freitag eine Fabel seyn?

Ohne Mechanismus prägt sich in die erste geistige Empfänglichkeit des Kindes nichts ein. Die falsche Aufklärung hat uns zu manchem Blendwerke neuer Methoden verholfen, aber die Gefahr, die sich mit ihrer Anwendung für die Einwurzelung des Wissenstoffes ergibt, ist keine geringe. Das erste Lernen in der Schule soll ein mechanisches Exercieren des Verstandes sein. Alle Individualisirung, das sogenannte »Eingehen« auf die Kinder und ihre spezielle »Natur« erzeugt das gefährlichste Dilettiren und versetzt die ohnehin noch weiche Gehirnmasse in einen Brei von Geschwätz und unbestimmter Halbheit. Wie will man einem halben Hundert Kindern mit Demonstrationen beikommen? Wenn man Kinder von heute rechnen sieht, so wird man eine fortgeschrittene Klarheit in der Analyse nicht verkennen, aber es scheint uns fast, als wär' es nur diejenige Klarheit, die dem Lehrer nöthig ist zur Prüfung der Exempel, selten die, die das Kind bedarf, um sie zu machen. Man findet in diesen jetzigen Rechnenmethoden viel Worte. Das Kind fußt nicht auf einem mechanisch sichern Einmaleins, sondern wirft und wälzt sich umher in einer improvisirten Rechnungslogik, die nur im allerglücklichsten Falle bei einem anschlägigen Kopfe zur Klarheit kommt. Der offenbarste Mangel an Seelenkunde zeigt sich darin, daß man beim Kopfrechnen nicht nur gestattet, sondern verlangt, das Kind wiederhole wörtlich das aufgegebene Exempel. Man muß die auf Worten ausruhende Trägheit des Auffassens der Kinder sehr wenig kennen, wenn man eine Operation gestattet, wo der lebhafte, unruhige oder zerstreute Lehrer sich fast immer von dem denkfaulen Kinde täuschen läßt, das statt schon zu rechnen durch das auseinandergezerrte und altklugwichtig vorgetragene Wiederholen der Aufgabe den Schein Wunder einer Präcision, die doch nicht stattfindet, annimmt. Im Kopfrechnen ist weniger auf algebraisch-richtige Analyse, als auf Intuition der Phantasie zu sehen. Das Kind muß nicht den abstract-logischen Prozeß der Rechnung durchmachen, sondern es muß vor den halbgeschlossenen Augen die schwarze Tafel sehen, an der Dasjenige gleichsam geschrieben steht, was es sich nur durch den Gedanken vergegenwärtigen soll. Das Auge muß rechnen, nicht der Verstand, der noch nicht beim Kinde durchgebildet genug ist. Vollends verlangt der erste Elementarunterricht Mechanik. Die Kinder sollen massenweise und im einzelnen Ausruf dem Lehrer die Demonstrationen nachmachen, und zwar lange und oft. Das ungeduldige Hin- und Herspringen in der Denkmethode kommt von Lehrern, die für die Erziehung nicht geschaffen sind. Ein Kranker, der Langeweile empfindet, ist auf dem Wege der Genesung Liegt nicht in dem Namen Hygiäa die ganze göttliche Gähn-Langeweile des Genesenden?. Ein Lehrer, der die Langeweile von Lesen, Schreiben und Rechnen nicht ertragen kann, paßt für seinen Beruf nicht. Ich finde Schulpläne, die so bunt wie die Theaterbenefizzettel aussehen. Ich würde zufrieden sein, für ein gewisses Kindesalter nichts als stündlich Rechnen, Lesen und Schreiben darauf zu sehen ... Und was soll man gar erst von den Kindergärten, vom Fröbel'schen Papperlapap des Denkspielens und Spieldenkens sagen?

In Rücksicht des Masselernens und des geistigen Gesammtexercierens geht nichts über den Schulbesuch. Der Schulbesuch ist aber auch die unschuldigste und nützlichste Form des ersten Eintritts in die Welt. Ein Schritt aus dem Hause in ein kleines begrenztes Leben und aus diesem kleinen neuen Leben sogleich wieder in's Haus zurück. Der gesteigerte Trieb zum Lernen, der Sporn des Ehrgeizes liegt da auf der Hand. Und auch schon von diesem Vortheil abgesehen, wie harmlos erweitert sich der Einblick in das Leben andrer Menschen! Das Wissen ist für Alle, und wie mannichfach sind alle diese kleinen Wettläufe nach demselben Ziele! Arm und Reich, Vornehm und Gering, Sauber und Schmutzig, Sanft und Zornig durcheinander. Es regt sich das erste Bedürfniß der Liebe und Freundschaft. Man nimmt nicht nur die zu der Familie daheim einmal gegebenen Menschen, sondern man wählt sich schon neue. Ein gewonnener Freund führt das Kind in sein Haus. Wie ist da alles so anders, als daheim! Wieviel Brüder, wieviel Schwestern hat der! Wieviel Lärm oft und an andern Orten wieviel Einsamkeit, Stille, Pedanterei! Man hat noch kein Urtheil über die alten Tanten des Gespielen, die über ihre Stubendiele keinen fremden Schuh lassen wollen, aber es bilden sich Stimmungen und Ahnungen über die Mannichfaltigkeit des Lebens. Der Horizont erweitert sich und der Schulbesuch regelt den Sinn für die Ordnung und das Gesetz. Das Kind lernt sich selbst bestimmen. Es lernt, sein Schicksal in eigner Hand haben. Was man an sich selbst nicht fühlt, entdeckt man an Andern. An schlechten Heloten, die einst dem jungen Spartaner die Erziehung des Sklaven zeigen sollten, bietet die moderne Schule freiwillige Exemplare genug.

Der Heimgang aus der Schule! Wie belehrend, seelenerfüllend, charakterbildend dies Schlendern zur Häuslichkeit zurück! An sittlichen Gefahren für den Wanderer fehlt es freilich nicht. Ein Umweg rächt sich nicht selten. So fand der Knabe einst mit einem Troß Kameraden ein Hufeisen, das eben einem Pferde mußte entfallen sein. Er fand es nicht an der geraden Straße zur Schule, sondern auf einem Umwege. Schon durch diesen Umweg kam in den Fund ein schlimmer Charakter, eine teuflische Versuchung, die die ganze Seele in eine noch jetzt deutlich empfundene Gewissensangst versetzte. Ein Glück auf einem bösen Wege! Was mit solchem Glück, von der Hölle geschenkt, anfangen? Das Hufeisen war eine mit gieriger Lust festgehaltene Trophäe für den ganzen Schwarm und sogleich begann flüsternd und tuschelnd die zweite Versuchung: man will das Hufeisen an einen Schmied verkaufen. In Masse, schweigsam, lauernd, wendet man sich einer bekannten Schmiede zu. Aber je näher von dorther die arbeitenden Hämmer erklingen, desto zager der Vorsatz. Das Gefühl, man ist auf unrechten Wegen, spricht sich schon nur noch in der übertreibenden Keckheit einzelner Tonangeber aus. Endlich dicht an der Schmiede berathschlagt man, wie Spitzbuben so heimlich, was sich für das Hufeisen erwarten ließe. Ein Ausweg, etwa einen Tauschhandel mit Nägeln einzugehen, fiel Niemanden ein, nur Geld wollte man haben und mit dem Gelde dann irgend einen Genuß. Mit einem schon sehr kleinlauten Ton tritt man in die Schmiede, bringt sein Begehr an; der Gesell nimmt das Hufeisen, wirft es in eine Ecke, schwingt den Hammer und jagt die ganze »Bande« zum Tempel hinaus. Auf fünfzig Schritt halten die Flüchtigen Stand und rufen ein Halloh mit dem Muth, der Ausreißern eigen ist, wenn sie über die Schußweite weg sind. Das Hufeisen war fort, aber auch – eine Centnerlast vom Herzen. Das Abenteuer, wenn es gelungen wäre, hätte leicht eine Klippe für's ganze Leben werden können. Die Seligkeit des wieder frei und erlöst aufathmenden reinen Gewissens wurde bei jedem scheuen Einblick in die Schmiede Monate lang in Wonnezügen empfunden.

Lesen, Bücherlesen, Märchenluxus, Thatsachenschwelgerei, das kommt später. Aber studieren! Das erste Buch, das gekannt sein will, vorn und hinten, rasch aufgeschlagen, wie das Gedächtniß selbst, heimisch dem Auge, wie ein Spielplatz, bekannt dem mächtigsten Ortssinn selbst in seinen Druckfehlern und confus verbundenen Alphabeten! Es ist noch nicht die Bibel. Das Bibelaufschlagen ist erst eine spätere Meisterschaft, zu der es bis zur Hexerei eines Rabbi Hirsch Dänemark gebracht werden muß. Bibelaufschlagen ist ein Wettrennen, wie in Epsom zwischen Pferden, so in den kleinen Schulen zwischen Ohren, Händen, Augen, Mund und bei dem, der kurzsichtig ist, auch der Nase. Welche Listen, welche Handgriffe gewinnt man sich ab, um in diesem heiligen Bäumchenverwechselspiel der Erste bald bei den großen, bald bei den kleinen Propheten zu sein und die fünf Bücher Mosis am Schnürchen zu haben! Aber das erste Studium galt doch dem ersten Lesebuch, dem brandenburgischen Kinderfreund. Dieses Buch, später als ganz künstlich von einem Prediger Namens Wilmsen zusammengestellt erkannt, erschien dem Kinde wie etwas rein Uranfängliches. Gott schuf die Welt und gleich nach ihr den brandenburgischen Kinderfreund. Dreihundert zerrissene, beschmutzte Seiten mit einer Fülle von unumstößlichen Grundwahrheiten des jungen Lebens, als da sind: »Dieses Buch ist mein! Es besteht aus Blättern. Auf diesen Blättern sind Buchstaben. Diese Buchstaben verstehen nennt man lesen u. s. w...« Diese dreihundert Seiten sind die Encyklopädie des ganzen Wissens, die wahren Diderot, d'Alembert und Bayle der Kinderweisheit. So wird selbst die Bibel in späterer Zeit dem Kinde nicht mehr heimisch, wie der brandenburgische Kinderfreund mit seinen Klexen, eingekritzelten Namen, Eselsohren und sich mehrenden Defecten, Resten mancher kriegerischen Abwehr oder wohl gar eines sonnabendlichen Zwölf-Uhr-Mittagsangriffes, wenn die morgende Sonntagsfreude schon in allen Gliedern rumorte. O brandenburgischer Kinderfreund, wie liegst du so offen da der Erinnerung! Wie durchblättert sie dich in deinen ersten metaphysisch-juristischen Denkübungen (»Dies Buch ist mein!«) bis zu den Wanderungen durch die Thier- und Pflanzenwelt! »Pastinak« hieß eines deiner aufgezählten Gemüse. Der Knabe kannte Schoten und Erbsen, Linsen und Bohnen, aber »Pastinak«! Pastinak und »Artischocken«! Welche Wunderwelt der Küche! Und die Geräthschaften der Gewerbe, die großen Denkwürdigkeiten der Geschichte, des Weltalls, Deutschlands und Preußens, und endlich die in lateinischen Lettern erzählten gereimten Anekdoten von Hanns Taps, der sich »vor Gespenstern fürchtete«! Gespenster und Fenster reimte sich nicht nur in dem Buche, sondern von nun an durch's ganze Leben. Lieder beschlossen das Buch. »Mein erst Gefühl sei Preis und Dank«! (Preußsch Courant! sang einst ein getaufter Jude beim ersten Kirchenbesuch) und am Schluß, hinweg über das liebliche: »Da hab' ich es, das Hänflingsnest!« das majestätische, wie mit Pauken und Trompeten am Auferstehungsmorgen gesungene »Lobet den Herrn, den mächtigen König der Erde!« Wahrlich! Die Schreibtafel unterm Arm und den Kinderfreund im Kopf – kommt der junge Pflanzenkeim cedernstolz zum Bewußtsein seines Wachsthums.

Von Kirchen wurden alle besucht und fast alle ihre Geistliche gehört. Das Kind kennt alle Winkel der Chöre, alle Schiffe vom großen theatralischen Dome an bis zur kleinen Spittelkirche, die in ihrer Demuth später noch sogar ihren Thurm abgelegt hat. Die Kirche, wo der Täufling mit neun Pathen in das unsichtbare Gottesreich eintrat, umgiebt ein stiller Friedhof mit verfallenen Gräbern und steinernen Monumenten. Die Kirche ist klein, niedrig, stellenweise dunkel, in Form eines Malteserkrenzes gebaut. Schadow's Parzen, die dem jungen Grafen von der Mark so früh den Lebensfaden abschnitten, umgiebt ein Gitter, an das sich lehnend so schön sich träumen ließ, wenn die Predigt des alten Superintendenten Küster nicht fesselte. Die Garnisonkirche – die ist lang und leer und ausdruckslos wie eine Kaserne. Die Marienkirche aber, alt und ehrwürdig, an Nürnberger Bauart erinnernd, kunstlos freilich und märkisch kahl, aber sagenreich und in dem Kreuz, das an den vom Volk erschlagenen Probst von Bernau erinnert, allein schon eine ganze Pforte alter erschlossener Ritterzeit. Die Nicolaikirche mit ihren hohen Wölbungen, dunkeln vergitterten Grabmälern und dem nadelspitzen Thurm, ihr ehrwürdiger Doppelgänger. Beide liegen in schrägen Dimensionen an kleinen Plätzen, wie der Straßburger Münster. Freilich sind sie arm und gering an architektonischem Schmuck, haben nichts zur Zierde als ihr Alter und ihre majestätischen Pfeiler, von denen Schlüter den Muth hatte, einen in der Marienkirche mitten durchzuschneiden, um vier freilich hierher nicht gehörende antike Säulen zu einer Kanzel anzubringen. Der Dom war eben neu gebaut, von innen reich geschmückt mit Sammtdecken, mit Bildern, mit zwölf Aposteln, die das Altargitter zieren, aber fesselnd war doch nur das eherne doppelte Kurfürstengrab, vom Knaben in seiner gothischen Umschrift oft mühsam entziffert, während Sack oder Ehrenberg mit wenig Kunst und viel Behagen predigten. Die Werdersche Kirche, noch die alte, simultan mit einer französischen verbunden, aber in einem Style, so schaal, so ledern, wie ein altes Porstensches Gesangbuch oder eine Pastor Hermessche Hauspostille von Anno 1740. Der äußern Pracht der »neuen« Kirche entsprach die innere Armuth nicht. Dürftiger, hölzerner, armenhausmäßiger kann man sich keinen Gottestempel denken, als diese von Friedrich dem Großen an die stattlichen Gensdarmenmarktthürme gebauten Schwalbennester. Auch die Jerusalemerkirche, wie arm, wie dürftig, wie hölzern! Der einzige Glanz, die glänzend glattgesessenen Bänke! Etwas frischer machten sich die runden Wölbungen der Dreifaltigkeits- und böhmischen Kirche. Jene trug am Altar, der Kanzel und der Orgel Spuren ihrer fashionableren Bestimmung für Schleiermachers vornehmere Gemeinde. Der schönste Schmuck der Louisenkirche, wo Koblank, ein cynischer Epikuräer predigte, war ein stiller, mit hohen feierlichen Pappeln und Blüthenbüschen geschmückter Kirchhof, über den jener »Diener am Wort« oft zu seiner Wohnung hin schritt, während ihm vom Talar herab das Wasser von dem in die Tasche gesteckten nassen Taufbeckengroschen tröpfelte. Ein solcher inschriftenreicher Kirchhof schmückte auch die entlegene hellfreundliche Sophien- und die Georgenkirche. Das Glockenspiel der Parochialkirche war für den Knaben eines der mehreren Weltwunder, das erst bei später gebildeterem Geschmack der nebenan befindlichen uralten Kirche zum wahrhaft sagenduftumzogenen grauen Kloster wich. Von dieser kirchlichen Typographie darf selbst der versteckte Judentempel mit seinen Lichtern auf bronzenen im eigenthümlichsten Rokoko gewundenen Leuchtern, dem Tabernakel, den geschriebenen Thoratafeln, den aufbehaltenen Hüten, dem beklemmenden Singsang von hundert Stimmen durcheinander und draußen dem Vorhofe, wo geschächtet wurde, nicht ausgeschlossen bleiben; am wenigsten aber die katholische St. Hedwigskirche, die am Palmensonntag oder an einem Tage der Leidenswoche nicht unbesucht blieb, freilich immer mit dem Gefühl der Beklemmung, beim Unterlassen der von der Gemeinde gemachten Ceremonien als ein Ketzer entdeckt und wohl gar ausgewiesen zu werden. Die Pracht des Hochaltars, die Kleidung der Geistlichen, das Klingeln der Chorknaben, der Duft des Weihrauchs, das Opfer am Altar, wo der Priester für Alle trank, die gebrochene Hostie aber an der Balüstrade wie ein Manna austheilte, nach dem die heiligste Sehnsucht sich drängte, das Aufbieten und Darreichen des Kruzifixes zum Küssen, alles das war ebenso ergreifend und doch wieder zur stolzlutherischen Prüfung mahnend, wie auf der Freitreppe draußen, unter dem vom Cardinal Quirini auf eigne Kosten erbauten Portal und den drei steinernen Aposteln das Eintauchen der »Palmen«, der jungen Ruthen mit sammetweichen Frühlingskeimen, in Weihwasser. Sich aus diesem Weihrauchsdufte und dem nachtönenden In Saecula Saeculorum wieder in eine Königlich Preußische Wachtparade zu finden, in die Janitschaarenmusik der Garde oder eine aus den Fenstern des Opernhauses schmetternde Spontinische Opernprobe, währte lange und konnte eine gewisse Stimmung im Kinde nicht unterdrücken, die, durch die Akademie genährt, gradezu italienische Sehnsucht war.

Die neueste Waarenliste kann der Kaufmann, den Börsencourszettel der Capitalist nicht aufmerksamer durchlesen, als wöchentlich an jedem Sonnabend in großen Städten das unverdorbene stille und gottergebene Volk die Liste der Geistlichen liest, die am nächsten Sonntage predigen werden. Diese Menschen suchen sich da nicht nur den Lieblingsredner, den sie hören wollen, heraus, sondern sie erläutern auch die vorkommenden Gast- und Antritts- und Communionreden, die Probeversuche von Candidaten, das lange Schweigen bekannter Namen und das zu häufige Auftreten Anderer. Vetter Apokalyptiker wußte noch eine schärfere Kritik zu halten. Er sah auch unter diesen »berufenen und verordneten« Dienern am Worte seine drei Menschheitsgattungen, die Wiedergebornen, die noch Christum erkennen werdenden Halbwüchsigen und die Dahinfahrenden. Die Letzteren waren ihm die Irrlehrer der reinen Vernunft, deren Zahl jedoch bei dem immer mehr heraustretenden kirchlichen Systeme der Regierung nicht besonders groß sein konnte. Der Wiedergebornen gab es schon so viele, daß die Wahl schwer wurde und oft an einem Sonntage zwei Kirchen besucht wurden ohne die Wochenerbauungen. Die beliebtesten waren auch beim Vater diejenigen Redner, die offen und frei mit der Sprache herausrückten und bekannten, daß wir allzumal Sünder wären und des Ruhmes ermangelten, den wir vor Gott haben sollten. Die Selbstgerechtigkeit, hieß es, wäre der alte Adam, der ausgezogen werden müsse. Keine »Rechtfertigung« ohne Christi Dazwischenkunft. Die Gnade Gottes wußte der in allen Dingen, so auch hier wieder feurige, bildergewaltige und aufbrausende Sinn des Vaters als einen Akt der erhabensten und großartigsten Willkür darzustellen. Wen Gott selig machen wolle, den nehme er sich schon heraus und über alle Andre ließe er den Teufel schalten. Die hohe königliche Frau im Schlosse hatte dem Vater gesagt: Hat nicht der Heiland für uns Alle sein Blut dahingegeben? Und von Stund' an waren alle Sprüche der Bibel wieder im Vater erwacht, alle Lehren seiner kranken, bettsiechen Mutter standen wie gefaltete Kinderhände vor ihm und unter den heißesten Thränen wußte er stundenlang nun Nichts mehr von Paris, der galanten Sattlermeisterin und dem Cirque Franconi, sondern nur noch von Golgatha und dem Oelberge zu erzählen. Die grübelnde Genugthuungslehre des herrnhutherischen Vetters in ihrem Seelenläuterungs-Calvarienberge blieb dem Vater allerdings verschlossen; aber die Geschichte, die Chronik des alten und neuen Bundes ging ihm in dem ganzen phantastischen Reize auf, dessen seine lebhafte Einbildungskraft auch hier wieder bedurfte. Der Neu-Erweckte erzählte von den Juden und den Pharisäern so lebendig, daß die kritischere Mutter, die auch hier wieder das Maaß verletzt sah, oft einwandte: Du bist nicht dabei gewesen! Jene lebhaften feurigen Redner, die mit dem »heiligen Bibelbuch« unaufhörlich auf den Kanzelrand schlugen, waren dem Vater und dem Vetter die liebsten. Sie rannten zu diesen kräftigen Nierenprüfern und Zuchtmeistern im Herrn und in deren immer volle Kirchen, wie Ihr in ein Gastspiel von Sängern und Tänzerinnen rennt! Sie verlangten vom geistlichen Redner die Gabe des Geistes fast sichtbar anzuschauen wie am Pfingsttage, als die feurigen Zungen auf die Apostel niederfuhren. An den Wundern durfte nicht gedeutelt werden. Dem Vater kam es, wenn einmal Christus Gott der Herr selber war, auf ein paar Unglaublichkeiten mehr oder weniger nicht an. Sein Glaube war cavaliermäßig, in Bausch und Bogen. Entweder Christus ist Gottes Sohn oder nicht, und ist er es, so ist ihm ein Lazaruswunder Kleinigkeit. Die Mutter seufzte kritisch zu Manchem, was sie glauben sollte und tröstete ihre immer flügge Vernunft mit Gottes einmal nicht zu ergründender Allmacht. Der Vater aber bedurfte des Wunders. Steine in Brod, Wasser in Wein verwandelt, Todte auferweckt, Kranke geheilt, das gehörte ihm von Rechtswegen zu einer reputirlichen Religion, die den Menschen scharf zusammenreiten, mit Sporen tüchtig kitzeln und ihm die Zügel so kurz halten sollte, daß man auf den Kandaren der Zucht sich die Leidenschaften zerbiß. Luther war der Held des Hauses. Luther, der Mann des Volkes, auf dem wiederum sichtbar Gottes Hand ruhte. Luther faßte alles zusammen, was diese deutsche Volksbildung von einem Propheten verlangt. Luther kam von der Armuth, hatte Muth, trotzte den Fürsten, schimpfte Kaiser und Reich wacker zusammen, erlebte bunte, romantische Abenteuer, sprach kernige, kurze Schlagworte und war mit der Bibel, die er übersetzt hatte, fast identisch. Elias, Paulus, Luther standen ganz auf derselben Linie. Es waren das die wilden Feuer- und Hitzköpfe der Religion, wie der deutsche gemeine Mann seine Helden in allen Fragen, auch im Staat, in der Schule, in Kunst und Poesie, einmal haben will.

Wie sehr das deutsche Volk geneigt ist, im Geistlichen dann auch seine ganze Vermittelung mit der Oeffentlichkeit wiederzufinden, beweist die Nachsicht, die man eigenthümlichen und wunderlichen, aber frischwegredenden Predigern zollt. Es wurde doch von der Familie keine Nachmittagspredigt in der Böhmischen Kirche versäumt, so lange sie ein seltsamer Geistlicher der mährischen Brüder hielt, der bekannte, von Weltkindern vielbelachte Jänicke. Dieser greise Sonderling vertrat anfangs ziemlich allein die pietistische Richtung Berlins. Nach den Befreiungskriegen währte es geraume Zeit, bis sich die plötzlich aufgeregte Kirchlichkeit aus ihrem Zusammenhang noch mit den großen Erlebnissen der Epoche, aus ihrem Verbande mit der Philosophie und Poesie, der Romantik und von Herder, Fichte, Schleiermacher loswand und ganz in jenes ausschließlich »Evangelische« überfloß, das bald darauf Alles, selbst das Unkirchliche, allein verklären sollte. Jänicke, lange der einzige Pietist auf Berlins Kanzeln, wußte seine Zuhörer zu fesseln, trotzdem, daß seine Predigten Conversationen waren, bei denen es ihm wohl geschah, Diesen oder Jenen in der Gemeinde geradezu selbst anzureden oder auf Stühle zu verweisen, wo er Menschen erblickte, die nicht aufmerksam genug oder wohl gar nur gekommen waren, um hinter den Hüten ihr Lachen zu verbergen. Seinem Publikum gefiel diese Natürlichkeit. Diese Schuhmacher, diese Weber, diese »Raschmacher«, besonders aus dem obern Theil der Wilhelmsstraße, den man der mährischen Einwanderer wegen spottweise die »Wallachei« nannte, fanden es ganz im Style der Volksberedsamkeit, wenn Jänicke sagte: »Der Geist Gottes fuhr auf die Jünger herab nicht im Sturmgebraus, wie ein Donnerwetter, sondern sanft und lieblich wie eine Taube, ... zirp, ... zirp, ... zirp!« Jänicke, Vorstand des Missionsvereins, vermittelte auch die Phantasie seiner Gemeinde mit den fernsten Völkern der Wildniß. Er wußte insofern die eigentliche und beste Wirkung alles Missionswesens zu treffen, die Erhebung und Erregung derer, die die Missionen versenden.

An seinen geliebten Lehrer Jädicke, den die Wilden schon längst verzehrt haben konnten – nach Robinson und Gumal und Lina war schon grausamere Lectüre gefolgt – dachte der Knabe mit Wehmuth, wenn er an des Vaters Hand in eines jener Conventikel getreten war, die damals sich überall eröffneten; Betstunden hießen sie beim gemeinen Mann. Meist in dem entlegenen Klassenzimmer einer Winkelschule versammelten sich Abends einige fünfzig Gläubige beim Schein eines einzigen Talglichts und hörten die Rede oder das Gebet eines Inspirirten an, der seinen Vortrag zuletzt mit »Nachrichten aus dem Reiche Gottes«, die über Nürnberg und Basel kamen, und mit Sammlungen für die fernen Heidenbekehrer endete. Diese Betstunden wurden anfangs untersagt oder nur dann geduldet, wenn der Erleuchtete, der auftrat, (meist ein Schullehrer, nicht selten auch ein Handwerker) einen gedruckten Vortrag ablas oder aus dem Stegreif nur ein Gebet hielt. Die Redner wollten aber lieber ihre eignen Gaben zeigen und frei vom Herzen sprechen. So blieb ihnen nichts übrig, als der Rede die Form eines Gebetes zu geben. Welche ergreifende Form der Rede, welcher rhetorische Schwung des Vortrags dann! Man betete sich förmlich von der Erde weg. Man begann mit einer einfachen Apostrophe an den Heiland, der hier überhaupt ganz die Stelle des ziemlich fernentrückten »Vaters«, des gleichsam abgesetzten und nur den Schatz verwaltenden »Alten vom Berge« vertrat, und strömte sich dann in eine solche herzzerreißende, dringendinnerliche Unterhaltung mit dem Angerufenen aus, daß das Gebet den Umfang einer Predigt gewann. Unstreitig liegt in einer solchen Anrede an den Heiland, die fast eine Stunde dauerte, eine alle Weltlichkeit rein zerbröckelnde und auflösende Wirkung. In der engen Stube, unter den ernsten, dunkelgekleideten Männern, bei dem einzigen Talglicht, das oft am Erlöschen war, in fahlem Dunkel eine solche Unterhaltung mit dem Bräutigam der Seele ... es mußte sich aller »Brüder« ein heiliger Schauer und allerdings auch jene so gefährliche Selbstzufriedenheit, die den Pietisten eigen ist, wenn sie von ihrer Gottfreundschaftshöhe auf andre Menschen niederblicken, bemächtigen. Bei diesen langgezogenen Tönen eines einstündigen Gebetes, die so aus der Tiefe des innersten Elends kamen, »wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser«, mußte der angerufene Erlöser wohl dem geistigen Auge wie persönlich erfaßbar entgegentreten. Es war in diesen dumpfen Stuben, wie wenn der »Herr« plötzlich den Zween auf dem Wege nach Emaus erschien oder wie wenn er durch verschlossene Thüren trat und den zagenden Jüngern die Nägelmaale zeigte. Wer wird in diesem seltsamen Gottesdienst allein nur eine Heuchelei sehen wollen? Er war bei der Mehrzahl dieser Menschen eine wirkliche Erquickung ihrer zagenden Seele. Ein guter Redner wußte in dies einzige Gebet das ganze Leiden der Armuth hineinzuziehen. Schlechte Zeiten, Arbeitslosigkeit, die drückenden Abgaben, Krankheiten und Unglücksfälle, alles sprach sich hier in diesem Hülferufe des Herzens aus. Hätten sich die Vornehmen nicht hineingemischt, hätte der Staat nicht verrathen, daß er für diese Auffassung des Himmels eine Menge Belohnungen schon auf Erden in Bereitschaft hätte, diese Gottverehrung hätte sich nicht sobald getrübt, wie es später geschah. Und wer könnte läugnen, daß die freien Gemeinden und der Deutschkatholicismus auf ganz ähnlichen und gleichen Seelenstimmungen beruhen, auf diesem deutschen Reize des Separatismus, der richtig organisirt die Quelle einer neuen Menschwerdung der Generation und einer tiefgreifenden Erlösung unsres Jahrhunderts werden könnte?

Schon war die Ausartung über diesen Isolirungstrieb des religiösen Bedürfnisses gekommen, als der Knabe zu einem langen, hageren Studenten geführt wurde, der in einem Hinterhofe auf seiner »Kneipe«, wie weltlichere Musensöhne sagen würden, eine Gemeinde von vielleicht sechs Erwachsenen und eben so vielen Kindern zu »erbauen« suchte. Für dies kleine Auditorium gab es mindestens vier Lichter, lange, schlanke, neue Wachskerzen. Ein Klavier stand unter einem Spiegel. Ein Tisch war theatralisch als Altar aufgestellt und mit einer grünen Decke belegt. Dieser junge Gottselige mit gescheiteltem Haar und feuchten Händen empfing die armen Narren, die er sich als Gemeinde gepreßt hatte, mit feierlichem Gruße und zählte wie ein Taschenspieler auf seiner Uhr die Minuten, bis sich hinlänglich viel Auditorium zu seiner Komödie versammelt hatte. Dann schlug er auf seinem Klimperkasten eine Kirchenmelodie an, ließ die Menschen in einem dichtbevölkerten Hinterhofe rücksichtslos laut einen Choral singen und trat nun feierlich an den Altar, um seinen Text zu lesen und ihn möglichst frei zu paraphrasiren. Es war der Bibelspruch vom verglimmenden Docht und vom zerstoßenen Rohr, dessen breitgetretener inhaltsloser Anwendung der Knabe sich noch wie heute erinnert. War das Ganze eine homiletische Uebung des jungen Mannes? Oder war der laute Gesang und das Aufsehen, das diese Feier im Hofe machen mußte, für einen im Vorderhause der Kurstraße wohnenden Geheimerath bestimmt? Oder lag dem Allem wirklich ein innerliches Bedürfniß der Schwärmerei zu Grunde, wie es auch ohne irdischen Nebenzweck in einer feierlich angeregten Jünglingsseele leben kann? Für dieses jungen Prädikanten reine Absicht möchte man kaum einstehen, aber erwiesen ist es, daß die religiöse Stimmung des Jugendgemüthes ihm doch zuweilen kommt, wie die erste Regung der Liebe. Es ist diese Religionsschwärmerei ein fast physisches Erlebniß, ein Wachsen, ein krankes Wachsen der Seele, ein neues Bedingtwerden und Umstimmen des krankreizbaren Nervensystems. Es ist mit dieser jungen Himmelssehnsucht wie mit dem Frühlingstrieb der Bäume, wo ihre Rinde harzige Tropfen ausläßt oder die Birke einen hellen Saft verspritzen kann. Die poetischen Mitbedingungen unsrer christlichen Offenbarung werden unter diesen Umständen wie die neuerschlossene poetische Welt des geistigen Auges und des jungen ringenden Studiums selbst ergriffen und so nachgefühlt, daß nur das Schöne und Tiefe an dem geoffenbarten Glauben, nichts mehr von seiner Entstellung im Gemüthe haften bleibt. Und manche Traumselige – bleiben sie nicht ewig in diesem jugendlichen Religionswahne und können nie wieder aus dem Bann des einseitigsten Verschönerns und Zerflossenseins zur besonnenen Prüfung sich herausfinden?

Eine Erziehung von so viel Religiosität konnte als erste Außerschullectüre auch nur religiöse darbieten. Die Bibel, das Gesangbuch und eine alte Hauspostille, wirklich eine solche Hanstein'sche von 1740, waren die ersten Nahrungsquellen des Wissenstriebes. In der Bibel stand auch, wie in allen deutschen Hütten, die Chronik des Hauses geschrieben, der Vermählungstag der Eltern, die Geburt der Kinder mit allen Zeugen, allen Taufpathen. Im untern Volke hat man Regungen, wie sie nur der Adel kennt. Man stemmt sich da auch gegen die Woge der Allgemeinheit, man will nicht so mitfortgespühlt werden von der Masse des Nichtsbedeutenden. Man führt Buch über den festen Grund und Boden, auf dem man in der Welt steht und wäre das Fleckchen Erde noch so klein. In der Bibel selbst fesselte Alles, auch der rothe Druck des Titels, auch das Privilegium des Königs Friedrichs des Ersten von Preußen mit allen seinen Würden und Besitzungen, auch die kleinen Vignetten zwischen den einzelnen Hauptstücken und die kunstvoll verschnörkelte Arabeske am Ende mit dem geheimnißvollen vor- und rückwärtsgelesenen Anagramm des Wortes E. N. D. E., lautend: Er Nahm Das Ei – (rückwärts) Er Darfs Nicht Essen, (vorwärts) Eine Nonne Darfs Essen! Dieser radikale Unsinn, ein vollkommener Hexenwiderspruch »gleichbedeutsam für Weise und für Thoren« schien aus irgend einer Faustischen Küche zu kommen und bedeutete dem Kinde ohne Zweifel ein Abacadabra der Art, wie auch wirkliche Zauberei mit der Bibel getrieben worden ist. Den Finger in die Bibel bohren, eine Stelle festhalten und nach ihrem Wortlaute handeln, das haben selbst große Geister gethan, die als Atheisten vom Zufall nichts wissen wollten. Die Bibel ist dem Volke das ganze Menschenleben von seiner kindlichen Märchenzeit an bis zur grübelnden theosophischen Zukunftsforschung. Die Bibel ist leider aber auch die erste Anlehnung des Gelüstes und der Leidenschaft. Die Bibel ist das Paradies, aber auch der Baum der Erkenntniß und die Schlange der Verführung. Ehe noch der Knabe von bösen Leidenschaften der Sinne weiß, pflanzt die Bibel schon die Versuchung in sein Herz. Es werden gewisse Kapitel beim Lesen in der Schule überschlagen, die lüsternste Neugier wird gereizt und bald zeigen sich Buben und Mädchen die grellen Verse im Ezechiel, wo in orientalischer Rücksichtslosigkeit die Bilder der Unzucht und Buhlerei beschrieben werden. Es gehören diese und ähnliche Momente unserer Erziehung zu dem großen Pathengeschenk, das uns einmal die Geschichte für unsre Geburt auf dieser Erde mit eingebunden hat. Es ist das Christenthum in seiner ganzen historischen Erscheinung, mit dem wir stehen, gehen, laufen, denken, fühlen, handeln, unterlassen lernen. Mit dieser ebenso heilsamen wie gefährlichen Tinctura aurea ist unser ganzes Blut durchzogen. Sie auszuscheiden würde eine Revolution der Erde kosten, die noch über die Völkerwanderung hinausgehen könnte.

Aus der großen »Postille« wurde jeden Sonntag Nachmittags eine endlos lange Predigt laut und deutlich vorgetragen. Diese Aufgabe war wenigstens die gesundeste Stärkung, nicht etwa der Seele, sondern der Lunge, sie hob die physische Stimme, gab ihr Kraft und Nachdruck. Die Mutter nickte dabei ein und entschlummerte, aber am Schluß wachte sie auf und hörte die Nutzanwendungen dieser Sammlung von Berliner Musterpredigten aus den ersten Regierungsjahren Friedrichs des Großen (Propst Hanstein, Rath Hecker, Consistorialrath Silberschlag u. s. w.) doch noch mit einem kräftigen Amen! und einem erhebenden Lobe des Vortrags. Nebenbei hatte der Knabe eine geheime christliche Lieblingslectüre. Es war dies ein einzelner Band eigenthümlichgedruckter Predigten. Dieß Buch übte von Innen und Außen einen wunderbaren Zauber auf den jungen Leser aus. Es war gut gebunden, inwendig mit einem Wappen der Familie Steiner aus Winterthur in der Schweiz, zwei Arme hielten aus einem Helme einen Stein empor. Das Buch selbst war 1782 in der Schweiz verlegt und von Häfeli, einem Geistlichen aus Lavaters Schule verfaßt. »Predigten und Predigtfragmente« hießen diese Betrachtungen, die in einem völlig andern Style geschrieben waren, als die alten Sermone von Propst Hanstein, aber auch völlig anders lauteten, als man noch jetzt in sämmtlichen Berliner Kirchen predigt. Diese Predigten waren in einem Schwunge gehalten, dem selbst der Vetter nicht folgen mochte, obgleich dies Buch doch wohl nur ihm gehörte und auch im Interesse der strengsten Orthodoxie geschrieben war. Aber die Bilder des Verfassers, die aphoristische, phantasievolle Schreibweise, die plötzlich im Uebermaaße der Rhetorik abbrechend oft Wort nur an Wort stellte, aber so bedeutungsvoll mit Schwabacher Schrift gedruckt, daß man erkennen mußte, hier sollten Centnergewichte liegen, die Bilderpracht, die Fingerzeige auf die allgemeine Weltgeschichte, die Einmischung von Polemik gegen die Voltaire-Zeit: das alles war so eigenthümlich, so neu, daß es auch zunächst schon einen eignen Vortrag bedingte, in dem sich der Knabe in stiller Einsamkeit übte. Der durchgehende Ton dieser Predigten war: »Ob Jesus von Nazareth lebender Retter und König, Souverain der Schöpfung, Erlöser von Sünd und Tod oder ein hingerichteter Rabbi aus Galiläa sei? Das ist die Frage!« Und diese Gegensätze standen sich poetisch schroff gegenüber, in dem Styl, der später erst aus der Schweiz und dem deutschen Süden über Westphalen und Bremen nach Norddeutschland gekommen ist. Lavater und Klopstock sprachen ganz vernehmlich aus diesem Buche, dessen Motto auch lautete: »Gesäet dem Tage der Garben.« Hier war von Betrachtungen zu lesen über die heilige »Einsamkeit,« über den Christ als »neue Kreatur,« über Jesus, als die »Auferstehung und das Leben,« über die Erwartung »des neuen Himmels und der neuen Erde,« über »die Nahrungsmittel des himmlischen Lebens« und ähnliches Ueberschwängliche, das mit poetischem Feuer bilderreich und blendend ausgemalt wurde. Hier hieß es: »Wer ihn gefühlt hat den Fluch des dornigten Ackers und Adams auf all seinen Söhnen ruhende Strafe; wer gesehen hat Mammons Ehre und Trug und den blinden, tauben Götzen Baal mit dem Schwarm seiner Anbeter – sich müde gehört hat an stolzen Worten, da nichts hinter ist und an dem Freiheitspreis der Sklaven des Verderbens, an dem Seufzen der mißbrauchten Kreatur und an dem tieferen Seufzen des mißbrauchten Brudergeschlechts und dem stolzen Gewühl ihrer Tyrannen – – wie flieht der so gern in die Einöde ohne Menschen, unverspottet seine Thränen zu weinen, in der leblosen Natur zu suchen, was ihm die lebendige so oft versagt – Einfalt, Harmonie, Größe, Adel, Gottesstrahl und ungekränkt sich mit dem Trost einer bessern, wenn auch fernen, Zukunft zu trösten! Siehe, der Herr verließ das Gewirr seiner ihn mißkennenden, hassenden Welt, wandelte am einsamen Gestade, im Schatten der Oelbäume, und schöpfte – was ihm keiner seiner Jünger, auch sein Johannes nicht geben konnte – aus seinem Vaterland Stärkung und Muth auf Gethsemane, Gabbatha und Golgatha.«

Schon in diesen letzten Namen der Bibel ein majestätischer Schwung! Diese Oelbäume, ihr Schatten und dieser Gottesstrahl! »Endlich, endlich kommt doch Ein Wort Erklärung der harten Rede,« heißt es in einer Textauslegung, »aber ein wie andres Wort, als man erwartet hatte! So kurz! So abgebrochen! So hingeworfen !« ... In diesem Tone ging das ganze, noch vorliegende Buch fort. Es ist der erste geistige grüne Anger gewesen, auf den sich die Knabenseele aus dem dürren häuslichen Leben endlich flüchtete. Es war wohl das Lamm Christi, das auch hier wieder weidete, aber die dumpfe, erstickende Stubenluft schnürte nicht mehr die Brust zusammen. Dieser zerrissene, einzelne Theil einer Schweizerischen Predigtsammlung von 1782 mit den angehängten Aphorismen über Christus, den »Weltenheiland,« wurde dem Kinde die Eingangspforte in neue und reinere Anschauungen. Es war des Knaben liebstes Buch. Die Feder kritzelte auf dem innern Einband unter dem Wappen von Winterthur ihre ersten Schreibversuche. Immer wurde einsam dies Buch gelesen, laut gelesen, in der Einsamkeit so laut, daß man's ein Predigen nennen konnte. Hier thronte Gott über allen Wolken und Wassern und Christus unter ihm schwang die »Blutfahne« mit dem Wappen des Lamms. Der Gekreuzigte stand über allen Thronen und richtete Majestäten und Verbrecher, die Reichen und die Armen, die Adler in den Lüften und den Wurm im Staube. Sein Kreuz stand riesenhoch und im Erdbeben zitterte Jerusalem. Düstre Wolken rauschten über die Häupter der Welt und die Vorhänge des Tempels zerrissen. Dies war kein leidender, nur redender Christus, sondern ein handelnder, selbst im Leiden triumphirender. Und unser Buch stellte ihn der Geschichte gegenüber, rief: »Sesostris, Cyrus, Pythagoras, Aristoteles – Copernicus und Luther – Cartesius und Grotius – Gustav Adolph und Friedrich!« Sie sollten zeugen, daß »kleine ohnmächtige Kinder« Männer werden könnten, wieviel mehr dieser Christus, der »Zimmermannssohn« und doch in Gott Purpurgeborne! Das Kind kannte nur wenige von jenen Helden, aber die Vorstellungen erweiterten sich, die Geschichte rollte sich auf, diese Christusauffassung ging über die Spittelkirche und die Sonntags-Nachmittags-Postille hinaus.

»Können wir uns einen anmuthigeren, traulicheren Auftritt denken, als Jesus – unter der Mütter- und Kinderschaar? Alle Herrlichkeit des Eingebornen vom Vater, allen Ernst des Lehrers, alle Majestät des Wunderthäters, zur mildesten Huld, zur zartesten Liebe, zur trautesten Einfalt gemildert – voll einladender Zärtlichkeit sein Blick, sein Mund Allen freundlich zulächelnd, seine Hände nach Allen sich ausstreckend. Und um Ihn die Mütter mit ihren Lieblingen – auf den Armen die Einen, auf der Hand die Andern – drängen sich zu Ihm, berühren seine Knie, blicken schüchtern erst, dann froh lächelnd an Ihm auf, mit jedem Blicke zutraulicher, froher, gesprächiger – und von Jesus aufgehoben, geherzet, gesegnet, mit einem liebreichen Glückwunsch, mit einer väterlichen Lehre den Müttern wiedergegeben! Können wir uns einen lieblicheren, wehmüthig erquickenderen Auftritt denken! Einen lieblicheren und erquickenderen für Mütter, für Kinder, für englische und menschliche Zuschauer! Seelig sind die Kinder, die Jesus also segnete, die auf seinem Schooße saßen, seine Wange berührten, mit seinen Haarlocken spielten! Ja, selig wird er uns zurufen, wenn Ihr werdet, wie die Kinder.«

Du herrliches Buch! Was hast du die Seele des Kindes wie mit Engelssittichen und in Himmel unendlicher Entzückung gehoben! Du Schweizermund voll Pracht und Hoheit, voll Lieblichkeit und Poesie! War's das Alpenglühen der schneebedeckten Firnen, das aus deinen wurmstichigen Blättern in die ahnungsvolle Einsamkeit des träumenden Kindes blitzte? Waren es die Heerdenglocken von Zürich, die den armen Sohn der nordischen Steppe wie auf grüne Bergeshalden lockten und ihm die Schauer einer Welt voll heiligeren Schwunges und reinerer Schönheit zauberten? O du erstes, frühstes, einzigstes Buch! Labsal einer nachtumhüllten Sehnsucht! Ein Schatz! Ganze Bibliothek eines Kindes! Ein einziger in eine Herberge der Armuth verlorner »dritter Band« und doch so vollständig, so groß, so umfassend, wie alle Bücherschätze der Weltweisen! Braucht das Auge lange zu wählen und weilt nicht voll Thränen auf einer Stelle, wie dieser:

»In der lieblichen Abenddämmerung der Einsamkeit erscheinen sie wieder die Rosen unter der Morgenröthe – die seeligen Tage der Kindheit und Unschuld, wo unser Leben hinfloß, wie durch Blumenauen der klare Bach, wo keine Wolke den reinen, lachenden Himmel trübte, kein feindseliger Sturm unser Inneres zerriß – wo wir im Schooß unsrer Mutter frohlockten und mit den jugendlichen Gespielen um den blühenden Baum unsres mildgepflegten Gartens Eines Herzens jauchzten. Da kommen sie wieder hervor aus dem verschlingenden Strome der Zeit alle die Stunden genossener Freuden – und die dunklern Stunden der Trauer, die durchkämpften Nächte, die Thränen, die noch die Morgenröthe beschien – das ungezählte Heer der Sünden, bereut und unbereut, verziehen und unverziehen – vom ersten Lustgenuß am Baum der Erkenntniß bis zur Untreu im letzten Tagwerk. Alles zieht im namenlosen Schauer unsrer Seele vorüber – ein Vorschmack des Weltgerichts – wir genießen wieder und leiden wieder, frohlocken und trauern wieder. Und aus diesem Bilde des Vergangenen geht das Bild unsrer Zukunft hervor, die Pfade öffnen sich, die wir noch wandeln sollen, die Kämpfe, die uns fürgelegt sind – wir trinken itzt schon aus dem Becher der fernsten Freuden und Leiden und unsre Seele faßt in lebendiger Hoffnung und Furcht das Unsichtbare, wie wenn es sichtbar wäre.«

Mit diesem wunderbaren Buche brachen in die religiöse Nacht des Kindes Strahlen der Morgenröthe.



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